Verhaltenssüchte: kulturspezifische, moderne, nicht

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Verhaltenssüchte: kulturspezifische, moderne, nicht
stoffgebundene „Drogen“
V
erhaltenssüchte erfahren zunehmend mehr mediale Aufmerksamkeit. Dies ist im Wesentlichen auf
deren Zunahme, die verbesserte empirisch-wissenschaftliche
Datenlage
und ihre gravierenden psychosozialen
und wirtschaftlichen Folgen zurückzuführen. Die Rede ist von verschiedenen Formen exzessiven Verhaltens,
wie z.B. pathologisches Kaufen, pathologisches Spielen sowie Sport-, Arbeits-, Sex- und Computerspielsucht.
Dabei ist der Begriff Verhaltenssucht nach wie vor umstritten. Eine
diagnostische Zuordnung dieser Störungen in die aktuellen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV ist
nur für das pathologische Spielen
möglich. Bei der derzeit ausstehenden
Ausarbeitung der ICD-11 und und von
DSM-V sollten die verschiedenen Verhaltenssüchte mit berücksichtigt werden. Seit seiner offiziellen Anerkennung als psychische Störung im Jahre
1980, wird die Spielsucht zu den Impulskontrollstörungen gerechnet. Die
Debatte über die kategoriale Einordnung dieser vielfältigen Störungen
bewegt sich im Wesentlichen auf drei
Ebenen: Zwangsspektrumsstörungen,
Impulskontrollstörungen und Suchterkrankungen. Die überzeugendsten
Argumente unterstützen das Suchtmodell. Von Gebsattel formulierte bereits 1954, dass „jede Richtung des
menschlichen Interesses süchtig zu
entarten vermag“ (1).
K. Wölfling et al. weisen in ihrem
Beitrag zurecht auf die klassischen
Phänomene der Sucht bei den vorgenannten exzessiven Verhaltensweisen hin wie eine Toleranzentwicklung
und die Ausrichtung der Lebensinhalte auf das Suchtmittel bzw. das Suchtverhalten. Die Einordnung z.B. des pathologischen Glücksspielens oder an-
derer Formen der Verhaltenssucht unter eine Impulskontrollstörung erweise sich demnach als unzureichend und
könne verhindern, dass Betroffene geeigneten
Behandlungsmaßnahmen
zugeführt werden. Im Gegensatz zu
den stoffgebundenen Abhängigkeiten
stellt die Ausführung des exzessiven
Verhaltens selbst eine belohnende Stimulation bestimmter kortikaler Strukturen dar, ohne dass eine externe Zufuhr psychotrop wirkender Substanzen erforderlich ist. Vermutet wird eine erlernte Aufmerksamkeitszuwendung gegenüber suchtmittelassoziierten Reizen durch eine Sensitivierung
mesolimbischer dopaminerger Systeme (Wölfling et al.).
Die hohe Komorbidität zwischen
exzessiven belohnenden Verhaltensweisen und der Substanzabhängigkeit
spricht ebenfalls für die Kategorisierung als Verhaltenssucht (2).
Dennoch ist vor einer inflationären
Verwendung des Suchtbegriffes dringend zu warnen. Isolierte Verhaltensauffälligkeiten erlauben für sich gesehen noch keine Rückschlüsse auf die
Art der psychischen Störungen, deren
Ausmaß und zukünftige Prognose.
Darüber hinaus treten diese Störungen selten isoliert auf, sondern häufig
in Zusammenhang mit anderen psychischen Erkrankungen, z.B. Depressionen, Angsterkrankungen, Zwangsstörungen und narzisstischer Persönlichkeit.
Das Störungsbild der „Glücksspielsucht“ zählt mit zu den schillernsten
Verhaltensauffälligkeiten. Auch wenn
die weitaus größte Gruppe der Glücksspieler die sozialen und Gelegenheitsspieler darstellen, die typischerweise
mit Freunden oder Kollegen in einem
zeitlich beschränkten Rahmen mit
vorher festgelegten, annehmbaren
Die Psychiatrie 3/2009
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Prof. Franz
MüllerSpahn,
Basel
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Zum Thema
Verlusten spielen (WHO 1993), kann
das Spielverhalten eskalieren, sich
verselbstständigen und zu einer
schweren Störung von Krankheitswert
entwickeln. Das klinische Bild wird
von zunehmendem Kontrollverlust,
Unaufrichtigkeit über das Ausmaß der
Betroffenheit, Aufholjagden zur Kompensation von Verlusten, illegalem Finanzgebaren und einer Beeinträchtigung von Familien- und Arbeitsleben
geprägt. Im Zusammenhang mit der
Zulassung von Spielcasinos in der
Schweiz rückte die Frage der Sozialverträglichkeit derartiger Einrichtungen zunehmend in den Vordergrund
einer zum Teil sehr emotional geführten öffentlichen Diskussion (3). Vom
Gesetzgeber wurde von jedem Spielcasino die Ausarbeitung eines Sozialkonzeptes gefordert. Dieses Sozialkonzept fokussiert im Wesentlichen
auf die Früherkennung gefährdeter
Spielerinnen und Spieler, deren Beratung und ggf. Vermittlung geeigneter
Behandlungsmaßnahmen. Die bisher
vorliegenden Erfahrungen sind insgesamt gesehen durchaus positiv (siehe
Beitrag F. Müller-Spahn et al.).
J. Petry weist in seinem Artikel auf
den Bedeutungszusammenhang des
Erlebens einer Selbstwertsteigerung
durch das Spielen hin. Die Prävalenzrate pathologischen Spielens liegt bei
1 bis 3%, wobei besonders die Geldspielautomaten suchtinduzierenden
Charakter besitzen. Die Suche nach
dem klassischen Glücksspielertyp ergab insgesamt keine allgemein verbindlichen Befunde. Petry fand in sei-
nem Untersuchungskollektiv mehrheitlich narzisstisch-persönlichkeitsgestörte Glücksspielertypen mit einer
schweren Selbstwertstörung im Sinne
einer depressiven Sinnproblematik.
Therapeutisch sollte eine „vollständige Glücksspielabstinenz gefordert
werden“.
F. Rehbein et al. greifen in ihrem
Beitrag zur Computerspielabhängigkeit ein hoch aktuelles Thema auf. Sie
berichten über die Ergebnisse einer
deutschlandweiten repräsentativen
Schülerbefragung in den Jahren 2007
und 2008 durch das kriminologische
Forschungsinstitut Niedersachsen. 3%
der Jungen und 0,3% der Mädchen
wurden auf der Basis eines von ihnen
neu entwickelten Screeninginstrumentes als computerspielabhängig diagnostiziert. Die Jungen sind deutlich
stärker abhängigkeitsgefährdet als
Mädchen. Dennoch gilt die Computerspielabhängigkeit bisher nicht als klinisch anerkannt. Besonderer Beliebtheit erfreut sich das Online-Rollenspiel World of Warcraft. Die schulischen Leistungen Computerspielabhängiger sind beeinträchtigt, das
Schwänzen von Schulstunden erhöht.
Das Phänomen der Arbeitssucht ist
begrifflich mit am schwierigsten zu
erfassen. Die empirisch-wissenschaftliche Datenbasis ist für diese Störung
unzureichend. Allgemein wird heute
unter Arbeitssucht ein unkontrollierbarer, innerer Zwang zu arbeiten verstanden, der ähnliche Phänomene
aufweist wie sie bei stoffgebundenen
Abhängigkeiten zu beobachten sind.
Die Psychiatrie 3/2009
S. Poppelreuter und M. Städele stellen in ihrem Beitrag typische für süchtiges Verhalten bekannte Phänomene
wie Abstinenzunfähigkeit, Toleranzentwicklung, Dosissteigerung und
psychosoziale Störungen in den Vordergrund. Darüber hinaus weisen sie
auf die hohe Komorbidität zwischen
Arbeitssucht und einer zwanghaften
Persönlichkeitsstörung hin. Zurecht
machen sie deutlich, dass Arbeitssucht eine „ernst zu nehmende und
unter Umständen tödlich verlaufende
Störung“ mit massiven Auswirkungen
auf den Betroffenen selbst als auch
auf dessen Umfeld ist. Aufgrund der
starken gesellschaftlichen Verankerung einer hohen Leistungsbereitschaft wird arbeitssüchtiges Verhalten
häufig nicht als Erkrankung erkannt.
Dieses Heft bietet einen Überblick
über den aktuellen Forschungsstand
zu Verhaltenssüchten.
Prof. Dr. med. F. Müller-Spahn, Basel
Literatur
1. von Gebsattel VE Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Berlin: Springer,
1954.
2. Grüsser S, Thalemann C. Verhaltenssucht,
Diagnostik, Therapie, Forschung. Bern:
Hans Huber, Hofgrefe AG 2006.
3. Müller-Spahn F, Margraf J. Wenn Spielen
pathologisch wird. Basel: Karger 2003.
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