»In diese Sinfonie habe ich, ohne Übertreibung gesagt, meine ganze Seele gelegt.« Peter Tschaikowsky an den Großfürsten Konstantin, September 1893 B3: Do, 17.11.2011, 20 Uhr | A3: So, 20.11.2011, 11 Uhr | Hamburg, Laeiszhalle L2: Fr, 18.11.2011, 19.30 Uhr | Lübeck, Musik- und Kongresshalle Manfred Honeck Dirigent Rudolf Buchbinder Klavier Arvo Pärt Cantus in memoriam Benjamin Britten Wolfgang Amadeus Mozart Klavierkonzert C-Dur KV 467 Peter Tschaikowsky Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“ DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Das Konzert am 20.11.2011 wird live auf NDR Kultur gesendet Donnerstag, 17. November 2011, 20 Uhr Sonntag, 20. November 2011, 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle, Großer Saal Freitag, 18. November 2011, 19.30 Uhr Lübeck, Musik- und Kongresshalle Dirigent: Solist: Manfred Honeck Rudolf Buchbinder Klavier Arvo Pärt (*1935) Cantus in memoriam Benjamin Britten für Streichorchester und eine Glocke (1977/1980) Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840 – 1893) Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“ (1893) I. Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) Konzert für Klavier und Orchester C-Dur KV 467 (1785) Adagio – Allegro non troppo – Andante – Moderato mosso – Andante – Moderato assai – Allegro vivo – Andante come prima – Andante mosso II. Allegro con grazia III. Allegro molto vivace IV. Finale: Adagio lamentoso – Andante I. Allegro maestoso II. Andante III. Allegro vivace assai Einführungsveranstaltung mit Habakuk Traber am 17.11.2011 um 19 Uhr im Großen Saal der Laeiszhalle. Pause 2 3 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Manfred Honeck Rudolf Buchbinder Dirigent Klavier Der gebürtige Österreicher Manfred Honeck ist seit der Saison 2008/09 Music Director beim Pittsburgh Symphony Orchestra. Nach umjubelten Konzerten im Jahr 2010 in der New Yorker Carnegie Hall und in zahlreichen europäischen Musikmetropolen führte eine weitere Tournee im August/September 2011 zu den großen Musikfestivals Europas. Honecks erfolgreiche Arbeit in Pittsburgh wird auch auf CD dokumentiert. Bislang erschienen Mahlers Sinfonien Nr. 1, 3 und 4, Tschaikowskys Fünfte sowie das „Heldenleben“ von Richard Strauss. Rudolf Buchbinder ist eine feste Größe in der internationalen Klavierszene und regelmäßiger Gast bei den bedeutenden Orchestern und Festivals weltweit. Sein Repertoire ist umfangreich und schließt auch zahlreiche Kompositionen des 20. Jahrhunderts ein. Rudolf Buchbinder legt besonderen Wert auf die akribische Quellenforschung. So befinden sich u. a. über 27 komplette Ausgaben der Klaviersonaten Beethovens, eine umfangreiche Sammlung von Erstdrucken und Originalausgaben sowie Kopien der eigenhändigen Klavierstimmen und Partituren der beiden Klavierkonzerte von Brahms in seinem Besitz. Von 2007 bis 2011 war Manfred Honeck Generalmusikdirektor der Staatsoper Stuttgart. Gastspiele im Bereich der Oper führten ihn daneben an die Semperoper Dresden, an die Komische Oper Berlin, zum White Nights Festival nach St. Petersburg, zu den Salzburger Festspielen und zum Verbier Festival. Im Laufe seiner umfangreichen Konzerttätigkeit dirigierte Honeck führende internationale Klangkörper, darunter das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Gewandhausorchester Leipzig, Royal Concertgebouw Orchestra, London Philharmonic, Los Angeles Philharmonic, Chicago und Boston Symphony Orchestra sowie die Wiener Philharmoniker. In der aktuellen Saison ist er als Gastdirigent nicht nur an seinen früheren Wirkungsstätten in Stockholm, Oslo, Prag und Stuttgart zu erleben, sondern steht auch am Pult etwa der Staatskapelle Dresden, der Bamberger Symphoniker oder des Orchestre de Paris. Manfred Honeck begann seine Laufbahn als Assistent von Claudio Abbado in Wien. Anschlie4 ßend wurde er als Erster Kapellmeister an das Opernhaus Zürich verpflichtet und erhielt dort 1993 den Europäischen Dirigentenpreis. Zu weiteren Stationen seiner Karriere zählen Leipzig, wo er von 1996 bis 1999 einer der drei Hauptdirigenten des MDR Sinfonieorchesters war, und Oslo, wo er 1997 die musikalische Leitung der Norwegischen Nationaloper übernahm und für mehrere Jahre als Erster Gastdirigent des Oslo Philharmonic Orchestra verpflichtet wurde. Von 2000 bis 2006 war Honeck Chefdirigent des Swedish Radio Symphony Orchestra Stockholm, von 2008 bis 2011 Erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie in Prag. 2010 wurde er vom St. Vincent College in Latrobe, Pennsylvania, zum Ehrendoktor ernannt. Er ist darüber hinaus seit mehr als 15 Jahren Künstlerischer Leiter der Internationalen Wolfegger Konzerte. Über 100 Aufnahmen dokumentieren Größe und Vielfalt von Buchbinders Repertoire. Besonderes Aufsehen erregte seine Einspielung des Klavier-Gesamtwerkes von Joseph Haydn, die mit dem „Grand Prix du Disque“ ausgezeichnet wurde, sowie eine CD mit Klavier-Transkriptionen unter dem Titel „Waltzing Strauss“. Mittlerweile bevorzugt Rudolf Buchbinder Live-Aufnahmen. Die Konzert-Mitschnitte der beiden Klavierkonzerte von Johannes Brahms (Royal Concertgebouw Orchestra/Nikolaus Harnoncourt) sowie zwei DVDs live von den Wiener Festwochen 2006, wo Buchbinder als Solist und Dirigent mit den Wiener Philharmonikern sechs Mozart-Klavierkonzerte interpretierte, spiegeln dies in beeindruckender Weise wider. Im November 2010 erschien eine weitere LiveAufnahme der beiden Klavierkonzerte von Brahms mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta. Im Mai 2011 wurden Rudolf Buchbinders Auftritte als Solist und Dirigent der Wiener Philharmoniker mit den fünf Klavierkonzerten von Beethoven im Großen Musikvereinssaal in Wien live auf DVD aufgezeichnet. Zu einem wichtigen Anliegen wurde für Rudolf Buchbinder die Interpretation des „Neuen Testaments“ der Klaviermusik: mit der zyklischen Wiedergabe aller 32 Sonaten Ludwig van Beethovens in über 40 Städten – darunter Wien, München, Hamburg, Zürich, Buenos Aires und Mailand – setzte und setzt er immer wieder Maßstäbe. Während der Saison 2010/11 war Rudolf Buchbinder „Artist in Residence“ der Staatskapelle Dresden. Sein Beethoven-Sonaten-Zyklus in der Semperoper Dresden wurde live mitgeschnitten und erschien im Mai 2011 als CD-Box. Seit 2007 ist Rudolf Buchbinder Intendant der Festspiele Grafenegg. In seiner Biographie „Da Capo“ gibt er Einblicke in sein Leben als einer der bedeutendsten Pianisten von heute. 5 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ Zum Programm des heutigen Konzerts Fallende Tonleiterausschnitte, die am Ende in tiefste Register der Kontrabässe münden: Beinahe könnte man sagen, das heutige Konzert ende so, wie es begonnen hat. Denn genau wie Arvo Pärts konkret dem Andenken eines Komponisten gewidmeter „Cantus in memoriam Benjamin Britten“ spricht auch Tschaikowskys mythenumwobene „Pathétique“ eine unmissverständliche Tonsprache: Seufzermotive und absteigende Linien in Moll galten seit frühester Musikgeschichte als Ausdruck der Klage. Für das Geheimnis um den Inhalt der „Pathétique“, das Tschaikowsky – wie sein Bruder Modest bekannte – „mit sich ins Grab“ genommen habe, kann Pärts rund 100 Jahre später entstandener „Cantus“ mit seiner dem Tschaikowskyschen Finale verwandten musikalischen Gestik insofern einen gewissen Interpretationsschlüssel anbieten: Das Stück besteht ausschließlich aus dem Material einer absteigenden a-MollTonleiter und läuft damit einem „von allem Anfang an bestimmten Ende entgegen. Diesem kann es ebenso wenig entkommen wie der Mensch seinem Tod“ (Leopold Brauneiss). Bekanntlich aber wohnt nach Hermann Hesse allem Anfang auch ein Zauber inne. „Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern“, heißt es in seinem berühmten Gedicht „Stufen“. Bevor also in Tschaikowskys „Pathétique“ das unausweichliche Ende erscheint, macht das Werk nicht nur bei einem freundlich-eleganten Walzer, sondern auch bei einem triumphalen Marsch in strahlendem 6 Dur Station. So verstanden wirkt dann auch Mozarts Klavierkonzert im Gesamtgefüge des heutigen Konzertprogramms keinesfalls nur wie ein heiterer Fremdkörper zwischen zwei dunklen Moll-Werken. Zwar gilt die Tonart C-Dur seit jeher als überaus „rein“ und festlich, doch muss es allein schon stutzig machen, dass Mozart dieses Konzert ausgerechnet im Anschluss an sein ungemein düster-dramatisches d-Moll-Konzert KV 466 komponierte. Es war der Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke, der daher selbst noch im vordergründig fröhlichen Schlusssatz des C-Dur-Konzerts den Einzug von Moll-Sphären betonte – so, als ob hier eben jene „höhere Heiterkeit des Geistes, welche den Durchgang durch das negative Moment der Entzweiung vollendet hat“ (Hegel), zum Ausdruck komme. Mithin ein Konzert ganz im Sinne von Hesses „Stufen“-Idee: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ „Flucht in die freiwillige Armut“ – Arvo Pärts „Cantus in memoriam Benjamin Britten“ In Anbetracht der Entstehungsumstände von Arvo Pärts „Cantus“ lässt sich Hesses soeben zitierte Sentenz geradezu wörtlich nehmen: Für den estnischen Komponisten war der Abschied von Benjamin Britten in der Tat Anstoß und Ermutigung zur „Gesundung“ seiner Kompositionskrise. Als Pärt 1968, nach der Komposition seines „Credo“, bekennen musste, dass er „einfach nichts zu sagen“ mehr habe, dass es sowohl in den Sphären der atonalen wie vor allem der tonalen Musik nichts Neues mehr zu entdecken gebe, fand er den Ausweg schließlich in einer Kompositionstechnik, in der er das „ganze moderne Arsenal zurücklassen und sich durch die nackte Einstimmigkeit retten“ wollte. Die bewusste Beschränkung auf das Notwendigste sollte von der überfrachteten musikalischen Tradition und dem individuellen Fortschrittsdrang erlösen, zugleich der „Wahrheit des Herrn“ möglichst nahe kommen. „Tintinnabuli-Stil“ nannte Pärt diese Technik fortan – und hob mit diesem Begriff (von lat. „tintinnabulum“ = Glöckchen) sowohl auf die sinnliche, assoziative Vielfalt des Glockenklangs als auch auf die konkrete Satztechnik ab: wie bei Glocken sind der Einzelton und der Dreiklang die tragenden Komponenten in Pärts Werken seit dieser Zeit. Mit Benjamin Britten hat ein solches Streben nach größtmöglicher Vereinfachung im Grunde wenig zu tun. Es mag daher zunächst überraschen, dass sich Arvo Pärt, der sich musikalisch die „Flucht in die freiwillige Armut“ zum Ziel gemacht hat, ausgerechnet auf Benjamin Britten bezieht, dessen facettenreiches Schaffen sich zeitlebens aus dem Reichtum musikalischer Stile und Epochen speiste. Und doch war es Pärt sehr daran gelegen, sein erstes im „Tintinnabuli-Stil“ komponiertes Werk aus dem Jahr 1977 mit dem Namen Brittens, der 1975 gestorben war, zu verknüpfen. Im Gespräch mit Enzo Restagno berichtete Pärt 2004 über die Entstehung seines „Cantus“: „Die Entwürfe für dieses Stück waren bereits fertig, als ich zufällig im Radio vom Tode Brittens hörte. In diesem Zusammenhang wurden im Radio Arvo Pärt (1990) einige seiner Musikstücke übertragen, die meine Frau und mich wegen ihrer Zartheit und einer Transparenz tief berührten, die eine Atmosphäre der Balladen von Guillaume de Machault entstehen ließen. Zu diesem Zeitpunkt verfestigte sich bei mir der Wunsch, dieses Werk zu vollenden und es Britten zu widmen. Schon lange Zeit hatte ich mir gewünscht, ihn zu treffen und kennenzulernen, aber nach dieser Nachricht musste ich diesen Gedanken aufgeben.“ Zartheit, Transparenz und ein archaischer Zug: mehr als direkte stilistische Gemeinsamkeiten 7 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER verbinden wohl diese Charakteristika Pärts Musik mit derjenigen Brittens. In gewisser Hinsicht jedoch lässt sich auch Brittens Traditionsbewusstsein bei Pärt wieder finden. Völlig losgelöst von allem vorher Dagewesenen ist sein „Cantus“ nämlich nicht. Wie erwähnt sind absteigende Tonleitern ein viel genutztes Mittel zur musikalischen Darstellung von Trauer und Dunkelheit, man denke nur an den Beginn von Schönbergs „Verklärte Nacht“ oder eben an das Finale aus Tschaikowskys „Pathétique“. Aber auch die Struktur des „Cantus“ stellt Bezüge zu anderen Trauermusiken her: Wie in Witold Lutosławskis „Musique funèbre in memoriam Béla Bartók“ (1958) werden die Stimmen in einem (Proportions-)Kanon geführt und gewinnen allmählich an Dynamik. Bemerkenswerterweise markierte die Trauermusik auch bei Lutosławski den Beginn einer neuen stilistischen Phase! In seiner Konsequenz der absoluten tonalen Stabilität freilich – das Stück kommt ohne Harmoniewechsel aus und ist, vom ersten bis zum letzten Glockenschlag, gänzlich auf den Zentralton „a“ fixiert – geht Pärts „Cantus“ eigene Wege. Das Ideal einer Musik, die die „Zeit zum Stillstand bringt“ (Pärt), scheint hier verwirklicht. Am Ende bleibt der Klang der Glocke als Nachhall ohne hörbaren Anfang übrig – als ob das Stück von vorne losgehen könnte und zugleich in der Ewigkeit verklinge … 8 „Sinfonisch im höchsten Sinn“ – Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert C-Dur KV 467 Wie kaum eine andere Gattung war das Klavierkonzert zu Mozarts Zeiten eine ausgesprochen öffentliche Angelegenheit. Klavierkonzerte schrieb man nicht etwa für den häuslichen Gebrauch oder zur privaten Unterhaltung, sondern vor allem, um in einer Stadt als Komponist und Pianist zu glänzen und sich damit zugleich als Instrumentalpädagoge oder Veranstalter von Akademie-Konzerten zu empfehlen. Kein Wunder, dass Wolfgang Amadeus Mozart als „freischaffender“ Künstler in seiner Wiener Zeit kaum mehr andere Instrumentalkonzerte schrieb. Etwas überspitzt könnte man sagen: Aus finanziellen Gründen wurde das Klavierkonzert neben der Oper zu jener Gattung, in der Mozart am innovativsten war und Maßstäbe setzte. Dabei ging es ihm keineswegs nur darum, die Form als „Showpiece“ zu verstehen und lediglich den in der Regel von ihm selbst gespielten Solopart ins rechte Licht zu rücken. Im Gegenteil: Gerade die Rolle des Orchesters erfuhr in den Wiener Konzerten eine erhebliche Aufwertung, so dass der Mozart-Forscher Marius Flothuis das C-DurKonzert KV 467 mitsamt seinem Vorgänger und Nachfolger zu einer Gruppe „sinfonischer Konzerte“ zusammenfasste. Insbesondere die Bläser wurden nun neben dem Klavier und den Streichern zu eigenständigen Akteuren. „Man begreift, daß Mozart in diesen ersten Wiener Jahren keine Sinfonien schrieb: denn diese Konzerte sind sinfonisch im höchsten Sinn“, konstatierte auch der Mozart-Biograph Alfred Einstein. Gleich zu Beginn des am 9. März 1785 vollendeten C-Dur-Klavierkonzerts KV 467 lässt sich dieses orchestrale Denken erkennen: Das im Verlauf des 1. Satzes omnipräsente Hauptthema, das im Übrigen zum Marsch-Idiom früherer Mozart-Konzerte zurückkehrt, wird in vielfältigen instrumentalen Etappen präsentiert. Es erscheint zunächst im Unisono, wird in einem Tutti mit Gegenstimmen angereichert und lässt dann schließlich solistische Bläser hervortreten. Das Klavier steuert nach solch sinfonischer Entfaltung lieber ein eigenständiges Thema bei. – „Wie eine von allen Rücksichten auf die Menschenstimme befreite ideale Aria“ erschien Alfred Einstein der 2. Satz. Dessen melodischer Strom über gleichförmiger Begleitung droht immer wieder durch schmerzliche Bläsereinwürfe aus der Behaglichkeit abzugleiten, um dann jedoch mit umso versöhnlicheren Wendungen aufgefangen zu werden. Beim 3. Satz handelt es sich um eine weit vorangetriebene Verschmelzung von Rondo- und Sonatenform. Entsprechend ist das 2. Zwischenspiel wie eine ausführliche Durchführung des Rondo-Themas gestaltet. Ein geheimnisvolles „Opus ultimum“ – Peter Tschaikowskys „Pathétique“ Handzettel für Mozarts Burgtheater-Akademie am 10. März 1785, wo das Klavierkonzert C-Dur KV 467 erstmals erklang Am 6. November 1893 fand in St. Petersburg ein Konzert im Andenken an Tschaikowsky statt, der am 25. Oktober verstorben war. Auf dem Programm: Seine Sechste Sinfonie, die er selbst gerade noch zwei Wochen zuvor, am 16. Oktober, zur Uraufführung gebracht hatte. „Ihr letzter Satz erschien wie das letzte ‚Lebewohl’ des unvergessenen Komponisten“ – so berichtete ein Rezensent von diesem Gedenkkonzert, das einen tiefen Eindruck auf die Hörer machte. Es schien, als ob Tschaikowsky seinen Tod in dieser Sinfonie bereits vorausgeahnt habe, 9 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER doch wirklich kein Zufall sein, dass sie derart resigniert endet?! Peter Tschaikowsky, Gemälde von Nikolai Dimitrijewitsch Kusnezow (1893) gleichsam sein eigenes „Requiem“ geschrieben habe. Nun sind solche Spekulationen bei letzten Werken großer Künstler keine Seltenheit und tragen stets ungemein zur Popularität des betreffenden „Opus ultimum“ bei. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Komik, wenn man über dieselbe Sinfonie in der Kritik der wenige Wochen zuvor stattgefundenen Uraufführung in derselben Zeitung von „einigen Längen“ und einem Mangel an Inspiration lesen kann. Nach dem Tod des Komponisten nun meinte man aber, den Sinn dieser letzten Sinfonie erst so recht verstanden zu haben, denn es konnte 10 Tschaikowsky hatte bereits 1889 nach der Vollendung seiner Fünften Sinfonie „eine grandiose Symphonie, welche den Schlussstein meines ganzen Schaffens bilden soll“ angekündigt und gehofft, nicht zu sterben, ohne diese Absicht „vollbracht zu haben“. Entwürfe zu einer Es-Dur-Sinfonie, die er später zum 3. Klavierkonzert umarbeitete, stellten ihn nicht zufrieden. Trotz aller Schaffenskrisen blieb das Ziel einer Sinfonie „mit einem geheimen Programm“ jedoch aktuell. Endlich dann im Februar 1893 ging die Arbeit schnell voran und Tschaikowsky konnte seinem Neffen von einer Sinfonie mitteilen, die „mehr denn je von Subjektivität durchdrungen“ sei, dass er in Gedanken daran „nicht selten sehr geweint“ habe. Dem schnellen Kompositionsprozess folgten erneut Selbstzweifel, insbesondere bei der Instrumentation tat sich Tschaikowsky schwer und glaubte schon, man werde „diese Sinfonie schelten oder wenig schätzen“. Dennoch war er sich selbst diesmal so sicher wie nie, „die beste und aufrichtigste“ aller seiner Sachen geschaffen zu haben. Irgendetwas zutiefst Persönliches hatte es also doch mit diesem Werk auf sich. Auch die 4. und 5. Sinfonie hatte Tschaikowsky ja hinterher schon mit Auslegungen versehen, die seine stets wiederkehrenden Themen „Leben, Schicksal, Liebe und Tod“ berührten. Diesmal aber leitete ihn von Anfang an jenes „geheime Programm“ und eine Stimmung, die derjenigen einer ihm zur Vertonung angebotenen Requiem-Dichtung von A. N. Apuchtin „nahe verwandt“ sei. Um all dem Ausdruck zu verleihen, griff Tschaikowsky nun sogar zu einem nie vorher da gewesenen Mittel: Die übliche Satzfolge einer Sinfonie stellte er zu Gunsten eines langsamen Schlusssatzes um und begründete damit eine Tradition, die insbesondere Gustav Mahler wirkungsmächtig aufgreifen sollte. Um was es freilich genau in dieser „pathetischen“ Sinfonie geht – ein Beiname, den Tschaikowsky erst nach der Uraufführung auf den Vorschlag seines Bruders Modest zufügte – bleibt bis heute ein Rätsel. „Wir werden das alle einmal durchleben, was Peter Iljitsch hier so erschütternd zum Ausdruck bringt“, lautet der in seiner unkonkreten Bestimmtheit nur allzu bezeichnende Kommentar des Tschaikowsky-Biographen Richard H. Stein. Gleich die Einleitung zum 1. Satz verbindet die beiden symbolträchtigen Leitgedanken der Sinfonie: das Motiv der fallenden Sekunde und den absteigenden „Lamento“-Bass. Ihr schwermütiges Motiv wird zum Kopf des wie vom Schicksal getrieben wirkenden Hauptthemas Das Tschaikowsky-Haus in Klin, der letzte Wohnsitz des Komponisten, wo er u. a. auch an der „Pathétique“ arbeitete 11 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER lich klingt der Satz mit berührenden Abschiedsgesten aus, die wie befreit in eine hoffnungsvollere Welt hinüberzuführen scheinen. Entsprechend ist der 2. Satz ein warmherziger Walzer, der doch kein wirklicher Walzer ist: Erstaunlich, dass die Stilisierung jenes Tanzes so weit gehen kann, dass man ihn hier selbst im unregelmäßigen 5/4-Takt wieder zu erkennen meint! Der Mittelteil knüpft über ständigem Pochen der Pauke an die absteigende Sekundmotivik des 1. Satzes an. Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 6 h-Moll „Pathétique“. Skizzen zu den Takten 88 bis 96 und 152 bis 163 des zweiten Satzes (eigenhändige Notenhandschrift) im folgenden Sonatensatz. Das gesangliche Seitenthema, von typischen Hornsynkopen begleitet, entfaltet sich in flehenden Steigerungen und verklingt in einer einsamen Klarinette. Schockartig setzt die wild-dramatische Durchführung ein, in der die Blechbläser einen Choral des orthodoxen Totenoffiziums zitieren. Alles steuert auf die Katastrophe mit ihren mächtigen Posaunensignalen zu, vollends in die Tiefe herabsinkend. Danach wirkt das anstelle der Reprise einsetzende Seitenthema wie eine Erlösung aus schweren Seelenqualen. Tatsäch12 Auch der 3. Satz schlägt gänzlich andere Töne als diejenigen der Schwermut an: Die flirrendMendelssohnsche Scherzo-Atmosphäre wird hier mit dem Herannahen eines Marsches genial verquickt, der sich durchzusetzen versucht, in voller Gestalt jedoch erst sehr spät (in der Klarinette) erklingt. Zum Ende hin wird allmählich ein großer Triumph ebendieses Marsches vorbereitet, der den Satz mit Blechbläser- und Schlagzeugklängen zu einem Abschluss bringt, wie er sonst nur in Tschaikowskys Finalsätzen anzutreffen ist. Der 4. Satz jedoch verwehrt sich solcher Triumphe: Sogleich setzt er mit klagender Geste ein, die bei ihrer Wiederkehr später jeweils aus der Tiefe aufersteht, um wieder traurig nach unten zu sinken. Ein Mittelteil mit lang gezogener Melodie steigert sich sehnsüchtig, bis Tschaikowsky-typische Blechbläsereinwürfe diesem Gefühlsausbruch Einhalt gebieten. Der erste Teil kehrt seufzend wieder und mündet in eine ähnliche Katastrophe wie im 1. Satz. Tschaikowsky-Haus Klin, Arbeits-und Empfangszimmer mit dem Flügel Tschaikowskys Ein Tamtam-Schlag, seit jeher Symbol des Todes, leitet einen Blechbläserchoral ein, der abermals religiöse Bezüge herstellt. Danach senkt sich der Orchestersatz unaufhaltsam in die tiefsten Tiefen herab: „Noch niemand hat sich entschlossen, eine Sinfonie mit einem solchen Schluchzen über dem Grabe enden zu lassen“ (N. Kaškin, 1893). Julius Heile 13 Belcanto SO 29.01.2012 | 20 UHR ROLF-LIEBERMANN-STUDIO NDR RADIOPHILHARMONIE | DIRIGENT LAWRENCE RENES EKATERINA ISACHENKO SOPRAN ANTONIO POLI TENOR | GORAN JURIC BASS WERKE VON PUCCINI, DVORAK, GOUNOD Strings & Singing MI 21.03.2012 | 20 UHR ROLF-LIEBERMANN-STUDIO WISHFUL SINGING | QUATUOR HERMÈS WERKE VON DEBUSSY, VIRTAPERKO, CALDARA, HAYDN PianoPiano FR 11.05.2012 | 20 UHR ROLF-LIEBERMANN-STUDIO NDR CHOR | DIRIGENT PHILIPP AHMANN CHRISTINA UND MICHELLE NAUGHTON KLAVIER-DUO WERKE VON GERSHWIN, BRAHMS, CARTER ndr.de/podiumderjungen SINFONISCHES | OPER | OPERETTE | KAMMERMUSIK | CHORMUSIK | MUSICAL | JAZZ FR 25.11.2011 | 20 UHR ROLF-LIEBERMANN-STUDIO NDR BIGBAND | LEITUNG JÖRG ACHIM KELLER AMSTEL QUARTET WERKE VON J.S. BACH, RAVEL, NYMAN MIT DEM NDR SINFONIEORCHESTER | DER NDR BIGBAND DER NDR RADIOPHILHARMONIE | DEM NDR CHOR Saxophones Junge Stars von morgen FR 30.09.2011 | 20 UHR | LAEISZHALLE NDR SINFONIEORCHESTER DIRIGENT MIHKEL KÜTSON NAREH ARGHAMANYAN KLAVIER TINE THING HELSETH TROMPETE LOÏC SCHNEIDER FLÖTE WERKE VON BIZET, IBERT, LISZT Saison 2011/2012 Stars der Zukunft N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Konzertvorschau NDR SINFONIEORCHESTER C2 | Do, 01.12.2011 | 20 Uhr D2 | Fr, 02.12.2011 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Alan Gilbert Dirigent Yefim Bronfman Klavier Robert Schumann „Manfred“-Ouvertüre op. 115 Witold Lutosławski Konzert für Orchester Johannes Brahms Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83 01.12.2011 | 19 Uhr 02.12.2011 | 19 Uhr Einführungsveranstaltungen B4 | Do, 15.12.2011 | 20 Uhr A4 | So, 18.12.2011 | 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle L3 | Fr, 16.12.2011 | 19.30 Uhr Lübeck, Musik- und Kongresshalle Thomas Hengelbrock Dirigent Leonidas Kavakos Violine Joseph Joachim Ouvertüre „In Memoriam Heinrich von Kleist“ op. 13 Johannes Brahms Violinkonzert D-Dur op. 77 Joseph Haydn Sinfonie D-Dur Hob. I: 104 „Londoner“ 15.12.2011 | 19 Uhr 18.12.2011 | 10 Uhr Einführungsveranstaltungen mit Thomas Hengelbrock Alan Gilbert Leonidas Kavakos 15 „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ Das NDR Sinfonieorchester auf Kampnagel D3 | Fr, 23.12.2011 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Christoph Eschenbach Dirigent Christian Tetzlaff Violine Paul Hindemith Konzertmusik für Streicher und Blechbläser op. 50 „Bostoner Sinfonie“ Édouard Lalo Violinkonzert Nr. 2 d-Moll op. 21 „Symphonie espagnole“ Antonín Dvořák Sinfonie Nr. 8 G-Dur op. 88 19 Uhr: Einführungsveranstaltung KAMMERKONZERT Di, 22.11.2011 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio QUINTETT! fabergé-quintett Rodrigo Reichel Violine Frauke Kuhlmann Violine Gerhard Sibbing Viola Sven Forsberg Violoncello Peter Schmidt Kontrabass Yoko Kikuchi Klavier Antonín Dvořák Streichquintett G-Dur op. 77 Torsten Encke Streichquintett Ralph Vaughan Williams Klavierquintett c-Moll NDR CHOR Christoph Eschenbach Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus, Tel. 0180 – 1 78 79 80 (bundesweit zum Ortstarif, maximal 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunknetz), online unter ndrticketshop.de 16 Abo-Konzert 2 Fr, 18.11.2011 | 20 Uhr Hamburg, Kulturkirche Altona IN TEMPORE BELLI Philipp Ahmann Dirigent Christian Schmitt Orgel Werke von Max Reger Felix Mendelssohn Bartholdy Hanns Eisler Zoltán Kodály Toshio Hosokawa Nach dem großen Erfolg von „Metropolis“ in der letzten Saison präsentiert sich das NDR Sinfonieorchester im November auf Kampnagel erneut als großes Stummfilmorchester – wie in den Lichtspielhäusern der 1920er Jahre. Diesmal sind „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ zu erleben, der erste abendfüllende Scherenschnitt-Animationsfilm der Kinogeschichte. Mit insgesamt 96.000 abgefilmten Einzelbildern bannten die Regisseurin Lotte Reiniger und ihr Team das von den Geschichten aus „1001 Nacht“ inspirierte Märchen vom Prinzen Achmed, der gegen Zauberer, Dämonen und Hexen kämpft, auf die Leinwand. Für jede Bewegung schuf die Pionierin des Trickfilms zahllose filigran ausgeführte Scherenschnitte, die sie im Stop-Motion-Verfahren zum Leben erweckte. „Dieser Silhouettenfilm verwirklicht endlich wieder einmal die wunderbaren und phantastischen Möglichkeiten des Films. Aus den irrealsten Gebilden, aus ganz entstofflichtem Material entsteht über die Traum- und Märchenwelt dieser Bilder hinaus eine zweite, gesteigerte und verwandelte Wirklichkeit“, begeisterte sich nach der Deutschland-Premiere 1926 der Berliner Börsen-Courier. Szenenbild aus „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ KA1a | Fr, 25.11.2011 | 20 Uhr KA1b | Sa, 26.11.2011 | 20 Uhr Hamburg, Kampnagel, Jarrestraße 20 Stefan Geiger Dirigent „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1926) Silhouettenfilm von Lotte Reiniger mit der Originalmusik für großes Orchester von Wolfgang Zeller Die sinfonische, spätromantische Filmmusik, die das Geschehen auf der Leinwand mit viel märchenhaft-orientalischem Kolorit simultan untermalt, stammt vom bedeutenden deutschen Filmkomponisten Wolfgang Zeller. Am Dirigentenpult steht Stefan Geiger, der neben seiner Position als Erster Solo-Posaunist des NDR Sinfonieorchesters seit Jahren auch als Dirigent erfolgreich ist. 17 In Hamburg auf 99,2 Weitere Frequenzen unter ndr.de/ndrkultur Impressum Saison 2011 / 2012 Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK BEREICH ORCHESTER UND CHOR Leitung: Rolf Beck Redaktion Sinfonieorchester: Achim Dobschall Redaktion des Programmheftes: Julius Heile Der Einführungstext von Julius Heile ist ein Originalbeitrag für den NDR. NDR | Markendesign Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg Litho: Otterbach Medien Druck: Nehr & Co. GmbH Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. 18 Foto: Stefano Stefani | gettyimages Fotos: Jason Cohn (S. 4) Alexander Basta (S. 5) culture-image | Lebrecht (S. 7) akg-images (S. 9, S. 12, S. 13) akg-images (S. 10) akg-images | RIA Nowosti (S. 11) Mats Lundquist (S. 15 links) Yannis Bournias (S. 15 rechts) Eric Brissaud (S. 16) Deutsches Filminstitut Dif. e. V. (S. 17) Die Konzerte des NDR Sinfonieorchesters hören Sie auf NDR Kultur Hören und genießen