Dienstag, 01. Januar 2013 2013 (11:05 (11:05:05-12:00 Uhr), KW 1 Deutschlandfunk (Abt. Musik und Information) FREISTIL „Was sitzt das sitzt. Der Körper und sein Gedächtnis.“ Von Ulrike Burgwinkel und Simonetta Dibbern Produktion DLF 2010 Redaktion: Klaus Pilger Pilger Manuskript Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - ggf. unkorrigiertes Exemplar - MUSIK: rhythmische Streicher O-Ton Jelena Fahrstunde Und ne wichtige Erfahrung: wenn der Wagen ausgeht, hat man die Kupplung nicht getreten. Wieder anmachen, genau, ersten Gang, genau. O-Ton Assmann Der Körper kennt kein „es war einmal“, das Bewusstsein kann das abspeichern, kann sagen: das ist nicht mehr heute, aber beim Trauma ist das anders. O-Ton Roller Die Dinge die ich schon gespielt hab in meinem Leben, die ich quasi programmiert hab und nicht mehr üben muss, da denk ich überhaupt nicht über Bewegung nach, die ruf ich einfach ab. O-Ton Puttke Ein Beispiel: Wenn Sie vom 10-Meterturm springen, kann der Springer ja nicht, während er springt und sagen wir eine doppelte Drehung um die Achse macht und dabei sich noch hintenrüber überschlägt. Ich kenn die Fachbegriffe nicht…Das ist ja ein Unding. Bei dem läuft nur ab, was in den Details perfekt abgespeichert ist und übrigens nicht nur als reiner Sachverhalt, also als reine Bewegung, sondern auch in einem bestimmten Tempo. O-Ton Jelena Ich bin die Marionette. Ich muss alles das machen, was er sagt, in den ersten Fahrstunden. Find ich aber auch gut, damit man nicht gleich so selber denken muss. Das ist schon ziemlich viel.... O-Ton Teilnehmerin Also, wenn ich nen Schritt sehe, dann gucke ich mir den erstmal an und dann speicher ich mir den sozusagen im Kopf und dann versuche ich den halt nachzumachen. 2 O-Ton Schack Wenn ich jetzt nen Brief schreibe, denke ich in keiner Weise mehr darüber nach, wie ich die Bewegung ausführe, ich hab den Kopf also jetzt frei, für das Nachdenken, über das, was ich schreiben will, wem ich schreiben will, warum ich dem schreibe. Und dann ist die Bewegung eingebaut. O-Ton Altenmüller ... dann passiert eben etwas, was ich manchmal heraushöre, dass die finger den selbst finden, obwohl man eigentlich nicht mehr weiß wies stück geht. Man weiß gar nicht genau, wie hört sichs gleich an, man setzt sich an sein instrument und die Finger laufen und man ist ganz erstaunt: hach ich kann das ja noch. Das sitzt dann wirklich. Sprecher: Was sitzt das sitzt. Der Körper und sein Gedächtnis. Von Ulrike Burgwinkel und Simonetta Dibbern. Sprecher: Mein Körper ist ein schutzlos Ding Ein Glück, dass er mich hat. Ich hülle ihn in Tuch und Garn Und mach ihn täglich satt. (Gedicht: Robert Gernhardt: Siebenmal mein Körper) Musik aus dem Stück und „encore“-Klatschen ( Zugabe) O-Ton Dunoyer First of all I wanted to do a project with many dancers .... Sprecher: Vincent Dunoyer, Tänzer und Choreograph über sein Stück „Encore“. 3 O-Ton Dunoyer That was to gather them around the notion of „repertoire“, like the repertory, I think, which is normally linked to a choreographer…....... Sprecher OV: Ich möchte die Stücke, die ich selbst getanzt habe, an meine viel jüngeren Tänzer weitergeben. Ich habe für viele verschiedene Compagnien und Leute getanzt, und das bildet für mich so etwas wie ein ganz persönliches Repertoire. Ich choreographiere meinen Körper sozusagen neu, im Körper der jungen Leute, überprüfe meine Vergangenheit als Tänzer. Um dieses Umschalten geht es mir. O-Ton Dunoyer I don’t have this need in me to create my own movements…/the relation you have with the material you are given and that is what I am interested in.” Sprecher OV: Ich muss nicht unbedingt etwas Neues kreieren, wichtig ist, dass ich den Leuten genau das vermittele, was in meinem Körper drin ist, was ich ihnen vermittle ist wirklich „incorporated“, es erzählt vielleicht viel über mich und meine Körpererfahrung. Es geht darum, wie ein Tänzer sich ausdrückt, was er ist oder sein will; das muss überhaupt nicht seine eigene Persönlichkeit sein, sein Ego. Ich glaube, wenn er mit Bewegungen zu tun hat, die ein anderer sich ausgedacht hat, muss er dessen Intention auf die Bühne bringen. Diese Beziehung zwischen vorgegebenem Material und Tänzer interessiert mich. Musik: Encore und Klatschen O-Ton Puttke Im Ballett ist es üblich, dass der Pädagoge, der Ballettmeister, der Choreograph, wenn er eine Bewegung lehrt oder korrigiert, den Bewegungsvorgang beschreibt. Er beschreibt: zieh dich hoch, dreh das Bein nach außen, spann den Muskel an, spann den Muskel locker. Das ist die gängige Praxis weltweit. Musik 3 Satie Gymnopedie 4 Sprecher: Professor Martin Puttke. Ehemaliger Tänzer und Ballettdirektor, Tanzpädagoge in Berlin und Sankt Petersburg. O-Ton Puttke Erstens sind die Tänzer geschult, eine bestimmte Technik des Merkens sich anzueignen, d.h., dass man Bewegungsabläufe sich nicht als die Summe einzelner Bewegungen merkt, was ein Riesenproblem wäre – die Zahlenkünstler machen das übrigens auch nicht, sondern sie merken sich sogenannte Cluster, also Anhäufungen, denen sie sogar ein Bild beiordnen. Mathematische Genies arbeiten mit dieser Technik und im Tanz ist es ähnlich: wir merken uns Bewegungssequenzen, die wiederum an örtliche oder auditive, also musikalische, Grundlagen gebunden sind. Der Bewegungsablauf erscheint als Gestalt und das haftet im Kopf und das bleibt hängen und das wiederholen wir. Es würde ein Riesenproblem darstellen, wenn sie sich die einzelnen minimalen Sequenzen, Bewegungen des gesamten Bewegungsablaufes merken, das kann sich kein Mensch merken – das ist wie ein Computer, dessen Speicher dann übervoll ist, und er viel zu langsam repetiert, was beim Tanzen in der Geschwindigkeit gar nicht erfolgen könnte. Musik Satie Gymnopedie O-Ton Tanzlehrer Die Sachen kommen dann meist automatisch, wenn man die schon so oft trainiert hat /../ und so wird man dann kreativer und hat mehr Zeit, sich mehr Sachen zu überlegen, zu üben, zu verbessern. O-Ton Teilnehmerin HipHopkurs Das merkt man sich ( lacht), man wiederholt das, und man lernt das, übt das, ja. O-Ton Puttke 5 Ich will das mal ganz einfach demonstrieren: dass Sie sozusagen nur noch mit Reflexen später arbeiten. Also bei einem bestimmten Input, das kann ein BewegungsKommando sein, das kann eine musikalische Sequenz sein, das kann aber auch eine Idee sein, eine bestimmte Bewegung auszuführen, die es Ihnen ermöglicht, quasi reflexartig diese Bewegung abzurufen, weil sie entsprechend gespeichert sind. Was ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es eine besondere Art des Zusammenwirkens zwischen geistiger und körperlicher Tätigkeit ist. O-Ton Tänzerin House Tanzkurs Ich guck mir das erst ganz genau an und versuche das im Kopf zu speichern und das dann so gut wie möglich nachzumachen und ganz wichtig ist auf jeden Fall, täglich das im Kopf durchgehen oder wiederholen. Also, Nachdenken ist eigentlich nicht so gut (lacht), weil man sich dann meistens nicht mehr auf das konzentrieren kann, was man gerade macht. Musik House-Musik O-Ton Tanzlehrer Ich bin OG, ich bin House-Tänzer, ich unterrichte House und möchte erstmal die Teilnehmer beibringen, die basics zu lernen/.../wenn man die drauf hat: viel Wiederholung ist gefragt und die Interesse ist sehr wichtig, wenn Interesse da ist, dann tut man sich nicht so schwer, die Dinge zu lernen, zu üben, im Spiegel, immer wieder wiederholen und immer die Sachen im Kopf behalten und das wär der einfachte Weg, die Sachen so schnell wie möglich zu lernen. Musik s.o. O-Ton Tanzlehrer Das ist diese Schwierigkeit bei der Sache, weil das Ganze ist ja zum größten Teil freestyle und wenn man dann zuviel überlegt, das fällt dann schnell auf und dann wird man nervös und dann sieht das ganze ganz wacklig aus. Deswegen ist es am besten, einfach einen freien Kopf zu halten, nicht soviel überlegen und die Sachen so machen, wie man 6 es gelernt hat. Deswegen übt man das ja auch so intensiv, /…/ dass es einfach so von alleine kommt, ja, genau. O-Ton Jelena Fahrstunde Sehr gut. Klappt doch gut für die 2. Fahrstunde, oder nicht? Okay, du bist ne Marionette, aber das ist ja egal. Klarkommen tust du. Oder ist irgendwas unklar?! – (Jelena:) Nein… O-Ton Schack Bei Anfängern gibt es unwahrscheinlich viele unterschiedliche Gedächtnisstrukturen, wie ne Pyramide kann man sagen. Sprecher: Professor Thomas Schack, Kognitions- und Bewegungsforscher, Universität Bielefeld. O-Ton Schack Die ist zunächst sehr breit, also bei den Anfängern gibt es verschiedenartige Strukturen, auch eigentlich keine tiefen Strukturen. Es ist einfach, man kann so’n bisschen im Gedächtnis erkennen, aber es ist keine eindeutige Struktur. Und zum Experten geht es immer mehr hin zu ner Spitze von ner Pyramide. O-Ton Roller Das hängt vom Schwierigkeitsgrad ab, einen Dreiklang (spielt) spiel ich ohne nachzudenken. Für einen Anfänger ist das schwer. Sprecher: Claudius Roller, Pianist und Klavierpädagoge. O-Ton Roller (gekürzt) Ein Anfänger muß z.b. koordinieren, dass die 3 Töne gleichzeitig angeschlagen werden, bei 3 verschiedenen Fingern, das können die meistens nicht am Anfang. (spielt geklapperten Dreiklang). (…) Aber für mich ist das ganz selbstverständlich. 7 O-Ton Altenmüller Also das Musizieren ist ja ein sehr starker Wachstumsreiz für das Nervensystem und da passiert ne ganze Menge. Sprecher: Eckart Altenmüller. Flötist und Neurologe. O-Ton Altenmüller Erstens mal ist das gesamte Gehirn eigentlich dabei aktiv. Zunächstmal schon nach wenigen Minuten des Übens nach der ersten Klavierstunde finden wir ne Verbindung zwischen den Zentren, die hören und den Zentren, die bewegen. Und zwar sind das vermutlich wohl erstmal flüchtige synaptische Verschaltungen, d.h. also Nervenzellautobahnen, die angelegt werden zwischen den Zentren im Gehirn, die eben damit zusammenhängen, dass in dem Fall Hören und Bewegen zusammen verschmolzen werden müssen. Und diese Netzwerke sind dann etwa nach 3 Wochen des Klavierübens oder auch das anderes Instrumentalübens sind die stabil. Musik: Geige solo O-Ton Altenmüller Wenn ich dann eine zeitlang intensiv übe, einige Jahre, dann gibt’s auch richtige Veränderungen der Grobstruktur des Gehirns, und dann können Sie am Röntgenbild oder am Kernspintomogramm feststellen, ob jemand ein Geiger ist oder ein Pianist, weil nämlich beim Geiger die Region für die linke Hand, die im rechten Zentralgyrus sich befindet, vergrößert ist – während im Gegensatz dazu, beispielsweis eben einem Pianisten die Region, die für die rechte Hand zuständig ist, und die im linken Präzentralgyrus ist, vergrößert ist. Weil beim Geiger eben die linke Hand feinmotorisch sehr geschickt sein muss, und beim Pianisten muß eben die rechte Hand feinmotorisch etwas geschickter sein meistens wie die linke Hand, die linke hand muß auch geschickt sein, aber hier kann man schon sehen: es gibt ne Art Spezialisierung der Spezialisten. 8 Musik weiter O-Ton Schack Man kann auf alle Fälle Gedächtnisstrukturen sichtbar machen, dh wir haben Methoden entwickelt, um Langzeitgedächtnisstrukturen sichtbar zu machen, Kurzzeitstrukturen, aber auch Elemente von Bewegungsvorstellungen, die sind sehr gut sichtbar zu machen. Es gibt dabei natürlich auch Bezüge zu aktivierten Hirnstrukturen, also wir haben hier auch ein EEG- Labor aufgebaut, um uns stärker mit diesem Thema zu beschäftigen. Musik: Elektronisch O-Ton Schack Die Gedächtnisstrukturen tragen offensichtlich die Bewegungsstrukturen. (...) Um es mal ganz locker zu sagen: das Gedächtnis ist eben doch dafür da, die Dinge zu speichern, die ich ausführe oder die ich sehe und zu jedem Zeitpunkt, wenn ich mit irgendwas anfange, dann speichert das Gedächtnis systematisch diese Strukturen. Also, wenn wir trainiert haben, wenn wir schlafen, dann fangen wir normalerweise beim nächsten mal wieder ungefähr da an, wo wir aufgehört haben, müssen also nicht jedes mal wieder neu lernen. Und das ist eben einfach eine Leistung des Gedächtnisses. O-Ton Schack Es geht um ne Architektur von Bewegung, das ist in etwa so, wie wenn ich sage; die Bewegung ist wie beispielsweise ein Fahrzeug. Ein Fahrzeug hat ein Fahrwerk, hat aber auch nen Motor, hat Benzinzufuhr und wir haben also die Vorstellung, dass es da ne gewisse Struktur gibt. O-Ton Jelena Fahrstunde. Fahrlerer erklärt parken/ anhalten (gekürzt) [….] ….. Sehr schön....(Auto hält) 9 Tanzmusik/ Stepptanz O-Ton Tänzerin Wenn der Körper und der Rhythmus zu ner Einheit werden, wenn man den Kopf ausschalten kann, dann ist es das eigentlich auch, weil die Regel gibt’s ja nicht. O-Ton Roller Bei bewusst denken wir immer an Denken und an Kopf. Aber der Kopf hat viele Formen des Bewusstseins. Ich würde sagen, mein Bewegungsbewusstsein, mein Körperbewußtsein hat sich erheblich vertieft und verfeinert. Und diese Art Bewusstheit, die über das Denken läuft, über das intellektuelle oder über die Augen auch, die versuchen, was zu kontrollieren, ist auf jeden Fall hinderlich für motorische Freiheit. Das funktioniert überhaupt nicht. Genausowenig wie es funktionieren würde, auf die Füße zu kucken, wenn ich gehe. Und es würde auch nicht funktionieren, wenn zu sagen: gehen ist, ich muß immer 70 cm einen Fuß vor den anderen setzen. O-Ton Puttke Wenn ich jetzt hier vor Ihnen sitze und aufstehe, sag ich ja nicht: um aufzustehen muss ich das Zentrum des Schwergewichts des Körpers vom Stuhl auf die Beine bringen. Ich muss meinen Körper also nicht bewusst steuern, sondern der Körper macht automatisch einen Bewegungsvorgang. O-Ton Puttke Das sind Bewegungen die Sie immer benutzen: wenn Sie aufstehen, wenn Sie gehen, wenn Sie ein Tasse nehmen und anheben im Arm usw. und diese 7 Kernbewegungen sind auch die absolute Grundlage für jede tänzerische Bewegung, selbst für den noch so komplizierten tänzerischen Bewegungsvorgang. (…)Was machen wir manchmal beim Tanz: wir springen hoch, drehen uns um die Achse, landen auf einem Bein, öffnen das andere, in eine Arabeske. Das sind ja so komplexe Bewegungsvorgänge, wo man manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr erkennt. 10 O-Ton Roller Ich denk, da setzt auch genau der Begriff der Begabung an, wieviel man sich merken kann, nicht nur der musiklische Speicher, sondern auch der motorische. (Manuskript gekürzt, Passage fehlt) Balletmusik Romeo und Julia O-Ton Pahl Ich träume, dass ich tanze, ich hab ja schon vor 24 Jahren aufgehört zu tanzen, selbst, auf der Bühne. Sprecher: Sighilt Pahl, früher Tänzerin an der Komischen Oper, Berlin und im Cullberg Balletten, Stockholm. Heute Ballettmeisterin. O-Ton Pahl Aber ich kann träumen und fühle alle Schritte ganz ganz perfekt. Ich kann springen, also diese typischen Sprünge, wo man weiss, ach, so geht das: das Bein vorne hoch, und man setzt ab und ist in der Luft oder Pirouetten. Man macht die Pirouette und nur der Kopf, Kopf Kopf und man dreht 8,9,10 Pirouettes und weiß gar nicht genau, wie’s geht. Und dann am nächsten Tag, wenn man aufwacht (lacht), und sich vielleicht erinnert, sagt man: aha, wird doch wieder nicht klappen, aber im Traum: ja. O-Ton Pahl Das ist IM Körper, der Körper weiss es einfach und ich kann das heute noch denken. Ich höre Musik, ja „Romeo und Julia“ und ich weiß genau: das, das und das hast du da getanzt drauf. O-Ton Altenmüller 11 Der eine Punkt ist das motorische Gedächtnis, dh sie studieren das Stück mit den Fingern ein, das motorische Gedächtnis, so dass es mehr oder weniger automatisch läuft. Musik: Körpersounds (Puls, Herzschlag o.ä.) O-Ton Altenmüller Das zweite , was bei unseren Studierenden sehr gut ausgeprägt ist, ist das auditive Gedächtnis, dh sie hören genau die innere Melodie und können das auch antizipieren, voraushören. Musik: Körpersound (s.o.) O-Ton Altenmüller Das dritte Punkt ist das visuelle Gedächtnis, ähnlich wie Tänzer ein Gedächtnis für Choreographie, für Dreidimensionalität haben, haben Musiker ein Gedächtnis für die Art und Weise, wie sie ihr Instrument spielen, wie sie sich selber am Instrument sehen oder auch auf ne ganz andere Weise: Gedächtnis für das Notenbild, also sie können Notenbilder fotographisch einspeichern. Nicht alle, aber manche können das, die haben ein fotographisches Gedächtnis. Musik: Körpersound (s.o.) O-Ton Altenmüller Die 4. Stütze ist, wenn man so möchte, das Gedächtnis des Fühlens, der Sensorik. Dass ich spüre, wie sich etwas anfühlt, also nicht nur die blinde Motorik, sondern auch die Sensorik, ich fühle etwas zum Beispiel bei mir, ich bin ja ausgebildet als Flötist, ich habe ein Gespür, wie ein bestimmtes Pianointervall, ein Tonsprung in die hohe Lage bei der Querflöte, das ist schwierig zu machen, wie der sich in der Lippe, in der Atmung, in der Mundhöhle anfühlt. Musik: Körpersound O-Ton Altenmüller 12 Und dann das 5. und das ist ein sehr wichtiger Punkt vor allem in der reproduktiven Musik: ist natürlich das strukturelle Gedächtnis. Das heißt, ich weiß zum Beispiel an welcher Stelle welche Akkordfolge kommt, ich weiß an welcher Stelle sich bestimmte Stellen wiederholen oder eben auch nicht genau wiederholen. Musik O-Ton Altenmüller Also ich sag immer meinen Studenten, das Instrument kann man nicht durch Reden erlernen. Ein schönes Beispiel ist: schicken Sie ne Gebrauchsanweisung auf den Mars, stellen Sie sich vor auf dem Mars ist ein Steinway-Flügel gelandet, jetzt soll einer der Marsmenschen anfangen, Klavier zu lernen. Das könnten Sie nach einem Buch nie und nimmer machen. Also es ist ne Handlungsfertigkeit, die durch Tun erworben wird. Und jetzt ist ganz wichtig, dass es am Anfang eben so, wie auch das Schreiben und so, wie auch das Schwimmen und so, wie auch das Fahrradfahren: richtig gelernt wird. Und deswegen sage ich immer: die Kleinsten brauchen die besten Lehrer. Denn was sich einmal ungünstig in dieses Handlungsgedächtnis, prozedurale Gedächtnis, abgelagert hat, bleibt leider ziemlich stabil. O-Ton Puttke Das heißt, wenn ich eine Bewegung korrigieren muss, muss ich eigentlich versuchen, diesen selbststeuernden Vorgang zu lenken oder auszuschalten, weil ich sonst an die Veränderung der Bewegung ja nicht herankomme. Denn ein Bestandteil der Ausübung der Bewegung ist immer ein Mitwirken dieses motorisch-kybernetischen Systems. Wie mittelalterlich arbeiten wir aber im Ballettsaal, indem ich immer auf der Gefühlsebene nur arbeite und lasse immerzu wiederholen. Einfach, indem ich sage: nein, die Bewegung war noch nicht richtig. Ich mach sie Dir nochmal vor. Er macht nochmal nach. Und wieder wird nur über das Gefühl die Bewegung repetiert, aber d.h., dass in dem Unterbewusstsein dieses vorhandene Bewegungsvokabular, das abgespeicherte, nie geblockt wird. Atmo Ballettsaal 13 O-Ton Puttke Bei mir haben die Tänzer, bevor sie sich bewegt haben, haben sie erstmal im Ruhezustand das Ganze im Kopf gesäubert und als sie dann die Bewegung gemacht haben, war ich soweit, wofür andere Monate brauchten: es ist völlig logisch. Das Ressourcenmanagement spielt ja eine ganz enorme Rolle. Es ist etwas, was den Körper nicht ausbeutet, und was nicht erzeugt wird durch nochmal nochmal. Also diese extensive Ausbeuten des Körpers fällt völlig flach und es hat eine enorme Bedeutung für Tänzer, die in der Rekonvaleszenzphase sind und sich langsam wieder einarbeiten müssen. Die sich hervorragend darauf vorbereiten können. Ballettszene/ Musik stop! O-Ton Altenmüller Falsche Bewegungsangewohnheiten zu löschen, brauchen 10mal, 20mal mehr Zeit als ne neue richtig anzulegen. O-Ton Altenmüller Da kämpfen wir genau mit dem: was sitzt das sitzt, da kämpfen wir mit dem, wie schwierig das ist. Es bewährt sich, neue Bewegungen aufzubauen, dass sie möglichst entfernt sind von der alten Bewegung. Z.B.: statt mit runden Fingern Klavierzuspielen mit geraden Fingern, das ist ein Extrembeispiel. Oder statt am Hornmundstück zu spielen, versuchen die Posaunenmundstücke zu nehmen. Also ein anderes Bewegungsmuster, der zwar verwandt, aber doch weit entfernt ist. Das ist nicht realistisch, Sie können nie jedes Klavierstück mit geraden Fingern spielen. Sprecher: Mein Körper hat es gut bei mir Ich geb ihm Brot und Wein, er kriegt von beidem nie genug 14 und nachher muß er spein. Mein Körper hält sich nicht an mich Er tut, was ich nicht darf. Ich wärme mich an Bild, Wort, Klang, ihn machen Körper scharf. (Gedicht: Robert Gernhardt: Siebenmal mein Körper) Klang/Musik Sprecher: Meine Hand, sie scheint ihr eigenes Gedächtnis zu haben und es will mir vorkommen als sei dieses Gedächtnis vertrauenswürdiger als jede andere Quelle der Selbsterforschung. Und dieses Gedächtnis der Hand, die Mendes die Nadel ins Herz stach, es sagt: Es war die Hand eines Tyrannenmörders, die den bereits toten Tyrannen in einem paradoxen Akt ins Leben holte. Auch hier bestätigt sich, was mich die Erfahrung stets von Neuem gelehrt hat, ganz gegen das ursprüngliche Temperament meines Denkens: dass der Körper weniger bestechlich ist als der Geist.“ (Aus: Pascal Mercier „Nachtzug nach Lissabon“ S. 227) Musik O-Ton Altenmüller Die Hand ist DAS Werkzeug des Geistes. Es ist im Grunde genommen der Ausdruck der Emotion. Schauen Sie sich mal die Handbewegungen an, ich hab tausende von Handfilmen. Und wenn Sie die an den Instrumenten sehen, Sie können den Charakter des Menschen sehen, Sie können seine Planungsfähigkeit sehen, Sie können seinen Humor sehen, seine Leichtigkeit sehen, seine Anpassungsfähigkeit sehen, Sie können sehen, wie schnell er mit seinem Gegenüber in Kontakt tritt und das ist ja auch ein Punkt übrigens auch von der Anthropologie, von der Menschheitskunde her, das Gestikulieren mit der Hand ist sicher das Ältere, das kam vor der Sprache, aber wenn wir 15 sprechen, dann gestikulieren wir alle und das zeigt noch diese uralte und ganz direke Verbindung zur Sprache. Musik: afrikanisch O-Ton Assmann Hier können wir an die griechische Kultur anschließen. Sprecher: Aleida Assmann. Kulturwissenschaftlerin und Gedächtnisforscherin, Universität Konstanz. O-Ton Assmannn Die neun Musen sind der Inbegriff einer Gedächtniskultur, sind die Kinder der Mnemosyne, das ist die Göttin der Erinnerung und sie alle wirken zusammen, damit ohne Archive, ohne Schrift, ohne externe Speicher Überlieferung weitergegeben werden kann. Deswegen hat gerade die Musik und das Metrum, der Rhythmus, der Tanz eine ganz ganz wichtige Aufgabe für das körperliche Memorieren und Aufführen. Musik: afrikanisch O-Ton Assmann Man könnte auf der einen Seite anfangen mit dem Kulturellen Gedächtnis, da geht es um die Frage, welchen Anteil hat der Körper für diese Übertragungsund Weitergabeprozesse des kulturellen Gedächtnisses, wie kommt es an die weiteren, die nachfolgenden Generationen, wenn man eben nicht auf Schrift zurückgreift? Und da ist es der Körper, der der Träger und das Zentrum der Mitteilung wird, des Memorierens. Musik: afrikanisch (s.o.) O-Ton Assmann 16 Da ist der Körper insofern besonders wichtig, weil er ein multifunktionales Medium des Erinnerns ist und die Überlieferung ist auch darauf eingestellt, dh man überliefert nicht nur auf einem Kanal, sondern auf mehreren. Die Musik kommt dazu, der Rhythmus, der Tanz. Das sind alles Gedächtnisformen, die dem Körper dabei helfen, das, was er erinnern muss, zu bewahren. Musik: afrikanisch (s.o.) O-Ton Assmann Also wenn wir anfangen mit dem Körper als Sitz des Lernens, das sind die Fähigkeiten, die wir durch wiederholte Praxis uns wirklich einverleiben und auch habitualisieren. Wir automatisieren, wir müssen nicht mehr das Bewusstsein anstellen, um nachzuvollziehen, was wir da tun, wenn wir aufs Fahrrad steigen oder wenn wir Geschirr spülen und essen. Das sind ja alles Vorgänge, die haben wir mal gelernt, der Körper kennt sie im Schlaf ohne Bewußtsein und wenn wir anfangen würden, darüber nachzudenken, würde das auch nicht mehr so gut funktionieren. Das gilt auch auch für Klavierspielen, d.h. nicht, dass man das Bewusstsein ausschaltet, aber da gibt eine ganz große Infrastruktur desen, was automatisch mit anspringt und das Bewusstsein kann sich auf die komplexen Besonderheiten konzentrieren. Musik: Klavier Roller O-Ton Roller Wenn ich sehr schnelle Passagen spiele, kann ich selbstverständlich nicht alle Töne sehen und das ist auch gar nicht notwendig. Ich hab da keine Prozentzahl, aber ich vermute mal, dass der allergrößte überwältigend größte Teil Propriozeption, also Körperwahrnehmung ist, die das organisiert. Ich denk keinesfalls an Tonnamen oder so, Abstraktionen. Sondern denk an einen melodischen Verlauf und ich hab sicherlich auchn Tastenbild mit im Kopf, das ist glaub ich direkt verschaltet, da spielen die assoziativen Bahnen bestimmt ne Rolle und dass ichs spielen kann, sind dann die Bereiche, wo automatisierte Motorik ne Rolle spielt, so wie Fahrradfahren, da denk ich ja nicht mehr an das Treten der Pedale, sondern ich 17 denk ans Ziel. So ist es hier auch: ich denk an das melodische, musikalische Ziel, will heißen, die Töne, die ich schon im Kopf abgespeichert hab. Musik: As time goes by (Intro drunterlegen) darüber O-Ton Altenmüller Ein weiterer Punkt, der für die Musik von großer Bedeutung ist, ist die Verbindung zwischen dem ersten Musikhören und der Emotionen. Musik: As time goes by (hoch) O-Ton Altenmüller (gekürzt) Diese Melodie ist ja ein Symbol für eine vergangene Liebesaffäre vor Jahren, Jahrzehnten vielleicht sogar, und die wird dann plötzlich wieder herausgeholt und dadurch entsteht, entfaltet sich ne ganze Lebensperiode, ein ganzes Lebensgefühl, in dieser Szenerie, vor den Leuten, die da eben mit dabei waren. Und das ist etwas, was Musik auch sehr gut kann, es kann uns an bedeutende Lebensmomente erinnern. (…)Das ist literarisch schon unglaublich gut beschrieben worden von dem Dichter Marcel Proust in „Die Suche nach der Verlorenen Zeit“. Da gibt es am Anfang diese Liebesgeschichte zwischen dem etwas wenn man so möchte ausgebrannten vermögenden Swann und einer jungen Frau, die sich kennenlernen bei einem bestimmten Violinstück. (…)Und plötzlich hört er diese Melodie wieder. Und dann schreibt er: es war, wie wenn (...) sich ein Dolch in sein Herz bohren würde, als er die Melodie hört und (...) die Narbe ist neu aufgerissen. (…) Genau, das ist die akustische Madeleine. Sprecher Zitat: Bevor noch Swann Zeit hatte zu begreifen und sich sagen konnte: es ist das kleine Thema von Vinteuil, ich darf nicht hinhören!, waren alle seine Erinnerungen aus der Zeit, da Odette in ihn verliebt war, getäuscht durch diesen flüchtigen Sonnenstrahl aus der für sie zurückgekehrten Zeit der Liebe aufgewacht und hatten sich pfeilschnell er- 18 hoben, um ihm mit Macht, ohne Mitleid für seine jetzige Unseligkeit, die vergessenen Strophen des Glücks zu singen. (Aus: Marcel Proust: Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit) O-Ton Assmann Die nächste Form ist die des sinnlichen Gedächtnisses. Es ist ja so, dass wir sehr viel mehr aufnehmen, als wir uns das bewusst machen. Also, das, was wir bewusst abrufen können, das sind Dinge, die wir uns in eine Form gebracht haben, die wir uns mal erzählt haben, die haben oft eine sprachliche, anekdotische Form gefunden, aber sehr viel Atmosphärisches ist in uns hinein geströmt und sitzt in uns fest, ohne dass wir das wissen. Musik O-Ton Assmann (gekürzt) Es kommt dann der Moment, wo wir das wissen und das ist, wenn der Sinnenreiz auftritt von außen wie ein Auslöser, wie ein Trigger diese Erinnerung wieder hochholt (…) und wir eigentlich mitten in diesem Moment wieder drin sind, es noch einmal erleben wie in einem zweiten Präsens.Das ist ein sehr spannendes Phänomen, um das sich Proust besonders gekümmert hat. Er spricht dann von der unwillkürlichen Erinnerung, das ist die, die wir nicht steuern können. Die können wir nicht willentlich kontrollieren, denn das ist etwas, das uns aufsucht und heimsucht: plötzlich springt es uns an. Musik-Akzent..... Ende O-Ton Keim Die Gehirnforschung ist soweit zu sagen, dass es sogenannte Areale im Hirn gibt, die eben die Emotionen speichern über so genannte Neuronen. Sprecher: Rebekka Keim, Psychologin und Aquatherapeutin. 19 O-Ton Keim Ich hab die Erfahrung, dass alte Traumata sich tief abgespeichern, also quasi in verschiedenen Schichten kann man sich das vorstellen, wie so ne Zwiebel, die verschiedene Schichten hat und je älter, desto tiefer sitzt es, wenn es nicht bearbeitet worden ist. Ängste, Schmerzen, verlieren wir ja nicht, das alles wird wirklich abgespeichert, als Information im Körper, wie in nem Computer. Und nur, wenn es nicht bearbeitet wird, also im Unterbewußtsein quasi vor sich hinbrodelt, dann wird es zur Störung. O-Ton Assmann Die einzige Möglichkeit des Vergessens besteht eigentlich im Erinnern selber, so paradox das klingt. Das Erinnern heißt in dem Falle, das Bewusstsein zuzuschalten, das Bewusstsein so zu aktivieren, dass es sich mit diesen tiefersitzenden traumatischen Erfahrungen verknüpft und damit einbettet in einen Zusammenhang, der dem Bewusstsein zugänglich ist in eine Geschichte, in eine Erfahrungsverarbeitung, die dann eben bedeutet: das war einmal, das ist nicht mehr. Sprecher Glück ist etwas Plötzliches. Ich kenne das Mundglück und das Kopfglück. Das Mundglück kommt beim Essen und ist kürzer als der Mund, sogar als das Wort „Mund“. Wenn man es ausspricht, hat es keine Zeit, in den Kopf zu steigen. Das Mundglück will gar nicht, dass man darüber spricht. Das pure Kopfglück gab es nie, weil in aller Munde der Hunger war. (Herta Müller: Atemschaukel, S. 245) O-Ton Assmann (gekürzt) Herta Müller beschreibt sehr anschaulich aus der Beoabchtung, was passiert, wenn ein Traumatisierter an den Ort zurückkehrt (…) wie der Körper physisch darauf reagiert. Sie beschreibt, dass er plötzlich völlig manisches Essverhalten gezeigt hat. Er, der damals permanent unter Hunger gelitten hat, daran hat sich der Körper am Ort erinnert und hat in dieser Weise nach so vielen Jahren diese Symptome noch einmal wieder gezeigt. Der Körper kennt kein „es war einmal“ (…) 20 Sprecher: Für mich ist das Essen auch 60 Jahre nach dem Lager eine große Erregung. Ich esse mit allen Poren. Wenn ich mit anderen Personen esse, werde ich unangenehm. Ich esse rechthaberisch. Die anderen kennen das Mundglück nicht, sie essen gesellig und höflich. Mir aber geht gerade beim essen das Einmalzuvielglück durch den Kopf, dass man im Kopf das Nest, im Atem die Schaukel, in der Brust die Pumpe, im Bauch den Wartesaal hergeben muss. Ich esse so gerne, dass ich nicht sterben will, weil ich dann nicht mehr essen kann. Ich weiß seit 60 Jahren, dass meine Heimkehr das Lagerglück nicht bändigen konnte. Es beißt mit seinem Hunger heute noch von jedem anderen Gefühl die Mitte ab. Mittendrin ist bei mir leer. (Herta Müller: Atemschaukel, s.o.) O-Ton Puttke Der Körper hat ja eine Erfahrung – und wenn ich z.b. mit geschlossenen Augen stehe und die Augen zumache, ist das genau der Moment, wo ich anfange darüber nachzudenken: wie stelle ich die Balance her und (…) im Tanz gibt es ein sehr schönes Wort, das heißt „Aplomb“. Aplomb heißt Standfestigkeit und das Schöne an diesem französischen Wort ist, dass es eine doppelte Bedeutung hat, sowohl eine moralische als auch eine physische. Ein besseres Wort für Tänzer als dieses kann es gar nicht geben. O-Ton Altenmüller Man nimmt an, dass diese hochautomatisierten Bewegungen, die man dann braucht beim Klavierspiel, beim Geigenspiel, beim Flötenspiel, beim Schlagzeugspiel, dass die in anderen Gehirnzentren abgelagert sind als während sie erworben werden, nämlich nicht in der Großhirnrinde, wo gewissermaßen bewusst die Programmierung erstellt wird, sondern dann im Bereich der Basalganglienschleife, das sind Zentren im Inneren des Gehirns, bei denen, wenn man so möchte, Routinen abgerufen sind und Routinen abgelegt sind. Unter Routinen versteht man komplexe Steuerprogramme, zum Beispiel das Tonleiterspiel am Klavier. Musik Klavier kurz Tonleiter 21 O-Ton Altenmüller weiter Eins zwei drei, eins zwei drei vier... so ist der Fingersatz. Und darüber denkt natürlich kein Pianist mehr nach, das kann der sich gar nicht leisten, sondern das ist in Netzwerken im Basalganglienbereich abgelegt. Und die steuern dann die Muskeln gewissermaßen unbewußt mehr oder weniger präzise an. Und weil diese Tätigkeiten sehr lange gelernt werden, sehr lange verfeinert werden, und weil die Basalganglien ein, wenn man so möchte, konservatives Hirnteil sind, die möchten gerne bewahren, was sie besitzen, weil sie das eben schon mal mit viel Aufwand mal früher gelernt haben, im Grunde genommen ist es ein Teil des Gehirns, der aus ner ganz anderen archaischen Episode, als wir noch Reptilien waren, Frösche waren, stammt, weil die Basalganglien eben konservativ sind, bleibt das eben ganz, ganz fest und dick drin. Musik: Didgeridoo O-Ton Assmann Der Mensch ist ja auch ein Tier im Sinne von Animal, ein Lebewesen und teilt sehr viele Eigenschaften und Grundlagen mit seiner Tierwelt, die ihn umgibt und diese Frage der Rudimente, das ist ja auch ein Darwinsches Konzept, dass wir in uns auch noch vieles, der Körper speichert ja noch Urgeschichte und Epochen, die Jahrtausende, viele Jahrmillionen zurückliegen. Musik: Didgeridoo O-Ton Assmann Das ist das, was im sogenannten Limbischen System gespeichert ist. Das ist wiederum etwas, was wir durch die Evolution in uns haben, das liegt sehr tief im Gehirn und ist sehr weit entfernt von dem frontalen Kortex, d.h. der Hirnregion, die sehr stark Bewusstsein, Sprache und Reflexion verarbeitet. Musik: Didgeridoo O-Ton Assmann 22 Und dieses limbische System hält 3 Überlebensprogramme, die in der Evolution ausgebildet worden sind. Wenn wir diese 3 Programme nicht hätten, hätte die Art gar nicht überleben können. Die haben wir immer noch und die kommen heraus, wenn alle Stricke reißen, wenn wir gar nicht weiter wissen, wenn unser Gehirn nicht mehr weiter weiß, dann kommen diese Urprogramme raus und diese 3 Programm sind entweder Aggression, wir gehen wild, aggressiv auf etwas zu oder wir ergreifen die Flucht, wir ziehen uns panisch zurück und die 3. Möglichkeit ist die Erstarrung, wir können gar nicht mehr weiter. Diese 3 Grundprogramme sind auch im Körper gespeichert. Das ist eben auch wieder Beweis dafür, dass die Menschen in einem Spannungsverhältnis leben, und nicht nur von ihrem bewussten Gehirn gesteuert werden, sondern auch von tieferliegenden Hirnregionen, an die sie normalerweise, wenn Sie bewusst leben, gar nicht dran kommen. O-Ton Adams Bei Gefahrensituationen ist es bei mir bislang immer so, dass der Kopf sehr stark mitgespielt hat, um die Situation immer sehr analytisch im Griff zu behalten. Es war eher so Richtung Erschöpfungserscheinungen, wo ich gemerkt habe, der Körper übernimmt bestimmte Funktionen. Sprecher: Philip Adams, Kletterer und Extrem-Bergsteiger. O-Ton Adams Da waren wir auch Bergsteigen, waren 17 Stunden unterwegs gewesen und sehr erschöpft, wir mußten uns beeilen, weil wir die Gondel noch bekommen mussten, wir mussten noch einen letzten Aufschwung hoch zur Gondelstation und das waren dann doch noch so 100, 200 Höhenmeter, die man überwinden musste. Und ich war am Ende, ich konnte gar nicht mehr. Und ich hab mich hingesetzt und dem Bergführer gesagt, so, für mich reicht es jetzt, ich würde gerne hierbleiben und ne Schneehöhle graben und dann kommt ihr mich morgen einfach mal holen. Und der meinte so, ein Minütchen in die Landschaft gekuckt und hat dann gesagt: Du, weisst du was, steh einfach auf und lauf. Du wirst schon merken, du kannst jetzt gehen. 23 (…) Und dann hab ich das auch gemacht. Und dann ging das. Und da war ich echt total erstaunt, weil ich gedacht hab, ich hab nix an Energie mehr in meinem Körper. Und dann geht dann doch noch immer was. Das ist dann doch so, dass der Körper tatsächlich sehr gut Sachen herholt, die Erinnerungen herholt, andere Sachen vielleicht abschaltet, damit man doch noch weitergehen kann. Sprecher: Mein Körper macht nur, was er will, macht Schmutz, Schweiß, Haar und Horn. Ich wasche und beschneide ihn, von hinten und von vorn. Mein Körper ist voll Unvernunft, ist gierig, faul und geil. Tagtäglich geht er mehr kaputt, ich mach ihn wieder heil. (Gedicht: Robert Gernhardt: Siebenmal mein Körper) Musik O-Ton Benecke Hallo ich bin Mark Benecke, ich bin Kriminalbiologe, das heißt, ich untersuche biologische Spuren, oft an Tatorten. Oft aber auch lange nachdem die Taten passiert sind. Im Zusammenhang mit kriminalistischen Fragestellungen. Und die biologischen Spuren, das sind Blut, Sperma, Haare, Speichel, Kot, Urin und Insekten. (…) Ich untersuche zum Beispiel Blutspuren auf genetische Fingerabdrücke, die kann man untersuchen für Vaterschaftstestfragestellungen, man kann es aber auch benutzen um zu fragen, wer hat irgendwo geraucht, wo ne Tat begangen ist und hat ne Zigarettenkippe dahingeschmissen und wer hat wo sein Haar gelassen, an ner Stelle, wo ein Schuss abgegeben wurde und wo jemand sein Leben gelassen hat. Musik 24 Sprecher: Unmittelbar nachdem Beethoven am Abend des 26. März 1827 gestorben war, schnitt seine Schwägerin, damaligen Gepflogenheiten entsprechend, eine Haarlocke vom Haupte des Dahingeschiedenen ab und übergab sie dem Grazer Komponisten Anselm Hüttenbrenner. Ca. 180 Jahre später ergaben Untersuchungen an eben diesen Haaren unter dem Elektronenbeschleuniger, mittels Energiedispersionssprektrometrie in einem Rasterelektronenmikroskop folgende Ergebnisse: Keine Opiate nachweisbar. Mittlere Bleikonzentration über 40mal höher als normal. Bislang war angenommen worden, Beethoven sei an der Geschlechtskrankheit Lues oder an seinem übermäßigen Alkoholgenuss gestorben. Die kritische Auswertung der umfangreichen Korrespondenz und der überlieferten Konversationshefte, insbesondere der Autographen, ergab in Verbindung mit dem Obduktionsbefund und einer chemischen Haaranalyse, dass der Komponist an einer chronischen Bleivergiftung litt. Diese führte schließlich zur tödlichen Leberzyrrhose mit einer Encephalopathia hepatica. Als Ursache hierfür ist zu belegen, dass die von Beethoven über Jahrzehnte bevorzugten billigen und süßen Weine seinerzeit mit Bleiverbindungen künstlich gesüßt und geschönt wurden. (Sächsisches Ärzteblatt vom 2. Quartal 1998.) Musik Sprecher: Vor ein paar Jahren hatte sie Probleme mit den Fußgelenken gehabt. Besonders nach längeren Strecken blieb ein unheilverkündender Schmerz, ein Reiben, das sich fast wie Rheuma anfühlte. Sie kaufte sich andere Schuhe und versuchte, die Füße in einem anderen Winkel anzusetzen, doch es nützte nichts. Schließlich, aus reiner Verzweiflung machte sie es genau umgekehrt. Sie hörte auf, an die Füße zu denken. Ließ den Beinen einfach freies Spiel, durch das Knie hinunter bis zum Knöchel. Kein Gedanke mehr an Winkel und den richtigen Fußansatz. Einfach gehen lassen, in gewisser Weise in sich hineinlauschen. Was wollt ihr, Füße? Wie wollen wir das hier machen? Voller Erwartung 25 spürte sie, wie das Gleichgewicht wiederkam. Die Fußgelenke stellten sich ganz automatisch ein und gleichzeitig ließ der Schmerz nach. Man sollte aufhören zu denken. Loslassen. Der Körper wusste selbst wie er laufen sollte. (Aus: Mikael Niemi: Der Mann, der starb wie ein Lachs. S. 200ff.) O-Ton Roller Ich hatte immer in der rechten Hand ein Schnelligkeitsproblem, vor allem zwischen Zeige- und Mittelfinger, (…) wahnsinniges Hindernis am Klavier, weil ein Finger immer im Weg hängt.. O-Ton Roller Ich hab bestimmte Dinge kompensiert auf ne ungünstige Art und diese Kompensationsbewegungen mußte ich mir abgewöhnen wieder. Und ich musste viele Schritte zurückgehen und erstmal ganz einfache Grundaktionen wieder lernen, wie ich zb ne ganz feine Bewegung machen kann mit wenig Spannung und wenig motorischer Arbeit, wenig Grobmotorik, ums mal genauer zu sagen. Sondern wirklich auf der feinmotorischen Ebene. O-Ton Roller Ich hab ganz ganz einfache Dinge getan, nur solche Dinge gespielt (spielt) O-Ton Puttke Das Umlernen ist insofern schwieriger, weil jeder Mensch hat in seinem Bewegungsgedächtnis natürlich Bewegungen abgespeichert, die er übrigens durch Aneignung erworben hat, auch genetisch, unser Bewegungsablauf ist in gewisser Weise genetisch bereits vorprogrammiert oder durch Sehen viuell, durch die Wirkung der Spiegelneuronen. Das ist ja eine ganz wichtige Entdeckung für den Tanz. Das heißt, dass, wenn Sie nur zuschauen, entsprechende Areale im Gehirn aktiviert werden und bereits Bewegungsabläufe speichern, ohne dass Sie es überhaupt wissen. Atmo Balletsaal Klavierspiel 26 O-Ton Puttke Es ist völlig klar, dass für den Tanz, wo wir von einem Bein aufs andere springen, von 2 Beinen auf 2 Beine, von 2 Beinen auf eins, von einem aufs gleiche, das Management, also der Transport des Zentrums des Schwergewichts des Körpers das A und O ist. Wenn Sie das nicht beherrschen, brauchen Sie über Stilistik, über Schönheit gar nicht zu diskutieren. Und daran ist an diesem Beispiel bereits zu erkennen, wie sehr wir beim Tanz, bei den Korrekturen an der Oberfläche bleiben, weil wir in der Regel fast nur Stilistik korrigieren, anstatt auf das Wesentliche erstmal zu sprechen zu kommen, wenn jemand nicht landen kann, dann brauch ich ihn nicht abspringen zu lassen. O-Ton Altenmüller Zum Beispiel jemand der Skisprung macht, der kann einfach nicht langsam die Schanze runterfahren, das geht nicht (…) das erfordert Imaginationstraining. Für den Musikunterricht gilt: Fingerbewegungen kann man langsam machen, aber wenns darum geht bei Streichern ein Lagenwechsel oder bei Bläsern z.B. ein Register zu überblasen, das muss schnell gehen, das muss mit Schmackes ablaufen. Langsame und schnelle Bewegungen sind unterschiedlich verschaltet.... O-Ton Altenmüller Das langsame Bewegen ist kontrolliert, geführt, wo meine Großhirnrinde realtiv genau Bescheidsagen kann: jetzt gehst Du dahin mit dem Finger, jetzt spürst du dahin, das kann die Großhirnrinde schön sagen. Nur wenns dann ins Schnelle übergeht: dann brauchts einen anderen Modus. Und dieser Modus ist eben der Basalganglienmodus. Und deswegen kann man eben nicht alles, was man langsam kann so problemlos übertragen auf das Schnelle, leider nicht... O-Ton Altenmüller Ich sage immer: die Kunst zu üben ist festzustellen, in welchem Moment ich aufhören muß. Sprecher: 27 Sowie: Eckart Altenmüller. Flötist und Neurologe an der Musikhochschule Hannover, Leiter des Instituts für Musikerphysiologie. O-Ton Assmann Die Ausschaltung des Körpers geschieht im Fall der Schrift und das sind die Speichertechniken, die wir in den Archiven führen, die lassen den Körper hinter sich. Ich hab das mal „Exkarnation“ genannt, die Auskörperung. Sprecher: Aleida Assmann. Kulturwissenschaftlerin und Gedächtnisforscherin, Universität Konstanz. O-Ton Puttke Dieses völlig neue Lehrverfahren nennt sich DANAMOS, Dance Native Motion System, ein natürliches Bewegungssystem für den Tanz. Sprecher: Martin Puttke. Ehemaliger Tänzer und Ballettdirektor, Tanzpädagoge in Berlin und Sankt Petersburg. O-Ton Claudius Roller Üben heißt: kommt von dem althochdeutschen Wort „ob der acker“. D.h. Feld beackern und in Schuss halten. Das heißt nicht neu lernen, sondern das heißt eigentlich pflegen und beackern. Das ist die motorische Fähigkeit, ne. Sprecher: Claudius Roller. Pianist und Klavierpädagoge, Köln. O-Ton Schack 28 So ist es im Leben oft, in unserem täglichen Leben, dass wir auf Bewegungen zurückgreifen, ohne uns darüber klar zu werden, wie wir eine Tür öffnen, wie wir ein Glas greifen, wie wir trinken. Sprecher: Thomas Schack. Kognitions- und Bewegungsforscher, Universität Bielefeld. Und: Jelena Thiel, 17 Jahre alt, nach der 2. Fahrstunde: O-Ton Jelena Fahrstunde Vor allem Bremsen ist ein bisschen komisch. (...) Weil, mit einem Fuß bremsen, mit dem andern auch Gas. Hm. Und gleichzeitig auch noch die Kupplung treten. Issen büschen viel. Sprecher: Mein Körper kennt nicht Maß noch Dank, er tut mir manchmal weh. Ich bring ihn trotzdem übern Berg Und fahr ihn an die See. (Gedicht: Robert Gernhardt: Siebenmal mein Körper) Sprecher: Was sitzt das sitzt. Der Körper und sein Gedächtnis. Von Ulrike Burgwinkel und Simonetta Dibbern. Mit Texten von Pascal Mercier, Herta Müller, Mikael Niemi, Marcel Proust. Und Robert Gernhardts Gedicht: Siebenmal mein Körper. Sprecher Mein Körper ist so unsozial. Ich rede, er bleibt stumm. Ich leb ein Leben lang für ihn. Er bringt mich langsam um. (Gedicht: Robert Gernhardt: Siebenmal mein Körper) 29 Es sprachen: Jan Kämmerer und Walter Gontemann, Volker Banik Ton und Technik: Christoph Reiseberg und Beate Braun Regie: Uta Reitz. Redaktion: Klaus Pilger. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2010. ENDE 30