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Neue Z}rcer Zeitung
FEUILLETON
Mittwoch, 26.06.2002 Nr.145
58
Das historische Buch
Mohammeds Erbe
Neue Publikationen zur islamischen Geschichte und Gegenwart
Seit dem 11. September beglücken uns deutsche Verlage mit einer Flut von Büchern über die
islamische Welt, die auch fürs breitere Publikum
geschrieben sind. Endgültig vorbei die Zeiten, da
uns nur die Wahl zwischen den Diagnosen Tibis
und jenen von Huntington blieb, zwischen dem
«Traum von der halben Moderne» und den «blutigen Grenzen des Islam».
Es ist bitter, dass das nun verstärkte Angebot
vor allem dem Schrecken geschuldet ist. Doch gedeihen im Windschatten des Aktuellen auch die
Werke, die sich um nachhaltige Aufklärung bemühen. Diese hat bei denen zu beginnen, die
noch gar nichts wissen. Das schönste Buch für sie
hat Gabriel Mandel Khan verfasst: «Der Prophet
Mohammed. Eine kleine Kulturgeschichte des
Islam» ist eine wahre Augenweide. Seite für Seite
vereinen sich wunderbar erzählende Texte und
hinreissende Bilder zu kleinen Kunstwerken der
Typographie. Der italienische Kunsthistoriker,
Psychoanalytiker und hochproduktive Autor von
nunmehr 182 Büchern ist auch Musiker, Dichter
und Künstler. Seine Stimme hat besonderes Gewicht, denn Mandel Khan ist Mitbegründer der
Islamischen Universität Averroes in Cordoba und
europäischer Sufi-Scheich. Das macht ihn zum
authentischen Sprecher einer sich modernisierenden Tradition.
So spürt man in den klug eingeflochtenen Originaltönen von Koran und Überlieferung den
Gläubigen – und erlebt zugleich den kritischen
Wissenschafter, der sich nicht scheut, dem Volksglauben teure Episoden der Heilsgeschichte wie
die nächtliche Himmelsreise des Propheten als
Vision zu bezeichnen, die man bildlich verstehen
müsse. Altarabien, Mohammeds Leben und islamische Kultur vom Gebet bis Wissenschaft und
Kunst handelt Mandel ab – und bringt die Dinge
elegant auf den Punkt, ohne zu vergröbern. Besser kann man es nicht machen. Dies ist das Buch,
das wir allen Schulen wünschen. Dazu noch, für
Fortgeschrittene, Günter Kettermanns «Atlas zur
Geschichte des Islam»: die wichtigsten Daten und
Fakten, nach Epochen und Regionen gegliedert,
auf einen Blick.
Wer die lexikalische Darreichung bevorzugt
und vor dem Meisterwerk der internationalen
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Orientalistik, der nun fast vollendeten «Encyclopaedia of Islam», auf CD (www.brill.nl/eicd) zurückschreckt, mag sein Glück mit Monika und
Udo Tworuschkas «Islam-Lexikon» versuchen. Es
richtet sich resolut an Laien, ist gegenwarts- und
praxisorientiert, ausgesprochen nützlich und leider in heiklen Punkten apologetisch – die übliche
Beisshemmung dialogbewegter Christen?
Für Denker hat nun Tilman Nagel eine brillante Rekonstruktion der koranischen Heilsbotschaft und ihrer theologischen, juristischen und
politischen Konsequenzen vorgelegt. Der Göttinger Islamwissenschafter verwöhnt uns seit Jahr
und Tag mit anspruchsvollen Einführungen in
Theologie und Geschichte. Dies ist gewissermassen die Essenz: Islam als grosse geistige
Schöpfung, deren innere Logik 103 Paragraphen
pointiert herausarbeiten. Das ist so fesselnd wie
riskant. Denn wer eine ganze Schriftkultur aus
einem Gründungstext herausliest, lässt nicht nur
manches weg, er unterstellt mitunter mehr Konsequenz, als da ist. Schliesslich sind es gerade die
Widersprüche
und
Lücken
im
koranischen
«Keim», welche die theologische Dynamik entbinden. Dennoch verdient dieser Versuch einer
Wesensschau höchste Anerkennung. Allen, denen
das islamische Recht ein Buch mit sieben Siegeln
ist, sei Nagels umfassende Einführung anempfohlen – ein grosser Wurf.
Am meisten beschäftigt uns dennoch die
Gegenwart und vor allem das Spektrum islamischer Politiken. Zwei fast schon Klassiker sind
nun bei Herder erhältlich: Der früh verstorbene
Politologe Nazih Ayubi studiert den politischen
Islam in der arabischen Welt Land für Land, eine
angenehm sachliche, faktenreiche Überschau. Die
Soziologin Fatima Mernissi beschreibt sehr anschaulich die muslimischen Ängste vorm gesellschaftlichen Wandel – und macht den Zaudernden Mut. Ins Hier und Jetzt führt Sigrid Nökels
Fallstudie über den «Neo-Islam» der Gastarbeitertöchter in Deutschland. Was kann man nicht
alles erfahren, wenn man diese jungen Frauen,
die durch ihr Kopftuch in der Öffentlichkeit auffallen, aus ihrem Leben erzählen lässt. Es sind bereits
integrierte
Bildungsaufsteigerinnen,
die
plötzlich den Islam für sich entdecken und sich
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selbstbewusst zu ihrem religiösen Anderssein bekennen. Sie beanspruchen damit einerseits echte
Anerkennung über die ökonomische Integration
hinaus und nutzen den Islam andererseits, um
sich durch Techniken der Selbststeuerung von traditionellen Rollenerwartungen zu emanzipieren.
«Selbstislamisierung» ist klassische Identitätspolitik, sie dient der doppelten Selbstbehauptung
als souveränes Subjekt. Das ist bei Nökel so
gründlich, begriffsscharf und theoretisch durchdacht geschildert, dass es nur ein Wort dafür gibt:
meisterlich. Es ist auch die beste Antwort auf die
Verkennung, die aus pauschalen Urteilen spricht
wie dem neulich zu lesenden, der Islam sei eine
unaufgeklärt gebliebene, frühmittelalterliche Religion, die periodisch aggressiv ausbreche.
Damit sind natürlich die Krisen in der islamischen Welt nicht vom Tisch. Ich, sagt Tariq Ali,
der grosse politische Publizist – und erzählt ihre
Geschichte im letzten Jahrhundert als bekennender Linker und Atheist. Ein atemberaubendes
Werk, kaltblütig in der Analyse und heiss glühend
im Mitgefühl mit den Millionen von Opfern verfehlter Politik im Irak und in Iran, Pakistan und
Palästina, Kaschmir und Afghanistan. Ein Meer
des Grauens ist es, was der aus Lahore gebürtige
Londoner zeigt, angerichtet von den aberwitzigsten Machtspielen lokaler Despoten, ihrer fundamentalistischen Gegner und westlicher Imperialismen.
Hier ist die Rede von der unfassbaren Korruption pakistanischer Regierungen und von der Million Toter, die das Embargo gegen den Irak bis
heute vermutlich gefordert hat. Und hier hört
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man die Mächtigen Klartext reden. Zum Beispiel
Churchill 1937 zur Niederschlagung des Palästinenseraufstands gegen die zionistische Kolonisierung: «Ich bin nicht der Meinung, dass der Hund
am Futtertrog das unwiderrufliche Recht auf den
Futtertrog hat, auch wenn er dort schon sehr
lange liegt. Ich räume auch nicht ein, dass den
nordamerikanischen Indianern oder den Schwarzen in Australien grosses Unrecht widerfahren ist.
Ich räume nicht ein, dass diesen Menschen Unrecht widerfahren ist, weil eine stärkere Rasse,
eine höherrangige, eine weltgewandtere Rasse
(. . .) an ihre Stelle getreten ist.» Ist das der Geist,
aus dem der heutige Nahe Osten entstand?
Ludwig Ammann
Gabriel Mandel Khan: Der Prophet Mohammed. Eine kleine
Kulturgeschichte des Islam. Parthas, Berlin 2002. 143 S., Fr.
34.40.
Günter Kettermann: Atlas zur Geschichte des Islam. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001. 186 S., Fr. 89.–.
Monika und Udo Tworuschka: Islam-Lexikon. Patmos, Düsseldorf 2002. 228 S., Fr. 33.60.
Tilman Nagel: Islam. Die Heilsbotschaft des Korans und
ihre
Konsequenzen.
WVA-Verlag
Skulima,
Westhofen
2001.
166 S., Fr. 32.–.
Tilman
Nagel:
Das
islamische
Recht.
Eine
Einführung.
WVA-Verlag Skulima, Westhofen 2001. 388 S., Fr. 48.–.
Nazih Ayubi: Politischer Islam. Religion und Politik in der
arabischen Welt. Herder, Freiburg i. Br. 2002. 367 S., Fr. 32.90.
Fatima Mernissi: Islam und Demokratie. Herder, Freiburg
i. Br. 2002. 254 S., Fr. 34.60.
Sigrid Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam.
Zur
Soziologie
alltagsweltlicher
Anerkennungspolitiken.
Transcript, Bielefeld 2002. 336 S., Fr. 47.70.
Tariq Ali: Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung. Die Krisenherde unserer Zeit und ihre historischen Wurzeln. Hugendubel, München 2002. 416 S., Fr. 39.70.
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