Walter Weidringer Obsessiv, repetitiv, visionär Zu Fausto Romitellis

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Walter Weidringer
Obsessiv, repetitiv, visionär
Zu Fausto Romitellis grenzgängerischer Poetik zwischen «Musique spectrale» und
«Dirty Sounds» der Subkultur
«Im Zentrum meines Komponierens steht die Idee, einen Klang wie eine Materie zu empfinden, in die man hineintaucht, um deren physische und perzeptive Merkmale wie Gefüge, Stär­ke, Porosität, Helligkeit, Dichte und
Elastizität zu schmieden. Daher Skulptur des Klangs, instrumentale Synthese, Anamor­phose, Transformation der
spektralen Morphologie, konstanter Drift in Richtung untragbarer Dichten, Verzerrungen, Stö­rungen auch dank der
Einbeziehung elektroakustischer Tech­no­­logien. Und immer größere Bedeutung kommt den Klang­füllen nicht-akademischer Ableitung, dem nicht sauberen und heftigen Klang überwiegend metallischen Ursprungs einer bestimm­
ten Rock- und Technomusik zu.»
Mit unbändiger musikalischer Lust und gleichzeitig mit dem Gefühl hehrer Notwendigkeit hat Fausto Romitelli
(ge­bo­ren 1963 in Gorizia und vergangenen Juni nach längerer, schwerer Krankheit in Mailand gestorben) die
offenen und versteckten Reinheitsgebote der Neuen Musik über Bord ge­worfen, um jenseits von Schubladen wie
«High art» und «Low art», «E» und «U» oder Kunst und Pop genau jene Sounds finden und mixen zu können, die
allein in unserer Gegenwart ihm zeitgemäß und passend schienen: «Seit meiner Geburt schon werde ich überschüttet mit digitalen Bildern, synthetischen Klängen, Kunstprodukten. Artifiziell, verzerrt, gefiltert – so ist heute die
menschliche Natur.» Und: «Heute muss Mu­sik gewalttätig und rätselhaft sein, da sie nur die Gewalt der
Entfremdung und der Normierungsprozesse in unserer Um­welt ausdrücken kann.»
Nach seinem Kompositionsstudium in Mailand und einer Zwischenstation bei Franco Donatoni in Siena war es
vor allem die Arbeit am Pariser IRCAM, die ihm die Überwindung manch engstirniger Züge im Musikverständnis
sowohl der Nachkriegsavantgarde als auch von deren konservativen Kri­tikern ermöglichte. Die Musik der Groupe
«L’Itinéraire», je­ner Komponisten rund um Gérard Grisey (1946–1998), die sich 1973 von allen alten Dogmen lossagten, um sich lieber einem neuen, aus der zu erforschenden Natur der Klänge und ihren Gesetzmäßigkeiten abzuleitenden Verhaltenskodex zu unterwerfen, beeinflusste sein Schaffen entscheidend: Jene akustischen Räume
etwa, die Grisey im Rahmen seines sechsteiligen Werkzyklus Les Espaces Acoustiques zwischen 1974 und 1985 öffnete und erschloss, sollte Romitelli, Griseys letzter Schüler, schließlich weidlich nützen und seinerseits durch das
Aufstoßen ungeahnter Seitentüren erweitern.
Prologue für Viola solo, 1976 den bis dahin entstandenen Ensemblesätzen Périodes und Partiels von Les Espaces
Acous­tiques vorangestellt, führt spektrales Komponieren ideal­typisch vor: Ausgangspunkt ist ein nie erklingendes
Kontra-E, dessen Obertonspektrum die Bratsche einerseits «naturgetreu» (soll heißen: unter Berücksichtigung
mikrotonaler Abweichungen vom temperierten System) auffächert, andererseits aber auch durch «falsche», hinzugefügte Töne kontinuierlich erweitert – so lange, bis Griseys kompositorischer Wille die «tonalen» Grenzen sprengt
und alles ins Geräuschhafte kippen lässt. Da aber die Bratsche ihrerseits notwendigerweise mit jedem Klang
Teiltonspektren produziert, kommt es gleichsam zu potenzierten, selbstreferentiellen Sounds, entsteht Musik über
Musik.
Gerade der biomorphe Charakter, der den Klängen in der «Musique spectrale» zugewiesen wurde, eröffnete
Fausto Ro­mitelli Möglichkeiten für die Einbeziehung elektronischer Sounds ganz anderer Provenienz. Indem also
die so genannten Spektralisten nicht mehr, wie zuvor üblich, Herkunft, Kontext und zugewiesene Bedeutung von
Musik untersuchten, sondern voraussetzungslos die allgemeinen physikalischen Parameter des Klanges durchleuchteten, um sie kompositorisch nutzbar zu machen, war für Romitelli ästhetisch auch eine Art demokratischer
Durchlässigkeit erreicht, die es ihm gestattete, den Querverbindungen zwischen «Kultur» und «Subkultur» nachzuspüren. Und für diese hatte er sich stets ein offenes Ohr be­wahrt. Doch während etwa der Amerikaner Michael
Daug­herty in seinen Werken Pop-Ikonen wie Superman oder Elvis abfeiert bzw. dekonstruiert, fand Romitelli seine
Bezugs­punk­te abseits des Mainstreams: im innovativen Bestreben von Gitarren-Legen­den wie Jimi Hendrix oder Jeff
Beck, in den düster-atmosphärischen Soundscapes von Portishead, bei den schon erwähnten Sonic Youth und
Aphex Twin [siehe den Beitrag von Eric De­nut im Essayteil dieses Katalogs, Anm. der Redak­tion], aber auch in der
Literatur bei William S. Burroughs und seinen Cut­-ups bis hin zum Cyberpunk-Roman unserer Tage. So nagte
Ro­mitelli mit seinem Schaffen nicht zuletzt beständig am Vor­urteil, jenseits der so genannten modernen, immer auf
schriftliche Fixierung (mit-)bedachten «L’art pour l’art»-Musik würden sich ausschließlich kommerzielle Strategien
und Begren­zungen abbilden. Impulsiv verzerrte E-Gitarren-Sounds, das bewusste Spiel mit formaler (Des-)
Orientierung, die Verbin­dung mit Videokunst (etwa in der «Oper» An Index of Metals) – Fausto Romitelli ignorierte
als Komponist ganz einfach die Ignoranz, die das gegenseitige Verhältnis von Neuer Musik diesseits und jenseits
der Kluft zwischen elitär und populär bis heute dominiert, und fand dabei zu zwingender dramatischer Intensität.
Im Quartett Domeniche alla periferia dell’impero (1997) für Bassflöte, Bassklarinette, Violine und Cello in zwei Sätzen,
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deren Letzterer als «Ommagio a Gérard Grisey» konzipiert ist, operiert Romitelli mit obsessiver, aber variierter
Wiederholung und lässt das Ensemble dabei zu einem einzigen Instrument verschmelzen. Die sonore Klanglichkeit, zu
der er dabei findet, begegnet transformiert auch in Seascape für Bassblock­flöte und Elektronik (1996) einer rauschhaft
ungreifbaren, von wabernden Sound­schwaden bestimmten, hermetischen Unter­wasserwelt.
Ein dramatisches Wechselspiel von Orientierung und Des­orientierung verbindet Gérard Griseys Vortex temporum
(1994–96) mit Romitellis Trash TV trance für E-Gitarre (2002): Während Grisey seinem Sextett für Flöte, Klarinette,
Klavier, Violine, Viola und Cello ein knappes, oszillierendes Motiv aus Maurice Ravels Ballett Daphnis et Chloë
zugrunde legt und mit unserer Wahrnehmung spielt, indem er in der Folge das natürliche Teiltonspektrum mit
«falschen» Ge­schwis­tern konfrontiert, die er durch «gefinkelte» asymmetrische Stauchungen und Dehnungen desselben erzeugt, wodurch wir schließlich in jenen (Zeit-)Strudel gerissen werden, den der Titel suggeriert, geht auch
Romitelli von präexistentem Ma­terial aus. Doch er rückt bewusst und buchstäblich gerade die vermeintlichen
Abfallprodukte der Soundproduktion ins Zen­trum und montiert sie repetitiv zu neuem Sinn. Klopft Grisey unsere
so leicht täuschbaren Sinne unerbittlich auf ihre Gren­zen hin ab, thematisiert Romitelli dadurch auch das Medium
und seine Limitationen. Besonders deutlich wird dies, wenn man das Stück auf CD hört und anfangs den Eindruck
ge­winnt, Disc oder Player müssten beschädigt sein: Die Irritation ist be­absichtigt, das Misstrauen komponiert.
Walter Weidringer: Obsessiv, repetitiv, visionär. Zu Fausto Romitellis grenzgängerischer Poetik
zwischen «Musique spectrale» und «Dirty Sounds» der Subkultur, in: Katalog Wien Modern
2004, hersg. von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken: Pfau 2004, S. 235 f.
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