Einleitung ARCHAISCHER TORSO APOLLOS Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. (Rainer Maria Rilke) Das Gedicht von Rainer Maria Rilke atmet die Begegnung mit dem Geist, der dieses Götterbild hervorgebracht hat. Ein Bildwerk nur, eine Statue und noch dazu ein Torso, dem das Haupt fehlt und der dennoch sieht; dem der Phallos abgeschlagen wurde und der dennoch zeugt; der nur noch einen Rumpf hat und doch so lebendig und voller Kraft ist, dass er den Betrachter wie ein Raubtier anspringt und dieser sich ihm nicht entziehen kann. Das Werk Platons ist zum Glück kein Torso. Die hohe Wertschätzung, die Platon schon zu Lebzeiten zuteil wurde, hatte zur Folge, dass sein Werk der Nachwelt als Ganzes erhalten blieb. Und doch ist es dieser Statue vergleichbar. Auch ihm fehlen Haupt und Augen, denn die Schriften machen nur einen Teil des Philosophen Platon aus. Das Gespräch, die persönliche Begegnung, der Vortrag, das Leben in der Gemeinschaft der Akademie, die religiösen Feste und Symposien, auch die Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen, all das gehörte zum Ganzen seiner Philosophie. Wir haben davon Zeugnisse, aber wir selbst gehören nicht zu den Zeugen. Was uns bleibt, ist ein Torso: sein schriftliches Werk. Und doch geschieht es immer wieder, dass diese Schriften alles andere sind als tote Buchstaben in Wachstafeln geritzt, in Druckerschwärze gepresst oder gar »in Wasser geschrieben« (Phdr. 276c). Sie tragen immer noch eine ähnliche Lebendigkeit in sich wie der Torso Apollos, den Rilke beschreibt. Und wer sich ihnen aussetzt, kann auch Ähnliches erleben: Da ist keine Stelle in diesem Werk, 14 Einleitung die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. In den Worten Platons hört sich das so an: Denn du siehst, daß davon die Rede unter uns ist, worüber es gewiß für jeden Menschen, der nur ein wenig Vernunft hat, nichts ernsthafteres geben kann, nämlich auf welche Weise er leben soll, ob auf diejenige, zu welcher du mich ermunterst, daß ich doch jenes dem Manne Geziemende betreiben möchte …, oder ob er sich zu jener Lebensweise halten solle in der Philosophie, und worin wohl diese von der andern sich unterscheidet. (Grg. 500c, Üb. Schl.) Die Fragestellung: In den letzten zwanzig Jahren ist in der Platonforschung und Rezeption dem praktischen Aspekt der platonischen Philosophie wieder verstärkt Aufmerksamkeit zuteil geworden. Das ist nicht zuletzt den Arbeiten von Pierre Hadot zu danken, der darauf hinwies, dass die Philosophie durch die ganze Antike hindurch weniger eine Art der Theoriebildung als vielmehr eine Lebensform war, die theoretisch reflektiert und begründet wurde.1 Von daher verband sich die Aufforderung und Einladung zur Philosophie auch mit Selbsterkenntnis und praktischer Selbstkritik sowie mit ganz konkreten geistigen und sittlichen Übungen, die auf die Art der Lebensführung Einfluss hatten. Es ist darum dieser Philosophie nicht sachgemäß, sie nur als »bloße Theorie« oder philosophische Meinung zur Kenntnis zu nehmen. Ihr ist immer ein praktischer Wahrheitsanspruch inhärent, zu dem man sich nicht neutral verhalten kann, wenn man ihn ernst nimmt. Sie will werben, sie will bewegen, sie will, um mit Platon zu sprechen, in der Seele schöne Gedanken zeugen und dadurch Einsicht und Wahrheit erwecken. »Man muss philosophieren!« (Euthd. 275a, 288d) Diese Botschaft vermittelt sich nicht nur in den protreptischen Dialogen, den Werbeschriften, sondern letztlich spricht sie aus jeder Stelle des platonischen Werks, weil das Leben sonst nicht lebenswert ist: »Ich glaubte, es lohnte nicht zu leben, wenn ich so bliebe, wie ich wäre«, (Smp. 216a) »und an dieser Stelle, … wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lebenswert, wo er das Schöne selbst schaut …« (Smp. 211d). (Üb. Schl.) Wenn das aber der Anspruch der platonischen Dialoge ist, dann stellt sich für denjenigen, der sich angesprochen fühlt, die Frage, was das genau heißt und meint: philosophieren. Wer die Dialoge Platons liest, der wird zunächst den ein oder anderen Dialog kennen lernen und daraus ein Vorverständnis der platonischen Philosophie gewinnen. Will er sich aber vertiefen und liest weiter, so wird er feststellen, dass in anderen Dialogen ganz anders von der Philosophie gesprochen wird. Das, was er vorher zu verstehen glaubte, wird fragwürdig oder 1 P. Hadot, Philosophie als Lebensform; ders., Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?; Kobusch, Metaphysik als Lebensform. Zur Idee einer praktischen Metaphysik; ders., Wie man leben soll: Gorgias; neuerlich besonders Hardy, Jenseits der Täuschungen, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates. Einleitung 15 zumindest unsicher vor dem Hintergrund anscheinend disparater Bestimmungen der Philosophie.2 Sie lassen sich nicht einfach aufeinander zurückführen. Bereits in der Antike wurden deshalb sechs Philosophiedefinitionen unterschieden, die aus den Schriften Platons abgeleitet wurden: 1. Philosophie ist die Erkenntnis der seienden Dinge, sofern sie seiend sind; 2. Philosophie ist Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge; 3. Philosophie ist Einübung in den Tod; 4. Philosophie ist Angleichung an Gott, soweit es dem Menschen möglich ist; 5. Philosophie ist die Kunst der Künste und die Wissenschaft der Wissenschaften; 6. Philosophie ist die Liebe zur Weisheit.3 Unschwer findet man noch weitere Charakterisierungen der Philosophie im platonischen Werk, die nicht einfach unter eine dieser Definitionen zu subsumieren sind, wie: Philosophie ist die Prüfung seiner selbst und der Wahrheit oder Philosophie ist Sorge um die Seele. Trägt man nun noch der Tatsache Rechnung, dass nicht nur von Philosophie als einer Disziplin die Rede ist, sondern auch von spezifischen Tätigkeiten und psychischen Dispositionen, die als philosophieren und philosophisch gekennzeichnet werden, ist die Verwirrung fast perfekt. Die Frage nach einem möglichen Zusammenhang und zuvor erst einmal nach einem angemessenen Verständnis der einzelnen Stellen drängt sich auf. Denn selbst innerhalb ein und desselben Dialogs kann nicht davon ausgegangen werden, dass immer im gleichen Sinn von Philosophie die Rede ist. Manchmal findet sich eine umgangssprachliche Verwendung neben einer offensichtlich technischen Bedeutung. Ein andermal verschiebt sich unmerklich die Semantik im Gesprächsverlauf, so dass am Ende etwas ganz Anderes und Neues unter philosophieren verstanden wird als am Anfang. Und schließlich stehen auch noch Bedeutungen konträr neben- und gegeneinander, so dass hier von völlig verschiedenen Dingen die Rede ist, obwohl das gleiche Wort verwandt wird. Sucht man in dieser aporetischen Situation Hilfe in der Sekundärliteratur, so findet man sich schnell zwischen den Fronten der Platonrezeption wieder. Da sind die Systemtheoretiker, die die Divergenzen zum einen aus einem curricularen, aufeinander aufbauenden pädagogischen Konzept erklären und zum anderen von einer nur mündlich vermittelten Prinzipienlehre ausgehen, durch welche erst der Zusammenhang des Disparaten erkennbar wird.4 Sie versuchen, 2 Einen Überblick zum Philosophiebegriff geben Kranz, Art.: Philosophie, 576 – 583; Erler, Platon PhdA 2/2, 349 – 354; Manuwald, Art.: Die Semantik von philosophia, philosophos und philosophein bei Platon, 318 – 320; Schäfer, Art.: Philosophie, 220 – 223. 3 David, Prolegomena, 20, 25 – 31 Busse, zitiert nach Dörrie/Baltes, Der Platonismus in der Antike, Bd. 4, 102. 4 Stellvertretend seien genannt: Krämer, Platons ungeschriebene Lehre; ders., Zur aktuellen Diskussion um den Philosophiebegriff Platons; Szlezk, Mündliche Dialektik und schriftliches Spiel: Phaidros; ders., otr lºmour %m tir aqh_r pqose¸poi vikosºvour. Zu Platons Gebrauch des Namens vikºsovor. Diesem Ansatz stehen nahe: Halfwassen, Philosophie als Transzendieren. Der Aufstieg zum höchsten Prinzip bei Platon und Plotin (neuplatonischer Interpretations- 16 Einleitung bildlich gesprochen, dem Torso wieder einen Kopf aufzusetzen. Da sind andererseits die Entwicklungstheoretiker, die davon ausgehen, dass nicht nur zwischen Frühwerk und Reifezeit Platons und dementsprechend zwischen einem sokratischen und platonischen Philosophieverständnis zu unterscheiden ist, sondern auch einen Bruch innerhalb des Spätwerks feststellen, der die Revision eines früheren Philosophieverständnisses und seiner Methoden markiert.5 Sie teilen den Torso entlang dieser Bruchstellen in zwei oder drei Stücke. Die Sprachanalytiker treiben dieses Werk noch weiter, indem sie sich vornehmlich für die Logik einzelner Argumente interessieren, die sie akribisch unter die Lupe nehmen.6 Unter ihrer Analyse bleibt von dem Torso nicht viel mehr übrig als einzelne Bruchstücke. Der diskurstheoretische und hermeneutische Ansatz wiederum geht davon aus, dass Verstehen immer ein unabgeschlossener und zu iterierender Prozess ist und dementsprechend das Philosophieverständnis Platons sich nur annäherungsweise in der Reflexion auf das eigene Verstehen prozesshaft erschließt.7 Das ist gleichsam ein interaktiver Umgang mit dem Torso. Der literarische Zugang wiederum trägt dem Künstlerischen und der dramaturgisch-dialogischen Gestalt besonders Rechnung. Jeder Dialog ist in sich eine Einheit und aus seiner spezifischen Fragestellung heraus zu verstehen.8 Dabei wird der Torso aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und zeigt jeweils eine neue, andere Seite. Die Methode: Jeder dieser methodischen Zugänge antwortet auf ein bestimmtes Problem. Aber jeder prädisponiert und verändert dadurch auch die Art der Wahrnehmung des platonischen Werks. Es gibt keinen Zugang zum Torso an sich, der frei davon wäre. Die Vorteile einer bestimmten Betrachtungsweise können mit rationalen Argumenten plausibel gemacht und verteidigt werden, aber die Wahl selbst ist vorgängig und hat unterschiedlichste Gründe. Es ist gut, sich das klarzumachen, um den eigenen Zugang nicht zu 5 6 7 8 ansatz); Albert, Über Platons Begriff der Philosophie (Erkenntnis des höchsten Prinzips als mystische Schau); Schefer, Platons unsagbare Erfahrung (Prinzipienerkenntnis als Mysterieneinweihung). Z.B. Vlastos, Socrates. Ironist and Moral Philosopher. Cambridge 1991.; ders., Elenchus and Mathematics. A Turning-Point in Plato’s Philosophical Development; Penner, Socrates and the early dialogues; Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes. Z.B. Vlastos, The Third Man Argument in the Parmenides; Frede, Prädikation und Existenzaussage. Platons Gebrauch von »…ist…« und »…ist nicht…« im Sophistes; Strobel, »Dieses« und »So etwas«. Zur ontologischen Klassifikation platonischer Formen. Z.B. Gadamer, Wahrheit und Methode, insb. 344 – 395; ders., Unterwegs zur Schrift?; Volkmann-Schluck, Plato. Der Anfang der Metaphysik; Heitsch, Erkenntnis und Lebensführung; Figal, Platonforschung und hermeneutische Philosophie. Z.B. Dalfen, Wie, von wem und warum wollte Platon gelesen werden? Eine Nachlese zu Platons Philosophiebegriff; Blößner, Sokrates und sein Glück, oder : Weshalb hat Platon den Phaidon geschrieben?; Kahn, Plato and the Socratic Dialogue. The Philosophical Use of a Literary Form; Clay, Platonic Questions. Dialogues with a Silent Philosopher; Tejera, Plato’s Dialogues One by One. A Dialogical Interpretation. Einleitung 17 überschätzen. Für unser Problem des über der Vielfalt der verschiedenen Bedeutungen verwirrten und ratlosen Lesers, der eine Antwort auf die Frage sucht, wozu er sich denn entscheidet, wenn er sich für die »Lebensweise in der Philosophie« entscheidet, bedeutet dies, dass es nicht »die« richtige Methode gibt, sich das Verständnis der platonischen Philosophie zu erschließen, vielleicht aber eine, die sich in seiner spezifischen Situation besonders anbietet. Die Dialoge selbst sehen für diese Interessierten, Neugierigen und Betroffenen eine Rolle vor, die es ihnen ermöglicht, als stille Zuhörer und Mitdenker den Gesprächen zu folgen und dadurch hineinzuwachsen in ein vertieftes und differenziertes Verständnis dessen, was als Philosophie thematisiert wird. Immer wieder ist in den Rahmenerzählungen oder auch in Zwischengesprächen von diesen Zuhörern die Rede. Manchmal werden sie angesprochen und hineingezogen in den Diskurs. Dann wieder wird ihre Zuschauerrolle reflektiert und problematisiert. Gelegentlich sind sie auch so sehr bei der Sache, dass sie sich spontan einmischen und ihre Überlegungen beitragen. Immer aber werden sie ermutigt, genau hinzuhören, alles noch einmal zu überdenken und sei es um den Preis, von vorn anfangen zu müssen. Für Sokrates steht immer das Staunen am Anfang der Philosophie, und das heißt die Ratlosigkeit, wie alles, was man zu verstehen meinte, zusammenpasst. Dies ist also ein Plädoyer für den literarischen Zugang, ohne sich den Anregungen anderer methodischer Zugänge verschließen zu wollen. Das GenauHinhören und Neu-Durchdenken bedeutet aber, dass jeder Dialog erst einmal als eine Einheit wahrzunehmen ist, als ein in sich geschlossener, sinnvoller Gedankengang, der zudem dynamisch entfaltet wird. So wie man bei einem Gespräch, dem man zuhört oder in das man verwickelt ist, darauf Acht haben muss, wer was zu wem aus welchen Gründen und mit welcher Absicht auf welche Weise sagt, muss man auch hier dem Kontext besondere Aufmerksamkeit schenken. Die Einwände der Schriftkritik haben dabei ihre Gültigkeit, denn auch ein schriftlicher Dialog wie der platonische kann den mündlichen nicht ersetzen und keine Rückfragen beantworten. Dennoch lässt sich vieles klären, wenn man sich nicht nur am Wort »Philosophie« festhält, sondern das Sprachspiel wahrnimmt, dessen Teil es ist. Ein Nachteil dieses Vorgehens besteht allerdings darin, dass der Zusammenhang und Kontext erst dargestellt werden muss, wenn er nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann. Da sich eine Arbeit zum Philosophiebegriff Platons nicht nur an versierte Platonforscher, sondern auch an einen weiteren Kreis philosophisch Interessierter wendet, ist eine gewisse Ausführlichkeit der Darstellung nicht immer vermeidbar. Ich bitte deshalb um Verständnis derer, die ihren Platon mit großer Genauigkeit kennen. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass eine eingehende literarische Betrachtung viele interessante Aspekte zutage 18 Einleitung fördern kann, aber das ganze Werk nur schwer in den Blick kommt. Man kann den Torso nicht gleichzeitig von allen Seiten betrachten. Eine systematische Betrachtung hat demgegenüber Vorteile, aber sie geht auch notwendig eklektisch vor. Sie setzt immer ein Überblickswissen voraus, das für jemanden, der sich Werk und Wortbedeutung erst erschließen will, nicht angesagt ist. Der Grundgedanke dieser Arbeit besteht darum darin, mit Sorgfalt alle Okkurenzen der Wortfamilie Philosophie, philosophieren, philosophisch, die sich im einzelnen Dialog und schließlich im Werk Platons finden, zu untersuchen, unabhängig davon, ob man sie für zentral oder untergeordnet hält.9 Denn das würde notwendig eine Vorbestimmung bedeuten. Umgekehrt wird man unter diesem zugegebenermaßen sehr formalen Gesichtspunkt vieles übergehen müssen, was inhaltlich zweifelsohne zur Philosophie Platons gehört, aber in diesem bestimmten Dialog nicht unter den Begriff Philosophie gefasst wird. Ausschlaggebend ist also allein die Untersuchung der Wortfamilie Philosophie. Die Darstellung: Um die Zusammenhänge und damit auch das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren, versuche ich einen Mittelweg zu finden, indem ich die Dialoge zu thematischen Gruppen zusammenfasse. Dabei gibt nicht das Gesamtthema des jeweiligen Dialogs den Ausschlag, sondern der Kontext, in dem der Begriff Philosophie, um den wir uns bemühen, konkret steht. Aus diesem Grund wird zum Beispiel der Charmides unter der Überschrift »In der Schule der Sophisten« besprochen, obwohl das im Dialog nur ein Randaspekt ist. Allerdings ist die Zuordnung nicht immer eindeutig, weil die Dialoge so vielschichtig sind, dass sie verschiedene Aspekte gleichzeitig ansprechen. Ob zum Beispiel der Timaios unter der Überschrift »Das philosophische Leben« oder vielleicht besser unter »Die philosophische Erkenntnis« besprochen werden sollte, ist schwer zu entscheiden, weil das Philosophieverständnis, das im Timaios entfaltet wird, beides verbindet, naturphilosophische Betrachtungen, epistemologische Überlegungen und das Anliegen eines geordneten, harmonischen Lebens. Ausschlaggebend für eine Zuordnung war darum manchmal der Gesichtspunkt, zeigen zu können, wie sich vom Früh- bis zum Spätwerk eine Fragestellung einerseits durchzieht und Konstanten hat, andererseits aber auch entwickelt und ausdifferenziert. Damit das leichter nachvollziehbar wird, ist den Kapiteln jeweils ein Überblick vorangestellt. Er dient einer ersten Orientierung und ermöglicht dem Leser außerdem, entsprechend seinem Interesse eine eventuelle Auswahl zu treffen, ohne die Grundgedanken zu versäumen. Die Detailanalysen sind dann Gegenstand der Besprechung der einzelnen Dialoge. 9 Eine anregende Arbeit, die auch dem Begriff Philosophie im ganzen Werk Platons nachgeht, liegt von Monique Dixsaut vor, Le Naturel Philosophe. Allerdings hat sie darauf verzichtet, alle Okkurenzen des Begriffs zu besprechen, dafür aber eine Tabelle der Belegstellen beigefügt. Einleitung 19 Die Diskussion der Fachliteratur wurde um der besseren Darstellung der Zusammenhänge willen weitgehend in die Fußnoten verwiesen. Das gewählte methodische Vorgehen einer Betrachtung aller Belegstellen in einem Dialog zur Wortfamilie Philosophie ließ sich allerdings nicht, wie ich zunächst gehofft hatte, durch das ganze Werk Platons hindurch verfolgen. Es hätte einfach den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Wenn man jedoch die quantitative Verteilung der Okkurenzen anschaut, zeigt sich, dass in zwei Dialogen, nämlich dem Phaidon und der Politeia, nahezu die Hälfte aller Belegstellen vorkommt.10 Von daher ist es nur verständlich, wenn ihnen in der Forschung gerade mit Blick auf das Philosophieverständnis Platons immer wieder besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde.11 In diesen beiden Fällen habe ich darum auf eine ausführliche Einzelanalyse verzichtet und mich mit einer Zusammenfassung begnügt. Zudem zeigte sich im Verlauf dieser Arbeit, dass andere Dialoge bereits vielfältig auf das Verständnis der Philosophie im Phaidon und der Politeia vorverweisen oder es aufgreifen und weiterführen. Dadurch sind deren Beiträge zum Ganzen berücksichtigt, nur haben sich Blickrichtung und Schwerpunkt diesmal umgekehrt. Unter den Kapitelüberschriften »Das philosophische Gespräch«, »Das philosophische Leben«, »Der philosophische Eros«, »Der philosophische Tod« und »Die philosophische Erkenntnis« werden insgesamt sechzehn Dialoge besprochen. Die Dialoge Ion, Kriton, Laches, Euthyphron und Menon wurden nicht berücksichtigt, da in ihnen die Wortfamilie überhaupt nicht vorkommt. Die wenigen Belegstellen, die sich im Kratylos, Parmenides, Politikos, Kritias und Nomoi finden, wurden der Besprechung anderer Dialoge zugeordnet, da sie ähnliche Formulierungen wie dort gebrauchen. Insgesamt wurden nur die als echt anerkannten Dialoge untersucht und auch der nach wie vor umstrittene VII. Brief nicht berücksichtigt, trotz der aufschlussreichen Erläuterungen zur Pädagogik und Methodik der Philosophie und zur Schriftkritik. Eine Darstellung des vorplatonischen und zeitgenössischen Sprachgebrauchs zur Wortfamilie Philosophie wird der Untersuchung des Philosophiebegriffs bei Platon vorangestellt und erste Beziehungen zwischen ihnen aufgezeigt. Bei der Besprechung der Dialoge wird des Öfteren auf diese Zusammenhänge verwiesen, wenn sich die 10 Siehe dazu das Diagramm und die tabellarische Auflistung im Anhang. 11 Rowe, The Concept of Philosophy (philosophia) in Plato’s Phaedo; Špinka, Katharsis katharseús. Philosophie als »Flucht in die Logoi« und als »Reinigung«; Ebert, Why is Evenus called a Philosopher at Phaedo 61c? Pieper, Über den Philosophie-Begriff Platons; Albert, Über Platons Begriff der Philosophie; Szlezk, Platons Politeia. Aufbau, Handlung, Philosophiebegriff; Männlein-Robert, Wissen um die Göttlichen und die Menschlichen Dinge. Eine Philosophiedefinition Platons und ihre Folgen; Weiss, Are the Rulers of R. 7 Philosophers?; Schwartz, Der philosophische bios bei Platon. 20 Einleitung Semantik bei einem der Gesprächsteilnehmer findet oder Weiterentwicklungen und Abgrenzungen nachweisbar sind. Ergebnisse: Es ist zunächst einmal ein ganz formaler, aber darin auch unvoreingenommener Blick auf das platonische Werk, auf die Häufigkeitsverteilung einer Wortfamilie zu achten, das heißt alle Ausdrücke des gleichen Wortstammes in die Untersuchung einzubeziehen. Dabei ergeben sich erstaunliche Beobachtungen. Zweifelsohne ist die Vorstellung von Philosophie in der westlichen Tradition untrennbar mit dem Namen Platons verbunden. Es wird heute weitgehend bejaht, dass er nicht nur Begründer der Philosophie im Sinn einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin ist, sondern auch als erster die Kennzeichnung Philosoph in begriffstechnisch bewusster Weise verwandt hat, um damit eine Person zu bezeichnen, welche die Weisheit liebt und erstrebt.12 Umso mehr erstaunt es, dass die Wortfamilie Philosophie/ philosophieren keineswegs gleichmäßig über das ganze Werk verteilt ist. Vielmehr findet sich in den bereits genannten fünf Dialogen Ion, Kriton, Laches, Euthyphron und Menon, die weitgehend der frühen Werkphase zuzurechnen sind, der Begriff überhaupt nicht. In diese Reihe könnte man noch das 1. Buch der Politeia aufnehmen, das auch als Thrasymachos oder Proto-Politeia bezeichnet und für das gelegentlich eine frühere Abfassung als für die anderen neun Bücher angenommen wird. Die Tatsache, dass sich dort gleichfalls kein Beleg des Philosophiebegriffs findet, in der Politeia insgesamt aber 109-mal, ist zumindest bemerkenswert. Es könnte, wenn auch mit Vorsicht, als Indiz für eine frühe Abfassung gewertet werden.13 In anderen Dialogen, die üblicherweise dem Frühwerk zugeordnet werden, sind das Substantiv Philosophie, das Verb philosophieren und das Adjektiv philosophisch nur ganz vereinzelt vertreten, so im Hippias Mi. (1x), Menexenos (1x), Charmides (2x). Das Substantiv Philosoph findet sich noch gar nicht. In diesen Dialogen übernimmt Platon das zu der Zeit gängige, bereits technisch geprägte Verständnis der Sophisten, die unter Philosophie eine Form der Wissensvermittlung verstehen, insbesondere eine Schulung in Rhetorik. Eine Klärung der Bedeutung des Begriffs Philosophie oder gar das Bemühen um eine eigene Definition stand nicht am Anfang des Philosophierens von Platon. In der Apologie (4x) und im Protagoras (5x) setzt dann eine inhaltliche Kritik des sophistischen Philosophieverständnisses wie auch der unreflektierten umgangssprachlichen Wortverwendung ein. Dagegen wird Philosophieren jetzt als 12 Vgl. Erler, Platon, PhdA 2/2, 349 – 354; Burkert, Platon oder Pythagoras? Zum Ursprung des Wortes »Philosophie«; anders Riedweg, Zum Ursprung des Wortes »Philosophie« oder Pythagoras von Samos als Wortschöpfer. 13 Die Häufigkeitsverteilung innerhalb der Politeia ist: Buch I: 0; II: 5; III: 4; IV: 0; V: 15; VI: 55; VII: 13; VIII: 3; IX: 10; X: 4. Zur Häufigkeitsverteilung im Gesamtwerk siehe auch das Diagramm im Anhang. Einleitung 21 methodisch bewusste dialogische Übung und als Prüfung von Wahrheitsbehauptungen verstanden, die mit einer Selbstprüfung im epistemischen Sinn einhergehen, das heißt mit einer Prüfung der Wissensansprüche. Zum Begriffsfeld, darunter versteht man partiell bedeutungsgleiche Ausdrücke unterschiedlicher Wortstämme, gehören dann im Fall von Philosophieren (vikosove?m) ebenso die Ausdrücke Sich-Unterreden (diak´cseshai), Prüfen (1k´cweim), Suchen (fgte?m) und ähnliche, weil sie von Platon wie Synonyma verwandt werden. Dabei gibt es zwar noch Überschneidungen mit der sophistischen Praxis wie im Fall des elenchos, einem Prüfverfahren zum Nachweis von Widersprüchen, aber Platon ringt hier schon deutlich um eine inhaltliche Abgrenzung und beansprucht das sachlich angemessene, richtige Verständnis. Im Lysis (7x), Euthydemos (14x), Gorgias (18x) und Symposion (16x) dienen weiterhin das sophistische oder das umgangssprachliche Verständnis als Hintergrundfolien, vor denen Platon die Bedeutung des Philosophiebegriffs immer genauer ausdifferenziert. Das geschieht in subtilen Sprachspielen, bei denen die Dramaturgie der Dialoge eine wichtige Rolle spielt. Dazu bedient er sich unterschiedlichster Mittel: der Ironie, semantischer Verschiebungen, die von den Gesprächspartnern kaum bemerkt werden, Begriffsanalysen sowie dezidierten Ab- und Ausgrenzungen. Dass der Wortfamilie im platonischen Verständnis primär ein Tätigkeitscharakter eignet, war schon in der Apologie und im Protagoras deutlich geworden. Zu diesem Bedeutungshorizont kommt nunmehr die Konnotation von Lieben (1q÷m) und Begehren (1pihule?m) hinzu. Hiermit rückt das Ringen Platons um das seiner Ansicht nach genuine Verständnis von Philosophieren ins Zentrum der Reflexion und wird ausdrücklich thematisiert.14 Das zeigt sich nicht zuletzt an der zunehmenden Häufigkeit der Wortfamilie. Wenn man dann noch bedenkt, dass zum Begriffsfeld auch die oben genannten Ausdrücke gehören, die Platon zur inhaltlichen Bestimmung heranzieht, und diese ein Vielfaches der Wortfamilie im engeren Sinn ausmachen, kann man ermessen, wie intensiv Platon den Philosophiebegriff hier bereits reflektiert. Inhaltlich sind es wenige Leitgedanken, die ihn dabei beschäftigen: Dass Philosophieren nicht einfach einen Besitz, sondern vielmehr ein Streben nach Erkenntnis bezeichnet und diese Erkenntnis das Wissen des Wahren und Guten beinhaltet. Weiterhin dass dieses Streben durch die Liebe zum Schönen motiviert ist und die Geburt der Tugend in der Seele bewirkt. Und schließlich dass damit eine vernunftgeleitete Lebensform einhergeht, die auf Harmonie und Ordnung angelegt ist und eine lebenslange Aufgabe bleibt. Neben die Darlegung der spezifisch philosophischen Tätigkeit und Methode treten also Überlegungen zur philosophischen Motivation und deren Zielsetzung sowie zu den charak14 Immer noch faszinierend ist Krüger, Einsicht und Leidenschaft; neuerdings auch Schäfer, Manische Distanzierung. Über Platons programmatische Umdeutung des Philosophiebegriffs. 22 Einleitung terlichen Voraussetzungen und Folgen. Was Philosophieren ist und will, wird umfassend durchdacht. Dem Wort wird hier ein vorher nicht bekannter Bedeutungshorizont eröffnet, der anzeigt, dass das Philosophieren von einer zeitlich und situativ begrenzten Tätigkeit zu einer umfassenden Lebenshaltung geworden ist. Was Philosophie ist und will, ist jetzt zentrales Thema der schriftstellerischen Tätigkeit Platons. Das zeigt sich schon rein äußerlich an der massiven Zunahme der Belegstellen des Wortfeldes. Im Phaidon (39x) und in der Politeia (109x) findet sich neben dem Verb, Adjektiv und Substantiv »Philosophie« nunmehr auch die substantivische Kennzeichnung »Philosoph«, und zwar häufig mit dem Zusatz der »wahre« Philosoph in Abgrenzung zu den »vorgeblichen« oder »schlechten« Philosophen. Das ist auffällig und neu, denn bisher wurde nur umschreibend von den Personen gesprochen, die philosophieren, häufig mittels des substantivierten Partizips »die Philosophierenden«. Das Philosophieren war also noch kein Kennzeichen einer bestimmten, eng umrissenen Personengruppe, sondern alle konnten es für sich in Anspruch nehmen, auch ein aufgeweckter junger Knabe oder ein interessierter Laie, wenn sie bestimmten Regeln folgten. Obwohl das Philosophieren als Lebenshaltung bereits im Blick war, war es noch nicht professionalisiert. Das ändert sich jetzt und ist ein Hinweis auf das Ringen um die Deutungshoheit dessen, was ein Philosoph ist und wodurch er sich von anderen Intellektuellen, die sich gleichfalls so bezeichnen, und von deren Schulen unterscheidet. Es dient zur Kennzeichnung einer spezifischen Form der Ausbildung, für die nicht nur besondere Naturanlagen mitgebracht werden müssen, sondern die sich auch durch bestimmte, klar definierte Gegenstände der Schulung auszeichnet, die Ideenerkenntnis. In den anderen Dialogen war das zwar schon angelegt, kommt aber hier zur vollen, methodisch reflektierten Entfaltung. Der Ausdruck Philosophie umfasst dabei sowohl propädeutische Wissenschaften als auch die Ideenerkenntnis im engeren Sinn mit dem Ziel der Erkenntnis der Idee des Guten. Für letztere wird zunehmend der Begriff Dialektik gebraucht. Nach dem Höhepunkt in der Politeia kommt es zu einem unerwarteten Abfall der Okkurenzen. Im Parmenides (3x), Theaitetos (11x), Sophistes (11x), Phaidros (14x), Timaios (9x), Politikos (3x), Philebos (6x), Kritias (1x), Nomoi (2x) spielt die Reflexion über die Philosophie zwar immer noch eine wichtige Rolle. Aber in dem Maß, wie sie zu einer klar umrissenen Disziplin geworden ist mit definierten Fächern und Übungsabläufen, treten andere Bezeichnungen hinzu und zum Teil an ihre Stelle. Das gilt für die Dialektik als Wissenschaft vom Seienden und die Dihairese als Einteilungsmethode oder für die mathematischen Disziplinen als propädeutische Fächer.15 Von Philosophie ist daher jetzt eher in einem 15 Vgl. Dixsaut, M¦tamorphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon. Einleitung 23 umfassenden und allgemeinen Sinn die Rede, wobei sie alle Bereiche dieser Schulung bezeichnen kann. Die bisher erarbeiteten Kriterien und Kennzeichen im Methodischen, Motivationalen, Teleologischen und Ethischen verlieren dabei nicht ihre grundsätzliche Gültigkeit, selbst wenn sie modifiziert werden und die Auseinandersetzung mit anderen Schulen ebenso widerspiegeln wie mit der eigenen, innerschulischen Diskussion. Der Blick auf das Gesamtwerk macht also, bei aller Vorsicht bezüglich der chronologischen Zuordnung der Dialoge, deutlich, dass sich das Interesse Platons am Philosophiebegriff erst allmählich entwickelte. Er knüpfte an das weite, umgangssprachliche Verständnis ebenso an wie an das technische im sophistischen Milieu. Indem er diese Auffassungen kritisierte, hat er den Begriff adaptiert und transformiert und ihm den unverkennbaren Charakter gegeben, der sich mit dem Namen Platons verbindet: das liebende Streben nach Wissen und Weisheit. Dennoch bleibt unsere Ausgangsschwierigkeit, die verschiedenen Aspekte des Philosophiebegriffs, die Platon dabei entfaltet hat, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es gibt nicht die eine Definition der platonischen Philosophie. Das liegt nicht zuletzt an der Mehrdimensionalität der Sache.16 Es soll dennoch abschließend versucht werden, ein Kennzeichen zu formulieren, das sich durch alle Beschreibungen der Philosophie durchzieht. Schon von Aristoteles wurde Platon der Vorwurf des chorismos gemacht, einer Zweiweltentheorie, wonach die Welt des Intelligiblen von der des Sensiblen, die Welt der Ideen von der der Instanzen völlig getrennt sei.17 Ich halte das für ein grundlegendes Missverständnis, das gerade dem ontologischen und epistemischen Status der Philosophie bei Platon als einem metaxy, einem Dazwischen, nicht gerecht wird. Beide Welten sind nicht getrennt, sondern wechselseitig aufeinander bezogen. Um dieses Verhältnis angemessen zu beschreiben, wurde von einem »two-levelmodel« gesprochen.18 Je nach Perspektive, aus der man die Wirklichkeit betrachtet, lässt sie sich in polar-komplementären Begriffspaaren beschreiben, zwischen denen es einen ontologischen und axiologischen, werthaften Unterschied gibt, dergestalt dass der erste Teil des Begriffspaares höherwertig ist gegenüber dem zweiten. Der grundlegende Unterschied besteht zwischen Sein – Werden, unsterblich – sterblich, zwischen Idee – Instanzen, Einem – Vielem, zwischen Urbild – Abbild. Dem entspricht aus kognitiver Perspektive der Un16 Schon seit Aristoteles wurden darum verschiedene Disziplinen der Philosophie systematisch unterschieden. Die wirkungsmächtigste Klassifikation ist die Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik. Siehe hierzu P. Hadot, Die Einteilung der Philosophie im Altertum, 422 – 444. 17 Arist. Metaph. 1039a, 1040b – 1041a, 1078b – 1079a, 1086a – 1086b. 18 Zum Zwei-Ebenen-Modell siehe Thesleff, An Introduction to Studies in Plato’s Two-Level Model; ders., Studies in Plato’s two-level model. 24 Einleitung terschied zwischen Intelligiblen – Sensiblen, denkbar – sichtbar, zwischen Wissen – Meinung, Wahrheit – Irrtum. Aus psychologischer und ethischer Perspektive lässt sich zwischen Vernunft–Begierde, Seele – Leib, schön – hässlich, gut – schlecht unterscheiden. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Auf den ersten Blick scheint diese Gegenüberstellung die These von den zwei unverbundenen Welten zu stützen, aber es sind zwei Ebenen innerhalb einer Wirklichkeit, zwischen denen ein intensiver Austausch besteht, ein ständiges Hin und Her. In diesem Dazwischen ist der spezifische Ort der Philosophie. Ihr Charakteristikum ist die Fähigkeit, die zweite, niedere Ebene auf die erste, höhere zurückzuführen, sie dadurch einerseits mit der höheren zu verbinden, und sie andererseits auch zu transzendieren.19 Hierfür findet sich im platonischen Werk mehrfach der treffende Ausdruck »von hier nach dort« (1mh´mde 1je?se).20 Er charakterisiert das Philosophieren als eine intentionale Dynamik innerhalb eines polaren Verhältnisses, die immer von der ontologisch und axiologisch niederen Ebene zur höheren drängt. Denn die Philosophie strebt vom Werden zum Sein; sie liebt das Schöne und nicht das Hässliche; sie wendet sich vom Sensiblen ab und schaut auf das Intelligible; sie gleicht das Sterbliche dem Unsterblichen an; sie ist nicht der Meinung, sondern dem Wissen und der Weisheit freund. Alle oben genannten Philosophiedefinitionen tragen diese Spannung in sich und drücken in irgendeiner Form deren Überwindung aus. Sie bezeichnen dieselbe Sache, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise und aus einer anderen Perspektive. Immer aber beinhaltet das Philosophieren die Bewegung »von hier nach dort«. Platon hat immer wieder auf ein letztes Ziel, ein telos des Philosophierens hingewiesen, die Idee des Guten. Aber er hat diesen Gedanken nicht bis ins Letzte ausgeführt, er belässt es bei Andeutungen. Ebenso wenig hat er im eigenen Namen gesprochen und uns, den Lesern gesagt, was er unter Philosophie versteht. Er hat immer andere, nämlich seine Dialogfiguren, sprechen lassen. Wir können seine Auffassung der Philosophie nur indirekt aus der dramaturgischen Gestalt der Dialoge erschließen, indem wir das Spiel der verschiedenen Auffassungen wahrnehmen und dabei das schöpferisch Neue entdecken, das er in die zeitgenössische Diskussion eingebracht hat. Offensichtlich ist er nicht daran interessiert, uns, den Lesern, zu sagen, was er, Platon, unter Philosophie versteht. Denn dann hätte er es uns mitgeteilt. So stehen wir zum Schluss wieder vor der Tatsache, dass die Philosophie Platons auf uns in einer Offenheit überkommen ist, die den Leser dazu herausfordert, weiterzudenken, was er begonnen und angedeutet hat. Darin ist die Philosophie Platons dem apollinischen Torso 19 Vgl. hierzu Halfwassen, Philosophie als Transzendieren. Der Aufstieg zum höchsten Prinzip bei Platon und Plotin. 20 R. 529a, 619e; Phd. 107e, 117c; Phdr. 250e; Tht. 176b. Einleitung 25 vergleichbar, den Rilke so eindrucksvoll beschreibt, nur dass Platon sein Werk von vornherein in dieser Unabgeschlossenheit geplant hat. Er wollte, bildlich gesprochen, dem Torso keinen Kopf aufsetzen, jedenfalls nicht seinen. Platon ist nicht daran interessiert, dass wir wissen, was er unter Philosophie verstanden hat. Er ist daran interessiert, dass wir philosophieren. Und dazu will er uns mit seinen Dialogen helfen. Wir müssen dann selbst versuchen, den Weg zu Ende zu gehen, den er angedeutet hat, und also philosophieren.