Richter /Ethik Lawrence Kohlberg Stufen moralischer Entwicklung Präkonventionielles Stadium: vormoralisches Niveau 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 In diesem Stadium ist das Kind für klare Etikettierungen wie "gut und böse", "richtig oder falsch" empfänglich. Es legt diese entweder im Sinne der materiellen oder hedonistischen Konsequenzen der Tat (Bestrafung, Belohnung, Austausch von Vergünstigungen) aus oder im Sinne der physischen Macht derjenigen, die die Regeln und Etikettierungen aufstellen. Die meisten Kinder unter neun Jahren, aber auch in Ausnahmefällen einige Jugendliche und Erwachsene befinden sich auf dieser Ebene. Der erste große Schritt, die Überwindung des Egozentrismus, ist vollzogen und das Kind begreift, dass es auch andere Sichtweisen neben der eigenen geben kann. Doch orientiert es sich noch ausschließlich an dem, was Autoritätspersonen für gut oder böse, richtig oder falsch erachten, und an denen von ihnen dazu aufgestellten Regeln, Ge- und Verboten. Das Kind orientiert sich ausschließlich an der Strafvermeidung und der Unterwerfung unter die Macht und nicht an der Achtung vor der zugrundeliegenden moralischen Ordnung, die durch die Bestrafung und Autorität aufrechterhalten wird. Die soziale Perspektive des Verhaltens ist immer individuell (Egozentrismus) und Handlungen werden rein nach dem äußeren Erscheinungsbild beurteilt und nicht nach irgendwelchen "dahinterliegenden" Intentionen. 1. Heteronome Moralität: Straf- und Gehorsamorientierung Richtiges Handeln ist das, wodurch die eigenen Bedürfnisse und -gelegentlich - die Bedürfnisse anderer befriedigt werden. Die menschlichen Beziehungen werden wie die Beziehungen auf einem Marktplatz gesehen. Gerecht ist, was ein gleichwertiger Austausch, ein Handel oder ein Übereinkommen ist. Elemente von Fairneß, von Reziprozität (Wechselseitigkeit) und gerechtem Teilen sind vorhanden, sie werden aber eher pragmatisch interpretiert. Gegenseitigkeit ist eine Angelegenheit von "eine Hand wäscht die andere", nicht von Loyalität, Dankbarkeit und Gerechtigkeit, d.h., unabhängig von konkreten Personen existierenden Normen. Die soziale Perspektive ist deutlich individualistisch, wobei bereits die Einsicht besteht, daß es Interessenskonflikte gibt und Gerechtigkeit ein relativer Begriff ist. 2. Individualismus, Zielbewußtsein und Austausch: Zweck- und Austauschorientierung Auf dieser Stufe wird der Erwachsene nicht mehr als einzige Quelle der Moral angesehen. Daß Moral auch etwas mit wechselseitigen Beziehungen zu tun hat, haben die Kinder bzw. Jugendlichen jetzt begriffen. Obwohl die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse im Vordergrund steht, wird auch anderen das Recht zugestanden, Interessen kund zu tun. Allerdings nur solange, wie der eigenen Person dabei keine Nachteile entstehen. Richtiges Handeln bedeutet nun: Befriedigung der eigenen Wünsche, zum Teil auch derjenigen der anderen. Konventionelles Stadium: regelkonformes Niveau In diesem Stadium wird die Unterstützung der Erwartungen der Familie, Gruppe oder Gesellschaft des einzenen als wertvoll an sich verstanden, unabhängig von den unmittelbaren oder offensichtlichen Konsequenzen. Die Haltung des einzelnen ist nicht nur konform mit den persönlichen Erwartungen und der sozialen Ordnung, sondern sie ist auch von Loyalität dieser Ordnung gegenüber gekennzeichnet, was sich in einer aktiven Unterstützung, Verteidigung und Rechtfertigung der Ordnung und in der Identifizierung mit den sie tragenden Personen oder Gruppen äußert. Mit dem Erreichen dieser Ebene, vermag das Individuum sich in andere hineinzuversetzen und deren Interessen und Erwartungen wahrzunehmen. Das Streben nach Konformität nicht nur mit den persönlichen Erwartungen, sondern vor allem mit denen der Familie, Gruppe oder Gesellschaft wird zum zentralen Faktor. Soziale Anerkennung und Wertschätzung treten in den Vordergrund. 3.Wechselseitige Erwartungen, Beziehungen und interpersonale Konformität Gutes Verhalten ist ein Verhalten, das anderen gefällt, ihnen hilft und von ihnen gelobt wird. Man beobachtet Konformität mit stereotypen Vorstellungen davon, was "natürliches" oder Mehrheitsverhalten ist. Das Verhalten wird schon häufig nach der dahinterstehenden Absicht beurteilt. "Er meint es gut" wird zum erstenmal wichtig. Man bemüht sich um Lob, indem man "lieb" ist ("braves Kind"). Man möchte in den eigenen Augen und in denen anderer als "guter Mensch" dastehen und dadurch die Zuneigung anderer gewinnen. Die soziale Perspektive des Handelns orientiert sich an dem Gefühl der Gemeinschaft, der Übereinkünfte und Erwartungen, die Vorrang vor individuellen Interessen bekommen. Das Kind kann sich bereits in einen anderen hineinversetzen. Die Meinung anderer wird zum Maßstab des moralisch Richtigen. Es geht hier nicht mehr nur darum, die eigenen Bedürfnisse zu berücksichtigen und nach nur der eigenen Gunst zugute zu handeln, sondern das Wohlergehen der Mitmenschen gewinnt an zunehmender Bedeutung. Ein Verhalten, das anderen gefällt und ihnen hilft, gilt als erstrebenswert. Personen dieser Stufe legen größten Wert auf harmonische zwischenmenschliche Beziehungen, aus denen sich Zufriedenheit und Anerkennung gewinnen lassen. Sie haben hier bereits gelernt, sich in andere hineinzuversetzen und fremden Ansprüchen gerecht zu werden. Nach Kohlbergs Untersuchungen zugrunde, befinden sich einige erwachsene Männer und die meisten Frauen auf dieser Stufe. 5 10 4. Soziales System und Gewissen: "Law and Order"- Orientierung Das Kind orientiert sich an der Autorität, an festen Regeln und an der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Richtiges Verhalten besteht darin, seine Pflicht zu tun und die gegebene soziale Ordnung um ihrer selbst willen zu erhalten. Das Recht steht im Dienste der Gesellschaft, einer Gruppe oder Institution, wobei eingesehen wird, daß Regeln dazu da sind, das Funktionieren der Gemeinschaft zu gewährleisten. Auf dieser Stufe macht man einen Unterschied zwischen dem gesellschaftlichen Standpunkt und der interpersonalen Übereinkunft bzw. den auf einzelne Individuen gerichteten Motiven. Der Mensch kann auf dieser Stufe den Standpunkt des sozialen Systems einnehmen, das Rollen und Regeln festlegt. Als entscheidendes Merkmal tritt hier die gesellschaftliche Perspektive in den Vordergrund. Das Denken löst sich erstmals aus der Eingebundenheit in zwischenmenschliche Beziehungen, es entsteht ein Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber der Sozialität, in diesem Fall dem Gesetz, insgesamt. Es kann zwischen dem gesellschaftlichem Standpunkt und dem eigenen unterschieden werden. Postkonventionelles, autonomes oder von Prinzipien geleitetes Stadium 15 20 25 30 35 40 45 50 55 In diesem Stadium besteht ein deutliches Bemühen, moralische Werte und Prinzipien zu finden, die ihre Gültigkeit und Bedeutung unabhängig von der Autorität von Gruppen oder Menschen haben, die diese Prinzipien vertreten, aber auch unabhängig von der Identifizierung des einzelnen mit diesen Gruppen. Menschen die dieses Niveau erreichen (in der Regel Erwachsene, im Ausnahmefall Jugendliche) eignen sich moralische Normen, Werte und Prinzipien an, die über ihre eigenen Gruppen und der Gesellschaft hinaus gültig sind, und handeln in autonomer Verantwortung danach. Das Individuum kann hier zum ersten Mal eine Perspektive annehmen, die ihm erlaubt, sich von Bedingungen gegebener sozialer Ordnungen freimachen zu können und ist nun in der Lage bestehende Regeln zu hinterfragen. Es unterscheidet zwischen Heteronomie und Autonomie, Partikularem und Universalem und leidet an Schuldgefühlen, wenn es seine universalen Prinzipien verletzt hat. 5. Das Stadium des sozialen Kontraktes bzw. der gesellschaftlichen Nützlichkeit Richtiges Handeln wird in erster Linie im Sinne allgemeiner, individueller Rechte und der von der gesamten Gesellschaft kritisch geprüften und gebilligten Normen definiert. Der Mensch ist sich des Relativismus der persönlichen Werte und Meinungen klar bewußt, sowie der damit verbundenen Notwendigkeit, Verfahrensregeln einzuhalten, die zu einem Konsens führen. Abgesehen von dem, worauf man sich verfassungsmäßig und demokratisch geeinigt hat, ist das Recht eine Angelegenheit der persönlichen "Werte" und "Meinungen". Die soziale Perspektive ist auf dieser Stufe der Gesellschaft vorgeordnet, wobei Konflikte zwischen einzelnen legalen Handlungen erkannt und integriert werden können. Der Einzelne erkennt zwar die Relativität von Normen und Werten einzelner Menschen, Gruppen oder Gesellschaften, aber er strebt auf der Grundlage eines Sozialvertrages danach, sich mit den jeweiligen Menschen, Gruppen oder Gesellschaften zu arrangieren. Personen dieser Stufe sind sich zwar ihrer Verpflichtung gegenüber dem Gesetz zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und zum Wohle aller Menschen bewußt, wissen aber auch, daß "gewisse absolute Werte wie Leben oder Freiheit" (Colby & Kohlberg 1986, S. 146) der mehrheitlichen Meinung voranzustellen sind. Sie sind somit zur Revidierung von Gesetzen bereit, wenn höhere Prinzipien es erforderlich machen. Diese der Gesellschaft vorgeordnete Perspektive geht davon aus, daß jedes soziale System zu dem Zweck besteht, seinen Mitgliedern Nutzen zu bringen, und nicht - umgekehrt - die Zweckbestimmung der Menschen im Dienste an der Gesellschaft läge. 6. Das Stadium der universalen ethischen Prinzipien Individuen der höchsten Stufe folgen universalen selbsterwählten ethischen Prinzipien, wovon sich alle gesellschaftlichen Ordnungen ableiten lassen. Das ,,Wesen der Moral" an sich, universale Prinzipien der Gerechtigkeit, Kants Kategorischer Imperativ, wird als oberstes Ziel erkannt. Das Recht ist durch die Gewissensentscheidung im Einklang mit den selbstgewählten, ethischen Prinzipien definiert, die sich auf die logische Vollständigkeit, Allgemeingültigkeit und Konstanz berufen. Diese Prinzipien sind abstrakt und ethisch ("goldene Regel", "kategorischer Imperativ"); es sind keine konkreten moralischen Regeln wie die zehn Gebote. Im Grunde sind es allgemeingültige Prinzipien der Gerechtigkeit, der Reziprozität, der Gleichheit der Menschenrechte und der Achtung vor der Würde des Menschen als Einzelwesen. Auf dieser Stufe hat das Individuum die Perspektive eines moralischen Standpunktes, daß jeder Mensch seinen (End)Zweck in sich selbst trägt und dementsprechend behandelt werden soll. Personen die dieser Stufe zuzuordnen sind, handeln und urteilen autonom, in moralischer Freiheit und nach ihrem Gewissen. Jedoch erreichen nur wenige Menschen diese Stufe. Kohlberg selbst wies ihr Führergestalten wie zum Bespiel Martin Luther King oder Gandhi zu.