Islamischer Baustein für einen interreligiösen Religionsunterricht Liebe, Partnerschaft, Sexualität Geeignet für Sek. I und II Zusammengefasst und erarbeitet von Waltraud Wahida Azhari Hamburg 2004 MuslimInnen im GIR (Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht) 1 Die folgenden Ausführungen reflektieren die Ergebnisse der Diskussion innerhalb eines Seminars „Islamisches Recht“ zum Thema „Liebe, Partnerschaft und Sexualität“ unter der Leitung von Imam Mehdi Razvi, Theologe am Islamischen Zentrum Hamburg, im Sommer 2004 Liebe - Partnerschaft – Sexualität Grundlegende Überlegungen aus islamischer Sicht zur „Leitkultur“ dieser Gesellschaft vorweg: Die Leitkultur dieser Gesellschaft ist vorhanden, sie sollte akzeptiert, aber kritisch reflektiert werden: die Fragestellung ist, in wie weit die in dieser Leitkultur sich prägenden Leitbilder für das persönlicher Leben junger Muslime hilfreiche Lösungen anbieten können und was junge Muslime von ihr respektieren und übernehmen können. Lösungen sollten dabei auf der Grundlage der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung basieren und auf der Grundlage des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches. Die Mehrheit der Muslime in Hamburg sollte die hier aufgezeigten Positionen akzeptieren können. Die Problemlösung in Bezug auf Liebe, Partnerschaft und Sexualität sollte aus islamischer Sicht in folgenden Schritten geschehen: 1. Die Fragen Partnerschaft – Liebe – Sexualität betreffend mit Hilfe der Vernunft (aql) lösen. Vernunft im islamischen Verständnis ist kein kaltes Kalkül der Ratio, sondern durch das Herz geleitet. 2. Konsens: einen Konsens in dieser Frage herzustellen, ist aktueller Auftrag der in Hamburg lebenden Muslime. Konsens im islamischen Sinne ist heterogen, meint nicht einen einzigen einheitlichen Standpunkt, sondern die Wahrnehmung und das friedliche Einvernehmen der Vielfalt aller vorhandenen Standpunkte. Ein Konsens im islamischen Sinne schließt sogar das mögliche Vorhandensein und die Akzeptanz eines konträren Standpunktes mit ein. 3. Den bisherigen historischen Stand zu diesem Thema berücksichtigen und sich bewußt sein, das dieser relativ und nicht absolut ist (ansonsten vertritt man die Ansicht des mythischen Denkens eines Islamisten, der Positionen beansprucht, die es im Islam historisch nie gegeben hat). 4. Es gilt zu überprüfen, ob die vertretene Position der Sunna des Propheten entspricht. 2 5. Entspricht die Position der Offenbarung im Koran? Die Lösung zu diesem Thema soll kein wirklichkeitsfremdes Ideal voraussetzen, kein wirklichkeitsfremdes Ideal islamischer Eiferer. Um wen geht es? Es geht um muslimische Schülerinnen und Schüler. aus ca. 50 verschiedenen islamischen Kulturen, Traditionen und unterschiedlichen sozialen Schichten und aus Elternhäusern mit dementsprechend unterschiedlichen und vielfältigen Islamverständnissen. Die auf Grundlage dieser Hintergründe basierenden Haltungen der Jugendlichen sollten von den Lehrern ernst genommen und respektiert werden, die Jugendlichen sollten in ihren Haltungen gestärkt und unterstützt und nicht geschwächt werden. Der Hintergrund muslimischer Mädchen aus der Türkei bzw. anderen islamischen Ländern ist anders als der deutscher Jugendlicher: sie sind in einem anderen gesellschaftlichen Rahmen eingebettet. Es sollte verhindert werden, daß Mädchen zu den eigenen Problemen auch noch die Probleme, die in dieser Gesellschaft entstehen können, hinzu bekommen. Jugendliche und auch schon Kinder sind in dieser Gesellschaft einem enormen Druck ausgesetzt, der durch die Massenmedien wie z.B. durch das Fernsehen rund um die Uhr in Filmen, in der Werbung, durch fast gleichgeschaltete sexistische Video-Clips der Pop-Musik-Industrie und Zeitschriften, die sich zielgerichtet mit dem Thema Sex an die Jugendlichen richten, entsteht. Der Leitgedanke der sexuellen Freizügigkeit mit allen Konsequenzen macht sich unter den Jugendlichen breit in Form eines enormen Leistungsdrucks: „das erste Mal Sex haben“ gilt als die Initiation, „Mann“ oder „Frau“ zu werden, „dazu“ zu gehören und als Beweis, attraktiv zu sein. Die Hauptsorge der Eltern kann in der Frage zusammengefasst werden: "Wie erziehe ich mein Kind zur Selbstbeherrschung und zu einem Selbstbewusstsein, so dass es nicht verführbar ist?" Die Jugendlichen sind Teil einer Klassengemeinschaft, eines Freundeskreises, einer Clique, zu der sie einerseits dazugehören wollen, andererseits sind sie aufgrund ihrer religiösen (Selbst)Erziehung mit Tabus konfrontiert, die von den Freunden/Mitschülern nicht verstanden oder als Unfreiheit verstanden werden. 3 Für Jugendliche (und auch für Erwachsene), ist es sehr wichtig, ihr Leben vernünftig zu gestalten. Sexualität ist ein Teil der Lebensgestaltung, sie steht nicht für sich allein. Das Leben sollte nicht entgleisen und auch nicht die Sexualität: sie ist Teil der Möglichkeiten, die Gott gegeben hat. Sexualität gehört zur Erfüllung des Lebens, ist wichtig für den Menschen. Ein sexuell unerfülltes Leben ist anstrengend und unerquicklich. Lebenslange Keuschheit, wie sie von Männern und Frauen in christlichen oder buddhistischen Orden praktiziert wird, ist nicht erstrebenswert im Islam: erstrebenswert ist vielmehr ein verantwortlicher und bewußter Umgang mit diesem Phänomen, das Gott zur freien Verantwortung in die Hände von Menschen gelegt hat. Die Frage der Partnerschaft stand früher und auch heute unter folgendem Problembewusstsein: die Verantwortung für Sexualität zu übernehmen und verhindern dass • eine unerwünschte Beziehung • eine ungewollte Schwangerschaft • eine Krankheit die Folge sein könnte. Sexualität im Islam Sexualität wird im Islam grundsätzlich positiv bewertet und ist ein wertvolles Geschenk Gottes. Der Körper ist ein Geschenk Gottes, alle Funktionen des Körpers sind Geschenke und wir brauchen uns für nichts diesbezüglich zu schämen, alle Glieder haben rationale Gründe. Männer und Frauen haben rein biologisch unterschiedliche Körper, haben gleiche ethische Werte und tragen beide Verantwortung. Sexualität steht nicht für sich allein, sondern innerhalb eines Kontextes von Gefühlen, Wünschen, Hoffnungen, Abhängigkeiten, Verletzbarkeit, dem Wunsch nach Sicherheit, Geborgenheit. Im Arabischen wird „Sexualität“ durch den Begriff al hayat ul ginsia umschrieben, das soviel heißt wie „das eigentliche Leben zwischen den Geschlechtern“ und meint damit mehr als das Körperliche allein (der erotische Sex heißt arabisch: ba`). Sex ist kein isolierter, mechanischer Akt, sondern eingebettet in einen komplizierten, psychoemotionalen Zusammenhang. Sexualität ist ganzheitlich, nicht mechanisch und auf die betreffenden Organe beschränkt. Das bedeutet, ein sexueller Akt ist nicht nur auf den organischen Vollzug beschränkt, sondern hat Auswirkungen auf die 4 Psyche. Die Berücksichtigung der Psyche ist überaus wichtig und sollte im Vordergrund stehen. Wenn ein Mensch mit seiner Sexualität nicht verantwortungsbewusst umgeht, entstehen Nebenwirkungen. Wenn das Vertrauen zu oft gebrochen wird, kann man aufgrund der Vorausängste keine feste Beziehung mehr eingehen, bzw. wird eine tiefe Beziehung aufgrund des mangelnden Vertrauens erschwert. Enttäuschung und Misstrauen sind die Folge, eine innere Zerrissenheit entsteht. Sexualität sollte erst dann praktiziert werden, wenn die Beziehung von beiden Seiten verantwortet ist. Ein ständiges Vertiefen der Beziehung führt zum Erfolg und zur Harmonie. Harmonie ist nicht der Anfang, sondern die Folge eines Bemühens. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ Eine Bindungsentscheidung hat im Leben eines Menschen eine große Bedeutung, denn Trennungen sind erfahrungsgemäß sehr schmerzhaft. Bei einer Bindungsentscheidung sollte berücksichtigt werden, dass das Leben nicht auf 13-25 Jahre beschränkt ist, und junge Muslime, die eine Verbindung eingehen möchten, sollten sich die Frage stellen: „Ist das der Mensch, mit dem ich mein Leben teilen möchte?“ Eine Partnerschaft ist das Ziel, mit gleichen Rechten, Pflichten und Verantwortung. Jungen und Mädchen müssen die psychischen, physischen, emotionalen, biologischen und gesellschaftlichen Belastungen, die in einer Beziehung auftreten, tragen können. Die Frage, die der Jugendliche sich stellen sollte, ist:“ Kann ich mit diesem Partner mein Leben teilen?“ Dabei ist wichtig, sich der Unvollkommenheit des Partners bewusst zu sein und sich nicht blindlings in eine Verbindung mit einem vermeintlichen Ideal zu stürzen. Wichtig ist, sich genügend Zeit zum Kennen lernen zu nehmen, in der sexuelle Erfahrungen ausgeklammert sind: ein potentieller Partner und eine potentielle Partnerschaft werden sexuell nicht „ausprobiert“. Wichtig ist es, Distanz in der Phase des gegenseitigen Kennenlernens einzuhalten und auszuhalten, um einen klaren Kopf zu bewahren und die Geduld (sabr (arab.): Geduld in Gott, Mut und Zuversicht) zu entwickeln, das Gegenüber und sich selbst zu prüfen und herauszufinden, ob er oder sie tatsächlich ein Lebenspartner/eine Lebenspartnerin werden kann. Dabei ist es wichtig, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Beim „Kennen lernen“ ergibt sich die Frage: • Was kann ich tun, um den anderen kennen zu lernen – außerhalb der Sexualität? 5 • Jugendliche sollten nicht zuletzt auch sich selbst kennen lernen: wie kann man sich selbst kennen lernen? Die besondere Situation der Mädchen 14-15 jährige Mädchen sind voll geschlechtsreif, jedoch nicht in der Lage, ein voll geschlechtsreifes Leben mit all seinen Konsequenzen einer gelebten Sexualität in Bezug auf ein gesellschaftliches Leben eigenverantwortlich zu tragen. Sexualwissenschaftler haben herausgefunden, dass Mädchen durch unglücklich verlaufende Partnerschaften in Bezug auf ihre Lebensplanung vollkommen heraus geschleudert werden können. Hier gilt es, dass Selbstbewusstsein von Mädchen zu stärken und ihnen die Priorität ihrer Lebensplanung bewusst zu machen: „Wie plane ich mein Leben, was ist jetzt wichtig und auf was will ich hinaus?“ Wichtig ist es, den Mädchen die Notwendigkeit einer eigenen wirtschaftlichen Basis zu vermitteln und das Selbstbewusstsein der Mädchen zu stärken. Frauen werden aufgrund ihrer biologischen Funktionen früher reifer und haben in der Regel früher ein entwickeltes Verantwortungsbewusstsein. Männer zeigen heute in dieser Gesellschaft z.T. eine extreme Bindungsangst, viele empfinden sich als sexuell frei, sie haben z.T. bewusst, z.T. unbewusst den Wunsch in sich, ihre Sexualität zu verbreiten. Frauen dagegen sind nicht frei, sondern verlangen nach einer festen Partnerschaft, um eine Schwangerschaft zu schützen, um ihre Liebe geschützt zusehen, um sich nicht auszuliefern. Mädchen verlieben sich häufig in Folge von körperlicher Annäherung und erleben persönliche Katastrophen, wenn sie Untreue und Unverbindlichkeit erleben. Der freie Umgang mit Sexualität bedeutet in der Konsequenz meistens „frei von Verantwortung“. Hiermit soll nicht gesagt werden, dass nur Mädchen unter den Folgen einer unverantworteten Sexualität und häufigen Trennungen leiden. Die Hervorhebung von Mädchen als besonders verletzlich basiert auf Erfahrungen und Tendenzen innerhalb dieser Gesellschaft. Es soll nicht ein einseitiges Bild von Jungen (und Männern) entstehen, die ebenfalls unter Trennungen und unverantworteter Sexualität zu leiden haben. Selbstschutz - Disziplin - das Bewusstsein über die Notwendigkeit der Triebkontrolle Die Jugendlichen befinden sich in dem Spannungsfeld zwischen den Sorgen und Befürchtungen ihrer religiösen Eltern und einer Gesellschaft, in der sexuelle Freiheit gleichgesetzt ist mit ideeller, menschlicher Freiheit 6 schlechthin. Hier kommt ein sehr unterschiedliches Verständnis von Freiheit zum Ausdruck: Freiheit im islamischen Sinne entsteht durch Selbstbeherrschung der Triebe, besteht nicht in deren unverbindlichen, unverantwortetem Ausleben. Die Jugendlichen sollen die eigenen Gefühle verstehen und lernen, sich zu bremsen. Hierzu bringt Imam Razvi ein Beispiel: „Die Mädchen sollen sich vorstellen, ihr Körper sei ein neues, schickes Sportauto, das Gott ihnen geschenkt hat. Mit diesem Auto sollen sie eine schöne Reise antreten. Sie sollen nicht schon bei der ersten Ausfahrt einen Unfall erleben“. Die Eltern sollen ihren Töchtern und Söhnen die Sicherheit geben, dass sie ihnen weiterhelfen, was immer auch geschieht. Keuschheit Keuschheit ist ein Zustand des Herzens, d.h. Gutes denken, Gutes sprechen, Gutes tun. Man soll nichts tun, wovon man weiß, das es einem selbst oder anderen schadet oder Schwierigkeiten bringt, oder Disharmonien für sich selbst oder andere. Keuschheit ist eine innere Qualität, die Selbstbeherrschung voraussetzt, diese Selbstbeherrschung führt zur inneren Freiheit. Übungen in der Religion des Islam sind dazu geeignet, Selbstbeherrschung zu erlernen, wie z.B. das regelmäßige Gebet und das Fasten. Das Gebot der Keuschheit gilt natürlich für beide Geschlechter (Sure.33; 36), wird aber vielerorts doppelmoralisch nur von Mädchen mit rigider Strenge erwartet. Für beide Geschlechter gilt es, Geduld zu entwickeln, bis Gott den passenden Lebenspartner schickt. Ehe im Islam: Eine Ehe ist ein Betrieb in Verantwortung der Frau. Ein rumänisches Sprichwort sagt: „Der Hahn singt, aber die Henne schreibt die Noten". Das persische Sprichwort „Die Frau ist der Motor, der Mann die Karosserie“ bringt die starke, dominante Stellung der Frau innerhalb der Ehe zum Ausdruck. Das Damespiel im Schach (persisch) macht gleichfalls die bedeutende Position der Frau kenntlich: während die Dame sich überall hin frei bewegen kann, kann der König nur auf sie reagieren. Ehevertrag Ist ein Vertrag zwischen 2 gleichberechtigten, mündigen Personen. In vielen Rechtsschulen werden die Inhalte eines Ehevertrags nicht direkt von den Ehekandidaten, sondern von deren Bevollmächtigten im Auftrag und im 7 Interesse ihrer Mandanten ausgehandelt. Innerhalb des Ehevertrags sollen beide Partner ihre Vorstellungen das gemeinsame Leben betreffend, bewusst zum Ausdruck bringen und ihre Erwartungen an den Partner formulieren. Auf diese Weise sollen spätere Streitigkeiten in Bezug auf grundsätzliche Regelungen vermieden werden. Teil des Ehevertrages ist z.B. die Höhe der Morgengabe des Mannes an die Frau und z.B. Scheidungsmodalitäten. Die Heiratsformel der Frau lautet: „Ich verheirate mein Selbst mit dir“, die stellvertretend von dem Mullah gesprochen wird, und der Ehekandidat antwortet: “Ich nehme es an“. Aus dieser Formulierung geht hervor, dass die Frau den Mann heiratet, sie stellt die Bedingungen, die der Mann akzeptiert. Im Islam ist die gesamte Persönlichkeit der Frau heilig („haram“), in der Ehe gibt die Frau dem Mann die Erlaubnis, das er sich jederzeit nähern darf, das er sie jederzeit ansprechen darf. Eine einseitige Verpflichtung zum sexuellen Vollzug seitens der Frau besteht nicht, beide haben einen Anspruch auf ein sexuell befriedigendes Leben durch den Partner. Beide Partner müssen sich in der Ehe voll entwickeln können, keiner soll sich für den anderen aufopfern und auf etwas verzichten. Der Mann soll keine Eifersucht entwickeln, wenn seine Frau beruflich schneller vorankommt. Partnerschaft mit wem? Auch diese Frage ist eine Sache der Vernunft. Soweit es möglich ist, sollte man innerhalb der eigenen Gruppe heiraten, d.h. Muslime heiraten Muslime, Christen heiraten unter sich, Juden unter Juden usw., weil mehr Gemeinsamkeiten vorhanden sind. Krisen können möglicherweise besser bewältigt werden. (In traditionellen Gesellschaften heiraten Familien unter sich,).Aber: Gegensätze ziehen sich an, Dieter ist attraktiver als Ahmed, ist interessanter, aufregender. Jugendliche, die für dieses Abenteuer bereit sind, sollten sich bewusst sein, dass es ihre Aufgabe ist, die Partnerschaft zum Erfolg zu bringen. Sie sollten sich bewusst sein, Schwierigkeiten und Probleme, die kommen können, durchzustehen. Wenn sie beide diese Haltung haben, ist es empfehlenswert, und zwar nicht als Abenteuer, sondern als Herausforderung. Sunna Ein Blick in die Sunna des Propheten Mohammed (Gottes Friede und seine Segnungen seien über ihm) zeigt, dass Mischehen von ihm selbst praktiziert wurden: eine Frau des Propheten war Jüdin (Safiyya), eine andere war Christin (Maria). Seinab, eine Tochter des Propheten, war lange Zeit mit einem Nichtmuslim verheiratet, er wurde erst später Muslim. Wenn 8 heutzutage Muslime überwiegend unter sich heiraten, hat dies meistens praktische Gründe, denn die brennenden Fragen ergeben sich erst im Zusammenleben, z.B. mit Christen: „Gehen wir in die Kirche oder in die Moschee?“ „Soll unser Sohn beschnitten werden oder nicht? „Soll unsere Tochter getauft werden?“ Ein Konsens bzgl. der Frage der Partnerschaft soll unter gegenwärtigen Bedingungen in Deutschland neu zustande kommen, in einer Gesellschaft, in der Muslime zwar nach den Christen die größte Religionsgemeinschaft bilden, aber dennoch zu einer kleinen Minderheit gehören. • Die Frage: „Soll/kann/darf Fatima Dieter heiraten?“ sollte in der Klasse thematisiert werden. • Wie wird die Frage der Partnerwahl in eurer religiösen Gemeinschaft (umma), Tradition, Familie geregelt? Ein Blick nach England zeigt, dass auch dort die Muslime nach Lösungen suchen. In einem Projekt, das vom Islamic Council of Britain initiiert wurde, soll für Jugendliche, Muslime und Nichtmuslime, Freiräume zum Kennen lernen entstehen. Partnerschaft ab wann? Diese Frage ist eine wirtschaftliche Frage. Hierzulande kommt die Empfehlung: „heiratet nicht zu früh“! Zuerst sollen sich die jungen Paare eine sichere Grundlage schaffen, bevor sie heiraten. Feste Beziehungen existieren zwar bereits, nur Schwangerschaften sollen nicht vorkommen. In islamischen Verhältnissen findet man dagegen die Haltung vor, dass feste Beziehungen, d.h. Ehen, vorzuziehen sind. Normalerweise übernehmen die Eltern es, den Jugendlichen eine Ehe und trotzdem eine Ausbildung zu ermöglichen, vor allen Dingen den Mädchen. Man vermeidet sehr bewußt, die Ausbildung der Mädchen in Folge einer Schwangerschaft abzubrechen. Die Kinder übernehmen in diesem Fall die Eltern, von beiden Seiten kooperieren die Eltern, bis das junge Paar eine eigenständige wirtschaftliche Grundlage hat. Die Partnerschaft in muslimischen Zusammenhängen ist von vornherein in ein gesellschaftliches Verhältnis eingebettet, denn die Frage, ob die Partner zueinander passen, impliziert von vornherein die Frage, ob die Familien zueinander passen: die Familie, die Verwandtschaft wird mitgebracht und die heiratet man mit. Unter Muslimen wird jungen Paaren eine Ehe ermöglicht, auch wenn die Ausbildung nicht fertig ist, schon ab 18, nicht erst ab Mitte 20. Nach islamischem Recht können junge Paare die finanzielle Fürsorge der Eltern verlangen. Eltern sollen ihren Beitrag leisten, um eine Ehe zu ermöglichen, sie sollten keinen Doppelstandart für Jungen und Mädchen praktizieren, 9 unter dem Motto: die Jungen dürfen alles machen, nur die Mädchen sollen unberührt bleiben. Gibt es irgendwelche Tabus in den sexuellen Praktiken? Diese Frage betrifft die Intimsphäre des Menschen. Alles was den Paaren gegenseitig Freude macht, ist erlaubt. Wie steht es mit dem sexuellen Leben homosexuell veranlagter Menschen? Sexualität soll in festen Lebensgemeinschaften, nicht in Form „freier“ unverantworteter Sexualität praktiziert werden. Das gilt auch für Homosexualität, die in allen Gesellschaften vorkommt. Man ermöglicht homosexuell veranlagten Menschen allein zu leben und geht davon aus, dass sie Partner finden. Im Unterschied zu unserer Gesellschaft ist es nicht üblich, sich zu „outen“. Zwangsehe? Entgegen gesellschaftlicher Praxis, die leider immer wieder vorkommt, ist eine unter Zwang geschlossene Ehe nach islamischem Recht ungültig und kann auf Wunsch der Betroffenen annulliert werden. Was ist eine Aussteuer? Eine Wohnung einzurichten, gilt als Aussteuer, sie ist Pflicht der Eltern. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage sind allerdings viele muslimische Eltern nicht dazu in der Lage, dieser Verpflichtung nachzukommen. Imam Mehdi Razvi, Islamisches Zentrum Hamburg: „Die Eltern möchten die Sehnsüchte und Träume ihrer Töchter erfüllen, die Töchter sind wie Prinzessinnen und benehmen sich auch so.“ Die betreffenden Verse im Koran: „Und unter Seinen Zeichen ist dies, dass Er Partnerwesen schuf aus euch selbst für euch selber, auf das ihr Frieden in ihnen fändet, und Er hat Liebe und Zärtlichkeit zwischen euch gesetzt. Hierin sind wahrlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt.“ (Sure 30: 22) 10 „Und die, welche keinen Gott anrufen außer Allah, noch das Leben töten, das Allah unverletzlich gemacht hat, es sei denn nach Recht, noch Ehebruch begehen (die, wenn sie sexuelle Beziehungen haben, Verantwortung für einander übernehmen) – und wer das tut, der soll Strafe erleiden.“ (Sure 25:69 ) „Wahrlich, die muslimischen Männer und die muslimischen Frauen, die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen, die gehorsamen Männer und die gehorsamen Frauen, die wahrhaftigen Männer und die wahrhaftigen Frauen, die demütigen Männer und die demütigen Frauen, die Männer, die Almosen geben und die Frauen, die Almosen geben, die Männer, die fasten und die Frauen, die fasten, die Männer, die ihre Keuschheit wahren (die über ihre Sexualität selbst Wächter sind) und die Frauen, die ihre Keuschheit wahren (die über ihre Sexualität selbst Wächter sind), die Männer, die Allahs häufig gedenken und die Frauen, die gedenken – Allah hat ihnen Vergebung und herrlichen Lohn bereitet.“ (Sure 33:36) Fragen an die SchülerInnen: • Was für ein Verständnis hat der Islam von der Sexualität? • Was versteht man im Islam unter „Freiheit“ (in Bezug auf Sexualität) • Was bedeutet „Keuschheit“? Fragen an muslimische SchülerInnen: • Soll/kann/darf Fatima Dieter heiraten? Was sagen deine Eltern dazu? Deine Großeltern? Wie denkst du darüber? • Welche Möglichkeiten gibt es für mich, herauszufinden, ob Dieter/Ahmed mein Lebenspartner sein könnte? • Welche Erwartungen hast du an deinen Lebenspartner, der kein Muslim ist…der ein Muslim ist? • Welche Möglichkeiten gibt es für uns, uns näher kennen zu lernen, wenn wir sexuell (noch) nicht aktiv sein können? 11 Interessant und anregend wäre ein Blick zu den anderen Religionen und könnte innerhalb der Klasse zu einem interreligiösen Dialog führen: • Wie sehen die anderen Religionen die Sexualität? Z.B. der Buddhismus, das Christentum, das Judentum, der Hinduismus? • Gibt es hier das Gebot der Keuschheit, und wie ist es begründet? • Welche Haltung gibt es in Bezug auf „Mischehen?“ 12