118 Zum Thema Verhaltenssüchte: kulturspezifische, moderne, nicht stoffgebundene „Drogen“ V erhaltenssüchte erfahren zunehmend mehr mediale Aufmerksamkeit. Dies ist im Wesentlichen auf deren Zunahme, die verbesserte empirisch-wissenschaftliche Datenlage und ihre gravierenden psychosozialen und wirtschaftlichen Folgen zurückzuführen. Die Rede ist von verschiedenen Formen exzessiven Verhaltens, wie z.B. pathologisches Kaufen, pathologisches Spielen sowie Sport-, Arbeits-, Sex- und Computerspielsucht. Dabei ist der Begriff Verhaltenssucht nach wie vor umstritten. Eine diagnostische Zuordnung dieser Störungen in die aktuellen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV ist nur für das pathologische Spielen möglich. Bei der derzeit ausstehenden Ausarbeitung der ICD-11 und und von DSM-V sollten die verschiedenen Verhaltenssüchte mit berücksichtigt werden. Seit seiner offiziellen Anerkennung als psychische Störung im Jahre 1980, wird die Spielsucht zu den Impulskontrollstörungen gerechnet. Die Debatte über die kategoriale Einordnung dieser vielfältigen Störungen bewegt sich im Wesentlichen auf drei Ebenen: Zwangsspektrumsstörungen, Impulskontrollstörungen und Suchterkrankungen. Die überzeugendsten Argumente unterstützen das Suchtmodell. Von Gebsattel formulierte bereits 1954, dass „jede Richtung des menschlichen Interesses süchtig zu entarten vermag“ (1). K. Wölfling et al. weisen in ihrem Beitrag zurecht auf die klassischen Phänomene der Sucht bei den vorgenannten exzessiven Verhaltensweisen hin wie eine Toleranzentwicklung und die Ausrichtung der Lebensinhalte auf das Suchtmittel bzw. das Suchtverhalten. Die Einordnung z.B. des pathologischen Glücksspielens oder an- derer Formen der Verhaltenssucht unter eine Impulskontrollstörung erweise sich demnach als unzureichend und könne verhindern, dass Betroffene geeigneten Behandlungsmaßnahmen zugeführt werden. Im Gegensatz zu den stoffgebundenen Abhängigkeiten stellt die Ausführung des exzessiven Verhaltens selbst eine belohnende Stimulation bestimmter kortikaler Strukturen dar, ohne dass eine externe Zufuhr psychotrop wirkender Substanzen erforderlich ist. Vermutet wird eine erlernte Aufmerksamkeitszuwendung gegenüber suchtmittelassoziierten Reizen durch eine Sensitivierung mesolimbischer dopaminerger Systeme (Wölfling et al.). Die hohe Komorbidität zwischen exzessiven belohnenden Verhaltensweisen und der Substanzabhängigkeit spricht ebenfalls für die Kategorisierung als Verhaltenssucht (2). Dennoch ist vor einer inflationären Verwendung des Suchtbegriffes dringend zu warnen. Isolierte Verhaltensauffälligkeiten erlauben für sich gesehen noch keine Rückschlüsse auf die Art der psychischen Störungen, deren Ausmaß und zukünftige Prognose. Darüber hinaus treten diese Störungen selten isoliert auf, sondern häufig in Zusammenhang mit anderen psychischen Erkrankungen, z.B. Depressionen, Angsterkrankungen, Zwangsstörungen und narzisstischer Persönlichkeit. Das Störungsbild der „Glücksspielsucht“ zählt mit zu den schillernsten Verhaltensauffälligkeiten. Auch wenn die weitaus größte Gruppe der Glücksspieler die sozialen und Gelegenheitsspieler darstellen, die typischerweise mit Freunden oder Kollegen in einem zeitlich beschränkten Rahmen mit vorher festgelegten, annehmbaren Die Psychiatrie 3/2009 © Schattauer GmbH Downloaded from www.die-psychiatrie-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Prof. Franz MüllerSpahn, Basel 119 Zum Thema Verlusten spielen (WHO 1993), kann das Spielverhalten eskalieren, sich verselbstständigen und zu einer schweren Störung von Krankheitswert entwickeln. Das klinische Bild wird von zunehmendem Kontrollverlust, Unaufrichtigkeit über das Ausmaß der Betroffenheit, Aufholjagden zur Kompensation von Verlusten, illegalem Finanzgebaren und einer Beeinträchtigung von Familien- und Arbeitsleben geprägt. Im Zusammenhang mit der Zulassung von Spielcasinos in der Schweiz rückte die Frage der Sozialverträglichkeit derartiger Einrichtungen zunehmend in den Vordergrund einer zum Teil sehr emotional geführten öffentlichen Diskussion (3). Vom Gesetzgeber wurde von jedem Spielcasino die Ausarbeitung eines Sozialkonzeptes gefordert. Dieses Sozialkonzept fokussiert im Wesentlichen auf die Früherkennung gefährdeter Spielerinnen und Spieler, deren Beratung und ggf. Vermittlung geeigneter Behandlungsmaßnahmen. Die bisher vorliegenden Erfahrungen sind insgesamt gesehen durchaus positiv (siehe Beitrag F. Müller-Spahn et al.). J. Petry weist in seinem Artikel auf den Bedeutungszusammenhang des Erlebens einer Selbstwertsteigerung durch das Spielen hin. Die Prävalenzrate pathologischen Spielens liegt bei 1 bis 3%, wobei besonders die Geldspielautomaten suchtinduzierenden Charakter besitzen. Die Suche nach dem klassischen Glücksspielertyp ergab insgesamt keine allgemein verbindlichen Befunde. Petry fand in sei- nem Untersuchungskollektiv mehrheitlich narzisstisch-persönlichkeitsgestörte Glücksspielertypen mit einer schweren Selbstwertstörung im Sinne einer depressiven Sinnproblematik. Therapeutisch sollte eine „vollständige Glücksspielabstinenz gefordert werden“. F. Rehbein et al. greifen in ihrem Beitrag zur Computerspielabhängigkeit ein hoch aktuelles Thema auf. Sie berichten über die Ergebnisse einer deutschlandweiten repräsentativen Schülerbefragung in den Jahren 2007 und 2008 durch das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen. 3% der Jungen und 0,3% der Mädchen wurden auf der Basis eines von ihnen neu entwickelten Screeninginstrumentes als computerspielabhängig diagnostiziert. Die Jungen sind deutlich stärker abhängigkeitsgefährdet als Mädchen. Dennoch gilt die Computerspielabhängigkeit bisher nicht als klinisch anerkannt. Besonderer Beliebtheit erfreut sich das Online-Rollenspiel World of Warcraft. Die schulischen Leistungen Computerspielabhängiger sind beeinträchtigt, das Schwänzen von Schulstunden erhöht. Das Phänomen der Arbeitssucht ist begrifflich mit am schwierigsten zu erfassen. Die empirisch-wissenschaftliche Datenbasis ist für diese Störung unzureichend. Allgemein wird heute unter Arbeitssucht ein unkontrollierbarer, innerer Zwang zu arbeiten verstanden, der ähnliche Phänomene aufweist wie sie bei stoffgebundenen Abhängigkeiten zu beobachten sind. Die Psychiatrie 3/2009 S. Poppelreuter und M. Städele stellen in ihrem Beitrag typische für süchtiges Verhalten bekannte Phänomene wie Abstinenzunfähigkeit, Toleranzentwicklung, Dosissteigerung und psychosoziale Störungen in den Vordergrund. Darüber hinaus weisen sie auf die hohe Komorbidität zwischen Arbeitssucht und einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung hin. Zurecht machen sie deutlich, dass Arbeitssucht eine „ernst zu nehmende und unter Umständen tödlich verlaufende Störung“ mit massiven Auswirkungen auf den Betroffenen selbst als auch auf dessen Umfeld ist. Aufgrund der starken gesellschaftlichen Verankerung einer hohen Leistungsbereitschaft wird arbeitssüchtiges Verhalten häufig nicht als Erkrankung erkannt. Dieses Heft bietet einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Verhaltenssüchten. Prof. Dr. med. F. Müller-Spahn, Basel Literatur 1. von Gebsattel VE Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Berlin: Springer, 1954. 2. Grüsser S, Thalemann C. Verhaltenssucht, Diagnostik, Therapie, Forschung. Bern: Hans Huber, Hofgrefe AG 2006. 3. Müller-Spahn F, Margraf J. Wenn Spielen pathologisch wird. Basel: Karger 2003. © Schattauer GmbH Downloaded from www.die-psychiatrie-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.