In diese Sinfonie habe ich, ohne Übertreibung gesagt, meine

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»In diese Sinfonie habe ich,
ohne Übertreibung gesagt,
meine ganze Seele gelegt.«
Peter Tschaikowsky an den Großfürsten Konstantin, September 1893
B3: Do, 17.11.2011, 20 Uhr | A3: So, 20.11.2011, 11 Uhr | Hamburg, Laeiszhalle
L2: Fr, 18.11.2011, 19.30 Uhr | Lübeck, Musik- und Kongresshalle
Manfred Honeck Dirigent
Rudolf Buchbinder Klavier
Arvo Pärt Cantus in memoriam Benjamin Britten
Wolfgang Amadeus Mozart Klavierkonzert C-Dur KV 467
Peter Tschaikowsky Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“
DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE
N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER
Das Konzert am 20.11.2011 wird live
auf NDR Kultur gesendet
Donnerstag, 17. November 2011, 20 Uhr
Sonntag, 20. November 2011, 11 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle, Großer Saal
Freitag, 18. November 2011, 19.30 Uhr
Lübeck, Musik- und Kongresshalle
Dirigent:
Solist:
Manfred Honeck
Rudolf Buchbinder Klavier
Arvo Pärt
(*1935)
Cantus in memoriam Benjamin Britten
für Streichorchester und eine Glocke
(1977/1980)
Peter Iljitsch Tschaikowsky
(1840 – 1893)
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“
(1893)
I.
Wolfgang Amadeus Mozart
(1756 – 1791)
Konzert für Klavier und Orchester C-Dur KV 467
(1785)
Adagio – Allegro non troppo – Andante – Moderato mosso –
Andante – Moderato assai – Allegro vivo – Andante come prima –
Andante mosso
II. Allegro con grazia
III. Allegro molto vivace
IV. Finale: Adagio lamentoso – Andante
I. Allegro maestoso
II. Andante
III. Allegro vivace assai
Einführungsveranstaltung mit Habakuk Traber am 17.11.2011 um 19 Uhr
im Großen Saal der Laeiszhalle.
Pause
2
3
N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER
Manfred Honeck
Rudolf Buchbinder
Dirigent
Klavier
Der gebürtige Österreicher Manfred Honeck ist
seit der Saison 2008/09 Music Director beim
Pittsburgh Symphony Orchestra. Nach umjubelten Konzerten im Jahr 2010 in der New Yorker
Carnegie Hall und in zahlreichen europäischen
Musikmetropolen führte eine weitere Tournee
im August/September 2011 zu den großen
Musikfestivals Europas. Honecks erfolgreiche
Arbeit in Pittsburgh wird auch auf CD dokumentiert. Bislang erschienen Mahlers Sinfonien
Nr. 1, 3 und 4, Tschaikowskys Fünfte sowie das
„Heldenleben“ von Richard Strauss.
Rudolf Buchbinder ist eine feste Größe in der
internationalen Klavierszene und regelmäßiger
Gast bei den bedeutenden Orchestern und Festivals weltweit. Sein Repertoire ist umfangreich
und schließt auch zahlreiche Kompositionen
des 20. Jahrhunderts ein. Rudolf Buchbinder
legt besonderen Wert auf die akribische Quellenforschung. So befinden sich u. a. über 27
komplette Ausgaben der Klaviersonaten Beethovens, eine umfangreiche Sammlung von
Erstdrucken und Originalausgaben sowie Kopien der eigenhändigen Klavierstimmen und
Partituren der beiden Klavierkonzerte von
Brahms in seinem Besitz.
Von 2007 bis 2011 war Manfred Honeck Generalmusikdirektor der Staatsoper Stuttgart. Gastspiele im Bereich der Oper führten ihn daneben
an die Semperoper Dresden, an die Komische
Oper Berlin, zum White Nights Festival nach
St. Petersburg, zu den Salzburger Festspielen
und zum Verbier Festival. Im Laufe seiner umfangreichen Konzerttätigkeit dirigierte Honeck
führende internationale Klangkörper, darunter
das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Gewandhausorchester Leipzig, Royal
Concertgebouw Orchestra, London Philharmonic, Los Angeles Philharmonic, Chicago und
Boston Symphony Orchestra sowie die Wiener
Philharmoniker. In der aktuellen Saison ist er
als Gastdirigent nicht nur an seinen früheren
Wirkungsstätten in Stockholm, Oslo, Prag und
Stuttgart zu erleben, sondern steht auch am Pult
etwa der Staatskapelle Dresden, der Bamberger Symphoniker oder des Orchestre de Paris.
Manfred Honeck begann seine Laufbahn als
Assistent von Claudio Abbado in Wien. Anschlie4
ßend wurde er als Erster Kapellmeister an
das Opernhaus Zürich verpflichtet und erhielt
dort 1993 den Europäischen Dirigentenpreis.
Zu weiteren Stationen seiner Karriere zählen
Leipzig, wo er von 1996 bis 1999 einer der drei
Hauptdirigenten des MDR Sinfonieorchesters
war, und Oslo, wo er 1997 die musikalische
Leitung der Norwegischen Nationaloper übernahm und für mehrere Jahre als Erster Gastdirigent des Oslo Philharmonic Orchestra verpflichtet wurde. Von 2000 bis 2006 war Honeck
Chefdirigent des Swedish Radio Symphony Orchestra Stockholm, von 2008 bis 2011 Erster
Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie
in Prag. 2010 wurde er vom St. Vincent College
in Latrobe, Pennsylvania, zum Ehrendoktor
ernannt. Er ist darüber hinaus seit mehr als
15 Jahren Künstlerischer Leiter der Internationalen Wolfegger Konzerte.
Über 100 Aufnahmen dokumentieren Größe und
Vielfalt von Buchbinders Repertoire. Besonderes Aufsehen erregte seine Einspielung des
Klavier-Gesamtwerkes von Joseph Haydn, die
mit dem „Grand Prix du Disque“ ausgezeichnet
wurde, sowie eine CD mit Klavier-Transkriptionen unter dem Titel „Waltzing Strauss“. Mittlerweile bevorzugt Rudolf Buchbinder Live-Aufnahmen. Die Konzert-Mitschnitte der beiden
Klavierkonzerte von Johannes Brahms (Royal
Concertgebouw Orchestra/Nikolaus Harnoncourt) sowie zwei DVDs live von den Wiener
Festwochen 2006, wo Buchbinder als Solist
und Dirigent mit den Wiener Philharmonikern
sechs Mozart-Klavierkonzerte interpretierte,
spiegeln dies in beeindruckender Weise wider.
Im November 2010 erschien eine weitere LiveAufnahme der beiden Klavierkonzerte von
Brahms mit dem Israel Philharmonic Orchestra
unter Zubin Mehta. Im Mai 2011 wurden Rudolf
Buchbinders Auftritte als Solist und Dirigent
der Wiener Philharmoniker mit den fünf Klavierkonzerten von Beethoven im Großen Musikvereinssaal in Wien live auf DVD aufgezeichnet.
Zu einem wichtigen Anliegen wurde für Rudolf
Buchbinder die Interpretation des „Neuen Testaments“ der Klaviermusik: mit der zyklischen
Wiedergabe aller 32 Sonaten Ludwig van Beethovens in über 40 Städten – darunter Wien,
München, Hamburg, Zürich, Buenos Aires und
Mailand – setzte und setzt er immer wieder Maßstäbe. Während der Saison 2010/11 war Rudolf
Buchbinder „Artist in Residence“ der Staatskapelle Dresden. Sein Beethoven-Sonaten-Zyklus
in der Semperoper Dresden wurde live mitgeschnitten und erschien im Mai 2011 als CD-Box.
Seit 2007 ist Rudolf Buchbinder Intendant der
Festspiele Grafenegg. In seiner Biographie
„Da Capo“ gibt er Einblicke in sein Leben als
einer der bedeutendsten Pianisten von heute.
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N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER
„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Zum Programm des heutigen Konzerts
Fallende Tonleiterausschnitte, die am Ende
in tiefste Register der Kontrabässe münden:
Beinahe könnte man sagen, das heutige Konzert ende so, wie es begonnen hat. Denn genau
wie Arvo Pärts konkret dem Andenken eines
Komponisten gewidmeter „Cantus in memoriam
Benjamin Britten“ spricht auch Tschaikowskys
mythenumwobene „Pathétique“ eine unmissverständliche Tonsprache: Seufzermotive und
absteigende Linien in Moll galten seit frühester
Musikgeschichte als Ausdruck der Klage. Für
das Geheimnis um den Inhalt der „Pathétique“,
das Tschaikowsky – wie sein Bruder Modest
bekannte – „mit sich ins Grab“ genommen habe,
kann Pärts rund 100 Jahre später entstandener
„Cantus“ mit seiner dem Tschaikowskyschen
Finale verwandten musikalischen Gestik insofern einen gewissen Interpretationsschlüssel
anbieten: Das Stück besteht ausschließlich
aus dem Material einer absteigenden a-MollTonleiter und läuft damit einem „von allem
Anfang an bestimmten Ende entgegen. Diesem
kann es ebenso wenig entkommen wie der
Mensch seinem Tod“ (Leopold Brauneiss).
Bekanntlich aber wohnt nach Hermann Hesse
allem Anfang auch ein Zauber inne. „Wie jede
Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit
auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf
nicht ewig dauern“, heißt es in seinem berühmten Gedicht „Stufen“. Bevor also in Tschaikowskys „Pathétique“ das unausweichliche Ende
erscheint, macht das Werk nicht nur bei einem
freundlich-eleganten Walzer, sondern auch bei
einem triumphalen Marsch in strahlendem
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Dur Station. So verstanden wirkt dann auch
Mozarts Klavierkonzert im Gesamtgefüge des
heutigen Konzertprogramms keinesfalls nur
wie ein heiterer Fremdkörper zwischen zwei
dunklen Moll-Werken. Zwar gilt die Tonart C-Dur
seit jeher als überaus „rein“ und festlich, doch
muss es allein schon stutzig machen, dass
Mozart dieses Konzert ausgerechnet im Anschluss an sein ungemein düster-dramatisches
d-Moll-Konzert KV 466 komponierte. Es war
der Musikwissenschaftler und Dirigent Peter
Gülke, der daher selbst noch im vordergründig
fröhlichen Schlusssatz des C-Dur-Konzerts den
Einzug von Moll-Sphären betonte – so, als ob
hier eben jene „höhere Heiterkeit des Geistes,
welche den Durchgang durch das negative
Moment der Entzweiung vollendet hat“ (Hegel),
zum Ausdruck komme. Mithin ein Konzert ganz
im Sinne von Hesses „Stufen“-Idee: „Wohlan
denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
„Flucht in die freiwillige Armut“ –
Arvo Pärts „Cantus in memoriam
Benjamin Britten“
In Anbetracht der Entstehungsumstände von
Arvo Pärts „Cantus“ lässt sich Hesses soeben
zitierte Sentenz geradezu wörtlich nehmen:
Für den estnischen Komponisten war der Abschied von Benjamin Britten in der Tat Anstoß
und Ermutigung zur „Gesundung“ seiner Kompositionskrise. Als Pärt 1968, nach der Komposition seines „Credo“, bekennen musste, dass
er „einfach nichts zu sagen“ mehr habe, dass
es sowohl in den Sphären der atonalen wie vor
allem der tonalen Musik nichts Neues mehr zu
entdecken gebe, fand er den Ausweg schließlich in einer Kompositionstechnik, in der er das
„ganze moderne Arsenal zurücklassen und sich
durch die nackte Einstimmigkeit retten“ wollte.
Die bewusste Beschränkung auf das Notwendigste sollte von der überfrachteten musikalischen Tradition und dem individuellen Fortschrittsdrang erlösen, zugleich der „Wahrheit
des Herrn“ möglichst nahe kommen. „Tintinnabuli-Stil“ nannte Pärt diese Technik fortan – und
hob mit diesem Begriff (von lat. „tintinnabulum“
= Glöckchen) sowohl auf die sinnliche, assoziative Vielfalt des Glockenklangs als auch auf die
konkrete Satztechnik ab: wie bei Glocken sind
der Einzelton und der Dreiklang die tragenden
Komponenten in Pärts Werken seit dieser Zeit.
Mit Benjamin Britten hat ein solches Streben
nach größtmöglicher Vereinfachung im Grunde
wenig zu tun. Es mag daher zunächst überraschen, dass sich Arvo Pärt, der sich musikalisch die „Flucht in die freiwillige Armut“ zum
Ziel gemacht hat, ausgerechnet auf Benjamin
Britten bezieht, dessen facettenreiches Schaffen sich zeitlebens aus dem Reichtum musikalischer Stile und Epochen speiste. Und doch
war es Pärt sehr daran gelegen, sein erstes im
„Tintinnabuli-Stil“ komponiertes Werk aus dem
Jahr 1977 mit dem Namen Brittens, der 1975
gestorben war, zu verknüpfen. Im Gespräch
mit Enzo Restagno berichtete Pärt 2004 über
die Entstehung seines „Cantus“: „Die Entwürfe
für dieses Stück waren bereits fertig, als ich
zufällig im Radio vom Tode Brittens hörte.
In diesem Zusammenhang wurden im Radio
Arvo Pärt (1990)
einige seiner Musikstücke übertragen, die
meine Frau und mich wegen ihrer Zartheit und
einer Transparenz tief berührten, die eine Atmosphäre der Balladen von Guillaume de
Machault entstehen ließen. Zu diesem Zeitpunkt verfestigte sich bei mir der Wunsch,
dieses Werk zu vollenden und es Britten zu
widmen. Schon lange Zeit hatte ich mir gewünscht, ihn zu treffen und kennenzulernen,
aber nach dieser Nachricht musste ich diesen
Gedanken aufgeben.“
Zartheit, Transparenz und ein archaischer Zug:
mehr als direkte stilistische Gemeinsamkeiten
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N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER
verbinden wohl diese Charakteristika Pärts
Musik mit derjenigen Brittens. In gewisser
Hinsicht jedoch lässt sich auch Brittens Traditionsbewusstsein bei Pärt wieder finden.
Völlig losgelöst von allem vorher Dagewesenen
ist sein „Cantus“ nämlich nicht. Wie erwähnt
sind absteigende Tonleitern ein viel genutztes
Mittel zur musikalischen Darstellung von Trauer
und Dunkelheit, man denke nur an den Beginn
von Schönbergs „Verklärte Nacht“ oder eben
an das Finale aus Tschaikowskys „Pathétique“.
Aber auch die Struktur des „Cantus“ stellt
Bezüge zu anderen Trauermusiken her: Wie
in Witold Lutosławskis „Musique funèbre in
memoriam Béla Bartók“ (1958) werden die
Stimmen in einem (Proportions-)Kanon geführt und gewinnen allmählich an Dynamik.
Bemerkenswerterweise markierte die Trauermusik auch bei Lutosławski den Beginn einer
neuen stilistischen Phase! In seiner Konsequenz
der absoluten tonalen Stabilität freilich – das
Stück kommt ohne Harmoniewechsel aus und
ist, vom ersten bis zum letzten Glockenschlag,
gänzlich auf den Zentralton „a“ fixiert – geht
Pärts „Cantus“ eigene Wege. Das Ideal einer
Musik, die die „Zeit zum Stillstand bringt“ (Pärt),
scheint hier verwirklicht. Am Ende bleibt der
Klang der Glocke als Nachhall ohne hörbaren
Anfang übrig – als ob das Stück von vorne
losgehen könnte und zugleich in der Ewigkeit
verklinge …
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„Sinfonisch im höchsten Sinn“ –
Wolfgang Amadeus Mozarts
Klavierkonzert C-Dur KV 467
Wie kaum eine andere Gattung war das Klavierkonzert zu Mozarts Zeiten eine ausgesprochen
öffentliche Angelegenheit. Klavierkonzerte
schrieb man nicht etwa für den häuslichen
Gebrauch oder zur privaten Unterhaltung,
sondern vor allem, um in einer Stadt als Komponist und Pianist zu glänzen und sich damit
zugleich als Instrumentalpädagoge oder Veranstalter von Akademie-Konzerten zu empfehlen. Kein Wunder, dass Wolfgang Amadeus
Mozart als „freischaffender“ Künstler in seiner
Wiener Zeit kaum mehr andere Instrumentalkonzerte schrieb. Etwas überspitzt könnte man
sagen: Aus finanziellen Gründen wurde das
Klavierkonzert neben der Oper zu jener Gattung,
in der Mozart am innovativsten war und Maßstäbe setzte. Dabei ging es ihm keineswegs
nur darum, die Form als „Showpiece“ zu verstehen und lediglich den in der Regel von ihm
selbst gespielten Solopart ins rechte Licht zu
rücken. Im Gegenteil: Gerade die Rolle des
Orchesters erfuhr in den Wiener Konzerten
eine erhebliche Aufwertung, so dass der
Mozart-Forscher Marius Flothuis das C-DurKonzert KV 467 mitsamt seinem Vorgänger
und Nachfolger zu einer Gruppe „sinfonischer
Konzerte“ zusammenfasste. Insbesondere
die Bläser wurden nun neben dem Klavier und
den Streichern zu eigenständigen Akteuren.
„Man begreift, daß Mozart in diesen ersten
Wiener Jahren keine Sinfonien schrieb: denn
diese Konzerte sind sinfonisch im höchsten
Sinn“, konstatierte auch der Mozart-Biograph
Alfred Einstein.
Gleich zu Beginn des am 9. März 1785 vollendeten C-Dur-Klavierkonzerts KV 467 lässt
sich dieses orchestrale Denken erkennen:
Das im Verlauf des 1. Satzes omnipräsente
Hauptthema, das im Übrigen zum Marsch-Idiom
früherer Mozart-Konzerte zurückkehrt, wird in
vielfältigen instrumentalen Etappen präsentiert. Es erscheint zunächst im Unisono, wird
in einem Tutti mit Gegenstimmen angereichert
und lässt dann schließlich solistische Bläser
hervortreten. Das Klavier steuert nach solch
sinfonischer Entfaltung lieber ein eigenständiges Thema bei. – „Wie eine von allen Rücksichten auf die Menschenstimme befreite ideale Aria“ erschien Alfred Einstein der 2. Satz.
Dessen melodischer Strom über gleichförmiger Begleitung droht immer wieder durch
schmerzliche Bläsereinwürfe aus der Behaglichkeit abzugleiten, um dann jedoch mit umso
versöhnlicheren Wendungen aufgefangen zu
werden. Beim 3. Satz handelt es sich um eine
weit vorangetriebene Verschmelzung von
Rondo- und Sonatenform. Entsprechend ist
das 2. Zwischenspiel wie eine ausführliche
Durchführung des Rondo-Themas gestaltet.
Ein geheimnisvolles „Opus ultimum“
– Peter Tschaikowskys „Pathétique“
Handzettel für Mozarts Burgtheater-Akademie am 10. März
1785, wo das Klavierkonzert C-Dur KV 467 erstmals erklang
Am 6. November 1893 fand in St. Petersburg
ein Konzert im Andenken an Tschaikowsky statt,
der am 25. Oktober verstorben war. Auf dem
Programm: Seine Sechste Sinfonie, die er selbst
gerade noch zwei Wochen zuvor, am 16. Oktober, zur Uraufführung gebracht hatte. „Ihr letzter Satz erschien wie das letzte ‚Lebewohl’ des
unvergessenen Komponisten“ – so berichtete
ein Rezensent von diesem Gedenkkonzert,
das einen tiefen Eindruck auf die Hörer machte.
Es schien, als ob Tschaikowsky seinen Tod in
dieser Sinfonie bereits vorausgeahnt habe,
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N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER
doch wirklich kein Zufall sein, dass sie derart
resigniert endet?!
Peter Tschaikowsky, Gemälde von Nikolai Dimitrijewitsch
Kusnezow (1893)
gleichsam sein eigenes „Requiem“ geschrieben
habe. Nun sind solche Spekulationen bei letzten Werken großer Künstler keine Seltenheit
und tragen stets ungemein zur Popularität des
betreffenden „Opus ultimum“ bei. Es entbehrt
dabei nicht einer gewissen Komik, wenn man
über dieselbe Sinfonie in der Kritik der wenige
Wochen zuvor stattgefundenen Uraufführung
in derselben Zeitung von „einigen Längen“
und einem Mangel an Inspiration lesen kann.
Nach dem Tod des Komponisten nun meinte
man aber, den Sinn dieser letzten Sinfonie erst
so recht verstanden zu haben, denn es konnte
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Tschaikowsky hatte bereits 1889 nach der
Vollendung seiner Fünften Sinfonie „eine grandiose Symphonie, welche den Schlussstein
meines ganzen Schaffens bilden soll“ angekündigt und gehofft, nicht zu sterben, ohne
diese Absicht „vollbracht zu haben“. Entwürfe
zu einer Es-Dur-Sinfonie, die er später zum
3. Klavierkonzert umarbeitete, stellten ihn nicht
zufrieden. Trotz aller Schaffenskrisen blieb
das Ziel einer Sinfonie „mit einem geheimen
Programm“ jedoch aktuell. Endlich dann im
Februar 1893 ging die Arbeit schnell voran
und Tschaikowsky konnte seinem Neffen von
einer Sinfonie mitteilen, die „mehr denn je
von Subjektivität durchdrungen“ sei, dass er
in Gedanken daran „nicht selten sehr geweint“
habe. Dem schnellen Kompositionsprozess
folgten erneut Selbstzweifel, insbesondere
bei der Instrumentation tat sich Tschaikowsky
schwer und glaubte schon, man werde „diese
Sinfonie schelten oder wenig schätzen“.
Dennoch war er sich selbst diesmal so sicher
wie nie, „die beste und aufrichtigste“ aller seiner Sachen geschaffen zu haben. Irgendetwas
zutiefst Persönliches hatte es also doch mit
diesem Werk auf sich. Auch die 4. und 5. Sinfonie hatte Tschaikowsky ja hinterher schon mit
Auslegungen versehen, die seine stets wiederkehrenden Themen „Leben, Schicksal, Liebe
und Tod“ berührten. Diesmal aber leitete ihn
von Anfang an jenes „geheime Programm“ und
eine Stimmung, die derjenigen einer ihm zur
Vertonung angebotenen Requiem-Dichtung
von A. N. Apuchtin „nahe verwandt“ sei. Um all
dem Ausdruck zu verleihen, griff Tschaikowsky
nun sogar zu einem nie vorher da gewesenen
Mittel: Die übliche Satzfolge einer Sinfonie
stellte er zu Gunsten eines langsamen Schlusssatzes um und begründete damit eine Tradition, die insbesondere Gustav Mahler wirkungsmächtig aufgreifen sollte. Um was es freilich
genau in dieser „pathetischen“ Sinfonie geht –
ein Beiname, den Tschaikowsky erst nach der
Uraufführung auf den Vorschlag seines Bruders
Modest zufügte – bleibt bis heute ein Rätsel.
„Wir werden das alle einmal durchleben, was
Peter Iljitsch hier so erschütternd zum Ausdruck
bringt“, lautet der in seiner unkonkreten Bestimmtheit nur allzu bezeichnende Kommentar
des Tschaikowsky-Biographen Richard H. Stein.
Gleich die Einleitung zum 1. Satz verbindet die
beiden symbolträchtigen Leitgedanken der
Sinfonie: das Motiv der fallenden Sekunde und
den absteigenden „Lamento“-Bass. Ihr schwermütiges Motiv wird zum Kopf des wie vom
Schicksal getrieben wirkenden Hauptthemas
Das Tschaikowsky-Haus in Klin, der letzte Wohnsitz des Komponisten, wo er u. a. auch an der „Pathétique“ arbeitete
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N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER
lich klingt der Satz mit berührenden Abschiedsgesten aus, die wie befreit in eine hoffnungsvollere Welt hinüberzuführen scheinen.
Entsprechend ist der 2. Satz ein warmherziger
Walzer, der doch kein wirklicher Walzer ist:
Erstaunlich, dass die Stilisierung jenes Tanzes
so weit gehen kann, dass man ihn hier selbst
im unregelmäßigen 5/4-Takt wieder zu erkennen meint! Der Mittelteil knüpft über ständigem
Pochen der Pauke an die absteigende Sekundmotivik des 1. Satzes an.
Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6 h-Moll „Pathétique“.
Skizzen zu den Takten 88 bis 96 und 152 bis 163 des
zweiten Satzes (eigenhändige Notenhandschrift)
im folgenden Sonatensatz. Das gesangliche
Seitenthema, von typischen Hornsynkopen begleitet, entfaltet sich in flehenden Steigerungen
und verklingt in einer einsamen Klarinette.
Schockartig setzt die wild-dramatische Durchführung ein, in der die Blechbläser einen
Choral des orthodoxen Totenoffiziums zitieren.
Alles steuert auf die Katastrophe mit ihren
mächtigen Posaunensignalen zu, vollends in die
Tiefe herabsinkend. Danach wirkt das anstelle
der Reprise einsetzende Seitenthema wie eine
Erlösung aus schweren Seelenqualen. Tatsäch12
Auch der 3. Satz schlägt gänzlich andere Töne
als diejenigen der Schwermut an: Die flirrendMendelssohnsche Scherzo-Atmosphäre wird
hier mit dem Herannahen eines Marsches genial verquickt, der sich durchzusetzen versucht,
in voller Gestalt jedoch erst sehr spät (in der
Klarinette) erklingt. Zum Ende hin wird allmählich ein großer Triumph ebendieses Marsches
vorbereitet, der den Satz mit Blechbläser- und
Schlagzeugklängen zu einem Abschluss bringt,
wie er sonst nur in Tschaikowskys Finalsätzen
anzutreffen ist.
Der 4. Satz jedoch verwehrt sich solcher Triumphe: Sogleich setzt er mit klagender Geste
ein, die bei ihrer Wiederkehr später jeweils aus
der Tiefe aufersteht, um wieder traurig nach
unten zu sinken. Ein Mittelteil mit lang gezogener Melodie steigert sich sehnsüchtig, bis
Tschaikowsky-typische Blechbläsereinwürfe
diesem Gefühlsausbruch Einhalt gebieten. Der
erste Teil kehrt seufzend wieder und mündet
in eine ähnliche Katastrophe wie im 1. Satz.
Tschaikowsky-Haus Klin, Arbeits-und Empfangszimmer mit dem Flügel Tschaikowskys
Ein Tamtam-Schlag, seit jeher Symbol des
Todes, leitet einen Blechbläserchoral ein, der
abermals religiöse Bezüge herstellt. Danach
senkt sich der Orchestersatz unaufhaltsam
in die tiefsten Tiefen herab: „Noch niemand
hat sich entschlossen, eine Sinfonie mit einem
solchen Schluchzen über dem Grabe enden
zu lassen“ (N. Kaškin, 1893).
Julius Heile
13
Belcanto
SO 29.01.2012 | 20 UHR
ROLF-LIEBERMANN-STUDIO
NDR RADIOPHILHARMONIE | DIRIGENT LAWRENCE RENES
EKATERINA ISACHENKO SOPRAN
ANTONIO POLI TENOR | GORAN JURIC BASS
WERKE VON PUCCINI, DVORAK, GOUNOD
Strings & Singing
MI 21.03.2012 | 20 UHR
ROLF-LIEBERMANN-STUDIO
WISHFUL SINGING | QUATUOR HERMÈS
WERKE VON DEBUSSY, VIRTAPERKO, CALDARA, HAYDN
PianoPiano
FR 11.05.2012 | 20 UHR
ROLF-LIEBERMANN-STUDIO
NDR CHOR | DIRIGENT PHILIPP AHMANN
CHRISTINA UND MICHELLE NAUGHTON KLAVIER-DUO
WERKE VON GERSHWIN, BRAHMS, CARTER
ndr.de/podiumderjungen
SINFONISCHES | OPER | OPERETTE | KAMMERMUSIK | CHORMUSIK | MUSICAL | JAZZ
FR 25.11.2011 | 20 UHR
ROLF-LIEBERMANN-STUDIO
NDR BIGBAND | LEITUNG JÖRG ACHIM KELLER
AMSTEL QUARTET
WERKE VON J.S. BACH, RAVEL, NYMAN
MIT DEM NDR SINFONIEORCHESTER | DER NDR BIGBAND
DER NDR RADIOPHILHARMONIE | DEM NDR CHOR
Saxophones
Junge Stars von morgen
FR 30.09.2011 | 20 UHR | LAEISZHALLE
NDR SINFONIEORCHESTER
DIRIGENT MIHKEL KÜTSON
NAREH ARGHAMANYAN KLAVIER
TINE THING HELSETH TROMPETE
LOÏC SCHNEIDER FLÖTE
WERKE VON BIZET, IBERT, LISZT
Saison 2011/2012
Stars der Zukunft
N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER
Konzertvorschau
NDR SINFONIEORCHESTER
C2 | Do, 01.12.2011 | 20 Uhr
D2 | Fr, 02.12.2011 | 20 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Alan Gilbert Dirigent
Yefim Bronfman Klavier
Robert Schumann
„Manfred“-Ouvertüre op. 115
Witold Lutosławski
Konzert für Orchester
Johannes Brahms
Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83
01.12.2011 | 19 Uhr
02.12.2011 | 19 Uhr
Einführungsveranstaltungen
B4 | Do, 15.12.2011 | 20 Uhr
A4 | So, 18.12.2011 | 11 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
L3 | Fr, 16.12.2011 | 19.30 Uhr
Lübeck, Musik- und Kongresshalle
Thomas Hengelbrock Dirigent
Leonidas Kavakos Violine
Joseph Joachim
Ouvertüre „In Memoriam
Heinrich von Kleist“ op. 13
Johannes Brahms
Violinkonzert D-Dur op. 77
Joseph Haydn
Sinfonie D-Dur Hob. I: 104
„Londoner“
15.12.2011 | 19 Uhr
18.12.2011 | 10 Uhr
Einführungsveranstaltungen
mit Thomas Hengelbrock
Alan Gilbert
Leonidas Kavakos
15
„Die Abenteuer des Prinzen Achmed“
Das NDR Sinfonieorchester auf Kampnagel
D3 | Fr, 23.12.2011 | 20 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Christoph Eschenbach Dirigent
Christian Tetzlaff Violine
Paul Hindemith
Konzertmusik für Streicher
und Blechbläser op. 50
„Bostoner Sinfonie“
Édouard Lalo
Violinkonzert Nr. 2 d-Moll op. 21
„Symphonie espagnole“
Antonín Dvořák
Sinfonie Nr. 8 G-Dur op. 88
19 Uhr: Einführungsveranstaltung
KAMMERKONZERT
Di, 22.11.2011 | 20 Uhr
Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio
QUINTETT!
fabergé-quintett
Rodrigo Reichel Violine
Frauke Kuhlmann Violine
Gerhard Sibbing Viola
Sven Forsberg Violoncello
Peter Schmidt Kontrabass
Yoko Kikuchi Klavier
Antonín Dvořák
Streichquintett G-Dur op. 77
Torsten Encke
Streichquintett
Ralph Vaughan Williams
Klavierquintett c-Moll
NDR CHOR
Christoph Eschenbach
Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus,
Tel. 0180 – 1 78 79 80 (bundesweit zum Ortstarif,
maximal 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunknetz),
online unter ndrticketshop.de
16
Abo-Konzert 2
Fr, 18.11.2011 | 20 Uhr
Hamburg, Kulturkirche Altona
IN TEMPORE BELLI
Philipp Ahmann Dirigent
Christian Schmitt Orgel
Werke von
Max Reger
Felix Mendelssohn Bartholdy
Hanns Eisler
Zoltán Kodály
Toshio Hosokawa
Nach dem großen Erfolg von „Metropolis“ in
der letzten Saison präsentiert sich das NDR
Sinfonieorchester im November auf Kampnagel
erneut als großes Stummfilmorchester – wie
in den Lichtspielhäusern der 1920er Jahre.
Diesmal sind „Die Abenteuer des Prinzen
Achmed“ zu erleben, der erste abendfüllende
Scherenschnitt-Animationsfilm der Kinogeschichte. Mit insgesamt 96.000 abgefilmten
Einzelbildern bannten die Regisseurin Lotte
Reiniger und ihr Team das von den Geschichten
aus „1001 Nacht“ inspirierte Märchen vom
Prinzen Achmed, der gegen Zauberer, Dämonen
und Hexen kämpft, auf die Leinwand. Für jede
Bewegung schuf die Pionierin des Trickfilms
zahllose filigran ausgeführte Scherenschnitte,
die sie im Stop-Motion-Verfahren zum Leben
erweckte. „Dieser Silhouettenfilm verwirklicht
endlich wieder einmal die wunderbaren und
phantastischen Möglichkeiten des Films. Aus
den irrealsten Gebilden, aus ganz entstofflichtem Material entsteht über die Traum- und
Märchenwelt dieser Bilder hinaus eine zweite,
gesteigerte und verwandelte Wirklichkeit“, begeisterte sich nach der Deutschland-Premiere
1926 der Berliner Börsen-Courier.
Szenenbild aus „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“
KA1a | Fr, 25.11.2011 | 20 Uhr
KA1b | Sa, 26.11.2011 | 20 Uhr
Hamburg, Kampnagel, Jarrestraße 20
Stefan Geiger Dirigent
„Die Abenteuer des Prinzen Achmed“
(1926)
Silhouettenfilm von Lotte Reiniger
mit der Originalmusik für großes
Orchester von Wolfgang Zeller
Die sinfonische, spätromantische Filmmusik,
die das Geschehen auf der Leinwand mit viel
märchenhaft-orientalischem Kolorit simultan
untermalt, stammt vom bedeutenden deutschen Filmkomponisten Wolfgang Zeller. Am
Dirigentenpult steht Stefan Geiger, der neben
seiner Position als Erster Solo-Posaunist des
NDR Sinfonieorchesters seit Jahren auch als
Dirigent erfolgreich ist.
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In Hamburg auf 99,2
Weitere Frequenzen unter
ndr.de/ndrkultur
Impressum
Saison 2011 / 2012
Herausgegeben vom
NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK
PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK
BEREICH ORCHESTER UND CHOR
Leitung: Rolf Beck
Redaktion Sinfonieorchester:
Achim Dobschall
Redaktion des Programmheftes:
Julius Heile
Der Einführungstext von Julius Heile
ist ein Originalbeitrag für den NDR.
NDR | Markendesign
Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg
Litho: Otterbach Medien
Druck: Nehr & Co. GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des NDR gestattet.
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Foto: Stefano Stefani | gettyimages
Fotos:
Jason Cohn (S. 4)
Alexander Basta (S. 5)
culture-image | Lebrecht (S. 7)
akg-images (S. 9, S. 12, S. 13)
akg-images (S. 10)
akg-images | RIA Nowosti (S. 11)
Mats Lundquist (S. 15 links)
Yannis Bournias (S. 15 rechts)
Eric Brissaud (S. 16)
Deutsches Filminstitut Dif. e. V. (S. 17)
Die Konzerte des NDR Sinfonieorchesters
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