Dieter Witschen ETHISCHER PLURALISMUS Dieter Witschen ETHISCHER PLURALISMUS Grundarten – Differenzierungen – Umgangsweisen Ferdinand Schöningh Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-78222-9 INHALT I. EINLEITUNG ............................................................................. 7 II. DESKRIPTIV-ETHISCHER PLURALISMUS ....................... 15 III. NORMATIV-ETHISCHER PLURALISMUS........................ 24 1. PLURALITÄT DER MORALISCHEN PRAKTIKEN......................... 25 2. PLURALITÄT DER ETHISCHEN THEORIEN ................................ 54 IV. TUGENDETHISCHER PLURALISMUS .............................. 70 1. PLURALITÄT VON TUGENDEN ................................................ 70 2. PLURALITÄT VON IDEALEN .................................................... 95 V. UMGANG MIT MORALISCHEM PLURALISMUS ........... 106 VI. SCHLUSS ............................................................................. 131 I. EINLEITUNG Zur Signatur moderner Gesellschaften gehört ihr Pluralismus. Was bei dieser Diagnose, die sich für Zeitgenossen wie ein Gemeinplatz ausnimmt, unter diesem Schlagwort verstanden wird, ist allerdings keineswegs eindeutig, sondern selbst vielfältig. Es gibt nicht eine Art eines Pluralismus, sondern diverse Arten. Das lässt sich bereits der Beobachtung entnehmen, dass in unterschiedlichen Lebensbereichen ein Pluralismus mit jeweiligen Eigentümlichkeiten existiert. So lässt sich eine Vielfalt von weltanschaulichen Überzeugungen, seien diese religiös oder nicht-religiös geprägt, konstatieren. Sozial ist eine Vielzahl von Gruppen und Organisationen, die ganz unterschiedliche Ziele oder Interessen verfolgen, unübersehbar. Kulturell zeigt sich die Pluralität in diversen Lebensstilen, Handlungsformen, Sprachspielen, ästhetischen Strömungen. In den Wissenschaften werden Fragestellungen mit Hilfe verschiedener Methoden untersucht und diverse Theorien entwickelt. Politisch spielen – zumal in einer Demokratie – mehrere Parteien wie eine Vielzahl von nicht-staatlichen Organisationen oder zivilgesellschaftlichen Bewegungen eine bedeutsame Rolle. Erst recht gilt das hohe Maß an Ausdifferenzierungen für sogenannte postmoderne Gesellschaften, als deren Charakteristikum eine Zunahme von Pluralität angesehen wird.1 Sowohl für die Moderne als auch in nochmals gesteigertem Maße für die Postmoderne ist kennzeichnend, dass nicht nur de facto in verschiedenen Lebensbereichen eine Vielfalt von Überzeugungen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Interessen besteht, sondern diese mehrdimensionale Pluralität vor allem auch normativ anerkannt bzw. bejaht wird. In einem noch weitergehenden Verständnis soll Pluralität nicht nur befürwortet, sondern auch gefördert werden. 1 So wird als Kern der Postmoderne „radikale Pluralität“ bestimmt. Die Postmoderne ist „keine Anti-Moderne, sondern eine radikalisierte Moderne“ (W. Welsch, Postmoderne – Pluralität als ethischer und politischer Wert, Köln 1988, 35). „Die Situation der Postmoderne ist dadurch charakterisiert, daß wir mit einer zunehmenden Vielfalt unterschiedlichster Lebensformen, Wissenskonzeptionen und Orientierungsweisen konfrontiert sind; daß wir des Rechtscharakters und der Unüberschreitbarkeit dieser Pluralität gewahr werden; und daß wir diese Vielfalt zunehmend vorbehaltlos anerkennen und schätzen“ (Ebd., 23). 8 EINLEITUNG Außer einem weltanschaulichen, religiösen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Pluralismus existiert ein moralischer Pluralismus. Wenn auch die Erkenntnis, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten oder in verschiedenen Kulturen oder unterschiedliche Personen und Gruppen in derselben Epoche bzw. Gesellschaft divergierende moralische Vorstellungen gehabt haben, alles andere als neu ist, so erfolgen doch gegenwärtig ethische Orientierungen offenbar in einer Lebenswelt, die sich durch eine noch stärker ausgeprägte sowie unhintergehbare Vielfalt von Ansichten bzw. Überzeugungen, von Einstellungen, von Lebensformen, von Praktiken sowie von institutionellen wie strukturellen Regelungen auszeichnet. Der moralische Pluralismus ist ein Teilbereich des gesellschaftlichen wie des globalen Pluralismus. Wie Pluralismus im Allgemeinen, so gibt es moralischen Pluralismus im Besonderen nicht im Singular, sondern im Plural. Sich zu vergewissern, wofür dieses Kennzeichen für die „moralische Situation unserer Zeit“ im Einzelnen stehen kann, welche unterschiedlichen Sachverhalte oder Positionen mit ihm bezeichnet werden (können), ist mithin indiziert. Je nach dem Verständnis eines moralischen Pluralismus kann eine unterschiedliche Beurteilung oder Bewertung erforderlich sein. Eine Beurteilung insofern, als zu fragen ist, ob eine spezifische Art des moralischen Pluralismus in einer adäquaten Weise eruiert worden ist oder nicht. Und eine Bewertung insofern, als der jeweils diagnostizierte Pluralismus entweder positiv oder negativ evaluiert werden kann. Nun findet nicht jede Art eines moralischen Pluralismus eine besondere Aufmerksamkeit. Mit ihm könnte auch etwas Triviales gemeint sein, was etwa der Fall wäre, würde an die Binsenwahrheit erinnert, dass es eine Vielzahl beispielsweise von moralischen Prinzipien oder Normen oder Werten oder Grundhaltungen oder Motivationen gibt. Ein solchermaßen verstandener moralischer Pluralismus stünde für eine quantitative Aussage, wonach eben eine Mehr- bzw. Vielzahl innerhalb dieser oder jener moralischen Klasse existiert. Weil dieser Pluralismus als selbstverständlich angesehen wird, wird er für gewöhnlich nicht eigens reflektiert. Das ändert sich, wenn unterschiedliche moralische Sichtweisen oder Beurteilungen in den Blick kommen, wenn durch einen moralischen Pluralismus eine Reflexion des Für und Wider evoziert wird. Eine numerische Vielzahl ist etwas anderes eine qualitative Vielfalt. EINLEITUNG 9 Eine qualitative Vielfalt moralischer Art wird insbesondere dann eigens thematisiert, wenn sie wenigstens implizit in einer Spannung oder in einem Gegensatz zu einem ethischen Monismus gesehen wird, für den sich ebenfalls bedenkenswerte Gründe anführen lassen. Gegenstand der Erörterung wird ein moralischer Pluralismus, wenn es strittig ist, in welchem Umfang und in welcher Weise er nicht nur als empirisches Faktum zur Kenntnis zu nehmen, sondern vor allem als etwas normativ zu Affirmierendes anzuerkennen ist. Im Unterschied etwa zum politischen oder kulturellen oder ästhetischen Pluralismus, der jeweils ausdrücklich gewünscht wird oder sein kann, kann ein moralischer Pluralismus unter Umständen erhebliche Probleme aufwerfen. Um das Fragwürdige des moralischen Pluralismus mit einer ersten Anfrage zu verdeutlichen: Wenn sich auch prima facie in einem starken Maße der Eindruck aufdrängen mag, dass Menschen ganz unterschiedliche moralische Überzeugungen haben bzw. vertreten, je nachdem, welcher weltanschaulichen Gemeinschaft sie angehören, zu welcher Zeit sie in welcher Kultur leben, in welchem sozialen Milieu sie ihre moralische Sozialisation erfahren haben, was ihr Geschlecht oder ihre soziale Zugehörigkeit ist, ob sie in einer Gesellschaft einer Majorität oder einer Minorität angehören, lässt sich bezweifeln, ob ein moralischer Pluralismus in jedem Fall zu begrüßen ist. Unter anderem dann, wenn dies implizierte, es sei wünschenswert, dass die Einen die Möglichkeit haben, beispielsweise die Todesstrafe, die Genitalverstümmelung, die Blutrache, die Verheiratung von Minderjährigen, die Ablehnung der Religionsfreiheit als moralisch erlaubt zu befürworten, und die Anderen die Möglichkeit, diese Praktiken strikt ablehnen. Deckt es sich mit unseren moralischen Intuitionen oder Erfahrungen, dass im Bereich der Moral keine allgemeingültigen Aussagen möglich sind, dass moralische Bewertungen vielmehr Ausdruck von rein subjektiven Empfindungen sind, die je nach den kontingenten Bedingungen völlig unterschiedlich sein können? Gibt es in rebus moralibus allenfalls partielle Geltungsansprüche, aber keine allgemeingültige Wahrheit? Bei der Rede vom moralischen Pluralismus ist zum einen der Referenzpunkt von Bedeutung. Die Bezugsgröße ist der Bereich der Moral. Bei der Erörterung eines moralischen Pluralismus ist von der Hypothese auszugehen, dass bei einem derartigen Pluralismus sich andere Fragen stellen (können) als etwa bei einem 10 EINLEITUNG weltanschaulichen oder einem politischen Pluralismus.2 Zum anderen sind die Spezifica dessen, was den Pluralismus in diesem Feld ausmacht, von ihrem Gegenüber her zu bestimmen. Sowohl für die semantische Bestimmung dessen, was unter ‚moralischem Pluralismus‘ verstanden wird oder im Falle einer stipulativen Nominaldefinition verstanden werden soll, als auch für die sachliche Klärung der quaestio disputanda ist eine Vergewisserung hilfreich, wenn nicht sogar erforderlich, was das jeweilige Antonym zu ‚moralischem Pluralismus‘ ist oder sein soll.3 Werden entsprechend dem methodischen Grundsatz: „per opposita cognoscitur“ („durch Gegensätze wird etwas erkannt“) Gegensatzpaare benutzt, um den Erörterungen klare Konturen zu geben, dann sind sowohl das Wort, für das eine Nominaldefinition anzugeben ist, als auch das jeweilige Antonym, soweit dies möglich ist, neutral zu bestimmen. Geschieht dies nicht, kann es leicht zu semantischen Erschleichungen kommen, was meint, dass durch Anwendung eines sprachlichen Mittels die Bewertung vorweggenommen wird. In Ausführungen zum moralischen Pluralismus lässt sich dieses Phänomen häufig beobachten, wenn dessen Gegenposition mit Wendungen wie ‚monolithische Gleichförmigkeit, hegemonialer Universalismus, Uniformität, Konformismus, Gleichschaltung, Nivellierung, dogmatische oder ideologische Einseitigkeit’ erfasst wird. Diese Wendungen enthalten oder sind negative Wertungswörter. Erst recht ist dies der Fall, wenn die Gegenposition mit ‚Fundamentalismus‘ gleichgesetzt wird, also einem Verhalten, bei 2 3 Um nur ein Beispiel zu nennen: Während es als völlig angemessen erscheint, bei unterschiedlichen politischen Auffassungen in dieser oder jener Angelegenheit demokratisch darüber abzustimmen, welchem der Vorschläge gefolgt werden soll, stellt sich bei einer Pluralität von moralischen Überzeugen unmittelbar das Empfinden ein, dass eine Abstimmung darüber, was das moralisch Richtige oder Falsche ist, der „Sache“ nicht gerecht wird. In welch unterschiedlicher, mitunter unerwarteter Weise die Entgegensetzung vorgenommen werden kann, dafür sei an dieser Stelle nur ein Beispiel angeführt. So stellt Kant dem Pluralismus den Egoismus gegenüber. „Dem Egoisten kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d.i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.“ (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe VII 130) Wenn Kant unter dem ‚moralischen Egoisten‘ den versteht, „welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm nützt,“ (ebd.) dann versteht er unter ‚Pluralismus‘ gleichsam die Haltung umfassender Unparteilichkeit, mithin etwas ganz anderes als das, was in der Gegenwart mit diesem Wort bezeichnet wird. EINLEITUNG 11 dem eineindeutige, als eherne, unveränderliche, zweifelsfrei gültige angesehene Grundsätze oder allein die Berufung auf eine einzelne Autorität oder einen einzelnen Traditionsstrang das Urteilen bestimmen, vor allem infolge einer groben Simplifizierung die Komplexität einer Situation enorm reduziert wird, eigene Begrenzungen nicht beachtet werden, eine kritische Auseinandersetzung nicht zugelassen wird, Andersdenkende diffamiert oder gar militant bekämpft werden. Das Wort ‚Fundamentalismus‘ ist rein negativ konnotiert. Vice versa wird die gleiche Methode angewandt, wenn ‚moralischer Pluralismus‘ von vornherein mit ‚Indifferenz, Beliebigkeit, Willkür, Relativismus, Skeptizismus, Nihilismus oder gar Chaos und Anarchie‘ identifiziert wird. Als neutrale Antonyme zu ‚ethischem Pluralismus‘ können dagegen Wendungen wie ‚ethischer Monismus, ethischer Universalismus, ethische Einheit, ethischer Konsens‘ dienen, als neutrale Antonyme zu ‚ethischem Monismus‘ Wendungen wie ‚ethische Vielfalt, ethische Differenzen“. In den einschlägigen Diskussionen lässt sich beobachten, dass die Alternative „ethischer Monismus – ethischer Pluralismus“ mit einer ganzen Reihe von Gegensatzpaaren benannt oder in Verbindung gebracht wird wie etwa „Einheit – Vielfalt“, „Konsens – Dissens“, „Allgemeingültigkeit – bedingte Gültigkeit“, „Homogenität – Heterogenität“, „Gemeinsamkeit – Andersartigkeit“, „Universalismus – Partikularismen“, „globale – regionale Ethik“, „kosmopolitische – kulturell bedingte Ethik“, „Gleichheit – Verschiedenartigkeit“, „gemeinsamer Nenner – irreduzible Diversität“, „übergreifende Einheit – disparate Mannigfaltigkeit“, „Synthese – Spaltung“, „Integration – Diversifizierung“. Sachgerecht wird ferner nicht vorgegangen, wenn Befürworter eines ethischen Pluralismus sich in analoger Weise des MesotesSchemas bedienen, wie es aus der aristotelischen Tugendethik bekannt ist. Wie Aristoteles eine Tugend, also eine moralisch gute Grundhaltung, als Mitte zwischen den beiden negativen Extremen eines Zuviel und eines Zuwenig, also zwischen zwei entgegengesetzten Lastern bestimmt (beispielsweise die Freigebigkeit als Mitte zwischen Verschwendungssucht und Geiz, die Tapferkeit als Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit), so wird von Befürwortern der ethische Pluralismus als richtige Mitte zwischen zwei negativen Positionen platziert. Das ist etwa der Fall, wenn der ethische Pluralismus als Mitte zwischen Relativismus und Fundamentalismus oder zwischen Beliebigkeit und Absolutismus oder zwi- 12 EINLEITUNG schen Skeptizismus und Dogmatismus verortet wird. Rein für sich genommen enthalten die Benennungen der einzelnen Elemente des dreigliedrigen Schemas bereits eine Bewertung. Nur dann, wenn erläutert und begründet wird, aufgrund welcher Merkmale eine bestimmte Bewertung vorgenommen wird, werden Erkenntnisse vermittelt und wird die jeweilige Bewertung nachvollziehbar. Die Anwendung des Mesotes-Schemas hat in ethischen Reflexionen mithin dann seine Berechtigung, wenn zum einen unter Nennung relevanter Merkmale die Gründe dargelegt werden, warum die beiden negativen Positionen abzulehnen sind, und zum anderen die Gründe, die für die Berechtigung der mittleren Position sprechen. Werden innerhalb des ethischen Pluralismus zwei Arten unterschieden, nämlich ein verantworteter und ein dogmatischer Pluralismus, dann ist es, folgt man dem üblichen Sprachgebrauch, gleichfalls analytisch evident, dass die erste Art zu bejahen und die zweite Art abzulehnen ist. Bei dieser Distinktion gilt ebenfalls, dass sie nur dann Einsichten vermittelt, wenn Unterscheidungsmerkmale benannt und begründet werden, aufgrund derer die eine Position als verantwortbar und die andere als dogmatisch bewertet werden kann. Bei einer sachgerechten Distinktion von zwei oder mehreren Arten eines ethischen Pluralismus muss jedes einzelne Einteilungselement neutral erfasst werden. Der Pluralismus ist kein klassisches Thema der Ethik. Er gehört nicht zum Kanon dessen, was in der Geschichte der Ethik von den großen Denkern in der Regel eigens reflektiert worden ist. Wenn es auch in der Tradition selbstverständlich moralische Differenzen sowie unterschiedliche ethische Theorien gegeben hat und daher, wie rekonstruiert werden kann, ein ethischer Pluralismus in manchen Hinsichten oder Ansätzen durchaus diskutiert worden ist, ist er doch historisch betrachtet im Wesentlichen erst ein Thema der Moderne. Angesichts einer gegenwärtig hochdifferenzierten wie globalisierten Lebenswelt, in der unterschiedlichste moralische Positionen Anerkennung erwarten, ist er ein dringliches Thema.4 Wird der ethische Pluralismus gesondert thematisiert, dann steht nicht wie bei der Behandlung etwa von ethischen Prinzipien oder 4 J. Rawls diagnostiziert und prophezeit, dass „die Vielfalt vernünftiger umfassender religiöser, philosophischer und moralischer Lehren, die wir in modernen demokratischen Gesellschaften finden, kein vorübergehender Zustand ist, der bald verschwinden wird. Sie ist ein dauerhaftes Merkmal der öffentlichen Kultur einer Demokratie.“ (Politischer Liberalismus, Frankfurt 2003, 106) EINLEITUNG 13 Regeln oder des Gewissens oder der Freiheit oder der Tugenden oder der Schuld ein bestimmter ethischer Grundaspekt im Fokus der Reflexion, sondern ein übergreifendes Merkmal. Es geht dann nicht um einen eingrenzbaren Aspekt substanzieller Art, sondern um eine Rahmenbedingung, innerhalb derer ethische Reflexionen auf verschieden Ebenen sich vollziehen. Der Pluralismus ist der lebensweltliche Kontext, in dem Akteure sich ihr moralisches Urteil und damit ihre Handlungsmaximen zu bilden haben. Damit Diskussionen über den ethischen Pluralismus5 nicht diffus verlaufen, sie vielmehr möglichst sachgerecht wie differenziert geführt werden können, sind ihnen klare Konturen zu geben. Dadurch wird die Bestimmung der distinkt zu erörternden Fragen ermöglicht. Bei dem Versuch, die quaestiones disputandae zu profilieren, sei unter Berücksichtigung der genannten methodischen Erfordernisse in folgender Weise vorgegangen: Zunächst seien, was den Schwerpunkt der Abhandlung ausmacht, unter Rückgriff auf in der neueren Ethik eingebürgerte Distinktionen drei Ebenen des ethischen Pluralismus unterschieden, denen drei Grundarten korrespondieren. In einem ersten Schritt sei auf einen deskriptivethischen Pluralismus eingegangen, also darauf, dass unter diver5 Zum Thema vgl. allgemein aus philosophischer Sicht: N. Hartmann, Ethik, Berlin 41962, 36-42; O. Höffe, Pluralismus und Toleranz: zur Legitimation der Moderne, in: Ders., Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik, Stuttgart 1988, 105-124; J. Kekes, The Morality of Pluralism, Princeton, NJ 1993; K.P. Rippe, Pluralismus. Einige Klärungsversuche zu einem inflationär gebrauchten Begriff, in: Ethica 4 (1996),289-317; M. Plümacher u.a. (Hg.), Herausforderung Pluralismus (FS H.J. Sandkühler), Frankfurt a.M. u.a. 2000; K. Knapp, Plurale Welt und Ethik. Studien zum Umgang mit moralischer Differenz, Würzburg 2009; D. Birnbacher, Der ethische Pluralismus – ein gangbarer Weg?, in: G. Ernst (Hg.), Moralischer Relativismus, Paderborn 2009, 257-273. Aus theologischer Sicht: H.J. Münk, Theologische Ethik und Pluralismus. Theologische Sozialethik im Spannungsfeld der philosophisch-ethischen Diskussion einer Trennung von Gutem und Gerechten, in: Ders./ M. Durst (Hg.), Christliche Identität in pluraler Gesellschaft, Freiburg/Schweiz 2005, 190-256; J. Römelt, Christliche Ethik im pluralistischen Kontext, Münster 22007; K. Hilpert, Zentrale Fragen christlicher Ethik, Regensburg 2009, 236-253; M. Honecker, Evangelische Ethik als Ethik der Unterscheidung, Berlin 2010, 7287; W. Huber, Ethik im Pluralismus, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 55 (2011), 168-178; C. Mandry, Christliche Lebensführung im Kontext des Pluralismus, in: Theologie der Gegenwart 54 (2011), 253-264; K.-W. Merks, Grundlinien einer interkulturellen Ethik. Moral zwischen Pluralismus und Universalität, Freiburg/Schweiz 2012; K. Hilpert (Hg.), Theologische Ethik im Pluralismus, Freiburg/Schweiz 2012. 14 EINLEITUNG sen Rücksichten eine moralische Vielfalt faktisch festgestellt werden kann. In einem zweiten Schritt sei auf der normativ-ethischen Ebene, auf der der Inhalt moralischer Handlungsorientierungen bestimmt und vor allem begründet wird, erörtert, unter welchen Hinsichten von einem normativen Pluralismus gesprochen werden kann. In der neueren Ethik wird komplementär zur normativen Ethik zunehmend die Tugendethik behandelt; entsprechend sei in einem dritten Schritt ein tugendethischer Pluralismus thematisiert. Insgesamt wird sich zeigen, dass innerhalb der drei Grundarten nochmals etliche Differenzierungen notwendig sind. Auf eine weitere Grundart, den metaethischen Pluralismus, sei hingegen nicht eigens eingegangen. Dieser Pluralismus, der sich des Näheren auf der sprachlichen, der gnoseologischen und der ontologischen Ebene manifestieren kann, sei nicht gesondert thematisiert, weil sich auf dieser Ebene andersgeartete Fragen stellen als auf den drei genannten, die bei aller Unterschiedlichkeit doch in einem sachlogischen Konnex stehen. Allerdings werden bei der Behandlung der drei angeführten Arten verschiedentlich metaethische Aspekte mit einfließen. Beim vierten Schritt geht es nicht mehr um einen Überblick über die Arten, sondern es seien noch einige Hinweise zum Umgang mit einem moralischen Pluralismus gegeben. Von dieser Abfolge und der genannten Beschränkung lassen die folgenden Überlegungen sich leiten.