Beispielhausarbeit I mit Korrektur

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Stiftung Universität Hildesheim
Institut für Philosophie – Prof. Dr. Tilman Borsche
Sprachphilosophie – Sommersemester 2012
„…wenn die Sprache feiert.“
Über Ursprung, Form und Auflösung philosophischer Problemen bei Ludwig Wittgenstein,
entfaltet anhand der Phänomene des Arbeitens und Feierns der Sprache
xxx
3. Semester Bachelor PKM – xxx
Formatiert: Englisch (USA)
Formatiert: Englisch (USA)
Inhalt
1. Vorbemerkung........................................................................................................................ 5
2. Das philosophische Problem .................................................................................................. 6
3. Wittgensteins Auffassung von der Aufgabe der Philosophie ................................................ 8
4. Die Sprache der Philosophie ................................................................................................ 10
5. Arbeit, Leerlauf und Feier der Sprache ................................................................................ 12
6. Schlussbemerkung................................................................................................................ 13
7. Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 15
1. Vorbemerkung
Ihre
inhaltliche
Komplexität
und
die
fragmentarische
1
‚Philosophischen Untersuchungen‘ Ludwig Wittgensteins
Erscheinung
geben
den
den Charakter eines großen
Rätsels, oder vielmehr: den Charakter einer ganzen Rätselsammlung. Die Paragraphen dieses
Werks können nicht einfach gelesen werden, um sich die zu Grunde liegenden Gedanken zu
erschließen, sie müssen gedeutet, interpretiert werden. Und die Deutung eines der vielen
Rätsel, die Wittgenstein seinen Lesern aufgegeben hat, soll in dieser Arbeit versucht werden:
Die Deutung folgender kurzer Bemerkung:
„Denn philosophische Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.“2
Die Deutung soll am Anfang der Bemerkung ansetzten: Es soll gezeigt werden, was
Wittgenstein als philosophisches Problem identifiziert und wie seiner Auffassung nach die
Philosophie damit umzugehen hat. Anschließend wird expliziert, in welcher Sprache
Philosophie stattfinden soll. Diese Erklärung wird eine Art Brückenglied darstellen, über das
man sich dem Begriff des Feierns der Sprache annähern kann.
Bevor sich diese Arbeit ihrem Schwerpunkt widmen wird, muss eine kurze Erklärung
vorangestellt werden:
„Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“3 Das heißt, ein Wort wird
dadurch bedeutungsvoll, dassindem es gebraucht wird. Jetzt ist hier mit Gebrauch aber nicht
nur der bloße Sprachakt gemeint: Sprache und Sprechen gehört mit einer Tätigkeit zusammen,
und Wittgenstein nennt selbst ein paar dieser Tätigkeiten: Befehlen, Beschreiben, Herstellen
eines Gegenstandes nach einer Beschreibung, Rätsel raten, Reigen singen, Bitten, Danken,
Fluchen, Grüßen und noch andere.4 Er weist auch darauf hin, dass aber ständig neue dieser
‚Sprachspiele‘ – d.i. „das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben
ist“5 – entstehen können. Wenn in dieser Arbeit von ‚Bedeutung‘ die Rede ist, ist damit
immer ‚Gebrauch‘ mitgemeint. Und ‚Gebrauch‘ (oder auch ‚Verwendung‘) meint eben nicht
nur das bloße Aussprechen eines Wortes, sondern auch eine damit verbundene, für das
(alltägliche) Leben relevante Tätigkeit, eine Lebenspraxis.
1
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Kritisch-genetische Edition, Hg.: J. Schulte, Frankfurt
am Main, 2003. Im Folgenden der Arbeit: PU.
2
PU, §38.
3
PU, §43. Den Kontext des Satzes beachten: „Man kann für eine große ‚Klasse von Fällen … so erklären:“
4
Vgl. PU, §23.
5
PU, §7.
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2. Das philosophische Problem
„Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.“6
Womit oder worin kenne ich mich nicht aus? Zwei Paragraphen sollen eine Antwort auf diese
Frage liefern. Zum einen der diesem vorhergehende Abschnitt 122. In diesem heißt es: „Es ist
eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht
übersehen.“7 Es lässt sich also sagen, ein philosophisches Problem ist ein Problem, hinter dem
sich ein Fehlverhalten im Umgang mit unserem Sprachgebrauch verbirgt. Es kommt zu dem
Problem, weil wir den Überblick über unseren Gebrauch der Worte verloren haben. Gestützt
wird diese Deutung, wenn zusätzlich Abschnitt 18 der Philosophischen Untersuchungen
herangezogen wird:
„Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten
und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer
Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und einförmigen Häusern.“8
Mit diesem Bild kann man also tatsächlich auf die Frage antworten: Worin kenne ich mich
nicht aus? Und diese Antwort ist eben: In meiner Sprache (vgl. PU §203: Wittgensteins Bild
von Sprache als Labyrinth). Und wie schon in Paragraph 122 ist das Motiv wieder:
Unübersichtlichkeit, Unkenntnis; in der Folge Desorientierung, Verwirrung. Wenn wir die
Orientierung über unseren Sprachgebrauch verlieren, laufen wir Gefahr, uns in
Problemstellungen zu verstricken, die Wittgenstein als die der Philosophie identifiziert. Aber
wie äußern sich die Probleme?
„Die Probleme, die durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen entstehen, haben den Charakter der
Tiefe. Es sind tiefe Beunruhigungen; sie wurzeln so tief in uns, wie die Formen unserer Sprache, und
ihre Bedeutung ist so groß, wie die Wichtigkeit unserer Sprache.“9
Philosophische Probleme führen also zu einer Art der Beunruhigung in uns, die wir als
grundsätzlich empfinden. Sie problematisieren etwas, was für unser Leben von zentraler
Bedeutung ist: Unsere Sprache. Einen Abschnitt weiter präzisiert Wittgenstein die
Erscheinung dieser Beunruhigung: „>>Es ist doch nicht so!<< – sagen wir.
>>Aber
es muß
6
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7
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PU, §123.
PU, §122.
8
PU, §18.
9
PU, §111.
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doch so sein!<<“10 Das hier aufgeworfene Motiv ist das des Vorurteils. Irgendetwas lässt uns
annehmen, eine Sache müsste sich auf ganz bestimmte Weise verhalten. Wenn die Sache sich
dann nicht gemäß diesem Vorurteil verhält und wir diese Diskrepanz bemerken, sind wir
beunruhigt. In diesem Paragraphen kommt das Vorurteil durch einen ganz bestimmten
sprachlichen Aspekt zu Stande, nämlich durch ein Gleichnis, also durch ein ‚So und so verhält
sich wie so und so‘. Hier erfolgt nun ein entscheidender Schritt: Zwar liegen die Ursachen der
Problems in einem falschen Umgang mit der Sprache begründet (hier: die Adaption eines
Gleichnisses); die Fragestellungen aber, die daraus entstehen, das, was dann schließlich
problematisiert wird, ist nicht unsere Sprachgebrauch, sondern etwas außerhalb von ihr
(Bezug?) (in der Welt). Die Fehlinterpretation eines sprachlichen Phänomens ist es also, die
uns beunruhigt. Und diese Fehlinterpretation besteht eben gerade darin, dass wir eine
eigentlich sprachliche Problemstellung für eine außersprachliche halten: „Ein Gleichnis, das
in die Form unserer Sprache aufgenommen ist, bewirkt einen falschen Schein;“11 Und diesem
Schein erliegen wir. Bestimmte sprachliche Phänomene und Ausdrucksformen sind genau
deshalb ein Problem, weil sie uns dazu verführen, etwas eigentlich Unproblematisches in
Frage zu stellen und uns „auf die Jagd nach Chimären schicken;“12. Ein philosophisches
Problem hat also den Charakter einer Fehldeutung unserer Sprache, die sich „in Form einer
Frage äußert, die diese Verwirrung nicht anerkennt.“13
Eine klassische Problemstellung, die durch ein sprachliches Vorurteil entsteht, wäre eine
Frage der Form: Was ist x? Was macht es aus, was ist sein Wesen? Die Möglichkeit der Frage
impliziert ein Etwas, einen in irgendeiner Weise gearteten Gegenstand (mit entsprechenden
Eigenschaften). Mit Hilfe dieser Frage können wir Bereiche unseres Lebens problematisieren,
die uns außerhalb dieser Frage unproblematisch bBegegnen: Das Leben, den Verstand, die
Sprache. Verschärft wird dieses Vorurteil noch durch die Möglichkeit, Tätigkeiten oder
Eigenschaften zu sSubstantivieren – zu Vvergegenständlichen.
Severin Schroeder beschreibt weitere konkrete Fälle dieser Missdeutungen, zum Beispiel die
Annahme, ein Wort hätte immer dieselbe Bedeutung und Verwendung (während man
beispielsweise übersieht, dass ‚ist‘ u.a. einmal als Identitätsausdruck und einmal zur
Zuschreibung von Eigenschaften verwendet werden kann), oder dass etwas, was als dasselbe
Kommentar [b1]: Das ist seit
Aristoteles geläufig
oder mit dem demselben Wort bezeichnet wird, in jeder Weise identisch sein muss. Auch
10
PU, §112.
PU, §122.
12
PU, §94.
13
Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe in 8 Bänden. Band 4: Philosophische Grammatik, Hg.: Rush Rhees,
Frankfurt am Main, 1993. S.193.
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11
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verursachen Metaphern und Paradoxien, die durch Zuspitzungen und Vereinfachungen
entstehen, Beunruhigungen und verführen uns zum Fragenstellen.14
Und am Umgang mit solchen Fragen wird sich nun Wittgensteins Philosophiebegriff
definieren und sich radikal abgrenzen von jeder Art falschverstandener (?) Philosophie.
Kommentar [b2]: Wollen Sie wirklich
sagen, dass alle anderen Philosophie falsch
verwenden? Wittgenstein sagt das nicht.
3. Wittgensteins Auffassung von der Aufgabe der Philosophie
„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgend eines schlichten Unsinns und Beulen, die
sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“15
Es wurde schon gezeigt, wie der Verstand dazu kommt, gegen die Grenzen der Sprache
anzurennen: Eine sprachliche Ausdrucksform wird missverstanden, eine Irritation entsteht.
Der rein sprachliche Charakter des Problems wird jedoch nicht erfasst, stattdessen fragt man
nach etwas Außersprachlichem. Die Frage ist es also das Motiv, das sich hinter dem
Anrennen verbirgt. Angetrieben von dem Wunsch, die Irritation zu beseitigen, konstruieren
wir dann Antworten auf die Fragen und schaffen ganze Theorien, mit denen wir die
Beunruhigung auflösen wollen. Entscheidend ist nun: eine Antwort auf eine Scheinfrage kann
immer auch nur eine Scheinantwort sein. Dieser Umgang mit einem philosophischen Problem
trägt also nichts zur Aufklärung des tatsächlichen Problems bei – im Gegenteil ist
anzunehmen, dass man sich auf diese Weise nur noch tiefer in die Tücken der Sprache
verstrickt, und die Sprachverwirrung weiter wächst. Das Anrennen ist ein Verrennen, weil
man das Ziel verkannt hat. Nicht das der Frage zu Grunde liegende durch Sprache implizierte
Vorurteil und die damit einhergehende Sprachverwirrung werden als Problem identifiziert,
sondern die inhaltliche Dimension der geäußerten Frage. Das ist die oben schon
angesprochene Jagd nach der Chimäre, über die nicht hinausgegangen wird (was auf diesem
Weg eben auch nicht möglich ist). Und so entsteht eine Art ‚Antworten – und
Welterklärungsphilosophie‘, deren Ergebnisse Unsinn sind – in sich problematische Lösungen
von Scheinproblemen. Genau diesen Anspruch – Antworten und Erklärungen über die Welt
oder das, was ihr zu Grunde liegt, zu liefern – hat die Philosophie einen großen Teil ihrer
Geschichte lang unter der Bezeichnung Metaphysik erhoben. Eine Philosophie, die
Metaphysik zu ihrer Aufgabe macht, ist für Wittgenstein schon verfehlt, denn: „[…] wir
dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen
14
15
Vgl. Schroeder, Severin: Wittgenstein lesen, Stuttgart Bad-Cannstatt, 2009. S.43
PU, §119.
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sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“16 Natürlich ist
Wittgensteins Formulierung an dieser Stelle selbst ein bisschen polemisch, denn erklären im
Zusammenhang mit ‚eine Lösung für ein Problem vorschlagen‘ tut auch seine Philosophie.
Die Stoßrichtung aber ist klar: Es ist Aufgabe der (Natur-)Wissenschaften, die Welt zu
erklären, nicht die der Philosophie. Wenn diese es doch versucht, produziert sie nur den schon
erwähnten dogmatischen Unsinn (dogmatisch deshalb, weil die Philosophie etwas leisten soll,
was sie schlicht nicht kann. Soll dieser Anschein trotzdem aufrechterhalten werden, muss sie
sich mit letztlich nicht erklärbaren Setzungen behelfen.) Oder wie Wittgenstein selbst sagt:
Luftgebäude, die nur solange auf dem Grund unserer Sprache stehen können, bis wir diesen
Grund kritisch prüfen. Luftgebäude, die vor der kritischen Philosophie das Größte und
17
Wichtigste waren.
Kommentar [b3]: Das ist ein Terminus
und bezeichnet die Philosophie Kants.
Auch das logische Programm des eigenen Tractatus – sein Versuch, die
Philosophie eine definitive Grundsatztheorie leisten zu lassen – identifiziert Wittgenstein als
Vorurteil.18
Die Philosophie der Philosophischen Untersuchungen wiederum macht es sich zum einen zum
Ziel, die Antworten der Erklärungsphilosophie als Unsinn zu entlarven. Und zum anderen,
den beunruhigenden Missverständnissen auf die Spur zu kommen und sie aufzudröseln.
„Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexungen unsers Verstandes durch die Mittel unserer
Sprache.“19
Die Philosophie befindet sich in ständiger Auseinandersetzung mit unseren sprachlichen
Vorurteilen und den Verwirrungen, die dieselben in unserem Verstand auslösen.
Hat man die Paragraphen 119 und 109 soweit verstanden, wird deutlich, welche Auffassung
von Philosophie Wittgenstein vertritt: Die Philosophie muss sich sowohl kritisch mit dem
Kommentar [b4]: Wo blelibt das „als
auch“?
Sprachgebrauch auseinandersetzten, also auch mit Sprachverwirrung, sprachlich implizierten
Vorurteilen, daraus resultierenden Fragen und dem als Antwort produzierten Unsinn. An
dieser Stelle ist es auch möglich, Wittgensteins problematisch erscheinenden Gebrauch des
Attributes philosophisch aufzuklären. Denn wenn für Wittgenstein zwei grundlegend andere
Verständnisse des Wortes möglich sind, wie soll dann die Wendung ‚philosophische
Probleme‘ verstanden werden? Nach dem einen oder anderen Verständnis? Aber da die eine
Philosophie -– Wittgensteins Sprachkritik – (u.a.) die andere Auffassung einer antwortenden
Philosophie zum Gegenstand hat, löst sich die Schwierigkeit auf. Wenn die Metaphysik etwas
16
Formatiert: Spanisch (Mexiko)
17
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PU, §109.
Vgl. PU, §118.
18
Vgl. PU, §107, §108.
19
PU, §109.
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als Problem anerkennt, und sich an das Beantworten und Lösen macht, rückt sie sich damit in
den Fokus der Wittgensteinschen Philosophie. Das Problem der Wittgensteinschen
Philosophie ist ein philosophisches Problem. Denn seine Philosophie ist gleichzeitig Kritik
der Metaphysik, und verhält sich ihr gegenüber destruierend.20
Wittgensteins sprachkritische Philosophie und die dogmatische Philosophie, von der er sich
abgrenzt, unterscheiden sich also nicht im Ausgangspunkt (der Frage), sondern nur im
Umgang mit ihr. Erstere geht sozusagen zurück, das heißt befasst sich mit dem Ursprung der
Frage im fehlinterpretierten Gebrauch unserer Sprache. Letztere geht nach vorn, sucht nach
Antworten, die es nicht gibt, um Fragen zu beantworten, die Missverständnisse sind. Es lässt
sich also mit Wittgenstein eine sehr radikale und klare Bestimmung dessen vornehmen, was
sinnvoll ist, und was nicht: Denn es ist nicht relevant, was man auf eine philosophische Frage
antwortet. Denn das Antworten selbst ist der Fehler. Sobald man sich auf dieser Ebene auf
eine philosophische Frage einlässt, kann man nur noch Unsinniges sagen, weil man am
eigentlichen Problem vollkommen vorbei geht. Aber wir geht man dann mit ihr um?
Im Folgenden wird nun Wittgensteins Haltung zur gewöhnlichen Alltagssprache ausgelegt.
Dies hat zweierlei Gründe: Erstens spielt sie (die Haltung?) eine gewichtige Rolle beim
Umgang mit den philosophischen Problemen. Zweitens können auf diesem Wege Hinweise
gesammelt werden, die bei der Deutung der Feier hilfreich sind.
4. Die Sprache der Philosophie
„Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – >>Wissen<<, >>Sein<<, >>Gegenstand<<, >>Ich<<,
>>Satz<<, >>Name<<
– und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen:
Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir
führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.21
In der hier zitierten Stelle verwendet Wittgenstein das Beispiel der Wesensfrage (Was ist x?
Wie ist es beschaffen? Was ist sein Wesen?), um deutlich zu machen, dass die Philosophen
bei ihrer Tätigkeit nie die Verbindung zum tatsächlichen Sprachgebrauch verlieren dürfen –
und tatsächlich heißt hier eben: alltäglich. Wozu das? Weil man beim Philosophieren sonst
Gefahr läuft, sich in einen Sprachgebrauch zu verirren, der sich mehr und mehr vom
unproblematisch alltäglichen Gebrauch der Worte entfernt, bis die schon erörterten
Missdeutungen und Missverständnisse auftauchen und philosophische Probleme entstehen. In
20
21
Vgl. PU, §118.
PU, §116.
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der Philosophie soll also gerade nicht über den gewöhnlichen Sprachgebrauch bis zu einem
metaphysischen hinausgegangen werden. Deshalb beschreibt Wittgenstein die Arbeit der
Philosophie als „ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck.“22
Wenn nämlich der Fall einer Missdeutung unserer Sprachgebrauchs eingetreten ist, und ein
philosophisches Problem vorliegt, dann soll der Philosoph nicht (wie oben schon gezeigt) mit
einem metaphysischen Konstrukt und entsprechendem Sprachgebrauch sich an einer Antwort
versuchen, sondern stattdessen ist es gerade seine Aufgabe, an den schon so oft problemlos
praktizierten alltäglichen Sprachgebrauch zu erinnern. Wenn uns beispielsweise das Wort
‚Ich‘ auf irgendeine Weise problematisch geworden ist, weil wir plötzlich nicht mehr genau
sagen können, was es bezeichnet/bedeutetist – dann müssen wir vom Philosophen daran
erinnert werden, wie oft und in welchen Situationen wir dieses Wort schon unproblematisch
verwendet haben. So wird das Wort wieder in eine konkrete Situation, in einen praktischen
Kontext eingebettet, die Beunruhigung entspannt sich. Der Philosoph führt also die Wörter
von ihrer metaphysischen Verwendung wieder auf ihre alltägliche zurück. Zu diesem Zweck
empfiehlt Wittgenstein auch die Konstruktion vereinfachter, leicht zu überblickender
Sprechsituationen und das Aufzeigen von Zusammenhängen zwischen Sprachgebrauch und
Situation des Sprechers, oder eben verschiedenen Verwendungen eines Wortes. So gewinnen
wir die dringend benötigte Übersicht über unsere Sprache wieder und die Beunruhigung
schwindet: die Probleme lösen sich auf, weil erkannt wird, dass (!) eine Frage wie ‚Was ist
das Wesen des Schreibens?‘ einem Missverständnis entspringt und keine sinnvolle Antwort
zulässt.23 Allerdings muss er beachten, bei diesen Konstruktionen nie über den Rahmen einer
tatsächlich vorstellbaren und vorkommenden Praxis hinauszugehen:
„Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn
am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles wie es ist.“24
Hier befreit Wittgenstein die Philosophie auch von dem Anspruch, vorzugeben, wie etwas
sein muss. Denn die Philosophie verwendet eben nur das, was schon da ist; sie fügt das
zusammen, was schon vor uns liegt, wir aber aus dem Blick verloren haben.25 Verstößt der
Philosoph bei seiner Tätigkeit gegen das Gebot der Beobachtung, läuft er Gefahr in jenen
22
Formatiert: Spanisch (Mexiko)
23
Formatiert: Spanisch (Mexiko)
PU, §127.
Vgl. PU, §130.
24
PU, §124.
25
Vgl. PU, §122, §129.
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Dogmatismus zu verfallen, den es nach Wittgenstein abzuwehren gilt. Er begibt sich aufs
Glatteis.26
5. Arbeit, Leerlauf und Feier der Sprache
Die Alltagssprache ist für Wittgenstein also die Sprache der Philosophie. Und auf diesem
Wege kann man sich dem annähern, was Wittgenstein mit dem Feiern der Sprache
ausdrücken will. Denn während die Erinnerung an den alltäglichen Gebrauch unserer Wörter,
(!) die Missdeutungen entwirren kann und so zur Auflösung philosophischer Probleme
beiträgt, scheint die Sprache, die bei der Feier gebraucht wird, dazu in Opposition zu stehen:
Denn im Sprechen dieser Feiersprache entstehen ja die Probleme, mit denen sich
Wittgensteins Ansicht nach Philosophie beschäftigen sollte.
Aber der Gegensatz zur Feier ist nicht nur der Alltag, sondern auch die Arbeit; und so kann
auch folgender Abschnitt aus den Philosophischen Untersuchungen weiterhelfen:
„So eine Reform für bestimmte praktische Zwecke, die Verbesserung unserer Terminologie zur
Vermeidung von Mißverständnissen im praktischen Gebrauch, ist wohl möglich. Aber das sind nicht
die Fälle, mit denen wir es zu tun haben. Die Verwirrungen, die uns beschäftigen, entstehen
gleichsam, wenn die Sprache leerläuft, nicht wenn sie arbeitet.“27
Der Begriff der Arbeit wird hier mit sogenannten praktischen Missverständnissen in
Verbindung gebracht. Man könnte sagen: Praktische Missverständnisse (können) entstehen,
wenn die Sprache arbeitet. Warum interessieren diese Missverständnisse Wittgenstein nicht?
Weil die Tätigkeit, in die das Sprechen hier eingefasst ist, es uns ermöglicht, diese Art von
Missverständnissen selbst zu entdecken (das heißt, wir benötigen keine Philosophie dafür).
Denn sie zeigen sich im Verlauf des Sprachspiels: Wenn Person A Person B um etwas bittet,
Person B dieser Bitte aber auf Grund eines Missverständnisses zwischen A und B nicht
zufriedenstellend nachkommt, dann zeigt sich dieses Missverständnis eben im Ergebnis der
Tätigkeit. Dann ist es möglich, den Ort des Missverständnisses zu lokalisieren: es liegt imder
Sprachgebrauch. Und die entsprechende Korrektur meines Sprachgebrauches kann ich dann
eben selbst vornehmen. Es geht nicht darum, es gar nicht erst zu Missverständnissen kommen
zu lassen (das ist bei der Unübersehbarkeit der verschiedenen Sprachspiele utopisch), sondern
darum, sie zu lösen. Und diese Leistung kann ich, während die Sprache arbeitet (das Sprechen
in eine Tätigkeit eingebettet ist), selbst vollziehen, weil mir die Situation eben eine
26
27
Vgl. PU, §107.
PU, §132.
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Rückmeldung über die Wirkung meines Sprachgebrauches gibt. Das Sprechen findet nicht
isoliert in einen luftleeren Raum statt.
Nach dieser Bestimmung des Arbeitens kann man jetzt das Leerlaufen oder Feiern als
Nnegativ bestimmen: Die Sprache feiert, wenn das Sprechen sich von den Lebensumständen,
der Lebenspraxis löst. Wenn sich das Sprechen von der täglichen Lebenspraxis entfernt, und
mit keiner für diese Praxis wesentlichen Tätigkeiten in Verbindung steht. Wenn es sich von
alltägliche Kontexten trennt. Dann fehlt dem Sprecher die Absicherung gegen die Tücken,
Fallstricke und Vorurteile unserer Sprache. Anschaulich beschreibt Wittgenstein so einen
Sprecher in den Philosophischen Untersuchungen im besagten Paragraphen 38 als einen
Philosophen, der unentwegt auf ein Ding starrt, um herauszubekommen, was die eine
Beziehung zwischen Namen und Benanntem ist.28 Dabei übersieht er eins:
„Das Benennen ist etwas Ähnliches, wie, einem Ding ein Namenstäfelchen anheften. Man kann das
eine Vorbereitung zum Gebrauch eines Wortes nennen.“29
Natürlich ist auch das Benennen eines Gegenstandes schon ein Akt. Allerdings ist es eben
keine Praxis, mit der wir im alltäglichen Umgang mit Gegenständen ein Problem haben. Der
Philosoph bleibt in dem erwähnten Beispiel bei der Vorbereitung auf die eigentliche, für die
Lebenspraxis relevante Tätigkeit hängen. Dann findet in der Vorbereitung die
Problematisierung statt, nicht in dem in Paragraph 132 erwähnten praktischen Gebrauch: Es
kommt zu jenen Missverständnissen, für die sich Wittgenstein interessiert. Und weil sich dies
eben in einer vollkommen isolierten Situation abspielt (es gibt nur den Philosophen und den
Gegenstand), ist es für den Philosophen auch ungleich schwieriger sich desm
Missverständnissses bewusst zu werden. Im fehlt eben die performative Rückmeldung des
praktischen Gebrauchs. Das Missverständnis, das für Wittgenstein interessant ist, zeichnet
sich eben dadurch aus, dass es vom Sprecher unerkannt bleib, und so sein verwirrendes
Potenzial entfalten kann.
6. Schlussbemerkung
Die Sprache feiert also, wenn der Sprecher die Übersicht über seinen eigenen Sprachgebrauch
verloren hat. Das zentrale Kennzeichen dieses Verlusts ist, dass der Sprecher verkennt, dass
das von ihm bearbeitete Problem ein sprachliches ist; ein problematischer Sprachgebrauch.
Problematisch insofern, als dass (!) bestimmte Phänomene unserer Sprache wie Analogien,
28
29
Vgl. PU, §38.
PU, §26.
Formatiert: Spanisch (Mexiko)
Gleichnisse, die Möglichkeiten zur Vergegenständlichung durch Substantivierung oder
verschiedene Verwendungsweisen von Worten zu Vorurteilen verführen, von denen wir uns
selbst nicht frei machen können:
„Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie
schien es uns unerbittlich zu wiederholen.“30
Diese Vorurteile sitzen wie eine Brille auf unserer Nase, aber wir bemerken sie nicht und
kommen nicht auf die Idee sie abzunehmen.31 Wir sehen die Dinge neu, und uns erscheint
plötzlich fraglich, was früher unproblematisch war. Wir beginnen dort nach etwas zu fragen,
wo es nichts zu fragen gibt – und anschließend dort nach Antworten zu suchen, wo keine zu
finden sind. Die Sprache macht uns die Frage möglich, und um auf sie zu antworten entstehen
dann Behelfskonstruktionen, um den Vorurteilen irgendwie Genüge zu tun. Man muss wissen,
wo man suchen muss. Und dDas aufzuzeigen, hat sich Wittgensteins zur Aufgabe gemacht.
Auf ein innersprachliches Problem muss mit einer Problematisierung der Sprache reagiert
werden, nicht mit einer Problematisierung von etwas außerhalb ihrer.
Das Feiern der Sprache beschreibt einen Zustand, in dem der Sprecher seinen Missdeutungen
des Sprachgebrauchs vollkommen verfallen ist. Die Vorurteile der Sprache haben ihn auf eine
Suche nach etwas geschickt, das nicht zu finden ist: Auf die Jagd nach der Chimäre. Der
Sprecher und das Sprechen sind nicht mehr in eine lebenspraktisch relevante Situation
eingebunden. Zwar können auch innerhalb solcher Lebenspraxen Missverständnisse auftreten,
diese offenbaren sich dem Sprecher aber im Verlauf der Tätigkeit und müssen ihm nicht
notwendiger Weise von einem Dritten aufgezeigt werden. Wenn die Sprache aber feiert, ist
der Sprecher aber nicht mehr in der Lage, sich selbst von den Verhexungen der Sprache zu
befreien. Hier setzt die Philosophie nach Wittgensteins Verständnis an.
30
31
PU, §115
Vgl. PU, §103
7. Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Kritisch-genetische Edition, Hg.: J. Schulte,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003.
Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe in 8 Bänden. Band 4: Philosophische Grammatik, Hg.: Rush
Rhees, Frankfurt am Main, 1993. S.193.
Sekundärliteratur:
Schroeder, Severin: Wittgenstein lesen, Stuttgart Bad-Cannstatt, 2009
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