Rede zur Eröffnung des „Theater an der Wien“ als Opernhaus am 8. Jänner 2006 Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Musikfreunde, Das Zeitgeschichtejahr 2005 hat dem Europajahr und dem Kunst- und Wissenschaftsjahr 2006 Platz gemacht. Österreich führt im ersten Halbjahr den Vorsitz in der Europäischen Union und wird heuer auch die runden Geburtstage von zwei großen Persönlichkeiten feiern, die weltweit einen besonderen Stellenwert haben: Nämlich in wenigen Wochen den 250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart, und am 6. Mai den 150. Geburtstag von Sigmund Freud. Daher habe ich mir vor wenigen Tagen auch erlaubt, in der Neujahrsansprache darauf hinzuweisen, welch großen Stellenwert Kunst und Wissenschaft für uns nicht nur in der Vergangenheit hatten, sondern auch in Gegenwart und Zukunft haben und haben sollten. Zu diesem Stellenwert leistet die Stadt Wien einen großen Beitrag, wenn heute das Theater an der Wien in jener Funktion eröffnet wird, für die es vor mehr als 200 Jahren von Emanuel Schikaneder gedacht war: als eigenständiges Opernhaus, das dritte Opernhaus in Wien. Ich gratuliere zu dieser Entscheidung. Das legendäre Mozart-Ensemble in den Nachkriegsjahren 1945-1955 ist dafür ebenso Unterpfand wie die Tatsache, dass nach den Jahren der Schließung zwischen 1955 und 1962 eine neue „Zauberflöte“ als erste Vorstellung unter Karajan hier erklang. Das Theater an der Wien kann auf vieles stolz sein: hier ertönte das in Musik verwandelte Prinzip Hoffnung in Beethovens „Fidelio“, hier zog sich erstmals Grillparzers Ahnfrau in ihre Klause zurück. Aber auch die „Lustige Witwe“ von Franz Lehár begann ihren internationalen Siegeszug vor fast genau 100 Jahren an dieser Stelle! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Theater an der Wien wird nun als drittes eigenständiges Opernhaus in Wien zur Verfügung stehen; als Opernhaus mit einer eigenen Intendanz unter der Leitung des bisherigen Klangbogen-Chefs Roland Geyer, der sich schon seit Jahren mit einem sehr profilierten Opernprogramm bewährt hat. Sein erstes Jahr als Intendant wird in erster Linie dem Werk von Wolfgang Amadeus Mozart gewidmet sein. Nach dem neuen „Idomeneo“ am Mozart-Geburtstag werden u.a. „Cosi fan tutte“, „Zauberflöte“, „Don Giovanni“ und „Lucio Silla“ auf dem Spielplan stehen; also ein Großteil der Hauptwerke jenes genialen Komponisten, den man aus guten Gründen auch als einen der Begründer des modernen individuellen Lebensgefühls bezeichnen kann: Die Wochenzeitung ZEIT hat ihn schlicht und einfach als Revolutionär bezeichnet. Und deshalb möchte ich auch kurz auf eine Verbindung eingehen, die vielleicht nicht unbedingt auf der Hand, aber in diesem Jahr doch nahe liegt. 100 Jahre nach Mozart kam Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse zur Welt. Sigmund Freud hat sich selbst als einen unmusikalischen Menschen beschrieben und gemeint, dass eine von ihm „gebrummte“ Melodie von niemandem erkannt werden kann. Seine Tochter Anna hat diese Selbsteinschätzung später bestätigt, aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass ihr Vater dennoch Opern – darunter drei Mozart-Opern – besonders geschätzt habe, nämlich „Don Giovanni“, „Figaro“ und „Zauberflöte“. Und das ist möglicherweise kein Zufall: die faszinierende Aktualität und Allgegenwart von Mozart erklärt sich vielleicht auch aus der Tatsache, dass er viele Erkenntnisse der Moderne - und auch von Sigmund Freud musikalisch vorweggenommen hat. Sowohl „Don Giovanni“ als auch „Figaro“ oder „Die Zauberflöte“ sind musikalischer Ausdruck für Mozarts Sensibilität und für sein Lebensgefühl in der Zeit vor und während der Französischen Revolution, also einer Zeit gesellschaftlicher Umwälzungen mit bis heute andauernden Auswirkungen. Mozart betonte für die damalige Zeit sehr pointiert die Bedeutung des Individuums und seiner Gefühlswelten. Viele Figuren in seinen Opern stehen für das in Musik gesetzte Ringen des Verstandes mit der Gefühlswelt. Er widerstand der Versuchung, einfache Wahrheiten musikalisch „hinauszuposaunen“, sondern akzeptierte die Komplexität der beginnenden Moderne und die Vielschichtigkeit des Individuums. Daher kann er auch nicht vereinnahmt werden. Mozart gehört all denen, die Kunst und Musik lieben. Er war in erster Linie ein nach Kunst, Perfektion und Anerkennung suchendes Genie, das durch sein außergewöhnliches Sensorium die großen Fragen des modernen Menschen mit den Mitteln der Kunst aufgeworfen hat. Wien ist ein guter Ort, ihm zuzuhören und seine Botschaften in die Welt zu schicken. In diesem Sinne möchte ich mit dem Satz von Sigmund Freud schließen, der da lautet: „Die Stimme der Vernunft ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat!“ Mozart hat seiner Kunst Gehör verschafft und damit dem Individuum Gehör verschafft. Auch das Opernhaus „Theater an der Wien“ möge Gehör finden und Erfolg haben. Es ist hiermit seiner Bestimmung übergeben.