Staatsverschuldung in der ökonomischen Theorie Sebastian Voll Volkswirtschaftliches Seminar im Rahmen der Bildungsveranstaltungen der Hanns-Seidel-Stiftung 23.-25.01.2015, Wildbad Kreuth Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 1 1. Staatsfinanzen im Zeitablauf: Wieso wächst der Staat? 2. Staatsverschuldung: Gibt es „gute“ ökonomische Gründe? 3. Wie erklären Ökonomen „schlechte“ Verschuldung? Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 2 1. Staatsfinanzen im Zeitablauf – wieso wächst der Staat? 1 200 1 030 Mrd. € 1 000 800 600 x10 400 200 103 Mrd. € 0 1950 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 Staatseinnahmen, Mrd. Euro, Kaufkraft von 2010 Linear (Staatseinnahmen, Mrd. Euro, Kaufkraft von 2010) Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 3 1. Staatsfinanzen im Zeitablauf – wieso wächst der Staat? • 1) reales BIP-Wachstum 1950-2010: Faktor 7,5 • 2) Steigerung der Staatseinnahmenquote des BIP: Faktor 1,5 50 120 100 45 80 40 60 40 35 20 2010 2005 2000 1995 1990 1985 1980 1975 1970 1965 1960 1955 0 1950 30 Abgabenquote, % des BIP; Quelle: Bundesbank (links) reales BIP (Index), 2010=100, Statistisches Bundesamt, (rechts) Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 4 1. Staatsfinanzen im Zeitablauf – wieso wächst der Staat? Rein ökonomische Begründungen • Wagnersches Gesetz: (Adolph Wagner, 1893) • Technischer Fortschritt erfordert neue Bereiche der Staatstätigkeit Bereitstellung größerer Vielfalt versch. Dienstleistungen (Straßenbeleuchtung, Flughäfen, Bildung, Gesundheit…) dadurch steigende Staatsquoten Ökonomische Begründung zu wohlfahrtsstaatlicher Aktivität und Subvention (Bildung, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Umweltsubventionen, Forschungsförderung…) Brechtsches Gesetz : (Arnold Brecht, 1932) Bevölkerungsdichte als Ausgabentreiber Zusammenleben moderner Gesellschaften in Städten und Urbanisierung erfordert Mehrausgaben (Recht und Ordnung, Infrastruktur etc.) Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 5 1. Staatsfinanzen im Zeitablauf – wieso wächst der Staat? Politische Prozesse als Ausgabentreiber • Stimmentausch & Koalitionenbildung - Gordon Tullock Folge: „sparsame“ Mehrheit im Parlament wird überstimmt • Lobbying - Gary Becker, Mancur Olson • • Staatsausgaben sind oft Folge von Lobbying Je stabiler eine Nation, desto besser lernen Lobbygruppen, ihre Interessen zu artikulieren Anzahl und Macht der Interessengruppen wächst im Zeitablauf Bürokratietheorie - Wildavsky, Niskanen, Popitz, Brennan und Buchanan Behörden und Verwaltungen dehnen sich mit der Zeit aus: „Leviathan“ Dadurch Kostenanstieg und Wachstum des Staates Mehrheiten im Kabinett Ein einzelner Finanzminister vs. mehrere Fachminister Je mehr Fachminister, desto stärkere Ausgabensteigerungen Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 6 1. Staatsfinanzen im Zeitablauf – wieso wächst der Staat? Geographische Interessenvertretungen - Föderalismus • „Ein anderer zahlt die Rechnung“ (Weingast, Shepsle und Johnsen (1981)): Nutzen regionaler Projekte wird überschätzt wenn „Nachbarn“ Teil der Finanzierungskosten tragen dadurch Ausdehnung der Ausgaben im Gesamtstaat • „Dort oben hat jemand Geld – und die Nachbarn nehmen es sich doch auch“ (Besley, Coate (2003)): Zentralstaat verfügt über meisten Einnahmen unteren Ebenen über viele Aufgaben Zentralbudget ist demnach „Allmendegut“ und wird übernutzt • Wählerstimmen durch Bundesmittel (Mueller, 2003) Bundesebene kann durch regionale Projekte Wählerstimmen gewinnen dadurch Ausdehnung regionaler Projekte tw. zu Lasten bundesstaatlicher Aufgaben Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 7 2. Staatsverschuldung: gute ökonomische Gründe (1) Deutschland: Staatsverschuldung in % des BIP 90.0% 80.0% 70.0% 60.0% 50.0% 40.0% 30.0% 20.0% 10.0% Quelle: Verschuldung: statistisches Bundesamt, FS 14R5, BIP: SVR, ZR40; Verschuldung ab 2014 nach Vorgaben des europäischen Fiskalpaktes, Stand: November 2014 Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 8 2019 2016 2013 2010 2007 2004 2001 1998 1995 1992 1989 1986 1983 1980 1977 1974 1971 1968 1965 1962 1959 1956 1953 1950 0.0% 2. Staatsverschuldung: gute ökonomische Gründe (1) Begründung konjunktureller Defizite: • Antizyklische Fiskalpolitik: Keynes (1936) Kompensation des privaten Nachfrageausfalls in Konjunkturkrisen Problem des „halben Keynes“ • Einnahmenstabilisierung: Barro (1979) Schuldenaufnahme zur Kompensation von Einnahmeausfällen Empirische Untersuchung der USA und GB für 200 Jahre Problem: Schuldenanstieg seit 1960er Jahren nicht zu erklären Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 9 2. Staatsverschuldung: gute ökonomische Gründe (2) Begründung struktureller Defizite: • Investitionen: Lorenz von Stein (1878) „Goldene Regel der Fiskalpolitik“ Beteiligung zukünftiger Generationen an den Finanzierungslasten von Investitionen in dem Maße, in dem diese profitieren • Aufnahme der privaten Ersparnisse: Diamond (1965); von Weizsäcker (erneut 2012): hohe private Ersparnis kann vom privaten Sektor nicht aufgenommen werden bzw. führt zu niedrigsten Zinsen Staat muss daher Schulden aufnehmen, damit Ersparnis überhaupt angelegt werden kann Wichtig: gilt nur für Inlandsverschuldung Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 10 2. Staatsverschuldung: gute ökonomische Gründe (3) Konjunkturelle vs. strukturelle Defizite, % des BIP 6 4 2 0 -2 -4 -6 -8 Quellen: RWI, 2012 ; BMF, 2013; SVR, 2013 konjunkturell bedingtes Defizit strukturelles Defizit Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 2001 2000 1999 1998 1997 1996 1995 1994 -10 tatsächlicher Finanzierungssaldo strukt. Def. BMF 11 2. Staatsverschuldung: gute ökonomische Gründe (3) Investitionen vs. Defizite, Mrd. Euro 200.0 150.0 100.0 50.0 0.0 Quelle: Statistisches Bundesamt (2013), FS 18, Reihe 1.5 -50.0 Bruttoinvestitionen (-)Finanzierungssaldo • Positiv: im Durchschnitt Investitionen = Verschuldung • Aber: Nettoinvestitionen? Ertragswert der Investitionen (Abschreibungen und Zinsen?) Eigenbeteiligung? Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 12 2. Staatsverschuldung: gute ökonomische Gründe (3) 25.0 20.0 15.0 10.0 5.0 Quelle: Statistisches Bundesamt (2013), FS 18, Reihe 1.5 2012 2010 2008 2006 2004 2002 2000 1998 1996 1994 1992 1990 1988 1986 1984 1982 1980 1978 1976 1974 1972 1970 0.0 Volkswirtschaftliches Sparen in % des verfügbaren Einkommens Sparen der privaten Haushalte in % des verfügbaren Einkommens • Sparquoten des privaten Sektors steigen nicht dauerhaft • Langfristiger Trend: leicht sinkende Sparquoten (in allen Industrieländern) • Dabei aber: zyklische Entwicklungen Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 13 2. Staatsverschuldung: gute ökonomische Gründe (4) Zwischenfazit • • es gibt tatsächlich gute Gründe für Staatsverschuldung diese erklären aber nicht, wieso der Staatsschuldenstand stetig weiter steigt, denn: 1. konjunkturelle und antizyklische Defizite sollten sich im Zeitablauf mit konjunkturellen Überschüssen ausgleichen 2. Defizite, die auf der „goldenen Regel“ der Fiskalpolitik beruhen, sollte in der langen Frist zu Mehreinnahmen führen 3. Seit 1960 sinkende private Sparquote rechtfertigt keine Staatsverschuldung Wie erklären Ökonomen die dauerhaft zu hohe Neuverschuldung sonst? Ökonomische Theorie der Politik Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 14 3. „Schlechte Schulden“: ökonomische Erklärungen Fiskalillusion – Irrationalität der Bürger • Amilcare Puviani (1897), J. Buchanan (1977): o Wähler überschätzen Nutzen der (kreditfinanzierten) Staatsausgaben o Unterschätzen aber zukünftige Steuerlasten Irrationalität o Probleme dieser Theorie: 1. Unplausibel, warum die Wähler ständiger Fehleinschätzung unterliegen Psychologie: „rationale Ignoranz“ 2. Hoffen die einzelnen Bürger, sich der Rückzahlung entziehen zu können? 3. Wieso tritt Fiskalillusion anscheinend erst ab 1970 auf? 4. Wieso nicht in allen Ländern gleichermaßen? Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 15 3. „Schlechte Schulden“: ökonomische Erklärungen Intergenerationale Verteilung – Der Irrtum der Eltern • Paradoxon: – Eltern und die ganze Gesellschaft vererben i.d.R. positives privates (Netto-) Vermögen – Aber die (relative) Staatsverschuldung erhöht sich mit steigendem Wohlstand ebenfalls poliitische Wahl der Eltern passt nicht zu privatem Handeln • Zukunftsoptimismus: (Cukierman und Meltzer (1989)): „Arme“ Eltern erwarten ein Wachsen der Wirtschaft in der Zukunft: den Kindern geht es viel besser als ihnen selbst Der Schuldendienst in der Zukunft ist für Kinder daher leichter möglich als Sparen der Eltern heute Problem: Wieso steigen die Schulden seit 1970, während die Wachstumsraten sinken? Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 16 3. „Schlechte Schulden“: ökonomische Erklärungen Parteienwettbewerb, Wählerpolarisierung und Unsicherheit • International ist zu beobachten, dass diejenigen Länder höhere Schulden haben, in denen: häufige Regierungswechsel stattfinden Wählerschaft stark polarisiert ist • „Reagan-Paradoxon“: (Persson und Svensson (1989), Alesina und Tabellini (1990)) Heutige Regierung betrachtet Staatsverschuldung als Mittel, um Handlungsspielraum der zukünftigen Regierung einzuschränken kann Schuldenaufnahme über viele Parteien erklären, auch bei „konservativen“ Parteien Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 17 3. „Schlechte Schulden“: ökonomische Erklärungen Verteilungskonflikte in Regierungskoalitionen • International ist zu beobachten, dass: Je länger eine Regierung an der Macht ist, desto geringer sind ihre Defizite Je höher die Anzahl der Koalitionsparteien ist, desto länger wird die Anpassung der Defizite verzögert • Wieso sparen auch konservative Parteien nicht?: Stellungskrieg der Gruppen Alesina und Drazen (1991) Ursache ist Parteienwettbewerb: diejenige Partei, die zuerst mit (hartem) Sparen anfängt, verliert die nächste Wahl Bei Wirtschaftswachstum wird nicht gespart – alle erfreuen sich an sprudelnden Mehreinnahmen Im Fall des Abschwungs: Kampf um verbliebene Mittel, kein Sparen Aufschub und Verstärkung der Schuldenproblematik • Wieso sparen Regierungen nicht, die aus Koalitionen bestehen?: Schwache Regierungskoalitionen: Drazen und Grilli (1993) Hoffnung auf alleinige Regierung nach der nächsten Wahl Um damit Kosten den anderen Wählergruppen aufzubürden Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 18 3. „Schlechte Schulden“: ökonomische Erklärungen Strenge des Haushaltsrechtes • Von Hagen (1992): Defizite sind geringer, je: o stärker die Position des Finanzministers im Haushaltsrecht o stärker die Prozedur des Haushaltsbeschlusses vorgegeben ist o geringer die Änderungsmöglichkeiten des Parlamentes an der Haushaltsvorlage o transparenter das Haushaltsrecht ist o wenn Parlament über den Haushalt als Paket statt über viele einzelne Punkte abstimmen kann o IWF (1997) In bundesstaatlich organisierten Nationen lässt sich beobachten, dass: o geringe wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Ländern: dezentrale Schuldenschranken ausreichend o Bei höherer Ungleichheit sind nur zentral beaufsichtigte Schuldenschranken wirksam o Einmalige Schuldenübernahme durch Zentralregierung verringert die Haushaltsdisziplin in der langen Frist Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 19 Fazit • Konjunkturelle und antizyklische Defizite lassen sich ökonomisch rechtfertigen • Erklären jedoch nicht den Anstieg der Staatsverschuldung seit 1960 • Dieser ist eher auf strukturelle Defizite zurückzuführen • Rein ökonomische Rechtfertigungen für diese Schuldenarten sind tw. umstritten • Und erklären auch die Höhe der strukturellen Defizite nicht • Der Ansatz der politischen Ökonomie kann den Anstieg der Staatsverschuldung aus dem politischen Prozess heraus erklären • Die wichtigste Schranke für Anstieg der Staatsverschuldung ist der institutionelle Rahmen siehe den Vortrag am Sonnabend Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 20 Dipl. Vw. Sebastian Voll - Staatsverschuldung 23.-25.01.2015 Wildbad Kreuth 21