Friedrich Schiller (1759-1805) »Wilhelm Tell« (1804) [Kurzinterpretation] Schauspiel in fünf Akten von Friedrich von Schiller, Uraufführung: Weimar, 17. 3. 1804, Hoftheater. – Schillers letztes vollendetes Drama entstand, wie der Dichter in seinem Tagebuch vermerkte, zwischen dem 25. 8. 1803 und dem 18. 2. 1804. Wieweit Goethe, der auch die erfolgreiche Uraufführung des Werkes leitete, den Dramatiker zu diesem Werk anregte oder sich Schiller durch das in Weimar umlaufende, »grundlose Gerücht«, er arbeite an diesem Stoff, dafür interessierte, ist nicht 5 zu entscheiden. Allerdings dürfte die Tell-Sage im 18. Jh. zum allgemeinen Bildungsgut gehört haben; historischer Hintergrund ist der 1291 mit dem Zusammenschluß der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden zu datierende Beginn des Schweizer Unabhängigkeitskampfes gegen Habsburg, wobei die legendenhaften Attribute – Tells Apfelschuß, Geßlerhut und Rütlischwur – nicht belegt sind, jedoch bereits früh in Schweizer Chroniken und Volksliedern erscheinen. Als 10 Quelle diente Schiller vor allem das Chronicon Helveticum (Erstdruck 1734) des Aegidius Tschudi, dessen handschriftliche Fassung im 16. Jh. entstand, sowie Johannes Müllers Geschichte schweizerischer Eidgenossenschaft (1786/87); auch dürfte ihm das Urner Tellenspiel aus dem frühen 16. Jh. bekannt gewesen sein. Dennoch sind die historischen Fakten als solche für Schiller letztlich nur von marginaler Bedeutung; sein Drama handelt erneut – wie schon sein Erstling Die Räuber – von der 15 Problematik des Selbsthelfers, der hier allerdings nicht außerhalb der Ordnung gerät, sondern vielmehr durch sein Eingreifen Geschichte als Heilsgeschichte offenbart. Der Tell ist damit das einzige Schauspiel Schillers, »in welchem der utopische Gedanke seiner Geschichtsphilosophie und Ästhetik zum theatralischen Ereignis wird und nicht bloß als regulative Idee über den tragischen Ausgang triumphiert« (G. Ueding). 20 In die Idylle der am Vierwaldstätter See spielenden Eröffnungsszene (»Es lächelt der See, er ladet zum Bade, / Der Knabe schlief ein am grünen Gestade«) bricht unvermittelt die politische Gewalt ein. Baumgarten, ein Schwyzer, ist auf der Flucht vor den kaiserlichen Reitern, da er den von den Habsburgern eingesetzten Burgvogt erschlagen hat, der sich an seiner Frau vergehen wollte. Wegen eines aufziehenden Gewitters sträubt Ruodi, der Fischer, sich gegen eine Überfahrt, als der 25 Jäger Tell erscheint (»Wer ist der Mann, der hier um Hilfe fleht?«) und den Verfolgten über den See rudert; den Zurückbleibenden zerstören die zu spät kommenden berittenen Verfolger die Hütten und zerstreuen die Herden: »Wann wird der Retter kommen diesem Lande?« Die Fremdherrschaft der Österreicher provoziert die Notwehr der Schweizer, deren Existenz naiv-idyllisch war, nicht der verändernden Kraft der Geschichte ausgesetzt, sondern vom Kreislauf der Natur umfangen: »Denn 30 so wie ihre Alpen fort und fort / Dieselben Kräuter nähren, ihre Brunnen / Gleichförmig fließen, Wolken selbst und Winde / Den gleichen Strich unwandelbar befolgen, / So hat die alte Sitte vom Ahn / Zum Enkel unverändert fortbestanden.« Dieses natürliche Gleichmaß des Lebens ist nunmehr zerstört, und dem Tell ist es aufgegeben, das Volk aus der verlorenen Idylle zu einer neuen zu führen, wobei er nicht von Anfang an dieser »Retter« ist, sondern dazu erst wird: Er, so Schiller, steht 35 selbst »ziemlich für sich in dem Stück, seine Sache ist eine Privatsache, und bleibt es, bis sie am Schluß mit der öffentlichen Sache zusammengreift« (an Iffland, 5. 12. 1803). Zunächst mahnt Tell zu »Geduld und Schweigen«, Gewaltherrschaft vergleicht er mit Naturvorgängen, die von selbst wieder zur Ruhe finden. Als Stauffacher, ein Freund aus Schwyz, ihn zum gemeinsamen Handeln gegen die Österreicher auffordert, winkt Tell, ganz der Selbsthelfer, dem Planung und Kalkül fremd sind, 40 ab: »Doch was ihr tut, laßt mich aus eurem Rat, / Ich kann nicht lange prüfen oder wählen; / Bedürft ihr meiner zu bestimmter Tat, / Dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen.« Der Rütli-Schwur der Eidgenossen vollzieht sich ohne Tell: »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr.« Die Tyrannenmacht soll kollektiv gebrochen werden, und diesem Entschluß hat sich jeder zu fügen: »Bezähme jeder die gerechte Wut / Und spare für 45 das Ganze seine Rache, / Denn Raub begeht am allgemeinen Gut, / Wer selbst sich hilft in seiner eigenen Sache.« Ist damit auf politischer Seite die Differenz zu Tells Verhalten ausgedrückt, so demonstriert eine eingefügte Liebesszene diesen Unterschied auch im privaten Bereich. Berta von Bruneck befreit Ulrich von Rudenz, einen Parteigänger Österreichs, von seiner Verblendung und gewinnt den Adligen für die Sache seines Volks; dem privaten Glück ist das allgemeine Wohl vorge50 ordnet: »Kämpfe / Fürs Vaterland, du kämpfst für deine Liebe!« Aber auch Tell (»Der Starke ist am mächtigsten allein«) kann seine Autonomie nicht bewahren. Als er in Altdorf dem dort ausgestell- Schiller · »Wilhelm Tell« - Kurzinterpretation ten Hut des Reichsvogts Hermann Geßler die vorgeschriebene Ehrbezeugung nicht erweist, wird er festgenommen und in der berühmten Apfelschuß-Szene gezwungen, das Leben seines Kindes zu gefährden, um den Sohn und sich selbst zu retten. Da Tell nicht verhehlt, daß im Falle eines Fehl55 schusses sein zweiter Pfeil dem Reichsvogt gegolten hätte, läßt dieser ihn, obgleich ihm die Freiheit zugesichert wurde, verhaften. Bei der Fahrt über den stürmischen See kann Tell sich befreien; sein ganzes Streben aber gilt nun der Tötung des Reichsvogtes. Vor die Tat aber tritt jetzt die Reflexion; in einem Monolog bedenkt Tell sein Vorhaben, legitimiert es als Verteidigungshandlung, dessen Motive nicht in einer persönlichen Kränkung liegen, sondern in der Rettung der Allgemeinheit, die, 60 wie Tell selbst, durch Geßlers Untaten jede Möglichkeit eines selbstbestimmten, mit sich und der Natur im Einklang sich befindlichen Lebens verloren hat: »Ich lebte still und harmlos – Das Geschoß / War auf des Waldes Tiere gerichtet, / Meine Gedanken waren rein von Mord – / Du hast aus meinem Frieden mich heraus / Geschreckt, in gärend Drachengift hast du / Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt (. . .)« Die Haltung Tells wird am Ende des Stücks nochmals legitimiert in 65 der Begegnung mit Johannes Parricida, dem Herzog von Schwaben, der aus »Ehrsucht«, aus subjektiven Gründen allein, zum Vater- und Kaisermörder in einem geworden ist und dem Tell mit der Einsicht in die Schuld zugleich die Möglichkeit der Erlösung aufzeigt. Gewinnt Tell im dramatischen Prozeß die Möglichkeit der Reflexion und der dialogischen Rede, so erschließt sich den Eidgenossen die Dimension der individuellen Freiheit und der spontanen Tat. 70 Die Apfelschuß-Szene macht ihren gemeinsamen Entschluß hinfällig, fordert sie zum situationsgerechten Handeln auf: »Die Stunde dringt, und rascher Tat bedarf's – / Der Tell ward schon ein Opfer eures Säumens –« Weil die Eidgenossen dem Drängen des adligen Rudenz nachgeben, verzichtet dieser auf seine Privilegien: »Und frei erklär' ich alle meine Knechte.« Aus der Solidarität, die sich bewährt hat in der Vertreibung der Unterdrücker und der Rettung Bertas, entspringt die Freiheit 75 aller. Die neue Gemeinsamkeit ist zugleich so individuell geartet, daß die Eidgenossen akzeptieren, was sie zuvor unterbinden wollen: die Selbsthilfe, die verschwiegene Tat des einzelnen. Umgekehrt, und darin greift Tells »Privatsache« mit der »öffentlichen Sache« zusammen, gewinnt sein individuelles Handeln allgemeinen Charakter, wird Teil eines solidarischen Handelns. Kindlers Literatur Lexikon (elektronische Ausgabe), München 2000 Friedrich Schiller (1759-1805) ∙ »Wilhelm Tell« (1804) Kein Kreislauf – Vertreibung aus und Rückkehr in die Idylle – wird beschrieben, sondern ein Modell 80 auf die Bühne projiziert, in dem der einzelne und die Gesellschaft aus ihrem jeweiligen Absolutheitsanspruch heraustreten, sich gegenseitig relativieren und ergänzen und in eine neue, noch nie dagewesene harmonische Ordnung eintreten. Schiller hat diese Ordnung in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen auch als »ästhetischen Staat« bezeichnet, worin die einzelnen Menschen »bei der höchsten Universalisierung« ihres »Betragens« zugleich ihre »Eigentümlichkeit 85 retten«, Allgemeinheit und Individualität sich durchdringen, wie auch bereits Tell am Ende zu jener Idealgestalt emporwächst, die in der Ausbildung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht im Gegensatz zur Umwelt, sondern in Harmonie mit ihr lebt, »ästhetische Totalität« (F. Martini) gewinnt. Indem das Schauspiel diese Utopie demonstriert, erhält es jene märchenhaften Züge, die dem Stück im 19. Jh. einen anhaltenden Erfolg auf dem Theater garantierten, eine Inszenierung in der 90 Gegenwart aber fast unmöglich machen. Max Frisch hat mit seiner Erzählung Wilhelm Tell für die Schule (1971) eine moderne, unkonventionelle Bearbeitung des Stoffs vorgelegt. 2