Autismus und autistische Spektrumstörung Vorlesungsreihe KJP Basiswissen 21.04.2016 Dr. S. Müller Gliederung - Epidemiologie - Klassifikation - Symptomatologie - Ätiologie - Diagnostik - Therapie Mythen? Alle Autisten sind geistig behindert Autisten sind gut im Kopfrechnen Rabenmütter sind schuld am Autismus Autisten sind am liebsten allein Autisten haben keine Gefühle Autismus ist heilbar Autisten fallen auf den ersten Blick auf Autisten können nicht sprechen Autisten sind alle wie „Rainman“ Autisten haben besondere Fähigkeiten (Savants) Prävalenz? Epidemiologie der ASDs Häufigkeit: bis zu 1/100, auf 4 betroffene Jungen kommt 1 Mädchen Die Anzahl der Neudiagnosen steigt: Weintraub, 2011 Autismus: Historie „Es hat den Anschein, dass für den Erfolg in Wissenschaft oder Kunst ein Schlag Autismus essentiell ist“ [Hans Asperger] Leo Kanner 1896-1981 1943: „autistic disturbances of affective contact“ Hans Asperger: 1906-1980 1944: „Die „autistischen Psychopathen“ im Kindesalter“ Klassifikation (ICD-10) – tiefgreifende Entwicklungsstörungen Frühkindlicher Autismus F84.0 Atypischer Autismus F84.1 Rett-Syndrom F84.2 Andere desintegrative Störung des Kindesalters (Hellersche Demenz) F84.3 Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Stereotypien F84.4 Asperger-Syndrom F84.5 Sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörung F84.8 Tiefgreifende Entwicklungsstörung nicht näher bezeichnet F84.9 Unterscheidung frühkindlicher Autismus/Asperger Syndrom/atypischer Autismus Atypischer Autismus < oder > 3 Jahre atyp. Erkrankungs alter Atyp. Symptomatologie Atyp. Symptomatologie + atypisches Erkrankungsalter Autismus-Spektrum-Störungen - ASS Autism Spectrum Disorder - ASD • DSM IV Autistische Störung Asperger-Syndrom DSM V: Autismus-Spektrum-Störung Differenzierung nach Sprachvermögen, Schweregrad, intellektuellen Fähigkeiten, weiteren Assoziationen (Epilepsie, genet. Veränderungen). Neu: Hypo-/Hyperreagibilität • ICD 10 Frühkindlicher Autismus (F84.0) Atypischer Autismus (F84.1) Asperger-Syndrom (F84.5) ICD 11 (2017) ? High- Functioning- Autismus (HF) (L. Wing, 1981) Inoffizieller Begriff für Menschen mit frühkindlichem Autismus Je nach Definition ohne geistige Behinderung (IQ>70) oder mit mind. durchschnittlicher Intelligenz (IQ>85). Meist gute verbale Fähigkeiten, obwohl Sprachentwicklung zunächst verzögert war Nicht zu verwechseln mit Inselbegabung (SavantSyndrom) Kernsymptome ICD-10 1. Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion 2. Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation 3. Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion Non-verbales Verhalten Eingeschränkter Blickkontakt & wenig gerichtete Mimik und Gestik, wenig soziales Lächeln Beziehung zu Gleichaltrigen Kaum Interesse an anderen Kindern und an Phantasiespielen mit Gleichaltrigen Fehlende Reaktion auf Annäherungsversuche anderer Unfähigkeit, Freundschaften einzugehen Geteilte Aufmerksamkeit oder Freude mit anderen Andere werden nicht auf Dinge gelenkt, um sie daran zu interessieren Sozio-emotionale Gegenseitigkeit – Unangemessene Annäherungsversuche in sozialen Situationen – Kann nicht trösten – Andere Personen scheinen wie Gegenstände benutzt zu werden Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation und Sprache Etwa ein Drittel der Kinder entwickeln keine oder eine unverständliche Sprache Keine Kompensation der mangelnden Sprachfähigkeiten durch Mimik oder Gestik Kein spontanes Imitieren der Handlungen anderer (v. a. < 4 J.) Später kein spontanes oder phantasievolles (Symbol-) Spielen Stereotype, repetitive oder idiosynkratische sprachliche Äußerungen – Neologische Wortbildungen – Vertauschen der Personalpronomina – Verzögerte Echolalie – Kein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation Repetitive, restriktive und stereotype Verhaltensmuster Stereotype und repetitive motorische Manierismen Drehen oder Flackern der Finger vor den Augen, Schaukeln, Auf- und AbHüpfen Ausgedehnte Beschäftigung mit stereotypen, ungewöhnlichen Handlungen und eng begrenzten Spezialinteressen zwanghaftes Festhalten an nicht-funktionalen Handlungen oder Ritualen extrem ängstliche oder beunruhigte Reaktion bei Unterbrechen dieser Handlung Beschäftigung mit nicht-funktionellen Elementen von Gegenständen ungewöhnliches Interesse an sensorischen Teilaspekten wie am Anblick, Berühren, an Geräuschen, am Geschmack oder Geruch von Dingen oder Menschen Sensorische Abnormalität (Über- oder Unterempfindlichkeit) Filmbeispiel Neuropsychologie Störung der exekutiven Funktionen = Fähigkeit zur Planung, Vorausschau, Flexibilität und Strategie; bei autistischen Personen finden sich Defizite im zielorientierten Handeln und Planen und der Flexibilität => repetitives Verhalten, Veränderungsängste, eingeschränkte Interessen Neuropsychologie II Schwache zentrale Kohärenz Zentrale Kohärenz: nicht autistische Menschen nehmen Dinge kontextgebunden wahr – Bei autistischen Menschen liegt eher eine segmentierte Wahrnehmung vor; räuml.-visuell kann besser verarbeitet werden als auditiv (=Bilder vs. Sprache) – Details können kontextfrei verarbeitet und erinnert werden Erfolgreiches Wiedererkennen muss starke Ähnlichkeit aufweisen Diese Besonderheit kann sowohl als eine Schwäche als auch als eine Stärke angesehen werden Beispiele: Savant-Fähigkeiten, Detailwissen, Unfähigkeit zur Abstraktion Neuropsychologie III Theory of mind-Defizite – Fähigkeit eine Annahme über Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzunehmen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten. (Sally-Anne-Task, Baron-Cohen et al., 1985) Unangemessenes Kontaktverhalten (Sally-Anne-Task, Wimmer & Perner, 1983) Testet die Fähigkeit, sich in die Perspektive des anderen hineinversetzen zu können Filmbeispiel Ätiologie „Syndromaler“ Autismus, monogenetische Störung (?) In Folge einer Grunderkrankung mit spezifischer Ätiologie bei ca. 10% aller Fälle – z. B. Fragiles X, Williams-Syndrom, unbehandelte Phenylketonurie, Tuberöse Hirnsklerose Idiopathischer Autismus: (poly)genetische Störung Großer Unterschied der Konkordanzraten zwischen MZ > DZ in Zwillingsstudien (36-91% vs. 0-5%) Höhere Rate des männlichen Geschlechts (4:1) Die genetische Belastung für Autismus ist weit reichender als für den „KernAutismus“ und betrifft Störungen jenseits des autistischen Spektrums (= erweiterter Phänotyp) Folstein & Rutter, 1977, Steffenburg et al., 1989, Bolton et al., 1995 Theorien zur Entstehung von Autismus Genetik Umwelteinflüsse Veränderungen im neuronalen Netzwerk Pränatale Infektionen und Stress Epigenetische Veränderungen (Prä-, perinatal) Veränderungen in Neurotransmittersystemen Toxische Schädigung Zinkmangel Diagnostik: Screening Verfahren • M-CHAT : 18 Monate bis 3 Jahre (geringe Spezifität, geringe Sensitivität für mildere Varianten) • FSK (Geringe Sensitivität für Asperger-Syndrom und atypischen Autismus) • MBAS (Marburger Beurteilungsskala zum AspergerSyndrom) CAVE: informierte Eltern Goldstandard in der Diagnostik • Screening & ADOS & ADI (Ozonoff, 2005; Falkmer et al., 2013) ODER • Übereinstimmung zwischen mindestens 2 Experten bzw. multidisziplinäres Team (Le Couteur et al., 2008; Mazefsky & Oswald, 2006; Molloy et al., 2011; Falkmer et al., 2013; Volkmar et al., 2014; Zander et al., 2015; Arbeitsgruppe Leitlinien Autismus-Spektrum-Störungen, 2015) Standardisierte Verfahren Diagnostische Beobachtungsskala für Autismus (ADOS) & Diagnostisches Interview für Autismus (ADI-R) Vorteil: gut validierte, standardisierte Diagnostik Nachteil: Verfahren erfordern ein Training in der Durchführung, sind teuer (ADOS-Kiste: 2500€) und zeitaufwendig (ADI: ~2 Stunden) ADOS - Beobachtungsinstrument, das darauf abzielt, die sozialen, sprachlichen und kommunikativen Verhaltensweisen zu erfassen, die für die Diagnose eines autistischen Syndroms relevant sind - Es werden gezielt soziale Situationen hergestellt, in denen sich typischerweise autistische Verhaltensweisen zeigen oder nicht - Es wird gezielt beobachtet, ob sich bestimmte Verhaltensweisen spontan zeigen, oder durch einen sogenannten „prompt“ (Auslösereiz) ausgelöst werden können. Klinische Diagnose Verhaltensbeobachtung – ADOS – Home-Video Vorbefunde – KJP, Ergotherapie, Logopädie – Schulzeugnisse – Kindergartenberichte, Frühförderung Anamnese mit den Bezugspersonen – ADI-R Intelligenzdiagnostik Körperlich-neurologische Untersuchung Differentialdiagnostische Abklärung Differentialdiagnosen Sinnesstörungen (Seh- und Hörbehinderungen) Deprivation, Bindungsstörungen, Mutismus Organische Erkrankungen Geistige Behinderung Expressive und rezeptive Sprachstörungen Schizophrenie Emotionale Störung Angst – und Zwangsstörungen, Ticstörung Depressionen Komorbiditäten 109 Kinder mit ASD, Alter 5-17 Jahre 112 Kinder mit ASD, Alter 10-14 Jahre (Leyfer, Folstein et al., 2006) (Simonoff et al., 2008) Spezifische Phobien (44,3%) Soziale Phobien (29,2%) Hyperaktivität (ca. 31%, Hyperaktivität (28,1%) 55% inkl. subsyndromal) Oppositionelle Störungen (28,1%) Zwangsstörungen (37%) Generalisierte Angststörungen (13,4%) Depressive Störungen (24%) Panikstörungen (10%) Trennungsängste (11,9%) Enuresis (7%) Oppositionelle Störungen (7%) Beide Untersuchungen geben bei insgesamt 70% der untersuchten Kinder mind. eine komorbide Störung an. Geistige Behinderung ca. 1/3 d. F. Hyperkinetische Störung 44% d. F. (Volkmar et al. 1990, Hutton et al., Simonoff et al. 2008) Und nach der Diagnose? • Aufklärung, • Beratung, • Eingliederungshilfe, • Passende Schulform etc. & „Autismusspezifische Therapie“ Eine autismusspezifische Therapie soll: • die soziale Kognition fördern (Ich-Entwicklung, soziale Bezugnahme: Empathie, Perspektivenübernahme) und somit die sozialen Kompetenzen erweitern • die Kommunikation verbessern, sprachliche Fertigkeiten trainieren • die Flexibilität/Anpassung an die Umwelt fördern und somit „störendes Verhalten“ abbauen Eine autismusspezifische Therapie ist: • (bisher) nicht kausal wirksam • langfristig ausgelegt • vom Schweregrad der Symptomatik abhängig • am erfolgreichsten, wenn Eltern/Angehörige als Co-Therapeuten eingesetzt werden Eine autismusspezifische Therapie sollte ausgewählt werden nach: • Evidenz • Alter • Zielsymptomatik • Verfügbarkeit/Finanzierbarkeit Überblick über die wichtigsten Therapieansätze • Eltern- und Familienberatung • Frühförderung und Sprachanbahnung • Verhaltenstherapie und ergänzende Maßnahmen • Interaktionsförderung – Training sozialer Fertigkeiten • Medikamentöse Behandlung • Lebensumfeld und Alltagsgestaltung • Verselbständigung - Arbeitssuche Empirisch gut abgesicherte Methoden: Frühe, intensive, globale Verhaltenstherapie (ABA, Lovaas) Verhaltensmodifikation einzelner Symptome mit VT Treatment and Education of Autistic and Related Communication Handicapped Children (TEACCH) Medikamentöse Therapie der Begleitsymptome Empirisch moderat abgesicherte Methoden Training sozialer Fertigkeiten Theory of Mind-Training Picture Exchange Communication System (PECS) Überwiegend negativ evaluierte Methoden Gestützte Kommunikation Methoden ohne empirische Absicherung Logopädie Physiotherapie Ergotherapie Umstrittene/zweifelhafte Methoden Festhaltetherapie Reittherapie, Delphintherapie Klangtherapie Spezialbrillen TEACCH Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children • Name für eine Einrichtung; mittlerweile: Bezeichnung für das pädagogische Konzept, das im Rahmen dieser Institution in den USA entstanden ist (besser: „TEACCH-Ansatz“). • Eric Schopler (Schüler von Bruno Bettelheim): – Autismus nicht aufgrund Ablehnung durch die Mutter – Annahme einer kognitiven Störung aufgrund biologischer Ursachen – Förderkonzept mit Schwerpunkt klare Strukturierung, Einbezug von Eltern als Co-Therapeuten. TEACCH • Weltweit 1. staatliches Autismusprogramm (North Carolina): 1972 „Division TEACCH“. • Netzwerk aus Einrichtungen, die in Zusammenarbeit mit den Familien eine lebenslange, kontinuierliche und professionenübergreifende Förderung und Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen gewähren. Komponenten des TEACCH-Modells • Dezentrale Organisation • Forschung und Praxis • Kooperation mit den Eltern • TEACCH Zentren (7 in North Carolina) • TEACCH Klassen • Lebenslange Begleitung • Training von Fachleuten • TEACCH Philosophie TEACCH - Strukturierung und Visualisierung Raum TEACCH - Strukturierung und Visualisierung Zeit TEACCH - Strukturierung und Visualisierung Tagesablauf TEACCH - Strukturierung und Visualisierung Aufgaben Picture Exchange Communication System PECS • Andrew Bondy und Lori Frost (Delaware Autistic Program, 1985) • Wenn Kommunikation nicht spontan vom Kind initiiert wird • Kommunikation auf der Grundlage des Austauschs von Karten • Ausgangspunkt: unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen Training Autismus – Sprache – Kommunikation TASK • Kooperation Spezialambulanz Josefinum Augsburg/Frühinterventionszentrum Heidelberg • „Elterntraining zur Anbahnung sozialer Kommunikation bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen“ • Gruppentraining für Eltern von Kindern von 3-6 Jahren • Ein! Baustein der ganzheitlichen Behandlung • Evaluierung im Rahmen einer Pilotstudie positiv TASK - Trainingsbausteine Sitzung Bausteine der Sitzung 1 Kennenlernen, Erwartungen, Gruppenregeln, Diagnose ASS, Ursachen, Erklärungsmodelle 2 Kommunikative Schwierigkeiten bei ASS, Grundprinzipien sozialer Kommunikation 3 Steigerung der kindlichen Aufmerksamkeit und Motivation, Bewegungs- und Fingerspiele, Gesten, Gebärden 4 Einführung in gemeinsames Spiel: Das Kind führt, gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus 5 Gezielte Sprachlehrstrategien anhand des Buchanschauens, das richtige Buch 6 Kommunikationsförderliche Strategien einsetzen: Individualtermin mit Eltern und Kind 7 Videosupervision, gezielte Fragen zur Kommunikations- und Sprachanregung 8 Videosupervision, gemeinsames Spiel: Anregungen und Impulse geben, Umgang mit nichterwünschtem Verhalten 9 Videosupervision, Gelegenheiten zur Kommunikation im Alltag schaffen und nutzen Pharmakotherapie • Aktuell kein Medikament spezifisch und offiziell für Autismus zugelassen-> individuelle Heilversuche • Nützlich zur Verbesserung einzelner gravierender Symptome – z. B. hyperaktive, zwanghaft-ritualisierende, eigen- und fremdaggressive und depressive Symptomatik • Vorsichtige, längere Einschleichphase, v. a. bei Stimulanzien. Verschlechterung motorischer Stereotypien, Verstärkung aggressiven Verhaltens und gereizter Stimmung ist möglich. • Risperidon, SSRI, Olanzapin – Einzelfallstudien: Quetiapin, Ziprasidon, Aripiprazol Mythen? Alle Autisten sind geistig behindert Autisten sind gut im Kopfrechnen Rabenmütter sind schuld am Autismus Autisten sind am liebsten allein Autisten haben keine Gefühle Autismus ist heilbar Autisten fallen auf den ersten Blick auf Autisten können nicht sprechen Autisten sind alle wie „Rainman“ Autisten haben besondere Fähigkeiten (Savants) Zusammenfassung Autismus ist keine seltene Störung. Die (verhaltensorientierte) Diagnostik des Autismus ist mit einigem Aufwand sehr genau und sicher möglich. Grundstörung ist die weitgehende Unfähigkeit, sinnvoll soziale Zusammenhänge verknüpfen zu können. Autismus ist eine genetisch bedingte Störung. Autismus ist eine neuronale Entwicklungsstörung. „Neurobiologische Marker“ fehlen derzeit (noch). Ansätze zur Verbesserung der Prognose liegen wahrscheinlich in einer sicheren Früherkennung, Frühförderung und Therapie.