Vertritt Kohelet eine Philosophie des Absurden?

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Univ.-Prof. Dr. Ludger Schwienhorst-Schönberger
Universität Wien
Katholisch-Theologische Fakultät
Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft
A-1010 Wien, Schenkenstraße 8-10
Mail: [email protected]
Vertritt Kohelet eine Philosophie des Absurden?
Univ.-Prof. Dr. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Universität Wien
Vortrag, Szeged 09.09.2011
Ein zwiespältiger Eindruck
Die Lehre des Buches Kohelet wird gern als eine Philosophie des Absurden
gekennzeichnet. Dies scheint durchaus naheliegend zu sein, wird doch das Buch mit
dem einprägsamen Satz eröffnet: „Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet,
Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch“ (Koh 1,2). Diethelm Michel, der
vor wenigen Jahren verstorbene evangelische Alttestamentler an der Universität
Mainz und bedeutende Kenner des Buches, übersetzt das hebräische Wort „häbäl“
(Lateinisch: „vanitas“) mit „absurd“ und interpretiert die Lehre Kohelets in
ausdrücklicher Anlehnung an die Philosophie Albert Camus` als eine „Philosophie
des Absurden“. 1 Das hat nun gravierende Konsequenzen für die Stellung des Buches
im Kanon. Nach Diethelm Michel hatten diejenigen Recht, die das Buch Kohelet
nicht im Kanon haben wollten. Die Lehre des Buches, so Michel, sei nicht zu
vereinbaren mit dem, was in der Heiligen Schrift über Gott gesagt werde. Michel
schreibt: „Ganz sicher ist, daß seine [Kohelets] Aussagen über Gott, der im Himmel
thront und dem man nie begegnen kann, nicht zu vereinbaren sind mit dem, was sonst
im Alten Testament über Gott gesagt wird: daß er sich offenbart hat, daß er handelnd
und erwählend in die Geschichte eingegriffen hat und eben in diesem seinem
erwählenden Handeln erkennbar und anzubeten ist. ... Wenn man auf die reine Lehre
1
D. Michel, Untersuchungen zur Eigenart des Buches Qohelet (BZAW 183), Berlin 1989, 44f.
2
sieht, hatten diejenigen Recht, die Kohelet nicht im Kanon haben wollten. ... Nach
dem Zeugnis des Alten wie des Neuen Testaments muß man von Gott anders reden ...
Sein ,Gott, der im Himmel ist‘ [Koh 5,1], ist eben nicht der Gott Abrahams, nicht der
Gott Isaaks, nicht der Gott Jakobs, nicht der Gott in Jesus Christus. Das darf man bei
aller Faszination, die von diesem Denker ausgeht, nicht übersehen.“ 2
Tatsächlich hinterlässt das Buch bei einer ersten Lektüre einen zwiespältigen
Eindruck. Auf der einen Seite stoßen wir auf Aussagen, die in der Tat die Annahme
nahegelegen, hier spräche einer, der am Leben verzweifelt. „Da hasste ich das Leben,
denn als etwas Böses lag auf mir das, was unter der Sonne geschieht. Ja, das ist alles
Windhauch und Luftgespinst“ (Koh 2,17). Auf der anderen Seite findet sich im Buch
aber auch mehrfach der Aufruf zur Freude: „Auf, iss mit Freude dein Brot, und trink
glücklichen Herzens deinen Wein. Denn von Urzeit an hat Gott Gefallen an diesem
deinem Tun. Trag jederzeit frische Kleider, und nie fehle duftendes Öl auf deinem
Haupt. Mit einer Frau, die du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll
Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll
Windhauch. Denn das ist dein Anteil am Leben und an dem Besitz, für den du dich
unter der Sonne anstrengst“ (9,7-9). Neben den pessimistischen Aussagen wird das
Buch von sieben Texteinheiten durchgezogen, die zur Freude aufrufen bzw. die die
Freude als die dem Menschen angemessene Haltung zur Sprache bringen. Von daher
wundert es nicht, dass Roger Norman Whybray Kohelet als „preacher of joy“
bezeichnet hat. 3
Erklärungen der Spannungen und Widersprüche
Die Herausforderung, vor die sich die Koheletforschung gestellt sieht, besteht im
Grunde darin, diese widersprüchlich erscheinenden Aussagen in rechter Weise
einander zuzuordnen. Zur Lösung dieses Problems wurden und werden in der
Forschung unterschiedliche Modelle vertreten.
2
3
Ebd. 288f.
Roger Norman Whybray, Qoheleth, Preacher of Joy: JSOT 23 (1982) 87-98.
3
Das erste Modell, welches man als das biographische bezeichnen könnte, besagt:
Kohelet habe im Laufe seines Lebens über dieselbe Sache unterschiedlich gedacht,
„ähnlich wie wir öfters über dieselbe Sache zu verschiedenen Zeiten verschieden
urteilen“, schreibt Vincenz Zapletal in seinem Kommentar aus dem Jahre 1905. Und
Kohelet – so Zapletal weiter – habe „seine Gedanken aufgezeichnet, wie sie kamen
… Daraus mag zum Teil folgen, dass hier und da über denselben Gegenstand
anscheinend ganz widersprechende Urteile abgegeben werden.“ 4
Ein zweites Modell besagt, die Widersprüche des Buches seien aus der Eigenart des
koheletschen Denkens heraus zu verstehen. Kohelet sei ein dialektischer Denker, der
die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit selbst zur Sprache bringt, ohne sie
harmonisieren zu wollen.
Das dritte Modell geht literar- und redaktionskritisch vor. Es versucht, die
Spannungen
und
Widersprüche
des
Buches
aus
seiner
literarischen
Wachstumsgeschichte zu erklären; es rechnet also damit, dass sich das Buch aus
verschiedenen Quellen und Schichten zusammensetzt.
Ein viertes Modell, das so genannte Zitatenmodell, rechnet damit, dass nicht alles,
was im Buch Kohelet steht, die Meinung Kohelets wiedergibt, sondern dass Kohelet
bisweilen
die
Meinungen
anderer
zitiert,
um
sich
kritisch
mit
ihnen
auseinanderzusetzen. Ein in diesem Zusammenhang anzuführendes berühmtes
Beispiel wäre die bekannte frauenfeindliche Aussage in Koh 7,26. Dort heißt es:
„Und dauernd finde ich:
Bitterer als der Tod ist die Frau.
Sie besteht aus Schlingen,
ihr Herz ist ein Fangnetz,
Fesseln sind ihre Arme.
Glücklich vor Gott, wer ihr entkommt,
doch wer sein Leben verfehlt, wird von ihr gefangen“.
4
Vincenz Zapletal, Das Buch Kohelet. Kritisch und metrisch untersucht, übersetzt und erklärt, Freiburg
(Schweiz) 1905, 31.
4
Sehr wahrscheinlich handelt es sich bei der hier angeführten misogynen Tradition
nicht um die Ansicht Kohelets, sondern um eine von ihm zitierte Meinung, die er im
weiteren Verlauf seiner Ausführungen, unter anderem im Rückgriff auf den
Schöpfungsbericht, zurückweist. 5 – Soweit ein kurzer Überblick zu den wichtigsten
in der Forschung vertretenen Modellen hinsichtlich der Frage: Wie gehen wir mit den
Widersprüchen des Buches um? 6
Ich vertrete hier ein rezeptionsorientiertes Zitatenmodell, welches die narrative
Strategie des Buches in besonderer Weise berücksichtigt. Wie dieses Modell
funktioniert, möchte ich Ihnen nun anhand der ersten beiden Kapitel des Buches
erläutern. Von dort her können wir eine Antwort auf unsere eingangs gestellte Frage
finden: Vertritt Kohelet eine Philosophie des Absurden?
Die Königstravestie: Dekonstruktion eines absurden Lebensentwurfs
Das Thema des Buches ist die Frage nach dem Glück des Menschen. Die Frage wird
im Koheletbuch aus einem narrativen Kern heraus entwickelt. Den narrativen Kern
bildet die so genannte Königstravestie im ersten Teil des Buches, in Kap. 1,12-2,26.
Kohelet schlüpft hier in die Rolle eines Königs, um einen spezifischen
Lebensentwurf durchzuspielen: „Ich, Kohelet, war König über Israel in Jerusalem“,
heißt es in 1,12. Natürlich ist dies nicht in einem historischen Sinn zu verstehen. Es
handelt sich um eine Form literarischer Anthropologie. Kohelet erzählt von der Zeit,
da er König war, von den Absichten, die er damals verfolgte, von dem, was er
erreichte, von den Krisen, die er durchmachte, und von den Erkenntnissen, zu denen
er gelangte. Im ersten Teil der Königstravestie erzählt er von seinem Aufstieg als
König. Der Aufstieg beginnt grandios mit dem Bau einer königlichen Lebenswelt
(2,4-10): „Ich vollbrachte meine großen Taten: Ich baute mir Häuser, ich pflanzte mir
Weinberge. Ich legte mir Gärten und Parkanlagen an … Ich häufte mir auch Silber
5
Ausführliche Begründung dazu: Ludger Schwienhorst-Schönberger, „Bitterer als der Tod ist die Frau“ (Koh
7,26). Zum Argumentationsgang von Koh 7,25-29, in: K. Kiesow / T. Meurer (Hg.), Textarbeit. FS P. Weimar
(AOAT 294), Münster 2003, 443-455.
6
Ausführliche Diskussion der Modelle bei Ludger Schwienhorst-Schönberger, Kohelet (Herders
Theologischer Kommentar zum Alten Testament), 2. Aufl. Freiburg 2011, 64-69.
5
und Gold an … Ich besorgte mir auch Sänger und Sängerinnen und die Lüste der
Menschensöhne: Brüste über Brüste … Was immer meine Augen verlangten,
versagte ich ihnen nicht. Meinem Herzen verweigerte ich keine einzige Freude, ja
mein Herz freute sich an meinem ganzen Besitz, und das war mein Anteil an meinem
ganzen Besitz“ (2,10). Doch auf dem Höhepunkt der Macht- und Prachtentfaltung
kündigen sich erste Zweifel, Unsicherheiten und Misstöne an: „Dann wandte ich
mich all meinen Werken, die meine Hände geschaffen hatten, und dem Besitz, für
den ich mich abgemüht hatte, um ihn zu erwerben, zu, und siehe: Das ist alles
Windhauch und Luftgespinst. Es gibt keinen Gewinn unter der Sonne“ (2,11). Mit
2,12 setzt nun der Abstieg des Königs ein. Auch die Weisheit, so erkennt „König
Kohelet“, kann ihn letztlich vor dem Tod nicht retten (2,12-17): „Da dachte ich mir:
Wie das Schicksal des Toren, so trifft es auch mich. Warum bin ich dann so überaus
weise geworden? Da sagte ich mir, dass auch das Windhauch ist … Wie muss doch
der Weise ebenso wie der Tor sterben! Da hasste ich das Leben, denn als etwas Böses
lag auf mir das, was unter der Sonne geschieht. Ja, das ist alles Windhauch und
Luftgespinst“. Der Versuch, sich und seinem Werk mittels Bildung einer Dynastie
Unvergänglichkeit zu verschaffen, ist mit Unsicherheiten behaftet (2,18-20): „Da
hasste ich meinen ganzen Besitz, für den ich mich abgemüht hatte unter der Sonne,
den ich dem Menschen hinterlassen muss, der nach mir sein wird. Aber wer weiß, ob
er ein Weiser oder ein Tor sein wird?“.
Er, der König, müht sich, und ein anderer soll die Früchte seiner Arbeit genießen
(vgl. 2,21)? „Was bleibt also dem Menschen von all seiner Mühe und dem Streben
seines Herzens, mit denen er sich abmüht unter der Sonne?“ (2,22). Das im
Königsexperiment
durchgespielte
Lebensmodell
endet
in
Resignation
und
Verzweiflung: „Ja, all seine Tage sind Leid, und Kummer ist sein Geschäft. Selbst in
der Nacht findet sein Herz keine Ruhe“ (2,23a). In der Königstravestie wird eine
Anthropologie durchgespielt, die letztlich zum Scheitern verurteilt ist.
6
Die neue Einsicht: Glück aus der Hand Gottes
Die Wende zur neuen und die Lehre des Buches bestimmenden Erkenntnis vollzieht
sich in 2,24-25:
„Nicht im Menschen gründet das Glück,
wenn er isst und trinkt
und seine Seele Gutes sehen lässt bei seiner Arbeit.
Vielmehr habe ich selbst gesehen,
dass es aus der Hand Gottes stammt.
Denn wer isst und wer sorgt sich, wenn nicht ich?“
Welche Rolle spielte eigentlich Gott im königlichen Experiment? Die Antwort ist
einfach: Gott spielte überhaupt keine Rolle. Er kommt gar nicht vor. Er wird mit
keinem Wort erwähnt. Lediglich in 1,13 wird im Gestus eines distanzierten
Beobachtens gefragt, ob es ein schlechtes Geschäft sei, „das ein Gott den Menschen
aufgetragen habe, dass sie sich damit plagen“.
So spielt das Königsexperiment in Koh 1,12–2,23 eine Anthropologie ohne Gott
durch. Wo Gott nicht vorkommt, übernimmt der Mensch nur allzu leicht die Rolle
Gottes, er wird zum Königsgott. Tatsächlich weist die Königstravestie in 2,3–11
durchgehend „gott-königliche“ Konnotationen auf. Kohelet wird zum Schöpfer
(s)einer Welt. Doch am Ende zeigt sich: Auch der König ist nur ein Mensch. Auch er
ist sterblich, wie jeder andere Mensch (2,15). Auch seine Welt ist nichts anderes als
eine vergängliche Menschenwelt.
Der Sache nach weist das in der Königstravestie erzielte Ergebnis starke
Gemeinsamkeiten mit Weish 7,1–6 auf. Dort sagt der weise Salomo von sich: „Auch
ich bin ein sterblicher Mensch wie alle anderen, Nachkomme des ersten, aus Erde
gebildeten Menschen. ... In Windeln und mit Sorgen wurde ich aufgezogen; kein
König trat anders ins Dasein. Alle haben den gleichen Eingang zum Leben; gleich ist
auch der Ausgang“. Die hier formulierte Einsicht wird König Kohelet in
schmerzhafter Weise bewusst: Auch der weise König muss sterben! Beginnend mit
Koh 2,24 wird die (selbst)herrliche Anthropologie des Königs revidiert. Das
7
Koheletbuch kann insgesamt als eine révision de vie gelesen werden. Das Leben, das
revidiert wird, wird in der Königstravestie literarisch entworfen. Alles, was ab 2,24
gesagt wird, kann – im weitesten Sinne – als Korrektur an 1,12–2,23 verstanden
werden. Den Durchbruch zur wahren Erkenntnis findet Kohelet aber noch als König
(2,24f.). Aus diesem Grunde wird die Königstravestie formell nicht explizit beendet.
Sie läuft dort aus, wo der König zum Menschsein erwacht (2,24–26). Und dies
geschieht, da erstmals die Wirklichkeit Gottes ins Gewahrsein kommt: „Ich habe
erkannt, dass es aus der Hand Gottes stammt“ (2,24b). So gesehen, werden im
Koheletbuch nicht einfachhin zwei unterschiedliche Anthropologien nebeneinander
gestellt. Es spricht im Corpus des Buches ein und dieselbe Person. Sie entwickelt ihre
Lehre
in
einem
autobiographisch
stilisierten
Rückblick
auf
die
eigene
Lebensgeschichte, im Nachzeichnen jenes Weges, der sie zu der Lehre, die sie jetzt
vertritt, geführt hat.
Es gibt also „Glück“ (tob), so lautet die Kernaussage der Perikope, aber dieses Glück
gründet nicht im Menschen, wie König Kohelet gemeint hatte. Es stammt von Gott.
Darin kommt eine weitere Grenzerfahrung des Königs zur Sprache: Neben den
Grenzen des Handelns (1,13–15; 2,3–11) und der Weisheit (1,16–18; 2,12–23)
erkennt er nun auch die Grenzen des Vergnügens und der Freude (2,1–2; 2,24–26).
Oft wird diese Einsicht als eine resignative Schlussfolgerung gedeutet (so u.a.
Murphy 26f.). Eine derartige Deutung wird der Sache wohl nicht ganz gerecht. Eine
Enttäuschung hat häufig zwei Seiten: eine schmerzhafte und eine befreiende. König
Kohelet hatte sich getäuscht: Seine Handlungsmöglichkeiten sind nicht unbegrenzt,
seine Weisheit zeigt ihm keinen Weg am Tod vorbei und auch die Freude, die er sich
mit all seinem Besitz „erworben“ hat, wird ihm in dem Maße verleidet, als ihm die
Vergänglichkeit seines Besitzes und schließlich sein eigener Tod ins Gewahrsein
kommen. Enttäuschung bedeutet für Kohelet Befreiung von einer Täuschung. In dem
Maße, in dem ihm im Kontakt mit der Wirklichkeit die falschen Vorstellungen, die er
sich von ihr gemacht hat, genommen werden, gewinnt er Einsicht in die Wahrheit des
Lebens. „Wo gibt es Glück?“ hatte er in 2,3 gefragt. – Wohl erst dort, so wird man
2,24 umschreiben dürfen, wo auch von Gott die Rede ist.
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Mit der Bestimmung von Glück als Gabe Gottes richtet sich das Koheletbuch gegen
die Vorstellung, Glück sei in einem eigentlichen und letztgültigen Sinn vom
Menschen
machbar.
Der
„empirischen“
Dekonstruktion
einer
derartigen
eudämonologischen Homo-faber-Mentalität dient die Königstravestie. Auch dort, wo
das Glück vom Menschen „ergriffen“ wird, trägt das „Ergreifen“ die Struktur einer
„An-nahme“. Der Mensch nimmt etwas ihm Gegebenes an. Im Horizont biblischer
Sprachkultur heißt dies im Koheletbuch: Glück stammt „aus der Hand Gottes“
(2,24b), es ist „Gabe Gottes“ (3,13). Da sich nun aber die Erfahrung von Glück in der
leiblichen
Konstitution
des
menschlichen
Daseins
normalerweise
mittels
unterschiedlicher „Gaben“ vollzieht, entsteht bei vielen Menschen der nahe liegende
Eindruck, Glück sei der Besitz dieser Gaben: der Reiche sei glücklich. Gegen dieses
nahe liegende, verbreitete Missverständnis argumentiert Kohelet vor allem im
zweiten Teil des Buches (4,1–6,9), in dem es schwerpunktmäßig um die
Auseinandersetzung mit einem vor-philosophischen Glücksverständnis geht.
Ein erster Hinweis darauf kann aber bereits in unserer Perikope gefunden werden,
und zwar in V 26. Dort heißt es (2,26): „Aber es gibt Menschen, denen Gott
wohlwill. Es sind die, denen er Wissen, Können und Freude geschenkt hat. Und es
gibt Menschen, deren Leben verfehlt ist. Es sind diejenigen, die er mit dem Geschäft
beauftragt hat, zu sammeln und zu horten und dann alles denen zu geben, denen er
wohlwill. Auch das ist Windhauch und Luftgespinst.”
Gerne wird die Aussage als Beleg dafür angegeben, dass der Gott Kohelets ein von
Menschen nicht durchschaubarer Willkürgott sei. Ich kann hier nicht auf alle
Einzelheiten des Verses eingehen. Vor dem Hintergrund unserer Fragestellung
möchte ich zu bedenken geben, dass der Vers als kritisch-ironischer Rückblick auf
dem Lebensweg, den „König Kohelet“ gegangen ist, verstanden werden kann: Als
„König“ hatte Kohelet Silber und Gold gehortet (2,16 → 2,8), er hatte Weisheit und
Wissen erworben mehr als alle seine Vorgänger (2,26a → 1,16; 2,9; 2,15) und musste
am Ende doch erkennen, dass er all dies einem Nachfolger überlassen muss, über den
er nicht verfügen kann (2,18–20), weil auch er, der König, nur ein Mensch, das heißt:
9
ein Sterblicher ist (2,13–17). Sein Handeln orientierte sich am Gewinn (1,3). Doch
als er erkannte, dass es einen solchen für einen Sterblichen auf Dauer nicht gibt,
wurde ihm sein Handeln als ein „Streben nach Wind“ offenbar (2,11). Die Freude,
die aufgekommen war (2,10), wird von der Sorge um den Erhalt seines Besitzes,
welcher die Quelle seiner Freude war, erstickt. Sie wandelt sich zum Lebenshass
(2,17) und zur Verzweiflung (2,20). So ist König Kohelet der Unglückliche
geworden, dem Gott die Last zugeteilt hat, zu sammeln und zu horten, um es
schließlich dem zu übergeben, der glücklich ist vor Gott (V 26ba). Die
Windhauchaussage von V 26b bezieht sich also nicht – wie einige Kommentatoren
annehmen (u.a. Lauha 58, mit literarkritischer Beseitigung von V 24b–25; D. Michel,
Untersuchungen 1989, 37; 40) – auf die Freude als Gabe Gottes, sondern nur auf den
in V 26 beschriebenen Fall dessen, der aufgrund ständiger Sorgen nicht in den
Genuss der gottgegebenen Gaben kommt (vgl. 6,1-2).
So dürfte deutlich geworden sein, dass das Glück, von dem Kohelet spricht und in
dessen Erfahrung er hineinführen möchte, mit Gott in Verbindung steht. In 3,12f
heißt es: „Ich erkannte: Es gibt kein Glück bei ihnen [Menschen], außer sich zu
freuen und (sich) Gutes zu tun in seinem Leben. Immer wenn ein Mensch isst und
trinkt und Glück erfährt bei all seiner Arbeit – eine Gabe Gottes ist das.“
Vier Aspekte des Glücks
Abschließend möchte ich jene Akzente benennen, die Kohelet im Rahmen seines
eudämonologischen Diskurses setzt. Den ersten Akzent (1) haben wir bereits
kennengelernt: Glück ist eine Gabe, die letztlich in der Wirklichkeit Gottes gründet.
In der Freude seines Herzens – so heißt es in 5,19 – vernimmt der Mensch eine
Antwort Gottes.
(2) Zweitens akzentuiert Kohelet das Glück als Glückserfahrung, als einen
spezifischen Modus der Wahrnehmung. Damit grenzt er sich von jenen Vorstellungen
ab, die das menschliche Glück einfachhin mit dem Besitz von Gütern identifizieren.
Demgegenüber betont das Koheletbuch, das alles, was ein Mensch an materiellen und
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sozialen Gütern besitzt, nur dann von Wert ist, wenn er auch in der Lage ist, sie zu
verkosten. Das Koheletbuch zielt darauf ab, Menschen für die Wahrnehmung, für das
Verkosten der Dinge, für den recht verstandenen Genuss zu öffnen.
(3) Die dritte Akzentsetzung bestimmt das Glück als ein Glück „in diesem Leben“
„unter der Sonne“. Damit grenzt sich das Buch von Vorstellungen ab, denen zufolge
der Mensch sein Glück „erst nach seinem Tod“ finden könne. Das Glück, von dem
das Koheletbuch spricht, ist ein Glück der Gegenwart.
(4) Auf die vierte Akzentsetzung möchte ich etwas ausführlicher eingehen, weil sie
uns unmittelbar zum Schlussgedicht führt. Es hat den Anschein, dass das Glück, zu
dem Kohelet aufruft, als etwas Bleibendes gedacht wird. Die Freude kommt als eine
Größe in den Blick, die das ganze Leben des Menschen durchdringen soll. Dabei
lässt sich eine mit der Lektüre des Buches einhergehende Vereindeutigung
beobachten. Ich nenne einige Stationen dieses Weges. In 3,22 heißt es: „Da sah ich
ein, dass es kein Glück gibt, außer dass der Mensch sich freut bei seinem Tun“. Mit
der Angabe „bei seinem Tun“ deutet Kohelet an, dass die Freude, zu der er aufruft,
eine Art Grundgestimmtheit meint, die alles Tun des Menschen durchdringen soll.
Von der aristotelischen Tugendlehre herkommend könnte man von einem Habitus
sprechen.
Deutlicher noch wird dies in 8,15 gesagt:
„So preise ich die Freude, denn es gibt kein Glück für
den Menschen unter der Sonne, als zu essen, zu trinken
und sich zu freuen. Das soll ihn begleiten bei seiner
Arbeit während der Tage seines Lebens, die Gott ihm
gegeben hat unter der Sonne.“
Von der Freude wird hier gesagt, dass sie den Menschen begleiten soll „bei seiner
Arbeit während der Tage seines Lebens, die Gott ihm gegeben hat unter der Sonne“.
Die Freude, zu der Kohelet aufruft, meint kein punktuelles, sich vom sonstigen
Mühen des Menschen unterscheidendes Ereignis, sondern eine Haltung, eine
Gestimmtheit, die alles menschliche Tun und Lassen durchdringen soll. Dass die
Freude als etwas Bleibendes ins Gewahrsein kommt, wird in 9,7–10 noch einmal,
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diesmal mit der Stilfigur der Wiederholung und mit Nachdruck gesagt: „Jederzeit
seien deine Kleider weiß, und an Öl auf deinem Haupt fehle es nicht. Genieße das
Leben mit einer Frau, die du liebst, alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er
dir gegeben hat unter der Sonne, alle deine Tage voll Windhauch“ (9,8f.).
Das Schlussgedicht (11,9-12,7.8): Freude und Gottesgedenken
Dem scheint nun aber das Schlussgedicht des Buches (11,9–12,7.8) zu
widersprechen. Denn hier wird der junge Mann zur Freude in seinen jungen Jahren
aufgerufen angesichts von Alter, Krankheit und Tod: „Freu dich, junger Mann, in
deinen jungen Jahren, sei glücklichen Herzens in den Tagen deiner Jugend!“ (11,9).
Um dem Missverständnis entgegenzutreten, die Freude sei der Jugend vorbehalten,
stellt Koh 11,8 in einer Art vorauslaufender Interpretation allerdings klar: „Selbst
wenn ein Mensch viele Jahre lebt, freue er sich in allen (diesen Jahren)“. Hier findet
sich ein letzter, eindeutiger Hinweis darauf, dass die Freude, zu der Kohelet aufruft,
das ganze Leben eines Menschen durchdringen soll. Die Einleitung des
Schlussgedichtes in 11,7f. erweist sich somit „als dessen inhaltlich zutreffende
Deutung. Denn sie sagt nicht, der junge Mensch soll sich freuen, sondern jeder
Mensch ... Nicht in der Jugend solle man sich freuen (wie 11,9f. behauptet), sondern
solange man zu leben hat, auch wenn es viele Jahre sind (so explizit in 11,8). Die
Jahre des Alters und der Krankheit sind nicht ausgeschlossen.“ 7
In der ersten Strophe (11,9-10) des Schlussgedichtes ruft Kohelet also zur Freude auf.
Die zweite Strophe (12,1-7.8) beginnt mit dem Aufruf: „Denk an deinen Schöpfer in
den Tagen Deiner Jugend!“ (12,1a). Einige Kommentatoren halten den Rat für eine
„orthodoxe Glosse“ (so u.a. Lauha, 209: R2; D. Michel, Qohelet 1988, 167). Damit ist
jedoch der Charakter des Buches verkannt. Der Rat, seines Schöpfers bereits in den
Tagen seiner Jugend zu gedenken, entfaltet sein spezifisches Profil vor dem
Hintergrund jener Jugend, die „König Kohelet“ ohne Gott zu leben versucht hat. Die
Quintessenz der Königstravestie besteht gerade darin, dass hier die Brüchigkeit eines
7
Norbert Lohfink, Freu dich, Jüngling – doch nicht, weil du jung bist! Zum Formproblem im Schlussgedicht
Kohelets (Koh 11,9-12,8): BI 3 (1995) 158-189; Zitat S. 182.
12
Lebensentwurfs zur Sprache kommt, in dem Gott nicht vorkommt. In der reflexiven
Durchdringung der dabei in Erscheinung tretenden Aporien und der existenziellen
Verarbeitung der damit einhergehenden Krisen gelangte Kohelet zu der Einsicht, dass
das Glück, das er, wie alle Menschen, sucht, ohne Gott nicht gedacht werden kann:
Es ist eine Gabe (2,24; 3,13), ja letztlich eine „Antwort Gottes“ (5,19). Jetzt, am Ende
seines Lebens, ruft (König) Kohelet den „jungen Mann“ (11,9) dazu auf, diese
Einsicht zu realisieren. Der Aufruf zur Freude (11,9-10) und zum Gedenken des
Schöpfers (12,1-7.8) gehören dem Selbstverständnis des Buches nach wesentlich
zusammen. Das dreimalige „ehe“ (12,1b.2a.6a) unterstreicht, dass der hier
angesprochene „junge Mann“ (11,9) bereits „in den Tagen seiner Jugend“ (12,1)
seines Schöpfers gedenken soll. Darin zeigt sich nochmals so etwas wie eine stille
Korrektur jenes großköniglichen Wahns, dem Kohelet in seiner Jugend verfallen war.
Er ist zur Einsicht gekommen (2,24ff.) und er gibt diese Einsicht nun, am Ende seines
Lebens, weiter an die nachfolgende Generation.
Ergebnis
Das Buch Kohelet vertritt also keine „Philosophie des Absurden“. Wohl jedoch deckt
es in der Königstravestie eine Lebensform auf, die absurd ist, auch wenn sie zunächst
glanzvoll in Erscheinung tritt, eine Lebensform, die in die Verzweiflung führt, die
sinn-los ist, weil sie sich der Wahrnehmung jener Dimension der Wirklichkeit
verschließt, auf die in der Heiligen Schrift das Wort „Gott“ verweist. Dem Buch geht
es letztlich um die Öffnung des Bewusstseins für die verborgene Gegenwart Gottes.
Dazu ruft Kohelet am Ende (seines Lebens und) seines Werkes auf. Allein ein Leben
aus der Wahrnehmung dieser Wirklichkeit verhindert, dass der „Lauf in den Tod“,
den Kohelet wie kaum ein anderer in der Bibel bedenkt, in die Verzweiflung führt.
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