Ringvorlesung MUW SS 2017 „Medizin ist eine soziale Wissenschaft …“ Zur Geschichte der Rolle der Ärzte und Ärztinnen und ihrem gesellschaftlichen Einfluss auf die Vermeidung und Prävention von Krankheit im 19. und 20. Jahrhundert Organisation: Univ.-Prof. em. Dr. Brigitte Lohff Planung und Referentinnen: Univ.-Prof. em. Dr. Brigitte Lohff, Mag. Dr. Daniela Angetter-Pfeiffer, Mag. Dr. Birgit Nemec, Mag. Dr. Felicitas Seebacher Jeweils Donnerstag 15.00–16.30 27. April 2017: Lohff, Angetter-Pfeiffer, Seebacher I. Vorlesung 1790–1848: Wie entstand die Idee von der Verantwortung der Ärzte als Lehrer einer individuellen und zugleich staatlich gelenkten Prävention von Krankheit? Vor dem Hintergrund der Lebensbedingungen in der Habsburgermonarchie Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhundert soll auf unterschiedliche Voraussetzungen eingegangen werden, die dazu führten, vulnerable Bevölkerungsgruppen medizinisch besser zu versorgen. Die entworfenen unterschiedlichen Konzepte werden vorgestellt, die dazu beitragen sollten, die Verantwortung für Gesundheitsvorsorge und Krankheitsfürsorge der Bürger auf die Herrschenden/politisch Verantwortlichen zu übertragen. (Gottfried Wilhelm Leibniz, Joseph II, Johann Peter Frank, Johann Nepomuk Isfordink). Medizinstudenten und -professoren engagieren sich politisch in der „Doktorenrevolution 1848“ und fordern Reformen. Ergebnisse ihres politischen Handelns waren medizinische Reformen, Studienreformen, die Gründung der Gesellschaft der Ärzte in Wien und der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Nach Aufhebung der Zensur wurde die Wiener Medizinische Wochenschrift gegründet. 4. Mai 2017: Lohff, Seebacher II. Vorlesung 1840–1920: Die wissenschaftlichen Voraussetzungen: Die Entdeckung der biologischen, chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten für die Medizin und die Diagnostik In dieser Vorlesung wird auf den Paradigmenwandel in der Medizin hin zu einer naturwissenschaftlich-experimentell orientierten Wissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingegangen. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Welchen Einfluss nahmen Physik und Chemie sowie Biologie auf medizinische Vorstellungen vom gesunden Organismus? Wie beeinflussten die Ideen der Aufklärung und des Frühliberalismus die „Naturforschung“? Was motivierte Ärzte, wissenschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen mitzugestalten und wie wirkten sich diese Veränderungen auf das Medizinstudium aus? (Antoine Laurent de Lavoisier, Jöns Jakob Berzelius, Justus von Liebig, Jean-Baptiste de Lamarck, Charles Darwin, Karl Auenbrugger, René Théophile Laënnec, Joseph Skoda, Rudolf Virchow, Carl von Rokitansky, Ferdinand Hebra, Carl Ludwig, Hermann Helmholtz, Karl Landsteiner). 1 11. Mai 2017: Lohff, Angetter-Pfeiffer III. Vorlesung 1860–1900: Neue Krankheitskonzepte und Konzepte der Vermeidung von Krankheitsentstehung und -ausbreitung, im 19. und 20. Jahrhundert Vor dem Hintergrund der großen Epidemien und Seuchen des 19. Jahrhunderts und der ersten Erfahrungen einer erfolgreichen Immunisierung (Pocken) soll die systematische Suche der Ärzte nach Krankheitsauslösern besprochen werden. Welche Rolle in der Vermeidung von Epidemien kam dabei den Militärärzten zu? Warum wurde das Konzept der Bakteriologie zum Leitbild (bis in die Gegenwart) eines erfolgreichen Erklärungsmodells für Krankheitsentstehung, – entwicklung und –behandlung? (Edward Jenner, Louis Pasteur, Robert Koch, Emil von Behring, Paul Ehrlich). Zudem soll auf die Aufklärungskampagnen und gesetzlichen Maßnahmen eingegangen werden, die darauf abzielten, Ansteckungsgefahren vorzubeugen. Dies soll unter anderem zeigen, wie bakteriologisches Wissen die Chirurgie zu einer erfolgreichen medizinischen Disziplin machte (Asepsis und Antisepsis). 18. Mai 2017: Lohff, Nemec IV. Vorlesung 1875–1920: Von der negativen und positiven Eugenik als ärztliche Aufgabe In dieser Vorlesung soll der Frage nachgegangen werden, wie die Entdeckung der Zellbiologie sowie ein Interesse für Theorien im Bereich der Vererbungslehre (Gregor Mendel, Charles Darwin) Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit veränderten. Wie entwickelte sich die Idee, dass durch eine Beeinflussung des Erbgangs positiv auf das Individuum und die Gesellschaft einzuwirken sei? Und wie wandelte sich, darauf aufbauend, das Rollenverständnis der Ärzte, die zunehmend als Experten und Expertinnen für die Lösung gesellschaftspolitischer Fragen herangezogen wurden? Die Vorlesung gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Facetten des breiten Spektrums der Eugenik als neue Sozialtheorie sowie einen Überblick über Vorstellungen der daran geknüpften ärztlichen Aufgabe: durch positiv und negativ eugenische Maßnahmen soziale und biologische Entwicklungen mit zu gestalten. (Francis Galton, August Weißmann, Alfred Ploetz, Wilhelm Schallmayer, Karl Binding und Alfred Hoche, Julius Tandler). 1. Juni: Lohff, Angetter-Pfeiffer V. Vorlesung 1900–1960: Von heroischen Therapien und den Patienten und Patientinnen als Objekt der medizinischen Forschung Im Zusammenhang mit dem Siegeszug der experimentellen Forschung in der Physiologie/ „Biochemie“ begannen auch Auseinandersetzungen mit Versuchen am Menschen und damit die Diskussion um Beobachtungsmedizin versus Experiment. Wie wurden seitens der Forscher Versuche mit Menschen (Prostituierte, Kinder und Soldaten als Versuchspersonen) begründet? Dabei wird u.a. auf Selbstexperimente von Ärzten, Neissers Syphilis-Experimente, TuskegeeSyphilis-Studie und die damit im Zusammenhang stehenden unterschiedlichen ethische Richtlinien von 1900 bis zur Deklaration von Helsinki und der Einrichtung von EthikKommissionen eingegangen. Von den historischen Entwicklungslinien ausgehend, soll auf den Umgang mit dem Patienten und dem Respekt vor dessen Autonomie, auf Fragen der Ethik, aber auch auf die Legitimation des therapeutischen Handlungsaspekts eingegangen werden. 2 8. Juni 2017: Seebacher, Angetter-Pfeiffer VI. Vorlesung: Orte medizinischen Handels im 19. und 20. Jahrhundert Die Vorlesung sollen die erwähnten Veränderungen in der Medizin und im Medizinstudium reflektieren, um aufzuzeigen, wie sich diese an Orten medizinischen Handels in Wien widerspiegelten. Mit den Studienreformen ab Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Auftrag zur Forschung an Universitätskliniken, wurden die Möglichkeiten und Aufgaben klinischer Medizin sowie die Rolle der Krankenhäuser in der Behandlung von Kranken tiefgreifend verändert. Durch wirtschaftliche Krisen und starke Zuwanderung entstanden neue Aufgabenfelder in der Versorgung von Kranken. Krankenhäuser wurden zu Zentren moderner Medizin mit dem Fokus auf Public Health. Das Alte und das Neue AKH, die Allgemeine Poliklinik in Wien, das Rudolfinerhaus, Militärspitäler und die von der Stadt Wien sowie von verschiedenen Konfessionen finanzierten und geleiteten Krankenhäuser veranschaulichten die Vielfalt von Diagnosemethoden und Therapiekonzepten, die für die Behandlung von PatientInnen eingesetzt wurden. Als ein Beispiel für ein sozialmedizinisches Modell nach modernsten medizinischen Standards wird die Allgemeine Poliklinik in Wien vorgestellt. 22. Juni: Nemec, Angetter-Pfeifer VII. Vorlesung 1900–1955: „Ärzte sind Anwälte der Armen“? Folgen wissenschaftlichen Konzepten zur Ausbreitung bzw. Verhütung von Krankheit aus In dieser Einheit gehen wir der Frage nach, wie die Einsicht über die Grenzen der Bakteriologie und der Verhütung von Krankheit durch hygienische Maßnahmen, zu einem neuen Interesse für den Zusammenhang von Krankheit und sozialer Lage führten. In einer Phase der wachsenden Bedeutung chronischer Erkrankungen und so genannter Zivilisationskrankheiten bemühten sich politisch engagierte Ärzte um eine umfassende medizinische Versorgungssituation der schwächeren sozialen Schichten. Doch welche Vorstellungen von Individuum und Gesellschaft lagen den unterschiedlichen verhältnis- oder verhaltenspräventiven Maßnahmen zur Vermeidung von Krankheiten zugrunde, die etwa als Sozialhygiene, Rassenhygiene oder Bevölkerungsökonomie beworben und umgesetzt wurden? Und welche Grenzen für die ärztliche Intervention wurden diskutiert? Das Spektrum der in der Vorlesung besprochenen Vorsorgemaßnahmen reicht von Eheberatung, Säuglingsfürsorge, Schuluntersuchungen und stadtplanerischen Maßnahmen über die Neudefinition des Zusammenhangs von Armut und Krankheit in der Zeit des Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit und Überlegungen zum Zusammenhang von Krankheit, Umwelt und Genetik. (Weitere Stichworte: Epidemiologische Wende, Public Health, Genetischer Determinismus vs. Soziale Lage, Epigenetik nach 1945). 3