Hörenswert

Werbung
28 INSIDE FESTSPIELE HIGHLIGHTS
Hörenswert
Ohrenschmaus
In dieser Serie wollen wir Ihnen jeweils ein besonders anregendes Rezept aus
­aktueller Kochliteratur und ein ebenso anregendes Stück zeitgenössischer Musik
präsentieren, die sich unserer Auffassung nach besonders gut ergänzen.
DIE DIESJÄHRIGEN SALZBURGER FESTSPIELE haben Wolfgang Rihm einen „Kontinent“ gewidmet. Deshalb und weil
seine für Dirigent Ingo Metzmacher geschriebene und nun uraufgeführte Oper Dionysos die wohl größte Unbekannte dieser Spielzeit ist, wäre es ein großes Versäumnis, an dieser Stelle nicht über Rihm zu sprechen. Was aber
machen, wenn das neue, mit Spannung erwartete Werk noch nicht greifbar ist? Man beschäftigt sich mit jenen,
bereits bestehenden Werken, von denen man glaubt, sie könnten das Kommende ein wenig vorwegnehmen: Tutuguri und – nomen est omen – Ungemaltes Bild.
FOLGE 3
D A S U N G E M A LT E B I L D
■ „Irgendwo beginnen und schnell zum
entscheidenden Punkt kommen.“ So
schreibt sich jeder Artikel und so komponiert es sich auch: Zumindest, wenn
man Wolfgang Rihm heißt und meist
aus umfangreich zusammen getragenen
literarischen Quellen schöpft. Rihm – das
wird schnell deutlich, wenn man sich mit
ihm beschäftigt – ist ein Mann des Worts
und seine Stücke sind komplexe Annäherungen an die Literatur oder anderen
Künsten entlehnte Themen.
So dient Friedrich Nietzsches später
Gedichtzyklus
Dionysos-Dithyramben, den der selbst ernannte „Gott des
Rausches“ bereits in geistiger Umnachtung schrieb, als Ausgangspunkt für
Dionysos, seine mit Spannung erwartete, diesen Sommer in Salzburg uraufgeführte Oper. Wahnsinn und radikales
Schaffen in Reinkultur.
DER KOMPONIST
ALS VERBINDUNG
Den beiden „Ziehvätern“ Wolfgang Rihms –
Nono und Varèse – war bei den ­Salzburger
Festspielen bereits je ein „Kontinent“ gewidmet. Nun ist ihr gelehriger Schüler an der
Reihe.
Foto: Universal Edition / Eric Marinitsch
IFH_2-2010indb 28
In Ungemaltes Bild hingegen, das einer Schaffensperiode entstammt, in der
Rihm ganz im Gegensatz zu den groß
dimensionierten Werken, mit denen
er Anfang der 1970er-Jahre erstmals
von sich Reden machte, einer Art angewandtem Minimalismus huldigt, bezieht sich der profunde Kunstkenner auf
die kleinformatigen Aquarelle, die Emil
Nolde heimlich während seines Berufsverbotes malte, um sie später in Öl zu
übertragen – eine Analogie, die man an
manchen Stellen auch akustisch nachzuvollziehen vermeint, wenn komposito-
Text: Markus Deisenberger
risch dem Prozess des Malens nicht unähnlich Schicht für Schicht aufgetragen
wird. Überhaupt ist es – einem Arnulf
Rainer durchaus vergleichbar – das Prinzip seiner Musik, sich durch Überschreibung und Materialtransfer ständig neu
zu generieren.
So auch in Tutuguri, einem Poème
dansé, das sich auf ein gleichnamiges
Gedicht des schizophrenen Visionärs
Antonin Artaud bezieht. Es muss den
Komponisten wie ein Blitzschlag getroffen haben: „Beim ersten Lesen des
Artaud-Textes: Musikstrom, MusikSturz“, stammelt er da in seinen Notizen
sichtlich beeindruckt von der dunklen
Gewalt der artaudschen Poesie. Das Ergebnis seiner Beschäftigung mit diesem
rätselhaften Text schließlich ist „die Suche nach reflexhafter Musik, nach einem
Klang-Körper, dessen Zuckung und
Umformung Melos, Rhythmus und Farbe wird“. „Musikalisch bedeutet das“,
schreibt er weiter, „den Weg vom Stil in
den Klang, in den Vor-Ton.“
Entsprechend gibt es in Tutuguri lange, dem Spannungsaufbau geschuldete
Pausen, abrupte Wechsel, dynamische
Sprünge und plötzliche Ausbrüche:
Ein Trommelwirbel jagt den nächsten,
während sich der Ritus der schwarzen
Sonne vollzieht. Immer wieder wird
der Galopp der herannahenden Pferde
entweder durch Schlagwerk oder durch
Jo
15.06.10 18:59
Hörenswert INSIDE FESTSPIELE HIGHLIGHTS 29
„ICH BETRACHTE SOLCHE TEXTE [...] ALS GENERATIVES MATERIAL FÜR MICH
SELBST. ICH NUTZE SIE UND NUTZE DIE SPRÜNGE, AUF DIE SIE MICH BRINGEN.“
(Rihm über Artaud und Nietzsche)
stakkatoartiges in die Hände Klatschen
imitiert. Ein Pars pro Toto, denn nicht
nur hier ist Rihm mehr Lautmaler als
Formalist, was ihn auch stark von all
jenen Komponisten unterscheidet, die
bloß Zeitgenossenschaftsprogramme absolvieren, anstatt wirklich Lebendiges zu
erschaffen.
„Er schreibt erstaunlich tonal, sehr lyrisch und sehr emotional“, beschreibt es
dann auch Mojca Erdmann, der Rihm
nach seinem Monodram Proserpina
auch in Dionysos eine Hauptrolle zugedacht hat, treffend. Letztlich sei es ja
auch gerade diese Emotionalität, die den
Zuhörer anspreche, so die Sopranistin.
Emotionalität, die sich nur erzielen lässt,
indem der Komponist hinter sein Werk
zurück tritt und nur als Verbindung zu
einer Art Ur-Klang dient, den jeder Text
unweigerlich in sich trägt.
TEXTE ALS GENERATIVES MATERIAL
Auffallend ist, dass es, ob nun die Untergangspoesie eines Artaud, die heimlich
gemalten Bilder eines Nolde, die verzweifelte Lyrik des sterbenden Nietzsche
oder ... – die Liste ließe sich beliebig
fortsetzen, etwa mit dem von Leo Navratil behandelten Psychiatriepatienten
Ernst Herbeck, dessen Gedichte unter
dem Pseudonym „Alexander“ erschienen –, immer die dunklen Themen sind,
die Rihm gefangen nehmen. Und das
über Jahre oder Jahrzehnte hinweg, wie
Dirigent Ingo Metzmacher in seinem
für das Salzburger Festspiel-Magazin geschriebenen Artikel Dionysos zu berichten weiß. So habe ihn anfangs gewundert, dass Rihm so lange brauche, eine
Idee zu realisieren, die er schon Jahre mit
sich herumtrage. Als er dann aber sah,
Jonathan Meese mit seinem Bühnenbildmodell zu „Dionysos“
„Nietzsche vertonen ist wie in einen
Klangzusammenhang
hineinsingen“,
sagte Rihm schon vor mehr als zwanzig
Jahren, als er sich zum ersten Mal mit
der Idee trug, dessen Dichtung als Ausgangspunkt musikalischer Schöpfung
einzusetzen. Die Musik ist also schon
da, sie wird bloß erweckt. Und genau
das können wir auch von Dionysos
erwarten: Kein Handlungstheater im
herkömmlichen, konstruierten Sinne,
sondern „die Unbezogenheit der Teile in
unabänderlichem Zeitsog“, wie es Rihm
selbst einmal nannte.
Foto: Photography Jan Bauer/Courtesy
wie Rihm in Bergen aus Noten, Partituren, Büchern, Zeitungen lebt, habe er
verstanden. Denn obwohl Rihm von bestehenden Texten ausgeht, arbeite er nie
mit vorgefertigten Konzepten. Er taste
sich voran. Wenn nötig auch Jahre lang,
bis das Konzept endlich die Ausformung
erreicht, die seinem Schöpfer entspricht.
Die Langatmigkeit des Kompositionsprozesses hat Rihm selbst ironisch einmal so umschrieben: „Der tibetanische
Weise sagt, man muss auf der Stelle sitzen bleiben, um zu sehen, wie der Schatten um einen herumwandert.“ Und
wer lange sucht, der findet auch: Edgar
Varèses Stück Arcana etwa, das ihm anfangs der 70er-Jahre Erleuchtung brachte, den Weg Richtung eigenes Schaffen
wies und ihn der damals dominierenden
postseriellen Ästhetik eine neue Ausdruckskunst entgegensetzen ließ.
Zurück zu Artaud und Nietzsche: „Ich
betrachte solche Texte nicht als Kodifizierungsmaschinen, sondern als generatives Material für mich selbst. Ich nutze
sie und nutze die Sprünge, auf die sie
mich bringen“, sagt er andernorts. Dem
Bestehenden gilt es das Ambivalente,
metaphysisch Spekulative abzutrotzen
und daraus ein neues Angebot zu unterbreiten, das die Abgründe des Bewusstseins auslotet.
Ins eigene Fleisch lautet dann auch der
Titel eines Aufsatzes von 1978, in dem
der damals 26-jährige den Schaffensprozess als lustvoll-schmerzhaften Akt beschrieb. Eine weitere Parallele zum Ideengeber Nietzsche: „In eigenen Stricken
gewürgt, Selbstkenner! Selbsthenker!“,
heißt es in dessen Dithyramben, in dem
uns auch die Pferde aus Tutuguri wieder
begegnen: als Auslöser des Wahnsinns.
Denn Nietzsche soll, als er sah, wie ein
Droschkenkutscher in Turin sein Pferd
schlug, endgültig den Verstand verloren
haben.
Aber was um alles in der Welt haben die
beiden Rihm-Stücke Tutuguri und Ungemaltes Bild mit der Grillkunst eines
Johann Lafers zu tun? Ganz einfach: Tutuguri ist ein Poème dansé, ein getanztes
Gedicht also. Und was wenn kein ballettgleiches Vergnügen ist es, wenn
grillwütige Menschen (vornehmlich
Männer) um die Feuerstelle hampeln
wie dereinst die ersten Menschen, um
zu zeigen, dass auch sie die Kochkunst
beherrschen – rudimentär und mit den
Rezepten des Meisters kaum vergleichbar freilich, aber doch mit der lauteren
Absicht, etwas Handfestes auf den Teller
zu zaubern?
Und dann wäre da noch Ungemaltes
Bild. Sie ahnen schon, worauf es jetzt
hinausläuft: Ein Beistelltisch, auf dem
das zu Grillende in wenig attraktive
Grilltassen geschlichtet ruht, Saucen, die
bunten Farben gleich ihrer würzenden
Bestimmung harren. Und über all dem
liegt die rihmsche vibrierende Ruhe
aus dem gleichnamigen Stück und jene
leichte Nervosität, ob die Kohle denn
auch gleich Feuer fangen wird ... ein ungemaltes Bild eben.
C D - T I P P Wolfgang Rihm: „TUTUGURI POÈME DANSÉ“ + „QUID ES DEUS – UNGEMALTES BILD – FRAU/STIMME“
Beide: Hänssler Classic/Preiser Records
IFH_2-2010indb 29
15.06.10 18:59
Herunterladen