13 EINFÜHRUNGSREFLEXION 1. Globale Herausforderungen und Ethikforderung Der Globalisierungsprozess, der durch Wissenschaft und Technologie ermöglicht und sichtbar gemacht wurde, hat unsere Welt verkleinert und Veränderungen in allen Bereichen und auf allen Ebenen gebracht. So verschwindet in diesem „globalen Dorf“ nicht nur der zeitliche und räumliche Abstand, sondern Wissenschaft, Technologie und Wirtschaftsliberalismus herrschen, zwingen ihre Gesetze auf und bestimmen die Entwicklung von Gesellschaft und Individuum. Hinzu kommt, dass sich Wissenschaft und Technologie seit den letzten Jahrzehnten einander angenähert haben, um noch pragmatischer der Natur und den Menschen zu „dienen“. In Anwendung dieser neuen Pragmatik werden neue Perspektiven gesehen und auch dieselbe Sprache gebraucht.1 Das technisch-wissenschaftliche Wissen ist das Kennwort, das man braucht, um in diese neue Gesellschaft eintreten zu können und zu ihr zu gehören. Fast mutlos erleben wir diese „Diktatur“ der Technowissenschaften mit, in der die menschliche Freiheit eine ständige dialektische Konfrontation mit der Natur und ihrer Umwelt führt, ohne eine schlüssige Synthese zu erreichen. In der gleichzeitigen Offenheit und Verschlossenheit des Globalisierungsprozesses zeigt sich, dass nicht nur ein Zusammenbruch von Ideologien stattfindet, weil sie fortwährend scharfer Kritik ausgesetzt sind, es offenbaren sich auch unterschiedliche Probleme und vielfache Herausforderungen, die jedes rationale Wesen auffordern, sich selbst und den Prozess der Globalisierung in Frage zu stellen. Dies ist noch keine ethische Überlegung, auch wenn sie dazu führen kann. Es handelt sich um eine objektive Kritik, die der Homo technicus an sich selbst, an seiner Forschung und ihren Ergebnissen ausüben müsste. 2 Es bleibt die Frage, ob diese Reflexion im technisch-wissenschaftlichen Bereich tatsächlich vollzogen wird. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts zeigt, dass diese Reflexion oft vernachlässigt, nicht vollzogen wurde (und wird), weil die Ergebnisse, die man braucht und die man sich wünscht, wegen ihrer Dringlichkeit diese Reflexion verhindern. Wenn man einerseits den Taumel und den technologi1 2 Alle sprechen von Freiheit, Industrie-, Technologie-, Wirtschafts-und Wissenschaftsfortschritt. Mit dieser These nehme ich bloβ an, dass die Notwendigkeit des (selbst-) kritischen Nachdenkens alle rationalen Lebewesen angeht. Ob alle Betroffenen in der Lage sind, darauf einzugehen und zu debattieren, ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. 14 schen Fortschritt betrachtet und andererseits die Folgen und Nebenfolgen, die technologische Neuerungen nach sich ziehen, dann versteht man, wie notwendig diese Reflexion ist, um die „Romantik“ der Technologie in Frage zu stellen. Die erste Herausforderung bei dieser Reflexion geht den Menschen selber an. Nennen wir sie anthropologische Herausforderung, weil sie das menschliche Wesen berührt. Wichtig ist, auf den engen Zusammenhang zwischen dem „Projekt der Moderne“ und dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt hinzuweisen. Diese Verbindung ist auf das Wohl des Menschen ausgerichtet; sie weckt in ihm die Fähigkeit, sein „Dasein-in-der-Welt“ wahrzunehmen und weiter zu entwickeln. Dieses Bewusstsein bewirkt gleichzeitig die Fähigkeit zur Freiheit, die ihm hilft, sich als autonomes Subjekt zu erkennen, die mythischen, religiösen Moralvorstellungen abzulegen und sich institutionellen Einflüssen zu widersetzen. Diesen Menschen ist bewusst, dass die Gesellschaft sich selbst „regeln“ muss. Die liberale Gesellschaft existiert unter der Maxime der Freiheit jedes einzelnen Menschen. Jeder erlässt sein(e) Gesetz(e). Diese negative Freiheit will, dass jedes Individuum sein eigenes Interesse verfolgt. Darum versucht man, sich nicht in die Freiheiten der anderen einzumischen. Jede Einschränkung der Freiheit wird als ein Übel betrachtet, das man bekämpfen muss. Dieses Bewusstsein, sein Schicksal in die Hand nehmen zu müssen, ist ein aufrichtiges und typisches Charakteristikum, das den Menschen und seine Gesellschaft heute beeinflusst und prägt. Diese Prägung zeigt sich nicht nur auf der psychologischen Ebene. Die Technowissenschaft strukturiert positiv und negativ unser ganzes Leben und unsere Gesellschaft. So hat z.B. das menschliche Leben mit der Biomedizin dadurch viel gewonnen, dass Krankheiten, die jahrhundertelang unheilbar zu sein schienen, heute heilbar geworden sind. Auch wenn der Sieg noch nicht vollkommnen ist, hat sich jedoch die menschliche Lebensqualität sehr verbessert und somit die Lebenserwartung deutlich erhöht. Allerdings werden wir trotz dieser positiven Veränderungen, die der neue wissenschaftliche Geist uns liefert, noch mit vielen Fragen konfrontiert. Dies zeigt, dass wir das technowissenschaftliche Gebiet vorsichtig und kritisch betreten müssen, zumal immer deutlicher zu erkennen ist, dass Technologie und Wissenschaft unser Leben nicht nur verbessern, sondern es auch aufs Spiel setzen. So bemerkt Paul Audi mit Recht, dass die Menschen in andere Unsicherheitsfaktoren geraten seien.3 3 Vgl. AUDI, P., Supériorité de l’éthique, Paris, Flammarion, 2007, S. 17. Dieser Autor formuliert seine beängstigende Anfrage so : „Or, cet homme qui reste en souffrance de lui-même, cet homme qui laisse tant désirer, ne demeure-t-il pas d’abord, à ses propres yeux, tout aussi incertain qu’il ne l’était auparavant “? 15 Nach den bisherigen Darlegungen wird deutlich, wie die individuelle Autonomie, die die liberale Gesellschaft hervorgebracht hatte, auch eine Art von Dualismus zur Folge hat, dem der Mensch unterliegt: einerseits Determinismus, andererseits freie Entscheidung.4 Es ist leicht zu beobachten, dass der Mensch beeinflussbar ist bis in die kleinsten Details seines Menschseins hinein. Denken wir nur an den gesteuerten Einfluss der Medien, die auf die Psyche des Menschen ausgerichtete Werbung der Wirtschaft oder anderer gesellschaftlicher Gruppen. Trotzdem bleibt der Mensch der Unbekannte, offen für alle Experimente zur angeblichen Verbesserung seines Lebens. So erhebt sich die Frage: Ist der Mensch wirklich als Subjekt oder eher als benutztes Objekt zu betrachten? Wenn diese anthropologische Herausforderung auch eher auf einer mikrokosmischen Ebene gedacht werden muss, drängt sich der Gedanke auf, dass sie, auf eine Makroebene gehoben, zur Herausforderung in einer „neuen Weltordnung“ werden kann. Dies zeigt sich im Kampf von individuellen und kollektiven Freiheiten und auch bei der Suche nach gerechten Organisationen und Institutionen. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, ob von diesen Institutionen und Organisationen tatsächlich alle Menschen als „gleichberechtigt“ betrachtet und beachtet werden. Bergen die neuen Technologien mit dem ambitionierten Ziel einer universellen Kultur nicht auch die Gefahr in sich, auf andere Völker oder Kulturen übermäßigen Einfluss zu nehmen oder sie gar zu beherrschen? So stellt sich die neue Weltordnung dar als eine, von der die einen profitieren und andere nicht. Der Blick in unsere Zeit macht die Problematik dieser Fragestellung und Reflexion noch deutlicher: Wir müssen mit Bitterkeit feststellen, dass die globale Gesellschaft, zu der die Technowissenschaften uns führen, eine gespaltene Welt bleibt. Wir erleben das Entstehen von neuen Blöcken zwischen Völkern, Kulturen und Nationen. Einerseits gibt es Menschen, die fast über das gesamte Wissen unserer Zeit verfügen; daneben stehen die vielen, denen es an jedem Wissen mangelt; es gibt Gruppen, die produzieren, während die anderen nur konsumieren. Es gibt solche, die mit der liberalen Wirtschaft große Gewinne machen, und andere, die immer verlieren, weil sie die Gesetze des Marktes nicht beherrschen. Diese unvollständigen Beispiele zeigen, dass die Herausforderung an eine neue Weltordnung sich nicht nur auf ökonomische Aktivitäten beschränkt, sondern auch auf spirituelle, kulturelle, religiöse Einstellungen Einfluss hat, und den Einsatz auf dem Gebiet gegenseitiger Beziehungen einschließen muss. Die Mechanismen des Globalisierungsprozesses, in Gang gesetzt durch die Technowissenschaften, sind nicht immer leicht zu 4 Auch wenn dieser Dualismus nicht im klassischen Sinn gedacht werden darf, ist er immerhin im praktischen Leben wahrzunehmen. 16 entschlüsseln. Die Konsequenzen aber sind evident. Die Perspektive des menschlichen Subjekts und seiner Umwelt haben sich tief verändert. Der Mensch und die Natur werden vor allem als Objekte wahrgenommen, und die menschliche Freiheit ist verknüpft mit den Technowissenschaften. Die Natur verlangt wegen ihrer Verletzlichkeit einen Einsatz, der sichtbar macht, was aus ihrem Wesen und ihrer Symbolik geworden ist, während das funktionale Denken fragt, was die Natur noch an Ressourcen anzubieten hat und wie lange sie das noch tun kann. Wenn der Einsatz für die Umwelt besondere Merkmale für Ethik und Politik vorgibt, weist er auf die ökologischen Folgen des funktionalen Denkens hin und rückt die Frage des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit, besonders für die kommenden Generationen, in den Vordergrund der Überlegung. Der Einsatz für die Natur, der die ökologische Herausforderung als Grundlage hat, wird wegen der Enthüllung dramatischer Folgen von mehreren Beobachtern als wichtigste Herausforderung des 21. Jahrhunderts eingeschätzt. Es ist zu fragen: Was bedeutet grundsätzlich der Diskurs über die oben angeführten Herausforderungen? Man kann die Geschichte des letzten und dieses Jahrhunderts anhand von drei Parametern beschreiben: (i) die anthropologische Herausforderung mit ihrem Schwerpunkt der menschlichen Freiheit, die wir von der Moderne geerbt haben; (ii) die neue Weltordnung durch den Einfluss des technowissenschaftlichen Fortschritts; (iii) der demokratische Geist mit gerechten Institutionen, den die liberale Gesellschaft fordert. Um die Herausforderungen annehmen oder sie zurückweisen zu können, ist der Beitrag von uns allen und allen wissenschaftlichen Disziplinen gefordert. Dieser interdisziplinäre Einsatz bedarf ethischer Normen. Mit der Ethik taucht wieder die traditionelle Frage des Wohlstands, des guten Lebens und des Tuns mit noch mehr Beharrlichkeit und Entschlossenheit auf. Die Neuheit der Fragestellung zwingt uns, über die vergangene Epoche hinaus zu gehen. 5 Die hier geforderte Ethik, die den Versuchungen der menschlichen Freiheit, dem technowissenschaftlichen Fortschritt und der Gefährdung der Natur zu widerstehen hat, steht auf den ersten Blick und Audis Interpretation zufolge nicht im Gegensatz zum interdisziplinären und dialogischen Geist, den wir oben angedeutet haben, da sie die Moral und die Politik ausschließt. Der Dialog zwischen Ethik und Naturwissenschaften, den auch Karl-Otto Apel vorschlägt, ist der einzige Weg, wenn Ethik - aber auch alle anderen Disziplinen - 5 Bei Paul Audi ist diese Fähigkeit schon ein Kriterium der Unterscheidung zwischen Moral und Ethik (S. 18). 17 eine wichtige Rolle spielen möchten in der Auseinandersetzung mit der ökologischen Krise.6 Bei der Betrachtung dieser Problematik der Dialektik zwischen Moral und Ethik geht es nicht darum, die klassische und ständige Debatte ihrer Konvergenz und Divergenz nachzuholen und weiter zu führen. Ich stimme mit denen überein, die, auch wenn sie die beiden Begriffe trennen, eine Beziehung beider zueinander beibehalten. Es ist meines Erachtens richtig, die früheren Normen, die vorhanden waren und Moral fixierten, und ihre spätere Auffassung, die die Ethik materialisierten, in Einklang zu bringen. Die beiden Bereiche sind durch einen dritten verbunden, den Normenbereich. Evident ist, dass die Ethik die Frage nach der Möglichkeit einer Moral stellt, an der der Mensch sein Leben und Handeln rational orientieren kann. Es scheint, dass sich diese Frage auf die Normen konzentrieren muss, die der Handelnde (Akteur) für diese Lebens- und Handlungsorientierung berücksichtigen soll. Manchmal wird das Individuum mit einem Kriteriumsvakuum in konkreten (aporätischen) Situationen konfrontiert. Im Hinblick auf die Verantwortung wird die ethische Frage zum permanenten Verweis auf die eigenen Taten – die begangenen und die unterlassenen – und auf die Konsequenzen, die diese Taten mit sich bringen können. Dies führt zu dem, was einige Ethiker „Gespür“ nennen; eine Art Entdeckung, worum es eigentlich in diesen Taten geht. Wir aber müssen uns mit der Realität auseinandersetzen: Hinsichtlich unserer Problematik, d.h. der Faktoren, die das menschliche Leben und die Natur negativ beeinflussen, stellt sich die Frage, ob die Ethik fähig ist, die Herausforderungen dieser negativen Faktoren anzunehmen. Das ist die entscheidende Frage, der wir uns stellen müssen. Die Erfahrung der Technologiefolgen und der ökologischen Krise ist uns allen präsent. Die Ethik aber ist aufgefordert, der Gesellschaft die normativen Orientierungspunkte vorzulegen. Dieser Auftrag kann nicht lokal oder regional begrenzt sein, sondern muss, weil die Probleme universell sind, ihrerseits universell sein.7 6 7 Vgl. APEL, K.-O., „Das Problem der Begründung einer Verantwortungsethik im Zeitalter der Wissenschaft“, in BRAUN, Ed. (Hrsg..), Wissenschaft und Ethik, Bern, Peter Lang, 1986, S. 11. Die philosophische Absicht, um einen globalen Konsens durch das ethische Handeln zu finden, äußert sich nach und nach und wird eine Realität. Heutzutage vertreten viele Autoren diese globale Ethik, die Gläubige und Nichtgläubige einschließen möchten. Im deutschsprachigen Raum ist der katholische Theologe Hans Küng, der Vertreter dieser Diskussion. Siehe von ihm unter anderen: Projekt Weltethos, 11. Auflage, München, Piper, 2008 ; Ja zum Weltethos, 2. Auflage, München, Piper, 1996. Über das Thema, sehe auch: PARLAMENT DER WELTRELIGIONEN, Erklärung zum Weltethos, Chicago, 1993; BURGER, R./ 18 Die Frage stellt sich aber: Ist die angewandete Ethik, insbesondere die ökologische Ethik, imstande, neue, umfassende Normen vorzulegen für das Verhältnis zwischen Vernunftwesen und der Natur und der Technowissenschaften und der Natur? Hier muss man optimistisch bleiben. Trotz aller realen Schwierigkeiten, auf die gegenwärtigen Herausforderungen und auf unsere Frage eine geeignete Antwort zu finden, versucht die ökologische Ethik – bei all ihrer Jugendlichkeit - normative Kriterien anzubieten. Wir gehören zu denen, die diese Überzeugung und diese Hoffnung teilen. 1.2. Hans Jonas und die ökologische Ethik Das von Jonas 1979 veröffentlichte Buch Das Prinzip Verantwortung machte ihn bekannt und initiierte gleichzeitig die philosophische und ethische Diskussion über die Ökologieproblematik, zumindest in der deutschsprachigen Welt. Wie er selbst in seinem Buch Erinnerungen sagt, beginnt mit diesem Spätwerk seine dritte Beschäftigungszeit als Intellektueller und Denker (1966-1993)8 nach der Gnosisforschung (erste Beschäftigungszeit 1928-1945) und der Philosophie der Biologie (zweite Phase 1945-1966).9 Zweifellos stellt die Ethik den Höhepunkt seines Schaffens dar. 10 Das opus magnum und alle anderen Werke, die kurz zuvor oder darauf (bis zum Tod von Jonas am 5. Februar 1993)11 veröffentlicht wurden, legen die Reaktion und die Antwort auf die Herausforderungen der heutigen Gesellschaft dar, welche vom technowissenschaftlichen Geist beherrscht ist.12 8 9 10 11 12 BREZOVSZKY, E.-P./PELINKA, P. (Hrsg.), Ethikglobal. Illusion oder Realität. Mit einer Einleitung von Benita Ferrero-Walbner, Wien, Czernin, 1999. Als das Buch 1979 veröffentlicht wurde, war Hans Jonas 76 Jahre alt. Das ist auch einer der Gründe, warum er auf seine Muttersprache zurückgreift, um das Buch schneller und einfacher zu schreiben. Wir schlagen diese Datierung vor, um die drei Denkperioden chronologisch anzusiedeln. JANSOHN, H., „HANS JONAS. Verantwortung für Gott und die Welt“, in HENNIG, J./ JANSOHN, H. (Hrsg.), Philosophen der Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt, WBG, 2005, S. 69. Einige Tage vor seinem Tod ist Jonas noch nach Italien gereist, nach Percoto bei Udine zur Verleihung des premio Nonino am 30. Januar 1993. Bei dieser Gelegenheit hielt er die Rede unter dem Titel ‹‹ Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung. Ein Vermächtnis ››, in Hans Jonas, Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, Herausgegeben von Dietrich Böhler, Münster, Lit. 2005, S. 143-149. Siehe unser letztes Kapitel, das eine kurze vorbereitende Geschichte dieser Änderungsperspektive schildert. Aber man muss zugestehen, dass bei Jonas das Terrain der praktischen Vernunft immer mit der reinen Vernunft verbunden geblieben ist. 19 Angesichts des egoistischen Utilitarismus, in den diese neue hochtechnische Zivilisation geraten ist, angesichts der Utopie einer idealen Welt und Menschheit in der Zukunft, angesichts des Nihilismus, der die Natur an sich gerissen hat, schlägt Jonas die Verantwortungsethik als eine der Varianten der ökologischen Ethik vor. Im Rahmen der Umweltethik als angewandter Ethik, die sich auf die moralische Begründung von Umweltschutz und Umweltrestaurierung fokussiert, wird die moralische Verantwortung, die prinzipiell und imperativ formuliert wurde, zur ethischen Richtlinie, wie man einerseits sein Handeln mit den technowissenschaftlichen Folgen und Nebenfolgen vollziehen und wie man andererseits mit der Natur verantwortlich umgehen kann. 13 Davon ausgehend sind die Technowissenschaften Jonas zufolge auf keinen Fall neutral. Auch die Natur ist nicht wertneutral. Das Vernunftwesen soll die in der Natur bestehende Axiologie (Wertfähigkeit) entdecken und dafür Verantwortung übernehmen; das ist metaphysisch begründet und folgt einem epistemologischen Verfahren, das die Angst vor Katastrophen in den Vordergrund setzt. Diese entfaltet sich auf der Ebene der Heuristik. Die Grundlage für Verantwortung ist die „kausale Macht“ des Subjekts als conditio sine qua non. Und Jonas betont: „Der Täter muss für seine Tat antworten: er wird für deren Folgen verantwortlich gehalten und gegebenenfalls haftbar gemacht.“14 Die „Zurechnungsfähigkeit“ ist eine Imputatio causalis; sie stellt die Verantwortung auch in einen rechtlichen Zusammenhang (Imputatio Juris). Die Imputatio causalis muss die Kausalität für sich in Anspruch nehmen. Die Macht des Menschen hat nun die Möglichkeit zu objektivieren und sich im Dialog mit dem subjektiven Willen zu binden. So kann ein Verantwortungsgefühl entstehen, das fähig ist zu einem konkreten Handeln (Imputatio Facti). Diese Imputatio causalis und Macht stellt Jonas so vor: „Die Sache wird meine, weil die Macht meine ist und einen ursächlichen Bezug zu eben dieser Sache hat. Das Abhängige in seinem Eigenrecht wird zum Gebietenden, das Mächtige in seiner Ursächlichkeit zum Verpflichteten. Für das so ihr Anvertraute wird die Macht objektiv verantwortlich und durch die Parteinahme des Verantwortungsgefühls affektiv engagiert: in dem Gefühl findet das Verbindliche seine Verbindung, zum subjektiven Willen.“15 Unabhängig vor der Imputatio causalis oder der Imputatio facti bleibt Verantwortung ein Begriff, der eine Beziehung (Relation) bezeichnet. Diese Be13 14 15 Vgl. LIGHT, A., „Environemental Ethics “, in BCP, A Companion to Applied Ethics, herausgegeben von R. G. Frey et Christopher Heath Wellman, Malden-Oxford-Melbourne-Berlin, Blackwell Publishing, 2003, S. 633. Sehe auch D. Birnbacher „Mensch und Natur. Grundzüge der ökologischen Ethik“, in BAYERTZ, K. (Hrsg.), Praktische Philosophie, Hamburg, Rowohlt, 1991, S. 279. JONAS, H., PV, S. 172. Ibidem, S. 175. 20 ziehung verstärkt sich entsprechend der Ausdehnung (dem Anwachsen) von Macht. So äußert sich auch Virginie Schöfs.16 Diese Auffassung von Verantwortung schließt alle Bereiche von Reziprozität (Gegenseitigkeit) aus, wenn sie im Hinblick auf künftige (potenzielle) menschliche und/oder nichtmenschliche Wesen die anthropozentrische Vorstellung hinterfragt; denn diese künftigen Wesen können auf Recht- und Pflichtkategorien von Vernunftwesen ja nicht reagieren. Dieser Reziprozitätsmangel stärkt in der Tat die Frage nach einer fernen Zukunft, weil die Folgen der Technik sich auch in Raum und Zeit ausbreiten. Es ist ersichtlich, dass der Verantwortungsbegriff nicht nur in die Vergangenheit verweist, d.h. auf begangene Taten, sondern verstärkt und auf fundamentale Weise in die Zukunft, d.h. auf die Folgen und Nebenfolgen, die in einer fernen Zukunft auftreten können.17 Darum ist jene Dauerverantwortung eine Freiheitsergänzung oder wie Jonas selbst betont „(…) das moralische Komplement zur ontologischen Verfassung unseres Zeitlichseins.“18 Bei dieser Zukunftsperspektive handelt es sich um den Versuch, ein ontologisches Gesetz für die kommenden Generationen zu erstellen und die Umwelt, in der sie leben müssen, zu schützen. Insgesamt beschäftige ich mich in dieser Studie mit der bisher entwickelten Auffassung der ökologischen Ethik, d.h. der Verantwortungsethik, die der spätere Jonas vertrat.19 Demnach umfasst die Problematik die dritte Zeitperiode und besonders das Opus magnum, ohne die biologische Philosophieforschung und die bioethische Perspektive, die in dem Anwendungswerk (Technik, Medizin und Ethik)20 vorkommt, zu ignorieren. Um die Voraussagen und Warnungen dieses Werkes – Das Prinzip Verantwortung - zu erklären: in der Tat wird das Werk Prinzip Verantwortung in diesem Jahr (2009) dreißig Jahre alt. Und es ist ganz deutlich, dass der technowissenschaftliche Fortschritt sich in allen Bereichen von Tag zu Tag steigert. Man braucht keine besondere Anstrengung, um dies zu bemerken. Das Tempo der Ethik hält nicht Schritt mit dem Tempo des Wachstums der Technowissenschaften. Genauso scheint es für die Jonassche Ethik, auch wenn sie für das technologische Zeitalter konzipiert wurde, wie es der Untertitel be16 17 18 19 20 Vgl. SCHOEFS, V., Hans Jonas : écologie et démocratie, Paris, L’Harmattan, 2009, S. 24. Vgl. BIRNBACHER, D., „Langzeitverantwortung – das Problem der Motivation“, in GETHMANN, C.F./MITTELSTRASS, J. (Hrsg.), Langzeitverantwortung. Ethik-TechnikÖkologie, Darmstadt, WBG, 2008, S. 23. Wie der Titel kennzeichnet, fasst das ganze Buch diese Problematik der Langzeitverantwortung um. JONAS, H., PV, S. 198. Betont von Jonas selbst. Trotz allem vergisst die gegebene Abgrenzung nicht, dass das Leben eines Menschen oder Denkers ein Continuum hat. Das Werk wurde 1985 bei Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main veröffentlicht. Zitiert TME. 21 zeichnet.21 Davon ausgehend, ist es berechtigt zu fragen, ob diese ethische Konzeption in Bezug auf die heutigen Herausforderungen, die die Technowissenschaften, die Menschheit und die Natur mit sich bringen, noch geeignet ist. Anders gesagt: Können die Grundthemen dieser ethischen Theorie (die existentielle Metaphysik als Begründung der Ethik, die Heuristik der Furcht als Ansatzverfahren und die Teleologie als Art den Naturwert zu begründen) noch der heutigen Welt entsprechen, da die Herausforderungen allgegenwärtig sind. Wie kann man heute noch den utopischen Auffassungen von Karl Marx und Ernst Bloch widersprechen, wenn die Finanzkrise nachzuweisen scheint, dass eine bessere Zukunft noch zu erwarten ist? Hat das Denken an die Zukunftsgenerationen noch einen Sinn und eine Bedeutung? Wie will man den kantschen kategorischen Imperativ steigern, wenn man immer wieder bemerken kann, dass Macht, Verbindlichkeit und Pflicht mehr denn je Errungenschaften einer menschlichen Freiheit sind, die sich grundlegend in einer freien und demokratischen Gesellschaft entwickeln möchte? Stellen wir die Frage ganz einfach: Haben Hans Jonas und seine Verantwortungsethik noch eine Aktualität? Mit dieser Überlegung möchte ich ein doppeltes Ziel erreichen: eine „integrative – und wertende Erholung“. Sie bildet also die philosophische Orientierung der ganzen Studie. Und dadurch möchte ich diese These vertreten: die neue Orientierung des ethischen Diskurses von Hans Jonas mit ihrem offenen und flexiblen Horizont und ihrem interdisziplinären pluralistischen Ersuchen bleibt aktuell. Mit dieser Aktualität ist sein Opus magnum ein klassisches Werk in den philosophischen und ethischen Debatten geworden. In der Tat drehen sich die heutigen philosophischen und ethischen Debatten über die Ökologie um die meisten Themen, die von Jonas angesprochen wurden. Sicher gibt es heutzutage neue Perspektiven der Umweltethik; die philosophischen und ethischen Diskussionen orientieren sich immer mehr an aktuellen Problemen, die bei Jonas nicht behandelt wurden, wie wir es im zweiten Kapitel sehen werden. Allerdings bleibt Jonas eine unvermeidliche Referenz. Daraus folgt, dass die heutige Entwicklung einer ökologischen Kultur sich zum größten Teil auf Jonas beziehen lässt. 3. Aufbau der Untersuchung Die Ziele, die hier zu erreichen sind, und die geäußerte These, die sie begleitet, folgen einer analytisch-synthetischen Methode, wobei ich die Grund21 Der Verleger Karl Siegfried Unseld von Suhrkamp bezeuget nach der Lektüre des Manuskripts, dass diese Auffassung die Ethik des Jahrhunderts sein solle. 22 themen der Jonasschen Ethik zu rekonstruieren versuche. Diese Analyse und Synthese stehen in Zusammenhang mit der Hermeneutik. Mit ihr möchte ich zeigen, inwiefern sich die Grundthemen in jener Ethik verstehen und interpretieren lassen. Technologie,22 Natur, Verantwortung und Imperativität (unbedingte Gültigkeit) sind die Begriffe, die mir bei dieser Rekonstruktion helfen, insofern sie bei Jonas eine besondere Rolle spielen. Sie sollen die Verantwortungsproblematik in einer neuen Art darstellen, um den technowissenschaftlichen Herausforderungen gewachsen zu sein. Mein Dialog mit Hans Jonas bildet sich durch verschiedene Fragen und einige Richtigstellungen, die ich in den Aufbau dieser Arbeit einbringe. Auf diese Weise gedenke ich, die angestrebten Ziele zu erreichen und die gesetzte These zu bestätigen. Der erste Teil -Technologische Rationalität, ökologische Krise und ökologische Ethik - mit seinen zwei Kapiteln spielt eine einführende Rolle. Darin arbeite ich mit den Technologie –und Naturbegriffen. Dies zeigt, wie die Entstehungsethik der Ökologie von der Technologie und der ökologischen Krise vermittelt worden ist. Und letztlich möchte ich bei diesem Einleitungsteil zeigen, dass Technologie, Natur und Ethik in einer engen Beziehung stehen, die man mit Aufmerksamkeit betrachten muss, wenn man einen ökologischethischen Diskurs entwickeln möchte. Wenn der erste Teil als einführender wahrgenommen wurde, stellt sich der zweite – Verantwortungsethik als eine Äußerung der ökologischen Ethik als eine Vertiefung dar. In den Kapiteln drei, vier und fünf versuche ich die zwei anderen Begriffe dieser Rekonstruktion zu entwickeln: Verantwortung und Imperativität. Die vier ersten Kapitel der Untersuchung sind eigentlich Vorträge, die ich im Rahmen meiner Dissertation im Kolloquium gehalten habe. Das letzte Kapitel – Metaphysik und Ethik – wurde als Vortrag der Verteidigung der Dissertation erfasst und am Mittwoch, den 9. 06. 2011 gehalten. 22 Die traditionelle und die moderne Technik sind zwei unterschiedliche Auffassungen, wie ich im ersten und vierten Kapitel zeige. Zur modernen Technik gehören auch die Technologie, die Technowissenschaften und die Hochtechnik. Es gibt natürlich Nuancen zwischen diesen Begriffen. Aber in dieser Arbeit, wenn es um die moderne Technik geht, wende ich einen von diesen Begriffen an.