„Deutschland und Europa neu denken: Wege aus der Staatsverschuldung“ Wirtschaftstag 2012 Wirtschaftsrates der CDU e.V. 12. Juni 2012 in Berlin Podium III - Sozialer Frieden ohne Neuverschuldung STATEMENT Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Kurt H. Biedenkopf Ministerpräsident a.D. Zum Zusammenhang von Sozialem Frieden und Neuverschuldung ein Beispiel. 1979 kam es zwischen dem damaligen Wirtschaftsminister Lambsdorff und mir als Sprecher der Opposition zu folgendem Dialog: Graf Lambsdorff hatte festgestellt, die Bundesrepublik benötige vier Prozent Wachstum. Auf meine Frage, warum vier Prozent, warum nicht zwei antwortete Lambsdorff sinngemäß: er halte das für eine wichtige Frage. Er könne jedoch eine andere Frage nicht beantworten. Ob zwei Prozent Wachstum ausreichend wären, den sozialen Frieden zu sichern. Zu dieser Zeit war es bereits üblich, „unzureichendes“ Wachstum durch staatliche Maßnahmen zu fördern und dafür Schulden aufzunehmen. Der Dialog läßt den politischen Zusammenhang zwischen Sozialem Frieden, Wachstum und Staatsverschuldung erkennen. Zuvor hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt bereits den Zusammenhang zwischen Geldvermehrung durch Staatsschulden und Sozialen Erfordernissen auf die Formel gebracht, ihm sei die Beseitigung der Arbeitslosigkeit wichtiger als die Geldwertstabilität. Bis heute hat sich an dieser Prioritätsbestimmung nichts Grundsätzliches geändert. Meine erste These: Die politische Praxis, nicht nur der Bundesrepublik, sondern grundsätzlich aller westlichen Staaten, geht davon aus, dass die Wahrung des sozialen Friedens die staatliche Förderung von Wachstum durch Staatsverschuldung rechtfertigt. Nun ist es fast unmöglich operational zu definieren, was unter „Sozialer Friede“ verstanden werden muss. In der politischen Praxis zeigt sich, dass es sich bei dem Begriff nicht um die Beschreibung eines stabilen Zustandes, sondern um ein politisches Ziel handelt, das prinzipiell nicht vollständig erreichbar ist. Der Zielcharakter verleiht dem Begriff seine Dynamik. Ihre politische Bedeutung bezieht sie aus dem politischen Einfluss der sozialen Besitzstände. Der wiederum nimmt in dem Maße zu, in dem weitere Gestaltungsbereiche mit sozialer Relevanz aus der persönlichen Gestaltungs-Verantwortung der Bürger in den staatlichen Regelungsund Gestaltungsbereich und damit indirekt in den Einflussbereich der sozialen Besitzstände übertragen werden. Mit der abnehmenden Bedeutung privatrechtlicher Organisation sozialer Risiken verringert sich auch der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen die Ausdehnung parternalistischer Angebote des Staates und staatlich beliehener Organisationen. Zugleich steigen die politischen Kosten, die mit dem Versuch einer Begrenzung der Expansionen staatlicher Zuständigkeiten verbunden sind. Im Prinzip halten in Europa alle wesentlichen politischen Parteien die politischen Kosten einer derartigen Begrenzung durch Verringerung der staatlichen Neuverschuldung – geschweige denn eines Abbaus der bestehenden Staatsschulden ohne Gefährdung der Geldwertstabilität – für unzumutbar. Versuche, die politischen Kosten im Rahmen der Eurozone durch gemeinsam ausgeübten Kontrollen zu vergemeinschaften, sind bisher gescheitert. Meine zweite These: Solange es nicht gelingt, den Kreislauf zwischen dem Ziel: Sozialer Frieden, Maßnahmen des Staates und der sozialpolitischen Besitzstände zur Gewährleistung der Zieles zum jeweiligen Zeitpunkt und Rechtfertigung staatlicher Verschuldung durch dieses Ziel aufzulösen, wird es nicht möglich sein, Sozialen Frieden ohne Staatsverschuldung zu gewährleisten. Meine dritte These: Für die gegenwärtigen europäischen Bemühungen um eine Stabilisierung des Euro bedeutet dies: Der Versuch, Stabilität im Sinne fiskalischer Begrenzungen und Sicherung des Geldwertes einerseits und Wachstum andererseits miteinander in einer Formel zu verbinden ist nur dann aussichtsreich, wenn unter Wachstum die Reform der im weitesten Sinne sozial relevanten Strukturen mit dem Ziel verstanden wird, die gegebenen finanziellen Möglichkeiten (ohne dauernde Staatsverschuldung) wirksamer einzusetzen. Die dafür notwendigen Reformen und Prioritätsveränderungen zu bewirken, ist auf allen staatlichen Ebenen mit hohen politischen Kosten verbunden. Ob sie unter den bestehenden Bedingungen der demokratischen Governance erbracht werden, ist ungewiss.