"Stabilisierungspolitik", 5. Semester, Stand 4/2010

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Vorlesungsbegleiter
Volkswirtschaftslehre
Konjunktur- und Wachstumspolitik
- Stabilisierungspolitik Prof. Dr. Jürgen Pätzold
Honorarprofessor
Universität Hohenheim
April 2010
Fassung mit Aktualisierungen zur
„Aktuellen Wirtschaftskrise“ (S. 12 – 27)
© Alle Rechte beim Verfasser
Seite 2/93
Prof. Dr. J. Pätzold
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Inhalt
Teil A Das Beschäftigungsproblem
1
1.1
1.2
Arbeitslosigkeit als wirtschaftspolitisches Problem
Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland
Systematik der Ursachen von Arbeitslosigkeit
2
Friktionelle und saisonale Arbeitslosigkeit und Ansätze zu ihrer Bekämpfung
3
3.1
3.2
3.2.1
3.2.2
3.2.3
3.3
3.4
Konjunkturelle Arbeitslosigkeit und Ansätze zu ihrer Bekämpfung
Arbeitslosigkeit im Konjunkturverlauf
Bekämpfung konjunktureller Arbeitslosigkeit
Expansive Fiskalpolitik der Regierung
Expansive Geldpolitik der Zentralbank
Expansive Außenwirtschaftspolitik durch Regierung und Zentralbank
Zur Wirksamkeit expansiver Konjunkturpolitik
Exkurs zur aktuellen Wirtschaftskrise 2008 ff.
4
4.2
4.2.1
4.2.2
4.2.3
4.3
4.3.1
4.3.2
4.3.3
4.3.4
Strukturelle Arbeitslosigkeit und Ansätze zu ihrer Bekämpfung
Ursachen und Arten struktureller Arbeitslosigkeit
Strukturelle Arbeitslosigkeit im weiten und engeren Sinn
Veränderungen der Struktur der Nachfrage nach Arbeitskräften
Persönliche Eigenschaften von Arbeitslosen
Ansätze zur Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit
Bekämpfung der regionalen Arbeitslosigkeit
Bekämpfung sektoraler Arbeitslosigkeit
Bekämpfung berufs- bzw. qualifikationsspezifischer Arbeitslosigkeit
Auf persönlichen Eigenschaften beruhende strukturelle Arbeitslosigkeit und Ansätze zu ihrer
Bekämpfung
5
Arbeitslosigkeit als Folge eines anhaltend zu geringen Wirtschaftswachstums und Ansätze
zu ihrer Bekämpfung
Ursachen und Arten anhaltender Arbeitslosigkeit
Technologische und lohnkostenindizierte Arbeitslosigkeit
Wachstumsschwäche und Stagnationsarbeitslosigkeit
Kapitalmangelarbeitslosigkeit
Demographische Arbeitslosigkeit
Strategien zur Bekämpfung anhaltender Unterbeschäftigung
Nachfrageorientierte Wachstumspolitik
Angebotsorientierte Wachstumspolitik
Arbeitszeitverkürzung als beschäftigungspolitisches Instrument
Bremsung des technischen Fortschritts als beschäftigungspolitisches Instrument?
5.1
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.1.4
5.2
5.2.1
5.2.2
5.2.3
5.2.4
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Teil B Das Inflationsproblem
1
Inflation: Ursachen und Bekämpfung
2
*egative Konsequenzen von Inflation
3
Systematik der Inflationsursachen
4.
4.1
4.2
4.2.1
4.2.2
4.2.3
*achfrageinflation und ihre Bekämpfung
Inflation im Konjunkturverlauf
Bekämpfung der Nachfrageinflation
Kontraktive Fiskalpolitik von Bund, Ländern und Gemeinden
Kontraktive Geldpolitik der Deutschen Bundesbank
Außenwirtschaftspolitische Maßnahmen
5
5.1
5.2
5.2.1
5.2.2
5.2.3
5.3
5.4
5.5
5.5.1
5.5.2
5.5.3
Angebotsinflation und ihre Bekämpfung
Inflation und Verteilungskampf
Kostendruckinflation
Lohnkosteninflation
Importierte Kosteninflation
Weitere Kostenfaktoren
Marktmachtinflation (Gewinndruckinflation)
Angebotsinflation in einem Angebots-Nachfrage-Diagramm
Bekämpfung der Angebotsinflation
Sozialkontrakte und Konzertierte Aktionen
Konsequente Wettbewerbspolitik
Die monetaristische Disziplinierungsstrategie
6
6.1
6.2
Geldmengeninflation und ihre Bekämpfung
Quantitätstheorie des Geldes
Die Verantwortung der Geldpolitik
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Teil C Strategien der Stabilisierungspolitik
1
Wirtschaftspolitische Strategien
2
2.1
2.2
2.2.1
2.2.2
2.2.3
2.2.4
2.2.5
2.2.6
Die stabilisierungspolitische Konzeption der Postkeynesianer
Das Konzept der antizyklischen Konjunkturpolitik
Postkeynesianische Stabilisierungspolitik im Spiegel der Kritik
Lag-Problematik
Asymmetrische Handhabung und Tendenz zu strukturellen Budgetdefiziten
Staatliche "Vollbeschäftigungsgarantie", induzierte Verteilungskämpfe und die Problematik der
einkommenspolitischen Absicherung
Ordnungs- und gesellschaftspolitische Problematik
Zur Funktion von Krisen in der Marktwirtschaft
Stagflation als Folge postkeynesianischer Konjunkturpolitik?
3
3.1
3.2
3.2.1
3.2.1
3.2.2
3.2.3
3.2.4
3.3
3.3.1
3.3.2
3.3.3
3.3.3.1
3.3.3.2
3.3.4
3.3.4.1
3.3.4.2
3.3.5
3.4
Die stabilisierungspolitische Konzeption der *eoklassik
Das Konzept der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik im Überblick
Basishypothesen neoklassischer Stabilisierungspolitik
Neuverteilung der wirtschaftspolitischen Rollen und Verstetigung der Wirtschaftspolitik
Stabilitätshypothese
Say'sches Theorem und die Bedeutung der Angebotsseite
Schumpeter Pionierunternehmer
Laffer Theorem
Bausteine des Angebotskonzepts
Potenzialorientierte Geldpolitik
Potenzialorientierte bzw. konjunkturneutrale Haushaltspolitik
Produktivitätsorientierte Lohnpolitik
Das Konzept
Kritik der Produktivitätsregeln
Offensive Markt- und Wettbewerbspolitik
Wettbewerbsschutzpolitik
Deregulierungspolitik
Abbau sozialpolitischer Fehlsteuerungen
Neoklassische Stabilisierungspolitik im Spiegel der Kritik
4
Synopse der stabilisierungspolitischen Konzeptionen
5
Abschließende Betrachtungen
6
Literatur
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Teil A:Das Beschäftigungsproblem - Ursachen und Strategien
1
Arbeitslosigkeit als wirtschaftspolitisches
Problem
1.1
Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland
ALO-Rechtskreise
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
1.2 Systematik der Ursachen von Arbeitslosigkeit
Systematik der Ursachen von Arbeitslosigkeit
Typus Gesamtwirtschaftliches Phänomen
Zeitdauer
Teilwirtschaftliches Phänomen
Friktionelle Arbeitslosigkeit
("Sucharbeitslosigkeit")
kurzfristig
Saisonale Arbeitslosigkeit
Sockelarbeitslosigkeit
Mittelfristig
("temporär")
langfristig
("zählebig")
Konjunkturelle Arbeitslosigkeit
Strukturalisierte konjunkturelle Arbeitslosigkeit
(temporäre Arbeitslosigkeit in der Rezession)
(temporäre Arbeitslosigkeit in der Rezession mit struktureller Ausprägung)
Wachstumsdefizitäre Arbeitslosigkeit
Strukturelle Arbeitslosigkeit i.e.S.
(growth gap unemployment)
("Mismatch-Arbeitslosigkeit")
Merkmalsdiskrepanzen, Mobilitätsdefizit-AL
1.
Stagnationsarbeitslosigkeit
1.
Regionale Arbeitslosigkeit
2.
Technologische Arbeitslosigkeit
2.
Branchenspezifische Arbeitslosigkeit
3.
Lohninduzierte Arbeitslosigkeit
("klassische Arbeitslosigkeit")
3. Qualifikationsspezifische Arbeitslosigkeit
4.
Sachkapitalmangelarbeitslosigkeit
5. Demographische Arbeitslosigkeit
4. Geschlechtsspezifische Arbeitslosigkeit
5. Auf sonstigen persönlichen Eigenschaften
beruhende Arbeitslosigkeit (Nationalität,
Gesundheit. ...)
Strukturelle Arbeitslosigkeit im weiten Sinne
Quelle: Pätzold, J., Stabilisierungspolitik, 6. Aufl., 1998
2
Friktionelle und saisonale Arbeitslosigkeit und Ansätze zu ihrer Bekämpfung
Friktionelle und saisonale AL = Sockelarbeitslosigkeit.
Friktionelle Arbeitslosigkeit ⇒ Sucharbeitslosigkeit; kurzfristiger Natur: Das Arbeitsplatzangebot ist
vorhanden, der Arbeitslose kennt die offene Stelle allerdings noch nicht. ⇒ Verbesserung des Stelleninformations- und -vermittlungssystems (z.B. durch computergestützte Stellenvermittlungen). Friktionelle
AL sogar erwünscht, denn sie ist Ausdruck des wachstumsfördernden Arbeitsplatzwechsels - weg von den
unproduktiveren Arbeitsplätzen, hin zu den produktiveren Unternehmen bzw. Branchen.
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Saisonale Arbeitslosigkeit Folge jahreszeitlicher Produktionsschwankungen (Land- und Forstwirtschaft,
Bauwirtschaft) und Nachfrageschwankungen (Touristikgewerbe, Weihnachts- und Ostergeschäft). Ursachengerecht kaum bekämpfbar. ⇒ produktive Winterbauförderung.
3
Konjunkturelle Arbeitslosigkeit und Ansätze zu ihrer Bekämpfung
3.1
Arbeitslosigkeit im Konjunkturverlauf
Ifo-Institut: Deutschlands Arbeitslosigkeit war in der
Vergangenheit höchstens zu 15 % konjunktureller
aber zu etwa 85 % struktureller atur!
Seit der aktuellen Wirtschaftskrise nimmt die Bedeutung der konjunkturellen Arbeitslosigkeit und die Relevanz einer aktiven Konjunkturpolitik wieder deutlich
zu.
Konjunkturelle AL ist idealtypisch um ein gesamtwirtschaftliches Phänomen, d.h. der Produktions- und Beschäftigungsrückgang tritt in allen
Branchen, Regionen und Berufen in etwa gleichmäßig auf. Konjunkturelle AL ist Folge eines zeitlich befristeten ("temporären") Rückgangs der
gesamtwirtschaftlichen *achfrage nach Waren
und Diensten, also eines Rückgangs der
•
privaten Konsumnachfrage,
•
privaten Investitionstätigkeit,
•
Nachfrage des Staates nach Waren und Diensten
und/oder
•
Auslandsnachfrage (Exporte saldiert mit den Importen).
Nachfrageeinbruch ⇒ Unterauslastung der Produktionskapazitäten ⇒ Kurzarbeit ⇒ÁEntlassungen ⇒ AL.
Von konjunktureller Arbeitslosigkeit sollte man
nur dann sprechen, wenn es sich tatsächlich um
Unterbeschäftigung als Folge eines temporären
Nachfrageeinbruchs handelt. Stagnieren Produktion und Beschäftigung, weil das wirtschaftliche Wachstum über eine längere Periode hinweg zu gering ist, um alle Arbeitswilligen zu
beschäftigen, so liegt kein konjunkturelles,
sondern ein zählebiges oder "strukturelles" gesamtwirtschaftliches Phänomen vor ⇒ anhaltende Unterbeschäftigung ⇒ "wachstumsdefizitäre Arbeitslosigkeit" als Teil der strukturellen Arbeitslosigkeit im weiten Sinne. Zyklische Erscheinungen und längerfristige Trendbrüche sind also zu unterscheiden. Im ersten
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Fall sind befristete Konjunkturprogramme durchaus erfolgversprechend, im zweiten Fall sind dagegen
derartige Konjunkturprogramme nicht nur wirkungslos, sondern sogar schädlich. Eine richtige Diagnose ist
daher die entscheidende Basis für die Formulierung einer erfolgversprechenden Therapie.
Quelle: GD Frühj. 2009
3.2
Bekämpfung konjunktureller Arbeitslosigkeit
Keynesianer empfehlen expansive Konjunkturpolitik ⇒ StWG. Danach ist es Aufgabe der Bundesregierung, in der Rezession einem konjunkturellen Nachfrageeinbruch durch staatliche ("fiskalpolitische")
Maßnahmen entgegenzusteuern. Die Zentralbank soll durch Zinssenkungen diese expansive Fiskalpolitik
begleiten (monetary fiscal policy). Gegebenenfalls kommen auch außenwirtschaftliche Maßnahmen zur Belebung des Exports und zur Drosselung
der Importe in Betracht.
3.2.1
Expansive Fiskalpolitik
3.2.1.1
Wirkungsweise automatischer Stabilisatoren
•
Automatische Stabilisierungseffekte
des Steuersystems und Sozialleistungssystems (insbes. AL-Unterstützung).
Keine fallweisen („diskretionären“)
Maßnahmen erforderlich. Mechanismus wirkt selbsttätig ("automatische
Stabilisatoren").
Voraussetzungen:
- konjunkturreagible Bemessungsgrundlage
- möglichst progressiver Tarif.
•
Automat. Stabilisatoren in einer stationären Wirtschaft
Je höher die Aufkommenselastizität, um so stärker sind die automatischen Stabilisierungseffekte, sofern die
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Staatsausgaben konstant gehalten werden.
Problem: Parallelpolitik ⇒ prozyklische Effekte auf den Wi'Ablauf.
•
Automat. Stabilisatoren in einer wachsenden Wirtschaft
Hohe Aufkommenselastizität führt zum Anstieg der Steuerlastquote und, sofern die Ausgaben, dem Steueraufkommen angepasst werden, zum Anstieg der Staatsausgabenquote. Die kurzfristig (möglicherweise) positiven
Wirkungen eines progressiven Steuersystem sind langfristig negativ.
3.2.1.2
Diskretionäre Maßnahmen
in der Rezession
•
Steigerung der öffentlichen Ausgaben
Hierdurch steigt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage unmittelbar. Zudem
gehen von einer Nachfragesteigerung so die Keynesianer - erhebliche
Multiplikator- und Akzeleratoreffekte (Verstärkereffekte) auf die anderen
Nachfrageaggregate aus, mit der Folge,
dass bereits ein verhältnismäßig gering
dosiertes staatliches Konjunkturprogramm in der Lage ist, die konjunkturelle Unterbeschäftigung abzubauen.
•
Senkung der Steuersätze
Insbesondere durch Konjunkturabschläge zur Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie mit der Verbesserung der Abschreibungsmöglichkeiten wird das Ziel verfolgt, die private Konsum- und Investitionstätigkeit anzuregen. Mittels steuerpolitischer Maßnahmen kann
die gesamtwirtschaftliche Nachfrage daher lediglich indirekt beeinflusst werden, ihre Wirkungen sind deswegen unsicherer als die Effekte einer Erhöhung der Staatsausgaben.
•
Konjunkturpolitische Budgetdefizite
Die Finanzierung der Maßnahmen soll entweder aus der sog. Konjunkturausgleichsrücklage erfolgen (sofern eine derartige Rücklage
in Zeiten der Hochkonjunktur bei der Zentralbank angesammelt worden ist), oder aber dadurch sichergestellt
werden, dass der Staat seine Kreditaufnahme vorübergehend (!) erhöht. Keynesianer treten insbesondere dafür
ein, dass die Kreditaufnahme bei der Zentralbank erfolgt, das Konjunkturprogramm de facto also über die "Notenpresse" finanziert wird. In der Bundesrepublik Deutschland ist das allerdings aufgrund der bestehenden Gesetze nicht möglich.
Rechtsgrundlage ⇒ StWG. Danach kann die Regierung in der Rezession über die im Staatshaushaltsplan
ohnehin vorgesehenen Ausgaben hinaus zusätzliche Ausgaben tätigen und diese durch Kreditaufnahme finanzieren (maximal 2,5 Milliarden €). Dies ist allerdings keine Ermächtigung zur Kreditaufnahme bei der
Deutschen Bundesbank. Hier ist die Kreditaufnahme seit dem Maastricht-Vertrag auf Null limitiert. Der
Bund ist vielmehr auf den privaten Geld- und Kapitalmarkt verwiesen. Darüber hinaus ist im StWG vorgesehen, dass im Falle einer Abschwächung der konjunkturellen Entwicklung die Einkommen- und Körperschaftsteuersätze um maximal 10 Prozent für höchstens ein Jahr gesenkt werden können.
Vorteil: rasch einsetzbare Instrumente ⇒ keine langwierigen Gesetzgebungsverfahren.
Probleme:
•
Es müssen Schubladenprogramme vorliegen.
•
Finanzierung der Programme ⇒ Budgetdefizite.
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Finanzierung bei der Bundesbank war schon in der Vergangenheit zu Recht weitgehend ausgeschlossen (es
konnten lediglich kurzfristige Kassenkredite im Rahmen eines eng begrenzten maximalen Plafonds aufgenommen werden; seit 1994 hat der Staat keinerlei Recht mehr, bei der Zentralbank Kredite aufzunehmen). In der
Rezession ist Kreditaufnahme relativ unproblematisch ⇒ Zinssteigerungen kaum zu erwarten, sofern es sich
lediglich um vorübergehende (konjunkturelle) Budgetdefizite handelt. Seit einigen Jahren wird das MaastrichDefizitkriterium (Nettokreditaufnahme max. 3 % des BIP) verfehlt. Damit fehlt für ein staatliches deficitspending die Grundlage.
In der Realität ist nun allerdings vielfach zu beobachten, dass die in der Rezession aus konjunkturpolitischen
Gründen erhöhte Kreditaufnahme des Staates im darauffolgenden Boom keineswegs wieder (vollständig)
getilgt wird ⇒ Defizite kumulieren. Aus "konjunkturellen" (vorübergehenden) Budgetdefiziten werden
"strukturelle" (zählebige) Haushaltsdefizite. Dieser Prozess ist allerdings nicht Folge der keynesianischen
Konzeption, sondern Folge einer falschen Handhabung.
Strukturelle Budgetdefizite sind problematisch ⇒ crowding out effekte ⇒ Beeinträchtigung von
Wachstum und Beschäftigung (zinsbedingten crowding out, wechselkursbedingtes c.o., preissteigerungsbedingtes c.o., erwartungsbedingtes c.o.).
•
Multiplikatoreffekte sind trügerisch. Je größer der Multiplikator, um so mehr würde infolge des einsetzenden Konjunkturaufschwungs das Steueraufkommen sprudeln und so zur
Reduktion der anfänglichen Budgetdefizite beitragen (These von der Selbstfinanzierung eines staatlichen Beschäftigungsprogramms). Hohe, wesentlich über Eins liegende Multiplikatoreffekte sind allerdings in der Realität kaum zu beobachten. Die Deutsche Bundesbank bezweifelt zwar
nicht, dass ein staatliches Beschäftigungsprogramm kurzfristig geeignet sein kann, Produktion und Beschäftigung zu erhöhen. Hierbei handle es sich jedoch nur um ein vorübergehendes "Strohfeuer". Nach Auffassung
der Bundesbank wirkt ein derartiges Beschäftigungsprogramm mittelfristig sogar kontraproduktiv auf Wachstum und Beschäftigung.
Auch der Sachverständigenrat kommt in seinem Jahresgutachten 2009/10 zu der Schlussfolgerung, dass während der Phase, in
der die staatlichen Konjunturprogramme (Ausgabenprogramme) zum Einsatz kommen, der Anstoß-Multiplikator höchstens bei
Eins liegt (die Änderung des BIP erreicht also noch nicht einmal den Wert der zusätzlichen Staatsausgaben), während er in den
Folgeperioden nach Auslaufen des Programms deutlich in Richtung Null absinkt. Je nach Ausgestaltung des Programms sind sogar negative Auswirkungen auf das BIP zu erwarten – dies dürfte z.B. für die sog. Abwrackprämie des Jahres 2009 zutreffen.
Klar ist, dass von Ausgabenprogrammen stärkere Effekte ausgehen als von Steuersenkungen. Steuerliche Entlastungen zur Förderung des Konsums sind also kaum wirksam.
•
Erhebliche Mitnahmeeffekte bei Subventionen zur Förderung der Investitionstätigkeit (z.B. bei der in der Vergangeheit prktizierten 7,5 prozentigen „Investitionszulage“.
Insgesamt ist festzustellen, dass das plausibel klingende Konzept, Arbeitslosigkeit durch staatliche Konjunkturprogramme zu bekämpfen, in der Praxis auf erhebliche Probleme stößt. Wenn überhaupt, so ist diese Strategie nur zur Bekämpfung der konjunkturellen Arbeitslosigkeit geeignet, nicht aber zur Bekämpfung struktureller Unterbeschäftigung. Und große Krisen….
3.2.2
Expansive Geldpolitik der Zentralbank
Keynesianer werden vielfach deswegen als "Fiskalisten" bezeichnet, weil sie das Schwergewicht der Konjunkturpolitik auf
die Finanzpolitik legen. Die Geldpolitik gilt als Instrument der
Konjunkturpolitik als vergleichsweise wenig wirksam. Sie soll
allerdings die Fiskalpolitik bei ihrer Aufgabe unterstützen. Aus
keynesianischer Sicht sollte die Zentralbank in der Rezession
die Liquidität erhöhen und das Zinsniveau senken. Hiermit
soll nicht nur die Finanzierung der staatlichen Budgetdefizite
erleichtert werden ("monetary fiscal policy"), sondern die
Zinssenkung soll auch die Bedingungen für die Finanzierung der
privaten Investitionen verbessern.
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Einer expansiven Geldpolitik sind allerdings enge Grenzen gesetzt ⇒ warum sollten in der Rezession bei
stagnierender Nachfrage, leeren Auftragsbüchern und unausgenutzten Kapazitäten die Unternehmen ihre
Investitionstätigkeit nur deshalb ausdehnen sollten, weil die Kreditzinsen niedrig sind. Die Zentralbank
kann zwar "die Tränke füllen" (das Kreditangebot steigern), sie kann allerdings die "Pferde" (die Investoren)
"nicht zum Saufen zwingen" (Karl Schiller). ⇒ geringe Zinselastizität der Investitionstätigkeit ⇒ lange
Wirkungsverzögerungen ("time lags"). Keine Feinsteuerung der Konjunktur mittels Geldpolitik.
Damit von der Geldpolitik überhaupt hinreichende Wirkungen auf
die Investitionstätigkeit ausgehen, muss die Zentralbank im Zweifel
die gesamtwirtschaftliche Liquidität (Geldmenge und/oder Bankenliquidität) sehr stark erhöhen, um die Kreditzinsen genügend abzusenken. Die hiermit verbundene Überliquidisierung der Volkswirtschaft wirkt sich in der Rezession kaum negativ aus. In der Praxis
ist es jedoch im darauffolgenden Boom nur bedingt möglich, das in
der Rezession geschaffene hohe Liquiditätspolster wieder abzubauen. Die Folge ist, dass die Geschäftsbanken im Boom ihre Kreditvergabe stärker ausdehnen können, als dies ohne die expansiven
geldpolitischen Maßnahmen in der Rezession möglich gewesen
wäre. Die expansive Geldpolitik führt dann jedoch zu
einem Überschäumen der nachfolgenden Hochkonjunktur; sie wirkt damit letztlich prozyklisch. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird mit Inflation erkauft.
Monetaristen lehnen aus den genannten Gründen eine
antizyklische Geldpolitik ab. An ihre Stelle soll eine
verstetigte Geldpolitik treten. Dabei soll das geldpolitische Handeln nicht an der zyklischen Entwicklung
des Inlandsprodukts, sondern an der trendmäßigen
Entwicklung des Produktionspotenzials ausgerichtet
werden.
3.2.3
Expansive Außenwirtschaftspolitik
durch Regierung und Zentralbank
Ansatzpunkte der Außenwirtschaftspolitik sind die Export- und Importnachfrage. Rezession Á Exportnachfrage anregen / Importe drosseln. Zölle, Subventionen und
andere den Handel reglementierende Maßnahmen kommen kaum in Betracht. Empfohlen wird jedoch eine Abwertung der heimischen Währung. Die Abwertung der
eigenen Währung regt tendenziell die Exportnachfrage
an und mindert die Importe. Im Inland steigen Produktion und Beschäftigung, im Ausland sinken sie. Die heimische Unterbeschäftigung wird folglich auf Kosten des
Auslands bekämpft ("Export von Arbeitslosigkeit"). ⇒
Abwertungswettläufe.
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3.3
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Zur Wirksamkeit expansiver Konjunkturpolitik
•
Nur zur Bekämpfung der konjunkturellen Arbeitslosigkeit geeignet.
•
Gefahr der fehlerhaften Handhabung ⇒ auf Dauer negative Konsequenzen für Wachstum und Beschäftigung.
•
Negative Verteilungsauseinandersetzungen infolge der „Vollbeschäftigungsgarantie“ ⇒ Stagflation.
Die Stagflationsentwicklung der siebziger Jahre wird vielfach dieser Form der Wirtschaftspolitik angelastet.
Da die keynesianische Konjunkturpolitik zunehmend an ihre Grenzen stieß, wurde in den meisten westlichen
Industrieländern zu Beginn der achtziger Jahre ein Konzeptionswechsel zur "angebotsorientierten Wirtschaftspolitik" vollzogen. Ein Konzeptionswechsel war allerdings auch deshalb erforderlich, weil die wirtschaftlichen Probleme seit Mitte der 70er Jahre kaum noch als "konjunkturell" einzustufen sind. Es dominieren seither die strukturellen Ursachen von Unterbeschäftigung.
3.4
Exkurs: Die neue Krise der Weltwirtschaft (mit Aktualisierungen)
Schaubild 43
Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Zeitraum 2008 bis 2010 für ausgewählte Länder1)
vH
4
4
2
2
0
0
-2
-2
-4
-4
-6
-6
-8
-8
-10
-10
-12
-12
IS
IE
FI
DE
LU
IT
ES
JP
SE
AT
NL
UK
BE
CZ
PT
DK CH FR
US GR NO CA NZ AU
1) Betrachtete Länder: IS-Island, IE-Irland, FI-Finnland, DE-Deutschland, LU-Luxemburg, IT-Italien, ES-Spanien, JP-Japan, SE-Schweden, AT-Österreich, NL-Niederlande, UK-Vereinigtes Königreich, BE-Belgien, CZ-Tschechische Republik, PT-Portugal, DK-Dänemark, CH-Schweiz, FR-Frankreich,
US-Vereinigte Staaten, GR-Griechenland, NO-Norwegen, CA-Kanada, NZ-Neuseeland, AU-Australien.
Quelle für eigene Berechnung und Schätzung: IWF
© Sachverständigenrat
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Ursachen der neuen Krise der Weltwirtschaft
Was die Ursachen der neuen Krise der Weltwirtschaft betrifft, so zeigt sich auch hier, dass es wiederum eine
äußerst komplexe Gemengelage war, die den Boden für die Krise bereitete. Ein spezifisches Kennzeichen ist
jedoch die Finanzkrise als auslösender Faktor und – in der Folge – der international synchrone Produktionseinbruch in fortgeschrittenen Industriestaaten und Schwellenländern der Welt. Einer Untersuchung des
Internationalen Währungsfonds zufolge fallen Rezessionen, die mit Finanzkrisen einhergehen, vergleichsweise schwer aus, halten lange an und münden in eine nur träge Erholung.
Die ursprüngliche Lesart der Finanzkrise war folgende: In den USA kam es – begünstigt durch ein jahrelang
niedriges Zinsniveau – zu einem Immobilienboom, der mit einem kräftigen Preisanstieg für Wohnhäuser
einherging. Der permanente Hauspreisanstieg machte die Vergabe von Hypothekenkrediten an Haushalte
mit geringer Bonität zu einem einträglichen Geschäft – einem sehr einträglichen Geschäft sogar, so dass das
Segment der Subprime-Hypotheken innerhalb weniger Jahre exponentiell wuchs.
Abschreibungen der Banken weltweit
Mrd US-Dollar, 2. Quartal 2007 bis 4. Quartal 2010
Vereinigte
Staaten
Geschätzte Abschreibungen,
insgesamt4) .....................................
Vereinigtes
Euro-Raum
Königreich1)
Andere
europäische
Länder2)
Asiatische
Banken3)
Insgesamt
1 025
814
604
201
166
2 810
Kapitalpositionen vom 2. Quartal
2007 bis Ende 2. Quartal 2009
Gemeldete Abschreibungen .....
Kapitalerhöhungen ...................
610
500
350
220
260
160
80
50
.
.
1 300
930
Nachrichtlich:
Erwartete Abschreibungen und Gewinne vom 3. Quartal 2009 bis
Ende 4. Quartal 2010
Erwartete Abschreibungen .......
Erwartete Nettobilanzgewinne ..
420
310
470
360
140
110
120
60
.
.
1 150
840
1) Unterstellt die bis Mitte September 2009 implementierten Vermögenssicherungsprogramme.– 2) Dänemark, Island,
Norwegen, Schweden und Schweiz.– 3) Australien, Hongkong, Japan, Neuseeland und Singapur.– 4) Die geschätzten
insgesamten Abschreibungen unterscheiden sich von der Summe der gemeldeten und erwarteten Abschreibungen aufgrund von Rundungsfehlern und unterschiedlichen Annahmen bezüglich der Stützungsmaßnahmen. Zu den Einzelheiten siehe IWF (2009b).
Quelle: IWF
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Konzentration von Risiken
Verbrieft und wiederverbrieft wurden diese massenhaft ausgereichten Kredite zu handelbaren Finanzprodukten, die bei renditesuchenden Investoren auch dank erstklassiger Ratings reißenden Absatz fanden. Dieses
Geschäftsmodell führte keineswegs zu einer effizienteren Verteilung, sondern zu einer erheblichen Konzentration von Risiken. Auch die strukturierten Produkte der Geschäftsbanken wurden so komplex, dass ihre
Käufer gar nicht ermessen konnten, welche Risiken damit verbunden waren. Die Subprime-Malaise war
Auslöser, nicht jedoch die zentrale Ursache der weltweiten Finanzkrise.
Kurzfristige Erfolgsorientierung
Auch die Management-Vergütungsmechanismen setzten Anreize zu exzessiver Risikoübernahme, indem
sie die kurzfristige Umsatzsteigerung und weniger die langfristige Profitabilität der eingegangenen Investments belohnten. Dabei ist weniger die absolute Höhe als vielmehr die Struktur der Vergütung relevant.
Makroökonomische Faktoren
Dennoch sind es vor allem auch makroökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, die
den Boden für die Krise bereitet haben. Hierzu gehören eine im Nachgang der geplatzten New EconomyBlase zu lange zu expansive Geldpolitik – nicht zuletzt in den USA. Die Inflation blieb zwar trotz der niedrigen Zinsen auf einem niedrigen Niveau, jedoch mündete überschüssige Liquidität in Vermögensmärkte,
insbesondere den Immobiliensektor. Erst jetzt wird vielen klar, dass die Ausrichtung der Geldpolitik, und
dazu gehört auch das Reaktionsmuster der Notenbank im Umgang mit Vermögenspreisblasen, die Bereitschaft zur Risikoübernahme der Finanzmarktteilnehmer
signifikant beeinflusst hat.
Massive Leistungsbilanzungleichgewichte in der Welt
Ebenso sind die globalen Leistungsbilanz-Ungleichgewichte, die
sich innerhalb eines Jahrzehnts aufgetürmt haben, mit ins Bild zu
nehmen. Dies hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mehrmals in seinen jährlichen Gutachten thematisiert. Chronische Leistungsbilanzdefizite
signalisieren, dass ein Land permanent „über seinen Verhältnissen“ lebt. Besonders ausgeprägt waren die Leistungsbilanzdefizite der USA. Es ist daran zu erinnern, dass die private Sparquote in den USA vor den Turbulenzen in
den negativen Bereich fiel, die Haushalte haben also entspart!
Überschussländer finanzieren Defizitländer
Zudem muss betont werden, dass den Defizitpositionen dieser Länder definitionsgemäß entsprechende Leistungsbilanzüberschüsse gegenüberstehen. Die Überschussländer „leben demnach unter ihren Verhältnissen“.
Die Produktion ist größer als die heimische Absorption. Parallel hierzu wurden riesige Leistungsbilanzüberschüsse von Öl exportierenden Ländern, aber vor allem aus China in US-Staatsanleihen angelegt, um Aufwertungsdruck von der eigenen Währung zu nehmen. Sie haben auf diese Weise den Kredithunger der amerikanischen Volkswirtschaft entscheidend gestillt. Damit wurden auch die langfristigen Zinsen auf einem
sehr niedrigen Niveau gehalten, was einerseits die Jagd nach Rendite weiter anfachte und andererseits die
Aufnahme von Fremdkapital erheblich begünstigte.
So konnte der Eigenkapitalhebel („Leverage“) innerhalb des gesamten Finanzsystems enorm wachsen. Ein
übermäßig verschuldetes Finanzsystem birgt indes die Gefahr einer hohen Verwundbarkeit gegenüber Wertverlusten seiner Aktiva.
So muss man wohl sogar zu der Erkenntnis kommen, dass das überaus kräftige Wachstum der Weltwirtschaft in den letzten Jahren nicht nachhaltig war, was im Übrigen auch bedeutet, dass eine schnelle Wiederkehr eines hohen globalen Wachstums für eine längere Periode eher unwahrscheinlich ist.
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Regulatorische Systemschwächen
Schließlich sind Schwächen im regulatorischen System zu konstatieren. Auch sie haben die Entstehung der
Finanzkrise erst ermöglicht. Inzwischen steht außer Zweifel, dass auch die Regulierer erhebliche Schwierigkeiten hatten, mit den rasant an Bedeutung gewinnenden Finanzinnovationen Schritt zu halten. Eine ganze
Reihe von Finanzmarktteilnehmern, sogenannte Schattenbanken, konnten sich zudem von einer Regulierung
weitgehend „unbelästigt“ entwickeln. Auch die neuen Bankenregelungen „Basel II“ können tendenziell destruktive Wirkungen auf die Finanzmärkte haben.
Prozyklische Verstärker
Besonders problematisch war auch die Prozyklizität, die bestimmten institutionellen Regeln inhärent ist, also
Regeln, die dazu beitragen, dass die natürlichen Schwankungen des Finanzsystems im konjunkturellen Zyklus noch verstärkt werden. In diesem Zusammenhang ist auch auf die internationalen Rechnungslegungsstandards zu verweisen. Mit einer inadäquaten Anwendung der Zeitwertbilanzierung („Fair value“) trugen
diese wohl nicht nur zum Aufbau von Risikopotenzial, sondern auch zur Verschärfung der Krise nach deren
Ausbruch bei.
Krisenübertragung in der globalisierten Welt
Nach der Insolvenz von Lehman Brothers und der weitgehenden Verstaatlichung des Versicherungsunternehmens AIG im September 2008 kamen zunehmend Zweifel auf, ob es den Regierungen und den Zentralbanken gelingen würde, die Situation zu kontrollieren um ein das Finanzsystem bedrohendes Abschmelzen
des Eigenkapitals der Banken zu verhindern. Die Folge war eine massive Krise im globalen Finanzsystem
mit erheblichen Auswirkungen auf die Realwirtschaft.
Die Verluste der Banken durch Abschreibungen auf Finanzanlagen sind enorm. Es zeigt sich, dass durch die
Globalisierung der Finanzbeziehungen auch in erheblichem Umfang Banken in Ländern betroffen waren, in
denen es am Immobilienmarkt keinerlei Übertreibungen mit anschließenden Vermögensverlusten gegeben
hat. In vielen Fällen haben die Abschreibungen die Eigenkapitalbasis der Banken so stark vermindert, dass
diese trotz staatlicher Kapitalspritzen gezwungen sind, ihre Kreditportfolios zu verringern (deleveraging)
und Risikopositionen abzubauen. Auch deshalb wurden die Kreditstandards deutlich gestrafft.
Realwirtschaft im Sog der Finanzkrise
Im Verlauf der Krise sind die Vermögenswerte in vielen Ländern erheblich gefallen. Auch die Aktienkurse
sind weltweit auf Talfahrt gegangen. Der Rückgang der Vermögenswerte auf breiter Front hat auch die Bilanzsituation von Unternehmen der Realwirtschaft (nichtfinanzielle Unternehmen) geschwächt und deren
Finanzierungsbedingungen verschlechtert; er dämpfte die Investitionstätigkeit der Unternehmen. Gleichzeitig haben die Verschuldungsmöglichkeiten der privaten Haushalte abgenommen; sie sparten vermehrt, um
ihre Vermögensverluste zu kompensieren. All dies dämpfte zudem die Konsumnachfrage.
Ex- und Importe als Krisentreiber
Darüber hinaus trug der internationale Handel zur Verbreitung der Krise bei. Zu Beginn beschränkte sich die
Nachfrageschwäche noch weitgehend auf die USA. Im Sommer des Jahres 2008 setzte dann mit der Zuspitzung der Finanzkrise in vielen Ländern eine drastische Korrektur der Absatz- und Ertragserwartungen ein.
Die Reduktion von Nachfrage und Produktion in den einzelnen Ländern verstärkte sich so gegenseitig über
den Verbund im Welthandel. Im Ergebnis ging das Welthandelsvolumen in den drei Monaten von November
2008 bis Januar 2009 um nahezu 20 Prozent zurück. Unter den Industrieländern waren von dieser Entwicklung Japan und Deutschland besonders stark betroffen. Unter den Bedingungen eines weltweiten globalen
Systemzusammenhangs war damit die weitere Verschärfung der Krise unabwendbar und staatliche Aktivität
zur Vermeidung einer „systemischen Krise“ der Finanzwirtschaft und zur Stützung der Realwirtschaft unabwendbar.
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VERGLEICH DER WIRTSCHAFTSPOLITIKE* I* DER WELTWIRTSCHAFTSKRISE 1929 U*D DER KRISE 2008ff.
(1) Zur Geldpolitik
Das typische Problem der Geldpolitik: „Man kann die Tränke füllen (als Zentralbank Zentralbankgeld bereitstellen,
man kann aber die Pferde (die Investoren) nicht zum saufen zwingen“. Die zusätzlich geschaffene Zentralbank-
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geldmenge „versackt“, der Geldschöpfungsmultiplikator sinkt (siehe Abbildung), oder anders formuliert die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes reduziert sich.
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(2) Zur Fiskalpolitik
Schaubild 14
Staatsverschuldung in den G7-Ländern
Schuldenstand in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen
20091)
2007
20141)
vH
vH
250
250
200
200
150
150
100
100
50
50
0
0
Deutschland
Frankreich
Italien
Vereinigtes
Königreich
Königreich
Japan
Kanada
Vereinigte
Staaten
Staaten
1) Schätzung des IWF – World Economic Outlook, Oktober 2009.
© Sachverständigenrat
Quelle: IWF
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Diskretionäre finanzpolitische Maßnahmen im Euro-Raum1)
Gesamtvolumen
Land
Darunter:
ausgabenseitige
Maßnahmen
Belgien ...............................
1,3
Deutschland ......................... 35,9
Finnland .............................
2,4
Frankreich ..........................
17,0
Griechenland ......................
0,0
Irland ..................................
0,0
Italien .................................
– 0,3
Niederlande ........................
3,1
Österreich ...........................
4,9
Portugal ..............................
1,0
Spanien ..............................
26,8
Insgesamt ............................. 92,0
2010
1,2
48,4
2,4
4,0
0,0
0,0
– 0,8
2,9
4,6
0,3
14,7
77,6
Darunter:
ausgabenseitige
Maßnahmen
in Relation zum Bruttoinlandsprodukt2) (vH)
Mrd Euro
2009
Gesamtvolumen
2009
2010
2009
2010
0,9
18,0
0,4
16,3
0,0
0,0
3,1
0,2
1,4
0,9
12,1
53,2
0,8
13,6
0,4
4,0
0,0
0,0
0,2
0,0
1,0
0,3
0,0
20,4
0,36
1,44
1,25
0,87
0,00
0,00
– 0,02
0,53
1,71
0,60
2,44
1,01
0,33
1,93
1,25
0,20
0,00
0,00
– 0,05
0,49
1,63
0,18
1,34
0,85
2009
0,27
0,72
0,23
0,83
0,00
0,00
0,19
0,03
0,48
0,54
1,10
0,58
2010
0,24
0,54
0,23
0,20
0,00
0,00
0,01
0,00
0,36
0,18
0,00
0,22
1) Cwik und Wieland (2009); Quelle für Grundzahlen: Europäische Kommission (2009). – 2) In jeweiligen Preisen.
Stabilisierungshilfen des SoFFin1)
Mrd Euro
Garantien ..........................................................................................................................
Darunter:
Hypo Real Estate .........................................................................................................
HSH Nordbank .............................................................................................................
Commerzbank .............................................................................................................
BayernLB .....................................................................................................................
IKB ...............................................................................................................................
Aareal Bank .................................................................................................................
Düsseldorfer Hypothekenbank .....................................................................................
127,70
Eigenkapitalhilfen .............................................................................................................
Darunter:
Commerzbank .............................................................................................................
Hypo Real Estate .........................................................................................................
Aareal Bank .................................................................................................................
21,90
Risikoübernahme
WestLB ........................................................................................................................
1) Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung. Stand: 8.10.2009.
52,00
30,00
15,00
15,00
5,00
4,00
2,50
18,20
3,00
0,53
5,90
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Finanzpolitische Maßnahmen der Bundesregierung1)
Haushaltsbelastung (–) / Haushaltsentlastung (+)
Veränderung gegenüber 2008 in Mrd Euro
Maßnahmen
2009
2010
Beitragssatzsenkung der Arbeitslosenversicherung (von 3,3 vH auf 2,8 vH)
Änderungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialen Pflegeversicherung
darunter: Beitragssatzerhöhung in der Sozialen Pflegeversicherung (0,25 Prozentpunkte)
und der Gesetzlichen Krankenversicherung (0,6 Prozentpunkte); Ausbau der Krankenhausfinanzierung; Änderung der Ärztevergütung
Soziale Leistungen
Unter anderem: Ausbau des Kinderzuschlags; Wohngelderhöhung; Erhöhung des BAföG;
Kindergelderhöhung; Aussetzung Riesterfaktor
Mehreinnahmen aus der LKW-Maut
Wegfall Eigenheimzulage
Weitere Steuerrechtsänderungen
Unter anderem: Unternehmensteuerreformgesetz; Erbschaftsteuerreformgesetz; Mitarbeiterkapitalbeteiligungsgesetz; Jahressteuergesetz 2009; Steuerbürokratieabbaugesetz
Maßnahmenpaket „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung" (Konjunkturpaket I)
darunter:
Investitionen
Steuerrechtliche Maßnahmen
Verlängerung der Bezugsdauer Kurzarbeitergeld
Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland (Konjunkturpaket II)
darunter:
Investitionsprogramm
Erhöhung Grundfreibetrag und Senkung des Eingangsteuersatzes bei der ESt
Reduktion des Beitragssatzes der Gesetzlichen Krankenversicherung
Abwrackprämie
Kinderbonus
Ausweitung und Bezuschussung des Kurzarbeitergelds
Gesetz zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale
Gesetz zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen
(Bürgerentlastungsgesetz)
– 4,1
+ 1,4
– 4,1
+ 1,4
– 4,6
– 5,0
+ 0,8
+ 1,3
+ 0,6
+ 0,8
+ 2,4
+ 4,1
– 4,1
– 7,7
–
–
–
–
1,0
2,6
0,2
21,1
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
3,2
2,8
3,1
5,0
1,8
4,2
5,4
– 2,5
– 9,6
Summe
– 37,7
– 46,3
1,0
5,7
0,8
25,5
– 10,1
– 5,4
– 6,0
.
.
– 3,1
– 3,1
1) Die in der Tabelle dargestellten Zahlen weichen leicht von denjenigen aus Tabelle 22 ab, da es sich hier'bei um
eigene Schätzungen handelt und Maßnahmen aus vorangegangenen Jahren berücksichtigt wurden.
Quellen: BMF und eigene Schätzung
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Schaubild 36
Kapazitäten für die PKW -Produktion in Europa 1)
genutzte Kapazität
Überkapazität
Mio PKW
M io PKW
40
40
35
35
30
30
25
25
20
20
15
15
10
10
5
5
0
0
2006
2007
2008
2009
2010
2012
1) Für die Jahre 2009 bis 2012 Prognose.
Quelle: PricewaterhouseCoopers
© Sachverständigenrat
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S c h a u b ild 3 3
S im u la t io n s r e c h n u n g e n d e r W ir k u n g e n s t a a tlic h e r A u s g a b e n p r o g r a m m e
a u f d ie E n t w ic k lu n g d e s B r u t t o in la n d s p r o d u k t s in D e u t s c h la n d 1 )
V e r ä n d e r u n g e n g e g e n ü b e r d e m j e w e i lig e n R e f e r e n z s z e n a r i o
S t a a ts a u s g a b e n :
B r u t t o i n la n d s p r o d u k t :
T a y lo r ( 1 9 9 3 )
N iG E M
RW I
vH
vH
1 ,2
1 ,2
1 ,0
1 ,0
0 ,8
0 ,8
0 ,6
0 ,6
0 ,4
0 ,4
0 ,2
0 ,2
0
0
- 0 ,2
- 0 ,2
- 0 ,4
- 0 ,4
I
II
III
2009
IV
I
II
III
2010
IV
I
II
I II
IV
2011
1 ) E i g e n e B e r e c h n u n g e n ( N iG E M ) , B e r e c h n u n g e n v o n C w ik u n d W i e l a n d ( T a y lo r ) s o w ie R W I .
© S a c h v e r s t ä n d ig e n r a t
I
II
I II
2012
IV
I
II
III
2013
IV
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Schaubild 34
Langfristige Entwicklung der gesamtstaatlichen Schuldenstandsquote1)
vH
vH
90
90
Unterstellte Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts in jeweiligen Preisen:
85
82
83
79
80
82
80
79
85
2,5 vH
80
77
75
3 1/4 vH
77
73
80
4,0 vH
74
74
75
71
70
70
65,6
67,6
70
65,9
70
68
66
66
65
60
59
61
59,7
63
63
65
60,3
65
60
56
57
55
55
53
50
50
0
50
0
2000
02
04
06
08
2010
12
14
16
18
2020
22
24
26
28
2030
1) In der Abgrenzung gemäß dem Vertrag von Maastricht. Ab 2009 eigene Berechnungen bei Einhaltung der Schuldenbremse.
© Sachverständigenrat
Siehe hierzu in diesem Begleiter
Teil C Strategien der Stabilisierungspolitik, 3.3.3 Potenzialorientierte bzw. konjunkturneutrale Haushaltspolitik
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Konsolidierungsbedarf des Bundes bis 2016
durch die Schuldenbremse1)
Konsolidierungsbedarf3)
Strukturelles Defizit
Jahr2)
bei Einhaltung der
Schuldenbremse
Status quo
vH
Mrd Euro
vH
im laufenden
Jahr
zusätzlich
gegenüber
Vorjahr
Nachrichtlich:
Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen
Preisen
Mrd Euro
Mrd Euro
2010
1,6
39
1,6
39
–
–
2011
1,6
40
1,4
34
6
6
2 388
2 466
2012
1,6
42
1,2
30
12
6
2 547
2013
1,6
43
1,0
26
17
5
2 631
2014
1,6
44
0,8
21
24
7
2 717
2015
1,6
46
0,6
15
30
6
2 806
2016
1,6
47
0,35
10
37
7
2 898
1) Gerundete Werte.– 2) Bis 2013 Finanzplanung des Bundes (Stand: August 2009), ab 2014 eigene Fortschreibung.–
3) Lesehilfe: Im Jahr 2011 beträgt der Konsolidierungsbedarf 6 Mrd Euro, im Jahr 2012 zusätzlich 6 Mrd Euro, sodass
sich insgesamt ein Konsolidierungsbedarf gegenüber dem Status quo von 12 Mrd Euro ergibt.
Finanzpolitische Kennziffern bei Beachtung der Schuldenbremse1)
vH
2010
2011
2012
2013
Staatsquote ............................................
Einnahmequote ........................................
Finanzierungssaldo ..................................
49 1/2
43 1/2
– 6
48
43 1/2
– 5 1/2
47 1/2
43 1/2
– 4
46 1/2
43 1/2
– 3
Struktureller Finanzierungssaldo ..............
Schuldenstandsquote ..............................
– 4
79
– 3
81
– 2 1/2
82
– 2
82
1) Stand: August 2009; Ausgaben, Einnahmen, Finanzierungssaldo, Schuldenstand in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen.
Quelle: BMF
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4
Strukturelle Arbeitslosigkeit und Ansätze zu ihrer Bekämpfung
4.2
Ursachen und Arten struktureller Arbeitslosigkeit
4.2.1
Strukturelle Arbeitslosigkeit im weiten und engen Sinn
Der Begriff "strukturelle Arbeitslosigkeit" wird häufig in einer sehr weiten
Abgrenzung gebraucht. Danach ist derjenige Teil der Arbeitslosigkeit, der
nicht auf vorübergehende Konjunktureinbrüche sowie friktionelle und saisonale Faktoren zurückzuführen ist, "struktureller" Natur.
Ifo-Institut: Etwa 85 % der
Arbeitslosigkeit ist nicht
konjunktureller, sondern
struktureller Natur.
Es ist jedoch sinnvoll, den Begriff "strukturell" in einem engeren Sinne zu verwenden und auf teilwirtschaftliche (nicht gesamtwirtschaftliche) Erscheinungen zu beschränken. Als Strukturmerkmale kommen
dabei
•
branchenmäßige,
•
berufsspezifische,
•
regionale und
•
personenspezifische
Die Drehtüre des Arbeitsmarktes dreht sich schnell:
gut 7 Mio. Personen werden
pro Jahr entlassen, und etwa
7 Mio. Personen finden
auch wieder eine Stelle.
Beschäftigungsprobleme in Betracht. Im folgenden ⇒ enge Abgrenzung.
Strukturelle Arbeitslosigkeit ist ein teilwirtschaftliches Phänomen. Es herrscht also nicht ein globales
Ungleichgewicht am Arbeitsmarkt schlechthin (d. h. ein generell zu geringes Arbeitsplatzangebot), sondern
es liegen lediglich Ungleichgewichte auf regionalen, beruflichen, branchenmäßigen und/oder personenspezifischen Teilarbeitsmärkten vor. Kennzeichnend für strukturelle Arbeitslosigkeit ist somit ein Überhang des
Arbeitskräfteangebots auf bestimmten Teilarbeitsmärkten bei gleichzeitiger Arbeitskräfteknappheit auf anderen Teilarbeitsmärkten. Auf der einen Seite des Arbeitsmarktes gibt es also arbeitslose Erwerbsuchende
und auf der anderen Seite nicht besetzbare Arbeitslätze. Die offenen Stellen (das Arbeitsplatzangebot) sind
vorhanden; Arbeitslose und offene Stellen finden jedoch infolge von Merkmalsunterschieden (berufliche
Qualifikation und Erfahrung, regionale Verteilung u.a.m.) nicht zueinander. In der ökonomischen Theorie
wird dieser Sachverhalt auch als "mismatch" bezeichnet ⇒ „Mismatch-Arbeitslosigkeit“.
Wären die Arbeitskräfte unendlich anpassungsfähig ("mobil" im weitesten Sinne), so gäbe es das Phänomen der
strukturellen Arbeitslosigkeit nicht Arbeitslosigkeit als
Folge einer unzureichenden Mobilität ⇒ "Mobilitätsdefizit-Arbeitslosigkeit". (Hinweis: Die Zahl der offenen Stellen
betrug in den Jahren 2002 bis 2004 im Durchschnitt 360 Tsd. Stellen.
Selbst wenn man von einem erheblichen Fehler beim Ausweis der
offenen Stellen ausgeht, wären kaum mehr als 500 bis 750 Tsd. Personen dieser Art der Arbeitslosigkeit zuzurechnen.)
Kategorien von struktureller Arbeitslosigkeit:
•
strukturwandelbedingte Arbeitslosigkeit;
hier ist der wirtschaftliche Strukturwandel Auslöser für eine geänderte Zusammensetzung des Bedarfs an Arbeitskräften. Im Zentrum stehen also Veränderungen der Arbeitskräftenachfrage. Die Veränderung der Struktur
der Nachfrage nach Arbeitskräften ist ihrerseits Folge einer veränderten Güternachfrage, des technischen Wandels und/oder einer veränderten internationalen Arbeitsteilung.
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•
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auf persönlichen Eigenschaften beruhende Arbeitslosigkeit;
die Ursachen für Arbeitslosigkeit liegen in diesem Fall bei den Betroffenen. Ursache ist ein im Vergleich zur
Nachfrage "fehlstrukturiertes" Arbeitskräfteangebot.
4.2.2
Veränderungen der Struktur der Nachfrage nach Arbeitskräften
Ein Auslöser struktureller Arbeitslosigkeit ist der Strukturwandel. Bestimmte Branchen, Produkte, Regionen und Berufe stagnieren, während andere Branchen, Produkte, Regionen und Berufe überdurchschnittlich
wachsen. Ohne Strukturwandel ist auf Dauer kein Wachstum möglich.
Konservierung alter Strukturen gefährdet Wachstum und Beschäftigung.
•
Sichtbarer Ausdruck des Strukturwandels ist die Entwicklung, wie sie in der bekannten Drei-SektorenHypothese (C. Clark, J. Fourastié) zum Ausdruck kommt. So ging in Deutschland der Anteil der Erwerbstätigen im primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei) stetig zurück. Im Zuge der Industrialisierung nahm der Beschäftigtenanteil im sekundären Sektor (Warenproduzierendes Gewerbe)
bis Anfang der 70er Jahre kontinuierlich zu. Seitdem ist jedoch auch in diesem Bereich ein Rückgang
des Anteils der Erwerbstätigen zu verzeichnen. Ungebrochen verlief die Zunahme des Erwerbstätigenanteils im tertiären Sektor (private und staatliche Dienstleistungen). Vollzieht sich dieser Güterstrukturwandel nicht zu rasch, so kann auch die Anpassung auf dem Arbeitsmarkt vergleichsweise problemlos vollzogen werden. Eine Beschleunigung des Strukturwandels führt allerdings auch zu einem beschleunigtem Anpassungsbedarf auf der Seite des Arbeitsmarktes. Hinkt die Anpassungsfähigkeit hinter
dem Bedarf hinterher, so tritt strukturelle Arbeitslosigkeit auf.
Ursachen:
•
Veränderung der Produktionsstruktur,
•
Veränderung der Struktur der Güternachfrage.
Die Erfahrung zeigt nun allerdings, dass sich die sektorale Erwerbstätigenstruktur keineswegs vollkommen
parallel zur Struktur der Güterproduktion verändert hat. Im primären Sektor ist der Produktionsanteil stärker
gesunken als der Beschäftigtenanteil. Im sekundären Sektor ist es umgekehrt. Im tertiären Sektor ist durchgängig der Anteil der Erwerbstätigen größer als der Anteil der Dienstleistungsproduktion an der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Dieses Auseinanderdriften von Produktion und Beschäftigung ist vor allem
Folge des technischen und organisatorischen Fortschritts in den Wirtschaftssektoren.
Arbeitsmarkteffekte sektoraler Produktivitäts- und Produktionsfallgruppen
Fallkonstellation
Erläuterung
Sektorale Arbeitskräfte-
Branchen mit einem im Vergleich zum Produktivitätsfortschritt geringen Produktionswachstum:
freisetzung
wπA > wY
Der Freisetzungseffekt des technischen Fortschritts ist größer als der Mehrbeschäftigungseffekt infolge des wirtschaftlichen Wachstums. Der Sektor spart infolge des technischen Fortschritts mehr Arbeitskräfte ein, als er im Zuge des (im Vergleich zum Produktivitätswachstum „zu geringen“) Produktionswachstums wieder beschäftigen kann.
Der Sektor setzt also per Saldo Arbeitskräfte frei. Der Beschäftigungsanteil sinkt.
Diese Entwicklung ist seit Jahrzehnten für den primären Sektor typisch. Sie ist aber
seit Anfang der siebziger Jahre auch für den sekundären Sektor kennzeichnend.
Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene hätte diese Konstellation (c.p.) einen Rückgang der
Beschäftigung zur Folge.
Sektorale Arbeitskräfteabsorption
Branchen mit einem im Vergleich zum Produktivitätsfortschritt hohen Produktionswachstum:
Der Freisetzungseffekt des technischen Fortschritts ist kleiner als der Mehrbeschäftigungseffekt als Folge des Produktionswachstums. Bezogen auf einen Wirtschaftszweig
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bedeutet dies, dass dieser Sektor Arbeitskräfte absorbieren kann.
wπA < wY
Diese Entwicklung war bis Ende der sechziger Jahre für den sekundären Sektor typisch; sie ist seit Jahrzehnten für den tertiären Sektor kennzeichnend. Infolge der auf
gesamtwirtschaftlicher Ebene insgesamt zu geringen Wachstumsdynamik reicht allerdings die Absorptionsfähigkeit des tertiären Sektors offensichtlich nicht mehr aus, um
die in anderen Sektoren freigesetzten Arbeitskräfte wiederbeschäftigen zu können.
Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene ist eine derartige Konstellation (c.p.) Voraussetzung
dafür, dass die Erwerbstätigkeit insgesamt gesteigert werden kann.
Beschäftigungsneutralität
Branchen mit einem im Vergleich zum Produktivitätsfortschritt gleichen Produktionswachstum:
wπA = wY
Freisetzungseffekt des technischen Fortschritts und Mehrbeschäftigungseffekt des wirtschaftlichen Wachstums entsprechen sich. Die Freisetzungsrate entspricht der Arbeitskräfteabsorptionsrate.
Sektoral und gesamtwirtschaftlich betrachtet bleibt die Beschäftigung unverändert.
Geht man davon aus, dass das Produktivitätswachstum größer Eins ist (z.B. 1,5 Prozent), so bedeutet dies, dass die Volkswirtschaft (c.p.) ebenfalls um 1,5 Prozent wachsen muss, damit eine notwendige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der im Ausgangszeitpunkt bestehenden Beschäftigungssituation gegeben ist. Diese Wachstumsrate
wird auch als Beschäftigungsschwelle bezeichnet. Hinreichend ist diese Bedingung
allerdings nur dann, wenn im Zuge des Strukturwandels die Umstrukturierung der Arbeitskräfte reibungslos erfolgt und keine Mismatch-Situationen auftreten. Herrscht wie
seit Jahrzehnten in Deutschland Unterbeschäftigung, so muss (c.p.) das Produktionswachstum die Beschäftigungsschwelle übersteigen, wenn eine bestehende Unterbeschäftigung abgebaut werden soll.
Hinweis:
Gesamtwirtschaftlich:
wBIP > wπΑ
Steigt die Beschäftigung (sinkt die ALO)
wBIP < wπΑ
Sinkt die Beschäftigung (steigt die ALO)
wBIP = wπΑ
Bleibt die Beschäftigung (ALO) unverändert.
Die gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsschwelle liegt in
Deutschland bei etwa
1,5 % BIP-Wachstum
wBIP : Wachstum des BIP
wπΑ : Veränderungsrate der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen
Seit Anfang der 90er Jahre war das gesamtwirtschaftliche Wachstum zu gering, um die in als Folge des
technischen Fortschritts freigesetzten Arbeitskräfte wiederbeschäftigen zu können. ⇒ "wachstumsdefizitäre Arbeitslosigkeit".
Der beschriebene Wandel der Beschäftigungsstruktur hat sich jedoch nicht nur zwischen den genannten
Makrosektoren vollzogen (intersektoraler Strukturwandel). Auch innerhalb der Sektoren fand eine Umschichtung der Arbeitsplätze statt (intrasektoraler Strukturwandel).
4.2.3
Persönliche Eigenschaften von Arbeitslosen
Die Ursachen für Ungleichgewichte auf Teilarbeitsmärkten können auch bei den Arbeitskräften selbst, also
beim Arbeitskräfteangebot, liegen. Es handelt sich hierbei um bestimmte Eigenschaften von Personen, die zu
struktureller Arbeitslosigkeit führen können. Die wichtigsten Gründe sind :
•
Beruf und Qualifikation
•
Alter
•
Geschlecht
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•
Gesundheitszustand
•
Gebundenheit an den Wohnort
•
Nationalität
Nimmt im Zeitablauf die Bereitschaft der Arbeitskräfte ab, sich veränderten Arbeitsmarktbedingungen anzupassen, so tritt "Mobilitätsdefizit-Arbeitslosigkeit" auf. In diesem Zusammenhang wird vielfach auf die
mobilitätsreduzierenden Effekte eines zu engmaschig geknüpften sozialen Netzes und auf ein "wohlstandsstaatliches" Sicherheitsdenkens verwiesen.
In der Bundesrepublik Deutschland ist die regionale Mobilität relativ gering. Der einmal gewählte Standort
oder persönliche Bindungen stellen Barrieren dar, die nur schwer übersprungen werden. Demgegenüber erweist sich die berufliche Mobilität als vergleichsweise hoch.
Arbeitslosigkeit ist zu einem beträchtlichen Teil auch Folge eines "falsch" gewählten Berufs bzw. eines zu
geringen Ausbildungsniveaus ⇒ berufs- bzw. qualifikationsspezifische Arbeitslosigkeit.
Erfahrungsgemäß haben ältere Arbeitnehmer mehr Schwierigkeiten wieder einen Arbeitsplatz zu finden als
jüngere. Aber auch Jugendliche sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. ⇒ altersspezifische Arbeitslosigkeit
Zu den persönlichen Merkmalen zählt auch das Geschlecht ⇒ geschlechtsspezifische Arbeitslosigkeit.
Schließlich ist auf gesundheitliche Einschränkungen zu verweisen, die bei den Betroffenen zu überproportionaler Arbeitslosigkeit führt.
4.3
Ansätze zur Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit
4.3.1
Bekämpfung der regionalen Arbeitslosigkeit
Strukturelle Arbeitslosigkeit ist eine eher zählebige Erscheinung. Rasche Erfolge sind bei ihrer Bekämpfung
nicht zu erwarten. Da sich zudem die Ursachenfaktoren gegenseitig überlappen und verstärken, kommt zur
Bekämpfung der strukturellen Arbeitslosigkeit nur ein System von ineinandergreifenden struktur- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in Betracht. Sie werden im folgenden skizziert.
Bei der regionalen Arbeitslosigkeit handelt es sich um geballte Unterbeschäftigung in strukturschwachen
bzw. monostrukturierten Regionen. Ein besonders markantes Beispiel für regionale Arbeitslosigkeit ist die
Unterbeschäftigung in den neuen Bundesländern.
Ansätze zur Bekämpfung:
• Förderung der Ansiedlung von Industrie- und Dienstleistungsbetrieben,
• Ausbau der Infrastruktur in strukturschwachen Regionen ⇒ Programm "Aufbau Ost",
• Erhöhung der regionalen Mobilität ⇒ "Menschen zu Maschinen" ⇒ Umzugsbeihilfen / Trennungsentschädigungen.
Probleme: personelle Ausdünnung der ohnehin strukturschwachen Regionen; hierdurch werden die
langfristigen Entwicklungschancen dieser Räume verschlechtert. Zunahme der Ballung in den Agglomerationsgebieten ⇒ "passive Sanierung“
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4.3.2
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Bekämpfung sektoraler Arbeitslosigkeit
Ansätze zur Bekämpfung:
•
Verringerung der Freisetzungseffekte in den strukturschwachen Branchen ⇒ Erhaltungssubventionen und protektionistische Maßnahmen ⇒ Problematik;
•
Förderung der "Zukunftsbranchen" ⇒ Anpassungssubventionen / sektorale Fördermaßnahmen / Ausbau der
(Forschung-)Infrastruktur / Verbesserung des Technologietransfers.
Eine breit gestreute Förderung im Sinne einer Verbesserung der Rahmenbedingungen ist auf Dauer erfolgreicher als eine gezielte Struktur- und Technologiepolitik, die versucht, den Strukturwandel in eine bestimmte
Richtung zu lenken. Denn in einer Marktwirtschaft ist es nicht Aufgabe des Staates, darüber zu befinden, welche Branchen und Technologien "zukunftsträchtig" und damit förderungswürdig sind, und welche Wirtschaftszweige, Technologien oder Berufe auf die "Negativliste" des Strukturwandels zu setzen sind; dies hat der Markt
zu entscheiden.
4.3.3
Bekämpfung berufs- bzw. qualifikationsspezifischer Arbeitslosigkeit
Ansatzpunkte:
•
Aus- und Weiterbildung
•
Umschulung
•
Berufsberatung ⇒ Prognoseprobleme ⇒ "lebenslanges Lernen"
4.3.4
Auf persönlichen Eigenschaften beruhende strukturelle Arbeitslosigkeit und Ansätze
zu ihrer Bekämpfung
Maßnahmen bezogen auf einzelne "Problemgruppen" (Ältere / Jugendliche mit geringer Qualifikation / Ausländer. Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf (u.a. Kinderbetreuung).
5
Arbeitslosigkeit als Folge eines anhaltend zu geringen Wirtschaftswachstums
und Ansätze zu ihrer Bekämpfung (growth gap unemployment)
5.1
Ursachen und Arten anhaltender Arbeitslosigkeit
"Arbeitslosigkeit kann auch Folge eines dauerhaften gesamtwirtschaftlichen Arbeitsplatzmangels infolge "zu geringen"
Wirtschaftswachst um sein". (J. Pätzold, 1998). Wie bei der
konjunkturellen Arbeitslosigkeit handelt es sich hierbei um
einen allgemeinen Mangel an Arbeitsplätzen, also um ein gesamtwirtschaftliches Phänomen. Im Unterschied zur konjunkturellen Arbeitslosigkeit liegt dann wachstumsdefizitäre
Arbeitslosigkeit ("growth-gap-unemployment") vor, wenn der
Beschäftigungsrückgang nicht nur vorübergehender Natur ist.
Kennzeichnend für wachstumsdefizitäre Arbeitslosigkeit ist,
dass das wirtschaftliche Wachstum über eine längere Periode "zu gering" ist, um Vollbeschäftigung zu sichern. Das vollbeschäftigungssichernde Wirtschaftswachstum ist allerdings keine absolute Größe. Vielmehr
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sind vier verschiedene Einflussgrößen dafür maßgebend, welche Wachstumsrate der Produktion erforderlich
ist, um das Beschäftigungsziel zu erreichen:
•
die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts
(wBIP ); je höher die Zuwachsrate der Produktion, um so mehr zusätzliche Arbeitsplätze werden
unter sonst gleichen Umständen geschaffen;
•
die Entwicklung der Arbeitsproduktivität (wπΑ);
sie entscheidet über die
potentielle Freisetzung
von Arbeitskräften im
Zuge des technischen und
organisatorischen Fortschritts;
•
die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials
(wEP* ); nimmt das Arbeitskräfteangebot zu, so ist
unter sonst gleichen Umständen ein höheres Produktionswachstum erforderlich, um Vollbeschäftigung
aufrechtzuerhalten. Bei einem abnehmenden Arbeitskräfteangebot ist umgekehrt nur ein geringeres
Wachstum notwendig, damit das Vollbeschäftigungsziel erreicht werden kann;
•
die Entwicklung der Arbeitszeit (wAZ); eine Verkürzung der Arbeitszeit trägt unter sonst gleichen Umständen zur Entlastung des Arbeitsmarktes bei.
Als Bestimmungsgleichung für die Entwicklung des
Beschäftigungsgrades (wb) folgt mithin:
wb = wBIP – wπA – wAZ – wEP*
Im folgenden werden die Ursachen genauer analysiert und ursachengerechte Ansätze zur Bekämpfung anhaltender Arbeitslosigkeit diskutiert.
5.1.1
Technologische und lohnkosteninduzierte Arbeitslosigkeit
Häufig wird die These vertreten, die zentrale Ursache für die anhaltende Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik liege in einer Beschleunigung des technischen und organisatorischen Fortschritts, mit der Folge
einer technologischen Arbeitslosigkeit.
Tatsächlich sind in einzelnen Wirtschaftszweigen erhebliche Rationalisierungsschübe als Folge der Anwendung neuer Technologien (Prozessinnovationen) zu beobachten.
Technischer Fortschritt führt zur Verlagerung der Produktionsfunktion nach oben. Folgen können sein,
• dass ein gegebener Output (BIP0) jetzt mit einer geringeren Zahl Erwerbstätiger erzeugt werden kann (E0
⇒ E1, "Arbeitskräfteeinsparungseffekt des technischen Fortschritts"), oder
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• mit einem gegebenen Arbeitskräfteeinsatz (E0) kann infolge des technischen Fortschritts eine höhere
Produktion erstellt werden (BIP0 Á BIP1, "Wohlstandseffekt des technischen Fortschritts").
Als "job-killer" wirken Produktivitätsfortschritte folglich nur dann, wenn es nicht gelingt, den Fortschritt in
entsprechende Produktionssteigerungen "umzusetzen".
Sind die arbeitskräftesparenden Rationalisierungsprozesse auf "zu hohe" Löhne zurückzuführen, so spricht
man auch von lohnkosteninduzierter oder "klassischer" Arbeitslosigkeit". Die Folge starker Lohnsteigerungen ist, dass der Produktionsfaktor Arbeit durch den Produktionsfaktor Kapital substituiert wird. Insbesondere eine Erhöhung der Lohnsätze, die über den Anstieg der Arbeitsproduktivität hinausgeht löst, arbeitskräftesparenden technischen Fortschritt aus. In der Realität ist immer wieder zu beobachten, dass
gerade die unteren Lohngruppen überproportional erhöht werden (z. B. durch die Vereinbarung von Mindestbeträgen). Der Sachverständigenrat bezeichnet diese Tatbestand auch als Mindestlohnarbeitslosigkeit.
Liegt die geforderte Lohnhöhe der Arbeitnehmer (Anspruchslohn) über dem Gleichgewichtslohn, so entsteht – infolge der bei diesem Lohn zu geringen Arbeitskräftenachfrage – Arbeitslosigkeit. Die geforderten
Anspruchslöhne hängen in Deutschland vor allem vom Niveau der staatlichen Lohnersatzzahlungen (Arbeitslosenunterstützung, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe) ab. Auf diese Weise erzeugt der Sozialstaat Arbeitslosigkeit. Die sozialen Sicherungssysteme erzeugen in Deutschland Anspruchslöhne, die in vielen Fällen
höher sind als die Löhne, die mit einer für Arbeitgeber (in Deutschland) profitablen Anstellung vereinbar
sind. Durch die Hartz IV Reform wurden zwar die Anspruchslöhne tendenziell gesenkt, das Problem aber
nicht beseitigt. Betroffen sind in erster Linie gering Qualifizierte.
In der Bundesrepublik Deutschland haben sich die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität im Zeitablauf
H.-W. Sinn: „Die Tarifskala wird, ähnlich einer Ziehharmonika, von unten her zusammengestaucht, und es entsteht
Arbeitslosigkeit, die sich speziell bei den iedrigtarifgruppen konzentriert.“ (S. 199) .... „Die extrem hohe Arbeitslosigkeit unter den gering Qualifizierten ist der Kern der Deutschen Krankheit.“ (S. 206) .... „Die Arbeitslosigkeit
dieser Personengruppe kann direkt oder indirekt auf die Sozialhilfe und die daraus hergeleiteten Effekte auf die
Lohnstruktur zurückgeführt werden.“ (S. 208).
vermindert; der Freisetzungsdruck ist folglich geringer geworden. Allerdings hat sich auch das wirtschaftliche Wachstum verlangsamt. Sinkt die Wachstumsrate des BIP schneller als der Produktivitätsfortschritt, so
ist dieses Wirtschaftswachstum offensichtlich "zu gering", um alle durch technischen Fortschritt freigesetzten Arbeitskräfte wiederbeschäftigen zu können. Soweit in der Bundesrepublik Deutschland technologische
Arbeitslosigkeit gesamtwirtschaftlich überhaupt aufgetreten ist, lag die Ursache keinesfalls in der Beschleunigung des gesamtwirtschaftlichen Rationalisierungsprozesses, sondern in der Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums ⇒ Stagnationsarbeitslosigkeit.
5.1.2
Wachstumsschwäche und
Stagnationsarbeitslosigkeit
Die Ursachen der Wachstumsschwäche lassen sich im
wesentlichen auf zwei Determinanten zurückführen:
•
nachfrageseitige Ursachen,
•
angebotsseitige Ursachen.
Bei den Vertretern der Sättigungsthese steht die
*achfrageseite im Zentrum. Sie weisen darauf hin,
dass Volkswirtschaften ohnehin nicht über längere
Zeiträume hinweg mit konstanten Raten wachsen könnten. Denn ein derartiges Wachstum müsste exponentiell verlaufen. Konsequenz wäre, dass der absolute Wohlstandszuwachs (in Milliarden €) fortwährend zunehmen würde. Es ist unstrittig, dass Wirtschaftssysteme in diesem Fall an "Grenzen des Wachstums"
(Club of Rome) stoßen müssen.
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Die Vertreter der Sättigungshypothese verweisen zudem darauf, dass mit zunehmendem Wohlstand auf
immer mehr Märkten *achfragesättigungen eintreten, dass das Wirtschaftswachstum also von der Nachfrageseite begrenzt werde. In modernen Gesellschaften verlagern sich die Bedürfnisse, und zwar nicht nur
von den materiellen Gütern zu den Dienstleistungen, sondern vor allem auch von denjenigen Bedürfnissen,
die über die Märkte befriedigt werden können, hin zu denjenigen Bedürfnissen, die nicht "marktorientiert"
sind. Verwiesen wird insbesondere auf das Verlangen mehr nach Freizeit und nach mehr immaterieller Lebensqualität. Die Folge eines derartigen Wertewandels von der marktorientierten Wohlstandsgesellschaft
hin zur Freizeitgesellschaft ("postmaterielle Gesellschaft") sei die zu beobachtende Stagnation von Produktion und Volkseinkommen.
Angebotstheoretiker, wie beispielsweise der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, lehnen die These von der Nachfragesättigung ab. Die in der Realität zu beobachtende
Stagnation des Produktions- und Volkseinkommenswachstums sei vielmehr Folge "falscher" Rahmenbedingungen für die Investoren. Nach Auffassung des Sachverständigenrates sind die Bedürfnisse noch keineswegs "gesättigt". Es gibt, so die Angebotstheoretiker, auch heute noch einen unbefriedigten Wunsch nach
mehr Wohlstand und damit einen Wunsch nach höheren Realeinkommen - diese latenten Wünsche müssten
nur geweckt und seitens der Produzenten befriedigt werden. Richtig sei zwar, dass auf einzelnen Märkten
(Landwirtschaft, Haushaltsgeräte u.a.m.) Sättigungstendenzen zu beobachten sind; diese partiellen Sättigungen dürften jedoch nicht mit allgemeiner Sättigung gleichgesetzt werden. Die zentrale Ursache der beobachtbaren Wachstumsschwäche wird in angebotsseitigen Störungen gesehen. Es gibt - so die zentrale These - nicht mehr genug wagemutige Pionierunternehmer, die das Wirtschaftssystem und damit das Wachstum in einem Prozess der schöpferischen Zerstörung (Josef Alois Schumpeter) vorantreiben.
Die Gründe für die angebotsseitigen Hemmnisse sind vielschichtig; sie werden vor allem in leistungs- und
motivationshemmenden Steuern und sozialpolitischen Regelungen gesehen. Zudem wirkt sich das dichte
Netz staatlicher Regulierungen und Bevormundungen als Innovations- und Investitionshemmnisse aus. Verwiesen wird auch auf überhöhte Löhne, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit mindern und damit den
deutschen Standort für die Produzenten zunehmend unattraktiver machen.
5.1.3
Sach-Kapitalmangelarbeitslosigkeit
Ein unzureichendes Arbeitsplatzangebot kann auch darauf zurückzuführen sein, dass der in einem Land zur
Verfügung stehende Kapitalstock nicht ausreichend bzw. nicht wettbewerbsfähig ist. Es fehlt in diesem Fall
der zum Faktor Arbeit komplementäre Produktionsfaktor Kapital. Eine derartige Situation wird auch als
"Sach-Kapitalmangelarbeitslosigkeit" bezeichnet. Gemeint ist damit nicht ein Mangel an Geldkapital,
sondern eine unzureichende Ausstattung mit Sachkapital (Anlagen, Infrastruktur), insbesondere ein nicht
wettbewerbsfähiger (veralteter) Kapitalstock (unzureichender Modernisierungsgrad des Kapitalstocks)
Speziell in den neuen Bundesländern ist zu verzeichnen, dass die nach der deutschen Einheit zur Verfügung
stehenden Produktionsanlagen international nicht wettbewerbsfähig waren bzw. immer noch nicht wettbewerbsfähig sind ⇒ regionale Kapitalmangelarbeitslosigkeit ⇒ "Aufbau Ost".
5.1.4
Demographische Arbeitslosigkeit
Anhaltende Arbeitslosigkeit ist nicht nur dadurch bedingt, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften zu gering
ist, sondern kann auch dadurch verursacht sein, dass das Erwerbspersonenpotenzial steigt. Zentrale Ursachen
für einen Anstieg des Arbeitskräfteangebots sind:
•
Auftreten geburtenstarker Jahrgänge am Arbeitsmarkt,
•
Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen,
•
Nettozuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland.
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Da die genannten Ursachen letztlich auf Änderungen der Bevölkerung bzw. des Verhaltens der Bevölkerung
zurückzuführen sind, wird diese Art der Unterbeschäftigung auch als demographische Arbeitslosigkeit
bezeichnet ("Demographie" ist ein Teilgebiet der Bevölkerungswissenschaft) ⇒ geburtenstarke Jahrgänge /
erhöhte Erwerbsbeteiligung (von Frauen) / Nettozuwanderungen aus dem Ausland.
Soll ein derartiger demographisch bedingter
Anstieg des Arbeitskräfteangebots nicht zu
Arbeitslosigkeit führen, so müsste (unter sonst
gleichen Umständen) die Zuwachsrate der
gesamtwirtschaftlichen Produktion stärker
steigen als dies zur Absorption des Freisetzungseffekts erforderlich ist. Die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik war in der Vergangenheit insoweit zu einem erheblichen Teil
demographischer Natur.
5.2
Strategien zur Bekämpfung anhaltender Unterbeschäftigung
Ausgehend von der Bestimmungsgleichung für die Entwicklung des Beschäftigungsgrades
wb = wBIP - wπΑ - wAZ - wEP*
lassen sich folgende Ansätze zur Bekämpfung einer anhaltenden "wachstumsdefizitären Arbeitslosigkeit"
zuordnen:
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(1) 0ffensive Strategie
Das Beschäftigungsproblem kann offensiv angegangen werden. Hierzu kann versucht werden, das wirtschaftliche Wachstum derart zu steigern, dass neue Arbeitsplätze entstehen und die Arbeitslosigkeit gesenkt
wird. Die Wachstumsstrategie stellt quasi den Versuch dar, durch "Flucht nach vorn" die Beschäftigungsprobleme zu lösen. BG_BG_SCHWELLE
Strittig ist allerdings das "Wie", also die Frage des geeigneten Instrumentariums. Grundsätzlich lassen sich
zwei Teilstrategien der Wachstumspolitik unterscheiden:
1. nachfrageorientierte Wachstumspolitik
Sie zielt darauf ab, eine "zu geringe" Nachfrage im privaten Bereich durch eine zusätzliche Nachfrage des Staates auszugleichen. Diese Strategie ist insoweit "keynesianisch", als sie an der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
ansetzt. Da jedoch wegen der anhaltenden Wachstumsschwäche die Staatsausgaben nicht nur vorübergehend,
sondern auf Dauer erhöht werden sollen, wird dieser Ansatz auch als "links-keynesianisch" bezeichnet.
2. angebotsorientierte Wachstumspolitik
Sie setzt sich zum Ziel die Angebotsbedingungen für die privaten Investoren derart zu verbessern, dass mehr
Wachstum möglich wird.
Um 100 Tsd. zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, müsste das Produktionswachstum um etwa einen Prozentpunkt beschleunigt werden - das ist eine gewaltige Aufgabe für die Wachstumspolitik.
(2) Defensive Strategien
Skeptiker bezweifeln, dass die erforderlichen hohen Zuwachsraten des Sozial- oder Inlandsprodukts erreicht
werden können, um auf diese Weise die Beschäftigungsprobleme zu lösen. Will man eine anhaltend hohe
Arbeitslosigkeit nicht in Kauf nehmen, so kommen ergänzend oder sogar alternativ zur offensiven Wachstumsstrategie defensive Maßnahmen zur Entlastung des Arbeitsmarktes in Betracht.
Gefordert wird
•
die Verkürzung der Arbeitszeit,
•
die Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze und/oder
•
die Drosselung des Produktivitätsfortschritts.
Derartige Forderungen wurden in der Vergangenheit insbesondere vom Deutschen Gewerkschaftsbund erhoben und beschäftigungspolitisch begründet.
5.2.1
Nachfrageorientierte Wachstumspolitik
Die links-keynesianische Version der Wachstumsstrategie zielt darauf ab, Nachfragesättigungen im privaten Bereich durch Erhöhung der staatlichen Nachfrage zu kompensieren. Die Vertreter dieser Strategie
argumentieren, dass im Unterschied zur privaten Güterversorgung, die Versorgung mit öffentlichen Leistungen noch völlig unzureichend sei. Insbesondere in den Bereichen Umwelt, Städtesanierung, Sozialleistungen, Bildung, Energie u.a.m. gebe es einen bisher unbefriedigten Bedarf.
Probleme:
Problematisch ist nicht nur die Finanzierung der Staatsausgaben, sondern auch der Tatbestand, dass der
Anteil des Staates am Inlandsprodukt permanent steigt - eine ordnungspolitisch bedenkliche Entwicklung.
Die Finanzierung der zusätzlichen Staatsausgaben über Steuern kommt nicht in Betracht; die Steuerfinanzierung würde zu einer unerwünschten Zurückdrängung der privaten Nachfrage führen ("steuerliches crowding out"). Die Finanzierung der Ausgaben über Geldschöpfung bei der Zentralbank würde die Inflation
anheizen, zudem müsste hierzu in der Bundesrepublik das Bundesbankgesetz geändert werden. Bisher ist
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nämlich dem Staat der Zugang zur "Notenpresse aus gutem Grund verwehrt. Gleichwohl wurde in der Vergangenheit immer wieder die Forderung erhoben, staatliche Beschäftigungsprogramme über zinslose und
tilgungsfreie Zentralbankkredite, also faktisch über Geldschöpfung, zu finanzieren. Seit Maastricht ist die
Kreditaufnahme der Staaten bei den jeweiligen Zentralbanken der EURO-Zone auf Null limitiert.
Infolge der Erhöhung Geldmenge würden auf Dauer die Geldwertstabilität, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und das wirtschaftliche Wachstum beeinträchtigt ("inflatorisches crowding out"). Die Finanzierung der Staatsausgaben über die Erhöhung der Kreditaufnahme am Geld- und Kapitalmarkt würde das
Zinsniveau in die Höhe treiben und damit die beschäftigungspolitisch notwendigen privaten Investitionen
zurückdrängen ("zinsbedingtes crowding out"). Das Mehr an Staatsnachfrage würde auf Kosten der privaten Nachfrage erreicht. In keinem der Fälle wäre für die Beschäftigung etwas gewonnen. Es würden per Saldo lediglich Arbeitsplätze im privaten Sektor gegen Arbeitsplätze beim Staat getauscht.
Abgesehen von der ordnungspolitischen Problematik der Erhöhung der Staatsquote ist die beschäftigungspolitische Effizienz dieser Strategie äußerst fragwürdig. Links-Keynesianer argumentieren zwar, dass
ein derartiges staatliches Beschäftigungsprogramm mit erheblichen Multiplikatoreffekten einhergehe und
sich auf diese Weise quasi von selbst finanziere. Ob und wie stark diese Multiplikatoreffekte jedoch in der
Realität ausfallen, ist sehr umstritten. Die (eher monetaristisch argumentierende) Bundesbank geht jedenfalls
davon aus, dass staatliche Beschäftigungsprogramme auf Dauer mehr schaden als sie beschäftigungspolitisch nützen (negativer Multiplikatoreffekt); lediglich kurzfristig seien positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte zu erwarten ("Strohfeuer").
In der Bundesrepublik Deutschland haben sich die Vertreter einer links-keynesianischen Beschäftigungspolitik politisch bisher nicht durchsetzen können.
5.2.2
Angebotsorientierte Wachstumspolitik
Angebotstheoretiker plädieren für eine Wachstumspolitik, die nicht den öffentlichen, sondern den privaten
Sektor stärkt. Das für Vollbeschäftigung erforderliche Wirtschaftswachstum soll durch Revitalisierung der
Marktkräfte erreicht werden. Die Devise lautet: "Mehr Markt und weniger Staat". Dem Staat kommt
danach die Aufgabe zu, Wachstumshemmnisse zu beseitigen und private Initiative und Wagemut wieder
lohnend zu machen.
Plädiert wird insbesondere für
•
Reform des Steuersystems (Reform der Einkommensteuer - speziell Senkung der Spitzensteuersätze bei gleichzeitiger Verbreiterung der Bemessungsgrundlage -, Unternehmensteuerreform),
•
die Beseitigung administrativer Investitionshemmnisse (z.B. Verordnungen im Bauwesen, langwierige Genehmigungsverfahren),
•
die Privatisierung staatlicher Aufgaben,
•
Beseitigung der Ausnahmebereiche im GWB (z. T. bereits erfolgt: Telekommunikation, leitungsgebundene Energiewirtschaft, Bahnreform ...)
•
den Abbau von Subventionen, die lediglich der Erhaltung von Krisenbranchen dienen ("Subventionen sind ein
Krebsschaden", so der Sachverständigenrat),
•
die Verringerung (Konsolidierung) der zinstreibenden und damit die Investitionstätigkeit beeinträchtigenden
Staatsschulden (Konsolidierung der "strukturellen" Budgetdefizite),
•
eine "zurückhaltende" Lohnpolitik, die sich am Produktivitätsfortschritt ausrichtet ("produktivitätsorientierte
Lohnpolitik") und regional, sektoral und qualifikatorisch differenziert ist,
•
das Aufbrechen von Verkrustungen am Arbeitsmarkt (Kündigungsschutzverordnungen, Rationalisierungsschutzabkommen, flexiblere Arbeitszeitregelungen) und nicht zuletzt für
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•
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
eine Wirtschaftspolitik, die sich durch Stetigkeit und Berechenbarkeit auszeichnet und damit einen stabilen
Rahmen für das Wirtschaften der privaten Investoren schafft.
Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik verheißt keine raschen Erfolge. Sie lässt sich vielmehr von der Überzeugung leiten, dass die Wachstums- und Beschäftigungsprobleme nur durch eine auf längere Frist angelegte Politik überwunden werden können. Das Risiko dieser "Politik des langen Atems" besteht vor allem
darin, dass im Zweifel die Beschäftigungsprobleme kurzfristig nicht gemildert werden können, dass also
kurzfristig eine hohe Arbeitslosigkeit in
Kauf genommen werden muss. Die Botschaft der Angebotstheoretiker lautet, dass die Wirtschaftspolitik
nicht erst dann auf Probleme reagieren darf, wenn das "Kind schon in den Brunnen gefallen ist", sondern
dass unabhängig von Krisensituationen die Rahmenbedingungen so gestaltet werden müssen, dass das
Marktsystem in die Lage versetzt wird, Krisen über die Selbstheilungskräfte des Marktes zu überwinden.
Die Erfahrungen mit der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland haben
gezeigt, dass diese Strategie durchaus geeignet ist, die Wachstumsbedingungen zu verbessern. Im Zeitraum
1983 bis 1990 (dem Jahr der deutschen Vereinigung) konnten mehr als 3 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze
durch eine Wirtschaftspolitik geschaffen werden, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Rahmenbedingungen
für die Funktionsweise der Marktwirtschaft zu verbessern.
5.2.3
Arbeitszeitverkürzung
als beschäftigungspolitisches Instrument ?
Skeptiker bezweifeln, dass das Beschäftigungsproblem allein mittels
der Wachstumsstrategie einer Lösung zugeführt werden kann. Sie
plädieren daher für eine "gerechtere
Verteilung" der bei nicht ausreichendem Wirtschaftswachstum zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze auf
alle Arbeitnehmer. Diesem Ziel soll
die Verkürzung der Lebens-, Jahresund/oder Wochenarbeitszeit dienen.
Unstrittig ist, dass durch Verkürzung
der Arbeitszeit bereits in der Vergangenheit der Arbeitsmarkt entlastet worden ist. Strittig ist jedoch, ob
durch eine forcierte Arbeitszeitverkürzung (z.B. durch Übergang zur 35-Stunden-Woche) tatsächlich das
Beschäftigungsproblem einer Lösung zugeführt, werden kann. Es ist nämlich keineswegs so, dass ein gegebenes Arbeitsvolumen (das ist das Ergebnis der Multiplikation der Beschäftigten mit der jahresdurchschnittlichen Arbeitszeit; z.B. 38 Mio. Pers. Erwerbstätige x 1.400 Std. p.a. = 53,2 Mrd. Std.) einfach nur derart
umgeschichtet werden kann, dass die durchschnittliche Arbeitszeit gesenkt und im Gegenzug die Zahl der
Beschäftigten entsprechend gesteigert wird. Berechnungen, wonach die Reduktion der Wochenarbeitszeit
um eine Stunde zu einem Beschäftigungseffekt von 500 Tsd. Personen führe, sind reine "Milchmädchenrechnungen". In der Praxis ist nämlich zu beobachten, dass
•
der Beschäftigungseffekt der Arbeitszeitverkürzung ganz oder teilweise durch induzierte Produktivitätssteigerungen infolge von Arbeitsverdichtung (höhere Leistung bei unverändertem Maschinenpark) und Rationalisierungsinvestitionen (insbesondere bei Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich) neutralisiert wird.
Zumindest teilweise "verpufft" also der Beschäftigungseffekt,
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•
die Arbeitszeitverkürzung bei (zumindest teilweisem Lohnausgleich) zur Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und damit zu Exporteinbußen führt, wenn im Inland wesentlich kürzer gearbeitet
wird als im Ausland (längere Maschinenstillstandszeiten führen zu höheren Produktionskosten),
•
die Arbeitszeitverkürzung zu einem steigenden Arbeitskräfteangebot führen kann, und zwar deshalb, weil sich
bei verkürzter Wochenarbeitszeit vor allem verheiratete Frauen zunehmend für eine (Halbtags-) Erwerbstätigkeit entscheiden; dann wird aber der Arbeitsmarkt von der Arbeitskräfteangebotsseite zusätzlich belastet.
Die beschäftigungspolitischen Effekte einer Arbeitszeitverkürzung sind im vorhinein kaum abschätzbar.
Auch im Nachhinein ist strittig, ob und in welchem Ausmaß die in der Bundesrepublik Deutschland seit
1984 durchgesetzte Arbeitszeitverkürzung zu einer Mehrbeschäftigung geführt hat. Hierzu müsste ja die
Frage beantwortet werden, wie sich Arbeitsproduktivität, Exporte, Inlandsprodukt und andere beschäftigungspolitisch wichtige Parameter entwickelt hätten, wenn keine Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt worden wäre.
Klar muss aber sein, dass eine Umverteilung von Arbeit ohne Umverteilung von Einkommen nicht zu haben ist. Insofern ist der Streit um die Arbeitszeitverkürzung auch eine Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die einen Arbeitsplatz "besitzen" und den Arbeitslosen: Der vorhandene Verteilungsspielraum wird
nicht für Einkommenssteigerungen, sondern für Freizeit der Beschäftigten und für Mehrarbeit und Mehreinkommen der bisherigen Arbeitslosen anders genutzt. Diesem Einkommensverlust können sich die Beschäftigten offensichtlich auch dann kaum entziehen, wenn Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich
ausgehandelt werden.
Klar ist auch, dass die forcierte Arbeitszeitverkürzungspolitik in Deutschland zu einem drastischen Anstieg
der Lohnstückkosten geführt hat und zur Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsposition beigetragen hat. Geboten sind Arbeitszeitverkürzungen (aus schlecht begründeten Beschäftigungseffekten), sondern geboten ist die Verlängerung der Arbeitszeit (Wochen- und Lebensarbeitszeit), um (bei unveränderter
Lohnsumme!) die Lohnstückkosten zu senken und den Standort Deutschland wettbewerbsfähiger zu machen.
5.2.4
Bremsung des technischen Fortschritts als beschäftigungspolitisches Instrument?
Unbeschadet der Tatsache, dass sich der Produktivitätsfortschritt nicht beschleunigt, sondern sogar verlangsamt hat, führt Rationalisierung zur potentiellen Freisetzung von Arbeitskräften. Es wird daher teilweise
vorgeschlagen, den Rationalisierungsprozess zu verlangsamen, um hierdurch den Freisetzungseffekt des
technischen Fortschritts zu mildern. Die Verlangsamung des Rationalisierungsprozesses kann einerseits direkt erfolgen (z.B. mittels Rationalisierungsschutzabkommen), andererseits aber auch indirekt bewirkt
werden, nämlich dadurch, dass die Reallöhne gesenkt werden und mithin der Substitutionsprozess von Arbeit durch Kapital verlangsamt, möglicherweise sogar umgekehrt wird.
Diese Maßnahmen sind jedoch ausgesprochen problematisch. Die Bundesrepublik erlangt ihre internationale
Wettbewerbsfähigkeit vornehmlich bei forschungs- und technologieintensiven Produkten. Durch Rationalisierungsschutzabkommen würde die internationale Wettbewerbsposition verschlechtert. Die Folge wären
Export- und damit Wachstums- und Beschäftigungsverluste. Widerstand gegen technische Neuerungen
schwächt die internationale Wettbewerbsfähigkeit und vereitelt Chancen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Marktwirtschaftskonform ist dagegen die Strategie der Lohnzurückhaltung. Hierdurch können lohnseitig
unrentable Arbeitsplätze ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Allerdings ist nicht zu erwarten,
dass durch eine forcierte Reallohnsenkung die Richtung des bisher arbeitskräftesparenden technischen Fortschritts umgekehrt werden kann.
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Ursachen von Arbeitslosigkeit und Ansatzpunkte der Vollbeschäftigungspolitik
– Übersichtsdarstellung –
Typus
Gesamtwirtschaftliches Phänomen
Gesamtwirtschaftliche Strategien
Teilwirtschaftliches Phänomen
Teilwirtschaftliche Strategien
Friktionelle Arbeitslosigkeit
Saisonale Arbeitslosigkeit
Zeitdauer
kurzfristig
Kurzfristige Sucharbeitslosigkeit als Folge mangelnder
Transparenz des Arbeitsmarktes
Bekämpfung friktioneller Arbeitslosigkeit
Befristete
Maßnahmen Verbesserung des Stelleninformations- und Vermittlungssystems
Konjunkturelle Arbeitslosigkeit
Mittelfristig
("temporär") Folge eines temporären Rückgangs der gesamtwirt-
Folge jahreszeitlicher Nachfrage- und Produktionsschwankungen
Bekämpfung saisonaler Arbeitslosigkeit
z. B. produktive Winterbauförderung und Schlechtwettergeld zur Aufrechterhaltung der Beschäftigung
Strukturalisierte konjunkturelle Arbeitslosigkeit
Folge eines temporären Rückgangs der Güternachschaftlichen Güternachfrage. Im Grenzfall völlig synfrage in einzelnen Branchen/Regionen.
chron verlaufende Konjunkturentwicklung in allen Branchen, Regionen, usw.
• hausgemachte konjunkturelle Arbeitslosigkeit
•
Befristete
Maßnahmen
importierte konjunkturelle Arbeitslosigkeit
Bekämpfung konjunktureller Arbeitslosigkeit
• Expansive Fiskalpolitik
* Staatsausgabenerhöhung
* Steuersenkung
* Folge: konjunkturelle Budgetdefizite
• Expansive Geldpolitik
* Erhöhung der Bankenliquidität
* Senkung des Zinsniveaus
• Expansive Außenwirtschaftspolitik
* Abwertung
* Importhemmnisse
Bekämpfung strukturalisierter konjunktureller
Arbeitslosigkeit
Eine regional, sektoral oder branchenmäßig differenzierte Konjunkturpolitik kommt kaum in Betracht
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Langfristig
("zählebig")
Strukturelle Arbeitslosigkeit im weiten Sinne
– detaillierte Darstellung –
Wachstumsdefizitäre Arbeitslosigkeit
(growth gap unemployment)
Gesamtwirtschaftliche Arbeitsplatzlücke infolge eines
anhaltend "zu geringen" wirtschaftlichen Wachstums.
• Stagnationsarbeitslosigkeit
Anhaltende Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums durch
* Nachfragesättigung und/oder
* angebotsseitige Störungen
•
Technologische Arbeitslosigkeit
Beschleunigung der Freisetzungseffekte durch
den technischen Fortschritt
•
Lohnkosteninduzierte bzw. "klassische" Arbeitslosigkeit
Substitution von Arbeit durch Kapital infolge
"zu hoher" Löhne
•
•
Langfristige
Strategien
Kapitalmangelarbeitslosigkeit
Unzureichende Ausstattung mit dem komplementären Produktionsfaktor Kapital
Strukturelle Arbeitslosigkeit
•
Regionale Arbeitslosigkeit
Konzentrierte Arbeitslosigkeit in strukturschwachen Regionen
•
Branchenspezifische Arbeitslosigkeit
Überproportionale Freisetzung von Arbeitskräften infolge
* geringem
Branchenwachstum
* hoher branchenmäßiger
Rationalisierung
•
Berufs- bzw. qualifikationsspezifische
Arbeitslosigkeit
* technischer Wandel
* falsche Ausbildung
•
Geschlechtsspezifische Arbeitslosigkeit
•
Weitere persönliche Eigenschaften
* Alter,
* Gesundheit,
* Nationalität)
Demographische Arbeitslosigkeit
Zunahme des Erwerbspersonenpotenzials infolge von geburten- starken Jahrgängen, erhöhter
Erwerbsbeteiligung, Nettozuwanderungen.
Bekämpfung wachstumsdefizitärer Arbeitslosigkeit
•
Offensive Strategie: Beschleunigung des
wirtschaftlichen Wachstums
* langfristige Erhöhung der Staatsnachfrage
durch "links-keynesianische Wirtschaftspolitik"
und/oder
* langfristige Verbesserung der Rahmenbedingungen durch "angebotsorientierte Wirtschaftspolitik"
•
Defensive Strategien: Verringerung des
Arbeitsvolumens bei nicht ausreichendem
Wirtschaftswachstum
* Verringerung des Erwerbspersonenpotenzials (Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze, Vorruhestand, Verringerung der Erwerbsbeteiligung, Rückführung ausländischer
Arbeitskräfte)
* Herabsetzung der Jahres- bzw. Wochenarbeitszeit
Quelle: Pätzold/Baade: Stabilisierungspolitik, 7. Aufl., 2008
Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit
•
Regionale Arbeitslosigkeit
* Förderung der regionalen Mobilität der
Arbeitskräfte (passive
Sanierung) und/oder
- Förderung des regionalen Produktionsstandortes
(Infrastrukturausbau, Ansiedlung von
Industrie- und
Dienstleistungsbetrieben)
* regional differenzierte Lohnpolitik
•
Branchenspezifische Arbeitslosigkeit
* Branchenmäßig differenzierte Lohnpolitik
* Branchenspezifische Förderprogramme
(problematisch)
* Protektionistische Maß- nahmen (problematisch)
•
Berufs- und qualifikationsspezifische
Arbeitslosigkeit
* Förderung der beruflichen Mobilität
("lebenslanges Lernen")
* bedarfsgerechte Bildung und Ausbildung
* qualifikationsmäßig differenzierte
Lohnpolitik
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Teil B: Das Inflationsproblem - Ursachen und Strategien
1
Entwicklung der Inflation in
Deutschland
2
Negative Konsequenzen von
Inflation
Bevor nach den Ursachen der Inflation und den
sich daraus ergebenden Ansatzpunkten für eine
"ursachengerechte"
Geldwertstabilitätspolitik
gefragt wird, sollen kurz die möglichen negativen Konsequenzen von inflationären Prozessen beleuchtet
werden. Sie sind letztlich die eigentliche Ursache für den hohen Rang des Ziels der "Preisniveaustabilität"
im wirtschaftspolitischen Zielkatalog.
Es lassen sich drei Ebenen von Inflationseffekten unterscheiden:
•
*egative Allokationseffekte,
die die Funktionsfähigkeit des Preismechanismus beeinträchtigen und damit auf Dauer Wachstum und Beschäftigung schädigen,
•
Umverteilungswirkungen,
die unkontrolliert sind und vielfach als "ungerecht" empfunden werden und
•
Beeinträchtigungen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
Siehe hierzu Skript 1. Semester.
3
Systematik der Inflationsursachen
Quelle: Pätzold/Baade: Stabilisierungspolitik, 7. Aufl., 2008
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4
Nachfrageinflation und ihre Bekämpfung
4.1
Inflation im Konjunkturverlauf
Die Inflationsraten sind relativ hoch in der Hochkonjunktur, sie sind gering in der Rezession. Übersteigt in
der Hochkonjunktur die Nachfrage nach Waren und Diensten die volkswirtschaftlichen Produktionskapazitäten (sog. Produktionspotenzial), so sind Preissteigerungen die unausweichliche Folge. Die Nachfrage "zieht"
quasi die Preise in die Höhe ⇒ "demand-pull-inflation" ⇒ "*achfragesog" ⇒ "inflatorische Lücke"
⇒ "konjunkturelle Inflation".
Die gesamtwirtschaftliche (End-)Nachfrage YN setzt sich aus folgenden Nachfragekomponenten zusammen:
•
Konsumnachfrage der Privaten Haushalte
(Cpr H),
•
(Brutto-)Investitionsausgaben der privaten Unternehmen (Ibr prU),
•
Ausgaben des Staates für Waren und Dienste (A St ) und
•
Exportnachfrage (Ex) saldiert mit den Importen (Im)
Es gilt daher:
YN = CprH + IbrprU + ASt + Ex - Im
Besteht die Ursache der zu hohen Nachfrage in
einer zu großen binnenwirtschaftlichen Nachfrage (Verbrauch, Investition und Staatsausgaben), so kann man von
(1) hausgemachter *achfrageinflation,
andernfalls von
(2) importierter *achfrageinflation
sprechen.
Am bekanntesten sind die hausgemachte
"Staatsnachfrageinflation" und die "importierte *achfrageinflation".
zu (1) Hausgemachte *achfrageinflation.
In praktisch allen Ländern, in denen sehr hohe
Inflationsraten zu beobachten sind, geht die
Inflation regelmäßig auf eine unsolide Ausgabenpolitik des Staates zurück. Verwiesen sei
in diesem Zusammenhang auf die extrem hohen Inflationsraten in lateinamerikanischen Staaten. Inflationsbekämpfung heißt daher in diesen Ländern vor allem Drosselung der Staatsausgabenentwicklung. Die Finanzierung einer derartigen "hausgemachten" Staatsnachfrageinflation stellt dann kein Problem dar, wenn
die Zentralbank von der Regierung abhängig ist - und das ist international in der Mehrzahl der Länder der
Fall. Die Finanzierung der Staatsausgaben erfolgt dann schlicht über die "Notenpresse", also über Geldschöpfung. Eine unabhängige *otenbank ist daher eine zentrale Voraussetzung für die Verhinderung von
Staatsnachfrageinflation.
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zu (2) Importierte *achfrageinflation
Im Ausland wird in der Regel eine weniger stabilitätsgerechte Geld-, Finanz- und Lohnpolitik betrieben als
in der Bundesrepublik. Die Inflationsraten sind dort regelmäßig höher als im Inland. Folge dieser relativen
Preisniveaustabilität in der Bundesrepublik Deutschland ist, dass die deutschen Exporte steigen und die
Importe aus dem Ausland stagnieren. Der zunehmende Exportüberschuss ist beschäftigungspolitisch positiv zu bewerten. Übersteigt jedoch die Auslandsnachfrage die Produktionsmöglichkeiten der heimischen
Exportwirtschaft, so steigen im Inland die Preise. Diese Wirtschaftszweige erzielen höhere Gewinne und
sind folglich in der Lage, den in diesen Wirtschaftszweigen beschäftigten Arbeitnehmern höhere Löhne zu
zahlen. Der Prozess von steigenden Preisen und Löhnen pflanzt sich in die übrigen Wirtschaftszweige fort,
so dass es zu einem allgemeinen Anstieg des Preisniveaus kommt - die höhere Inflationsrate des Auslandes
wird folglich in das Inland hereingetragen ("importierte *achfrageinflation"). Ob und wann dieser Prozess der importierten Nachfrageinflation zum Stillstand kommt, hängt nicht nur von der weiteren Inflationsentwicklung im Ausland ab, sondern vor allem auch von der Ausgestaltung der Währungsbeziehungen mit
dem Ausland. Haben die Regierungen untereinander für ihre Währungen relativ feste Wechselkurse vereinbart, so ist die heimische Zentralbank verpflichtet, die über das Exportgeschäft "überschüssig" verdienten
Devisen aus dem Markt zu nehmen ("Stützungskäufe"). Im internationalen Währungssystem von "Bretton
Woods" (1944 - 1973) hatten sich die beteiligten Länder verpflichtet, die Wechselkurse innerhalb bestimmter Bandbreiten zu stabilisieren. Im gegenwärtigen "Europäischen Währungssystem" (EWS) besteht diese
Verpflichtung weiterhin. Die Devisenkäufe haben allerdings zur Konsequenz, dass die heimische Geldmenge steigt, was die Inflation antreibt.
Im System flexibler Wechselkurse kommt es dagegen kaum zu permanenten außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten, also auch zu keiner importierten *achfrageinflation. Steigt nämlich die Exportnachfrage, werden also im Exportgeschäft mehr Devisen verdient, so treten diese Devisen am Devisenmarkt als Angebot in Erscheinung. Übersteigt das Devisenangebot der Exporteure die Devisennachfrage der Importeure,
so fällt der Preis dieser Devise, sie wird also abgewertet bzw. die heimische Währung wird gegenüber der
betreffenden Währung aufgewertet. Die Aufwertung des EURO drosselt den Export und regt den Import an.
Der Wechselkursmechanismus führt also automatisch zu einem Ausgleich der außenwirtschaftlichen
Ströme und zur Verhinderung einer importierten Inflation.
4.2
Bekämpfung der Nachfrageinflation
Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kann mehr oder weniger direkt (Beispiel: Senkung der staatlichen
Ausgaben) oder aber indirekt (Beispiel: Erhöhung der Steuersätze oder des Zinsniveaus mit dem Ziel der
Drosselung der privaten Konsum- und Investitionstätigkeit) beeinflusst werden. Für eine derartige antizyklische Steuerung der Nachfrage ("demand management") plädieren Keynesianer. In Betracht kommen:
•
finanzpolitische Maßnahmen der öffentlichen Hand (Fiskalpolitik),
•
der Einsatz geldpolitischer Instrumente durch die Zentralbank und gegebenenfalls
•
außenwirtschaftliche Maßnahmen.
4.2.1
Kontraktive Fiskalpolitik von Bund und Ländern
Im Bereich der Fiskalpolitik eröffnet das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StWG) seit 1967 der Bundesregierung und den Regierungen der Länder die Möglichkeit, haushaltspolitische Instrumente mit dem Ziel
einzusetzen, die wirtschaftliche Entwicklung im gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zu halten. Graphisch gesprochen besteht das Ziel darin, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage so weit zu drosseln, dass in
der obigen Inflationsdarstellung ("Inflation in einem Nachfrage- Angebotsdiagramm"), die gesamtwirtschaftliche Nachfrage so weit nach links verschoben wird, dass sie die Angebotskurve im Bereich der "Normalauslastung" (a*) schneidet. Nach Auffassung des Sachverständigenrates herrscht bei einem Auslastungsgrad des
Produktionspotenzials von 96,5 Prozent Normalauslastung.
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Beispiele sind:
•
Drosselung der Staatsausgaben
Gemäß § 6 StWG hat der Bundesfinanzminister das Recht, "im Fall einer die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit überschreitenden Nachfrageausweitung" durch das Parlament beschlossene Ausgaben zeitlich zu verzögern bzw. die Verausgabung der Mittel ganz oder teilweise zu streichen.
•
Erhöhung der Steuersätze
Zur Drosselung der Konsum- und Investitionsausgaben der Privaten Haushalte und der Privaten Unternehmen
können gemäß § 26 und § 27 StWG "Zuschläge zur Einkommen- und Körperschaftsteuer" erhoben werden (maximal 10 Prozent für höchstens ein Jahr). Zudem kann die Inanspruchnahme beschleunigter "Abschreibungsmöglichkeiten" (degressive Abschreibung) bzw. die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen (z. B. die
Sonderabschreibung gemäß § 10e Einkommensteuergesetz für den privaten Wohnungsbau) ausgesetzt werden.
Das Ziel besteht hierbei vor allem darin, die "Investitionsnachfrage" (insbesondere die Bautätigkeit) zu "drosseln". In der Hochkonjunktur Anfang der 70er Jahre wurden derartige "Konjunkturzuschläge" zur Einkommen- und Körperschaftsteuer erhoben und die Abschreibungsmöglichkeiten verschlechtert. (Die Regelungen
wurden inzwischen in die entsprechenden Spezialgesetze – EStG, KStG ... – eingefügt).
•
Reduktion der Staatsverschuldung bzw. Bildung von Budgetüberschüssen
Werden in der Hochkonjunktur die Staatsausgaben reduziert, so verringert sich der Verschuldungsbedarf des
Staates, gegebenenfalls entstehen sogar Budgetüberschüsse. Werden die Steuersätze erhöht bzw. die Abschreibungsmöglichkeiten verschlechtert, so gilt entsprechendes. Die sich aus diesen Maßnahmen ergebenden Mehreinnahmen sind in einer sog. "Konjunkturausgleichsrücklage" (KAR) bei der Zentralbank stillzulegen. Diese
Rücklage sollte dann erst in der nächsten Rezession wieder aufgelöst werden.
Die Erfolgsaussichten einer kontraktiven Fiskalpolitik sind allerdings nicht besonders günstig. Das liegt
weniger daran, dass die Instrumente nicht greifen würden. Das Hauptproblem der Fiskalpolitik ist vielmehr
die mangelnde politische Durchsetzbarkeit kontraktiver Maßnahmen. Ausgabenkürzungen bedeuten in der
Regel eine Verschlechterung der öffentlichen Leistungen und/oder die Kürzung von Sozialleistungen. Widerstände der Betroffenen sind vorprogrammiert. Ebenso stoßen Steuererhöhungen zum Zweck der Bremsung der Hochkonjunktur auf Widerstände in der Bevölkerung. Eine auf Wiederwahlchancen bedachte Regierung wird im Zweifel auf die vielschichtigen Widerstände und Proteste Rücksichtnahmen und ihre kontraktiven Maßnahmen zeitlich verzögern, sie verwässern oder auf die Maßnahmen völlig verzichten.
4.2.2
Kontraktive Geldpolitik der Zentralbank
Geldpolitisch kommt der Einsatz des gesamten Arsenals der Instrumente der EZB in Betracht. Keynesianer
plädieren im Boom für den kontraktiven Einsatz der Geldpolitik. Das Ziel besteht darin, über eine Politik
des knappen und teuren Geldes (Liquiditätsverknappung, Zinserhöhung) die Nachfrage (insbesondere die
private Investitionstätigkeit) zu drosseln. Soweit die Konsumnachfrage zinsabhängig ist, unterliegt auch sie
dem Einfluss der Geldpolitik. Dagegen gelten kreditfinanzierte Staatsausgaben als vergleichsweise zinsrobust.
Wirkungsgrenzen ⇒ Geringe Zinselastizität der Nachfrage ⇒ Sind im Boom die Auftragsbücher der Unternehmen voll und die Zukunftserwartungen günstig, so "schlucken" die Unternehmen im Zweifel die höheren Finanzierungskosten und investieren trotzdem. Zudem: ⇒ elastisches Bankensystem ⇒ lange time lags
mit prozyklischen Wirkungen.
4.2.3
Außenwirtschaftspolitische Maßnahmen
Die Möglichkeiten, die Entwicklung des Außenbeitrages wirkungsvoll zu beeinflussen, sind beschränkt. In
einem internationalen oder europäischen Währungssystem mit festen Wechselkursen käme gegebenenfalls
eine Aufwertung der heimischen Währung in Betracht (z. B. Aufwertung gegenüber anderen europäischen
Währungen). Hierdurch würde die Exportnachfrage gedämpft und der Import angeregt. In die gleiche Richtung zielt auch der Abbau von Importhemmnissen. Mit Widerständen seitens der Exportwirtschaft und seitens jener Branchen, die durch die Importkonkurrenz bedroht sind, ist zu rechnen. Gerade im Europäischen
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Währungssystem sind allerdings Veränderungen der Wechselkurse unerwünscht. Das Ziel besteht ja gerade
darin, die Schwankungsmargen immer weiter zu verringern und die nationalen Währungen letztlich durch
eine neue europäische Währung (Euro) zu ersetzen.
Fazit:
Die "Erfolgsaussichten" einer kontraktiven Konjunkturpolitik sind insgesamt äußerst "ungünstig". Erfolgversprechender als von Fall zu Fall kontraktiv einzugreifen, ist eine Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt,
durch eine stetige und stabilitätsgerechte Gestaltung der Geld- und Finanzpolitik inflationäre Entwicklungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wenn die Inflation einmal in Gang gekommen ist, wenn "das
Kind also schon in den Brunnen gefallen ist", dann braucht es erhebliches politisches Standvermögen, um
die entstandene Inflationsmentalität zu brechen. Für eine derartige verstetigte Wirtschaftspolitik treten vor
allem "Monetaristen" und Neoklassiker ein.
5
Angebotsinflation und ihre Bekämpfung
5.1
Inflation und Verteilungskampf
Inflation ist letztlich ein gesellschaftliches Phänomen ⇒ Übersteigt die Summe der Einkommensforderungen die realen Produktionsmöglichkeiten, so erfolgt der Ausgleich über steigende Preise. Dieser Inflationstypus wird auch als "Verteilungskampfinflation", häufiger noch als "Angebotsinflation" bezeichnet.
Voraussetzung für die Existenz eines so erklärten Inflationsprozesses ist, dass
•
die Einkommensforderungen mit Macht, z. B. gewerkschaftlicher Organisationsmacht (Lohnkosteninflation)
und/oder unternehmerischer Kartell- und Monopolmacht ("Marktmachtinflation") durchgesetzt werden,
•
die Einkommensforderungen über eine Ausweitung der Geldmenge "monetär alimentiert" werden. Ohne
Geldmengensteigerung ist Inflation auf Dauer nicht möglich.
Angebotsinflation kann sowohl in der Hochkonjunktur als auch in der Rezession auftreten. Die Erfahrung
hat nämlich gezeigt, dass Inflation nicht nur in der Hochkonjunktur zu beobachten ist und insoweit nachfrageseitig erklärbar wäre, sondern auch in der Rezession. Das gleichzeitige Auftreten von Rezession bzw.
Stagnation (und damit Arbeitslosigkeit) und von Inflation wird auch als Stagflation bezeichnet. Stagflationäre Entwicklungen wurden insbesondere in den 70er Jahren beobachtet. Da jedoch in der Rezession die
Nachfrage stagniert, kann die Inflation in dieser Konjunkturphase nicht auf eine "zu große" Nachfrage zurückgeführt werden. Die Ursachen der Preisniveausteigerung müssen in dieser Situation auf der "Angebotsseite" liegen bzw. bei den mit "Macht" ausgetragenen "Verteilungskämpfen "gesucht werden.
5.2
Kostendruckinflation
Der bekannteste Fall der Angebotsinflation ist die Kosteninflation und hier
wiederum die Lohnkosteninflation. Steigen die Kosten schneller als die
Kosteneinsparungsmöglichkeiten durch Rationalisierung (Produktivitätsfortschritt), so erhöhen sich die Stückkosten der Produktion. Die Unternehmer werden versuchen, diese erhöhten Stückkosten über die Produktpreise
auf die Kunden abzuwälzen; es werden also, bildlich gesprochen, neue
Preislisten gedruckt. Gelingt die Überwälzung, so steigt (kostenbedingt)
das Preisniveau.
Die Produktionskosten setzen sich aus folgenden Faktoren zusammen:
•
Kosten für Vorprodukte aus heimischer und importierter Produktion,
•
Lohnkosten inklusive Lohnnebenkosten (z. B. Arbeitgeberbeiträge zur
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Sozialversicherung),
•
Kapitalkosten (Zinskosten und verschlechterte Abschreibungsmöglichkeiten),
•
Kostensteuern (z. B. Verbrauchsteuern).
Einen besonderen Stellenwert nehmen in diesem Zusammenhang die "Lohnkosten" und die importierten
Kostenbelastungen (erinnert sei an die Verteuerung importierter Rohstoffe im Zuge der ersten und zweiten
Ölkrise) ein. Im folgenden soll zuerst der Frage nachgegangen werden, welche Lohnentwicklung als "inflatorisch" bzw. welche Lohnsteigerungsrate als "stabilitätsgerecht" gelten kann. (Von Veränderungen weiterer
Kostenfaktoren wird vorerst abgesehen.)
5.2.1
Lohnkosteninflation
Ein Anstieg der Lohnsätze (jeweils inklusive Lohnnebenkosten) kommt einer Verteuerung des Produktionsfaktors Arbeit gleich. Das bedeutet nun jedoch keineswegs, dass jede Erhöhung der Stundenlöhne auch Anlass sein müsste, die Produktpreise zu erhöhen. Den Lohnkostensteigerungen stehen nämlich normalerweise
Kosteneinsparungen durch Rationalisierung gegenüber. Im Zuge der Rationalisierung steigt die Arbeitsproduktivität.
Steigt die Arbeitsproduktivität z. B. um zwei Prozent, so folgen daraus prinzipiell zwei bzw. drei Möglichkeiten:
•
Entweder kann mit einem unverändertem Personaleinsatz und folglich mit einer unveränderten Lohnkostensumme ein um zwei Prozent höherer Output erzeugt werden ("Wohlstandssteigerungseffekt des technischen
Fortschritts“):
•
oder es kann ein unveränderter Output mit einem um zwei Prozent geringeren Personaleinsatz und folglich mit
geringeren Lohnzahlungen hergestellt werden („Kosteneinsparungs- oder Freisetzungseffekt des technischen
Fortschritts“):
•
wπ = wBIP
w π = - wA
bzw. es könnte, was hier nicht weiter behandelt wird, ein
gegebener Output, bei unveränderter Zahl Erwerbstätiger,
innerhalb einer um zwei Prozent verringerten jahresdurchschnittlichen Arbeitszeit erzeugt werden („Freizeiteffekt des technischen Fortschritts“),
In den beiden ersten Fällen sinken die Kosten je Stück.
Produktivitätssteigerungen kommen folglich Stückkostensenkungen gleich. Bei Konstanz der übrigen Kostenfaktoren bedeutet dies, dass die Lohnstückkosten sinken. Im Ausmaß dieser rationalisierungsbedingten Kosteneinsparung können mithin die Lohnsätze steigen, ohne
dass dies negative Auswirkungen auf die Lohnstückkosten hätte. Produktivitätsorientierte Lohnsteigerungen
sind also kostenneutral.
Gelingt die Überwälzung der Lohnerhöhung in die
Preise, so ist für die Arbeitnehmer nicht viel gewonnen;
der Reallohn bleibt unverändert. Diese Aussage gilt natürlich nur für denjenigen Teil der Lohnsteigerungen, der
über den Zuwachs der Arbeitsproduktivität (wπA) hinausgeht. Der produktivitätsorientierte Teil der Lohnerhöhungen steigert dagegen sehr wohl den realen Lebensstandard der Arbeitnehmer.
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Gelingt die Überwälzung nicht bzw. nicht vollständig, so sinkt die Gewinnquote, die Investitionsbereitschaft
erlahmt bzw. ursprünglich im Inland getätigte Investitionen werden in das kostengünstigere Ausland verlagert und es entstehen am Standort Deutschland keinen neuen Arbeitsplätze. Folge ist Arbeitslosigkeit
(lohnkosteninduzierte oder "klassische" Arbeitslosigkeit).
Die Einkommensverteilung kann erfolgreich nur über die Vermögensbildung der Arbeitnehmer verändert
werden. Den Tarifparteien kommt daher in einer marktwirtschaftlichen Ordnung ein hohes Maß an Verantwortung zu. Produktivitätsorientierte Lohnpolitik gilt als eine derartige verantwortungsvolle Lohnpolitik. Aus Sicht der Gewerkschaften hat sie den Nachteil, dass die herrschende Einkommensverteilung
mehr oder weniger festgeschrieben wird.
Da in der öffentlichen Diskussion häufiger die negativen Beschäftigungseffekte
Produktivitätsorien- von Rationalisierungen und Produktivitätssteigerungen herausgestellt werden, soll
tierte Lohnpolitik
der Wohlstandseffekt des Produktivitätsfortschritts noch aus einem anderen
(Konstanz der
Blickwinkel beleuchtet werden: Eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität um z. B. 3
Lohnstückkosten)
Prozent bedeutet, dass - wie oben dargestellt - mit einer gegebenen Zahl von Arbeitskräften eine um 3 Prozent höhere Produktion erzeugt werden kann. Produktiviwl = wπA
tätsfortschritte eröffnen folglich reale Wachstums- und Verteilungsspielräume;
die volkswirtschaftliche Produktionskapazität wächst mit der Rate der Arbeitsproduktivität (wBIP = wπ). Im Ausmaß dieses produktivitätsbedingten realen Wachstums- und Verteilungsspielraums können und müssen die Einkommen (also auch die Lohneinkommen) steigen, wenn gewährleistet
werden soll, dass die höhere Produktionskapazität auch tatsächlich genutzt wird. Produktivitätsfortschritte
repräsentieren folglich die Grenze des realen Verteilungsspielraums. Diese Grenze des Verteilungsspielraums kann real nicht dadurch erweitert werden, dass höhere Einkommenszuwächse verteilt werden. Der
produktivitätsüberschreitende Teil ist letztlich wertlos. Der Sachverständigenrat spricht daher von "funktionslosen Verteilungskämpfen". In einer Marktwirtschaft findet die Entwertung der Einkommen in der Regel
über höhere Preise, also im Wege der Inflation, statt.
5.2.2
Importierte Kosteninflation
Eine für die Bundesrepublik Deutschland immer wieder bedeutsame Form der Kosteninflation ist die importierte Kosteninflation. Sie bestimmte das Bild an der Preisfront insbesondere während der Ölpreiskrisen
von 1974 , 1979/80 und 2000
Diese führten zu einer erheblichen Verteuerung der (Öl-)Importe und damit zu einer importierten Kostenbelastung. Hintergrund war der Versuch der OPEC-Staaten, durch höhere Ölpreise ihre Erlöse zu steigern,
um damit mehr Güter in den Industrieländern kaufen zu können. Die Ölkrisen waren damit Ausdruck eines
internationalen Verteilungskampfes. Die ölexportierenden Länder versuchten, ihre Realposition ("terms of
trade") auf Kosten der übrigen Ländern zu verbessern und mit Macht einen höheren Anteil am Weltsozialprodukt durchzusetzen. Die auf Ölimporte angewiesenen Industrieländer mussten also die Ölimporte dadurch finanzieren, dass entsprechend mehr Güter an das Ausland abgegeben wurde. Entsprechend verringerte sich der im Inland verbleibende Verteilungsspielraum.
Sollen trotz der Verteuerung der Importe die Stückkosten insgesamt unverändert bleiben, so bedeutet dies,
dass nur noch entsprechend geringere (Lohn-)Einkommenssteigerungen stabilitätsgerecht sind. Nach dem
vom Sachverständigenrat vertretenen Konzept der kostenniveauneutralen Lohnpolitik sollten die Lohnerhöhungen um die Verschlechterung der terms of trade (d. h. die Verschlechterung der inländischen gegenüber der ausländischen Realposition, wtot) nach unten korrigiert werden.
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Produktivitätsorientierte
Lohnpolitik
(mit Berücksichtigung von
Veränderungen der
Terms of Trade)
Ein solches stabilitätsgerechtes Verhalten bürdet den Beteiligten ein hohes,
möglicherweise ein zu hohes Maß an gesellschaftspolitischer Verantwortung auf. Der Verzicht auf höhere Einkommenssteigerungen ist jedoch
letztlich unvermeidlich.
Allerdings kann verteilungspolitisch auch die umgekehrte Situation vorliegen: Steigen die Importgüterpreise weniger stark als die Exportgüterwl = wπA + wtot
preise (oder sinken sie sogar), so liegt eine Verbesserung der Austauschposition gegenüber dem Ausland vor. Die terms of trade steigen. Die Folge ist, dass eine Einheit Importe nun
mit weniger Exporten finanziert werden kann. Der im Inland verbleibende Verteilungsspielraum erhöht
sich bzw. es liegt eine importierte Kostenentlastung vor. Bezogen auf die Löhne bedeutet dies, dass die
Lohnsätze stärker angehoben werden können, ohne dass die Lohnstückkosten steigen.
1)
5.2.3
Weitere Kostenfaktoren
Neben Lohnkosten und importierten Kosten sind als
weitere Ursachen von Kostensteigerungen noch
•
•
Steigerungen der Kapitalkosten (z. B. Verschlechterung
der Abschreibungsmodalitäten und/oder steigende Finanzierungskosten; wKapK) und
Kostenniveauneutrale Lohnpolitik
(Konstanz der gesamtwirtschaftlichen
Stückkosten)
wl = wπA + wtot - wKapK - wT ind
Erhöhung von Kostensteuern (insbesondere Verbrauchsteuern; wT ind )
zu erwähnen.
Mit Berücksichtigung eines Zuschlags für die sog. „unvermeidliche Inflation“(wp*) lassen sich folgende
Varianten einer kostenniveauneutralen Lohnpolitik unterscheiden.
Produktivitätsorientierte bzw. kostenniveauneutrale Lohnpolitik
(1) Strenge Definition
wl = wπA + wtot – wKapK – wTind
wl = wπA – wSoKo
(2) Weiche Definition
wl = wπA + wtot – wKapK – wTind + wP*
wl =
wπA –
wSoKo + wP*
Folge
↓
Konstanz der gesamtwirtschaftlichen Stückkosten („Kostenniveauneutralität“)
Sicherung der Preisniveaustabilität
(sofern in der Ausgangslage Preisniveaustabilität herrscht)
bzw.
Stabilisierung der bestehenden Inflationsrate
und
Stabilisierung der bestehenden (Unter-) Beschäftigungssituation
1)
Hinweis: Eine Verbesserung der terms of trade entspricht einer Kostenentlastung; sie erhöht den inländischen lohnpolitischen
Verteilungsspielraum (+); eine Verschlechterung der terms of trade entspricht einer Kostenbelastung; sie verringert den lohnpolitschen Verteilungsspielraum (–).
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5.3
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Marktmachtinflation (Gewinndruckinflation)
Eine weitere Form der Angebotsinflation ist die Marktmachtinflation. Sie wird auch als Gewinndruckinflation bezeichnet, da es das Ziel von marktbeherrschenden Unternehmen oder Kartellen ist, unter Ausnutzung von Marktmacht die Gewinne zu steigern. Die Gewinnsteigerung erfolgt in diesem Fall über das unternehmenspolitische Instrument der Preiserhöhung. ⇒ Ausbeutungsmissbrauch ⇒ Die Erfahrung zeigt, dass
die Beaufsichtigung des Preisverhaltens der marktbeherrschenden Unternehmen und die Kontrolle von Kartellen durch ein "Kartellamt" kaum wirksam sind.
5.4
Angebotsinflation in einem Angebots-Nachfrage-Diagramm
Graphisch lässt sich die Angebotsinflation ebenfalls in einem Angebots-Nachfrage-Diagramm darstellen.
Kennzeichnend ist, dass die Angebotsfunktion mit Macht nach oben verschoben wird, sei es dadurch, dass
die Stückkosten steigen (z. B. als Folge von mit gewerkschaftlicher Macht durchgesetzten Lohnerhöhungen) und die Unternehmen diese Kostensteigerungen in die Produktpreise überwälzen, oder dadurch, dass
marktbeherrschende Unternehmen bzw. Kartelle ihre Marktmacht dazu einsetzen, die Gewinnmargen zu
erhöhen, indem sie die Produktpreise anheben.
Folge der erhöhten Angebotspreise ist, dass bei einer preiselastischen Nachfrage (normale negative Neigung
der Nachfragefunktion) Produktion und Auslastungsgrad sinken (in der obigen Abbildung ist angenommen,
dass der Auslastungsgrad von 80 Prozent auf 70 Prozent sinkt). Es tritt also das Phänomen sinkender Produktion bei gleichzeitig steigenden Preisen (Stagflation) auf (Bewegung von Punkt B nach Punkt C).
Kosten sind aus Sicht der Kostenverursacher zugleich Einkommen. Es ist daher mit induzierten *achfrageerhöhungen zu rechnen. Graphisch gesehen verlagert sich die Nachfragefunktion N0 nach rechts (N1 = N0
+ ∆ N). Dadurch gelangt man von Punkt C zum Punkt D. Damit ist dann zu rechnen, wenn
•
im Fall von Lohnsteigerungen die Konsumausgaben der Lohnbezieher steigen (+∆ C),
•
im Fall von Kostensteuererhöhungen der Staat seine Ausgaben erhöht (+∆ Ast),
•
im Fall von Kapitalkostensteigerungen (z. B. Zinserhöhungen) die Kapitalerträge verausgabt werden
(+∆ C/ + ∆ I),
•
im Fall von Verschlechterungen der terms of trade (importierte Kostenbelastungen) die Importnachfrage des
Auslandes (speziell der ölexportierenden Staaten) steigt (+ d Ex) und/oder
•
im Fall von machtbedingten Preisanhebungen die
erhöhten Gewinne wieder investiert werden (+∆ I).
Werden die Lohneinkommen wieder verausgabt, so
steigt die Nachfrage von N0 auf N1, mit der Folge, dass
der Produktionsrückgang infolge der erhöhten Nachfrage zumindest zum Teil wieder kompensiert wird. Im Fall
der importierten Kostensteigerungen im Zusammenhang
mit der ersten Ölkrise war allerdings zu beobachten,
dass die zusätzlichen Einnahmen an "Petrodollars" nur
teilweise durch die ölexportierenden Länder wieder verausgabt wurden. Insbesondere in Entwicklungsländern
trat die Situation ein, dass zwar die Preise für die importierten Ölprodukte stiegen, gleichzeitig aber die ölexportierenden Länder in diesen Ländern kaum zusätzliche
Waren einkauften. Die Nachfrage bleibt in diesem Fall
unverändert; es tritt Stagflation auf.
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5.5
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Bekämpfung der Angebotsinflation
Die Analyse der Ursachen der Angebotsinflation macht zugleich auch die Ansätze zu ihrer Bekämpfung
deutlich. Das Ziel der Politik besteht generell darin, die inflatorisch wirkenden Verteilungsauseinandersetzungen einzudämmen. Eine Wirtschaftspolitik, die das Ziel verfolgt, die Verteilungskämpfe in stabilitätsgerechte Bahnen zu lenken, wird als "Einkommenspolitik" bezeichnet.
Grundsätzlich lassen sich zwei Varianten der Einkommenspolitik unterschieden:
•
Imperative Einkommenspolitik und
•
indikative oder kooperative einkommenspolitische Aktivitäten im Wege von "Sozialkontrakten" oder "Konzertierten Aktionen"
Ein befehlende ("imperative") direkte Kontrolle der Verteilungsauseinandersetzungen durch den Staat könnte durch Lohn- oder Preiskontrollen erfolgen. Es ist selbstverständlich, dass in einer Marktwirtschaft derartige Maßnahmen nur in absoluten Ausnahmesituationen in Betracht kommen. Mit ihnen wäre nicht nur ein
Eingriff in die Tarifautonomie verbunden, sondern es würde auch die Freiheit der Unternehmen, ihre Preise
entsprechend der jeweiligen Marktbedingungen zu gestalten, außer Kraft gesetzt werden. Einkommenspolitische Maßnahmen des Staates sind folglich auf die indirekte Beeinflussung des Verteilungsverhaltens zu
beschränken.
Es stellt sich deshalb die Frage, wie ohne direkte Eingriffe in die Tarifautonomie und ohne direkte Eingriffe
in die Preissetzungsautonomie der Unternehmen sichergestellt werden kann, dass sich die Verteilungsauseinandersetzungen in geordneten Bahnen vollziehen und nicht in die Sackgasse der Inflation münden. Die
Zielsetzung stabilitätskonformer Verteilungsauseinandersetzungen ist leicht formuliert; die Umsetzung in die
politische Praxis wirft jedoch erhebliche Probleme auf. Grundsätzlich werden folgende Strategien einer indikativen (nicht befehlenden) oder kooperativen staatlichen Einkommenspolitik diskutiert:
5.5.1
Sozialkontrakte und Konzertierte Aktionen
Einerseits wird dafür plädiert, die gesellschaftlichen Gruppen stärker in die gesamtwirtschaftliche Verantwortung einzubinden. Hierdurch soll bewirkt werden, dass die Verfolgung partikularer Interessen nicht auf
Kosten des Gemeinwohls erfolgt. In diesem Zusammenhang wird für Sozialkontrakte, Konzertierte Aktionen oder für ein partnerschaftlicheres Verhalten geworben. Diese Form der indirekten Einkommenspolitik wird auch als kooperative Einkommenspolitik bezeichnet.
Derartige Vorstellungen haben in das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz Eingang gefunden. Die in § 3 StWG
verankerte "Konzertierte Aktion" fand vor allem in den 60er und 70er Jahren größere Beachtung. Sie stellte den Versuch dar, die gesellschaftlichen Gruppen quasi "am runden Tisch" auf ein stabilitätsgerechtes Verhalten einzuschwören. Die Beschlüsse der Konzertierten Aktion sind allerdings unverbindlich. Die Autonomie der gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere die der Sozialpartner, wird folglich nicht angetastet. In
der Praxis hat sich diese Einrichtung als
wenig effizient erwiesen. Inzwischen werden Konzertierte Aktionen, zumindest in
der Form wie sie das Stabilitäts- und
Wachstumsgesetz vorsieht, nicht mehr
praktiziert.
5.5.2
Konsequente Wettbewerbspolitik
Mit Blick auf die Bekämpfung der Marktmachtinflation wird für eine konsequente
Wettbewerbspolitik plädiert. Die Wettbe-
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
werbspolitik wird daher auch als zweite Säule der Einkommenspolitik bezeichnet.
Rechtsgrundlage hierfür ist in der Bundesrepublik Deutschland das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) aus dem Jahr 1957. Einer nationalen Wettbewerbspolitik sind allerdings in zunehmendem
Maße Schranken gesetzt. Ohnehin kann festgestellt werden, dass die beste Wettbewerbspolitik eine Politik
der Marktöffnung nach innen und außen ist. Marktöffnung nach außen heißt letztlich Freihandelspolitik.
Durch die potentielle Konkurrenz von ausländischen Unternehmen wird nationale Macht allemal in die
Schranken verwiesen. Die Wirtschaftspolitik muss hierzu jedoch den Mut aufbringen, die Grenzen für die
ausländischen Konkurrenten offen zu halten.
5.5.3
Die monetaristische Disziplinierungsstrategie
Monetaristen lehnen sowohl direkte als auch indirekte einkommenspolitische Einmischungen des Staates
ab. Auch eine kooperative Einkommenspolitik („runde Tische u.ä.) sei verfehlt; durch Einkommenspolitik
könnten die Verteilungsauseinandersetzungen nicht wirksam gezügelt werden. Sie plädieren für eine strikte
stabilitätsgerechte Geldpolitik. Denn ohne monetäre Alimentierung ist auf Dauer ohnehin keine Inflation
möglich.
Durch monetaristische Geldpolitik soll sichergestellt werden, dass sich die ohnehin nicht vermeidbaren
Verteilungsauseinandersetzungen nicht inflatorisch auswirken. Wenn die Geldpolitik beispielsweise die Überwälzung "überzogener" Lohnsteigerungen auf die Produktpreise durch eine Politik des knappen Geldes
verhindert, so tritt als Folge der "überzogenen" Lohnforderungen Arbeitslosigkeit auf. Diese Arbeitslosigkeit ist dann die Sanktion für lohnpolitisches Fehlverhalten. In künftigen Tarifauseinandersetzungen werden die Gewerkschaften - so die Vorstellung der Monetaristen - berücksichtigen, dass eine aggressive (produktivitätsüberschreitende) Lohnpolitik zu Unterbeschäftigung führen kann. Sie werden folglich aus eigener
Einsicht und ohne Konzertierte Aktionen zu einem stabilitätsgerechteren Verhalten veranlasst. Entsprechendes gilt auch mit Blick auf ein nicht stabilitätsgerechtes Verhalten der übrigen gesellschaftlichen Gruppen
sowie des Staates selbst.
Die Deutsche Bundesbank hat in der Vergangenheit immer wieder betont, dass sie bei nicht stabilitätsgerechtem Verhalten der gesellschaftlichen Gruppen im Zweifel bereit sei - wie 1974 geschehen - über eine
Politik des knappen Geldes eine "Stabilisierungskrise" einzuleiten. Es wird sich
zeigen, ob auch die EZB einen derart stabilitätsorientierten Kurs verfolgen wird.
6
Geldmengeninflation und ihre Bekämpfung
6.1
Quantitätstheorie des Geldes
Bereits mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass jede Inflation letztlich ein
monetäres Phänomen ist. Ohne Ausweitung der Geldmenge ist Inflation auf
Dauer nicht möglich.
Theoretische Basis für diese Erkenntnis ist die Quantitätstheorie. Die Quantitätsgleichung des Geldes lautet:
"Fishersche Verkehrsgleichung". Diese GleiQuantitätsgleichung chung kann als immer erfüllte Identität interpretiert werden. In diesem Sinne
besagt sie, dass die in einer Volkswirtschaft getätigten Umsätze (Yr x P) notr
M•U=Y •P
wendigerweise bezahlt, also "geldtechnisch" abgewickelt worden sein müssen.
Das Produkt aus Geldmenge und Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (M x U)
stellt nichts anderes als die nachfragewirksame Geldmenge dar. Umgeformt in Wachstumsraten und aufgelöst nach der Entwicklung des Preisniveaus (wP) ergibt sich:
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Ein Anstieg des Preisniveaus kann demnach bei gegebenem Wachstum
des realen Inlandsprodukts verursacht werden durch:
•
einen Anstieg der Geldmenge, der über das reale Produktionswachstum
hinausgeht (wM > wYr ) und/oder
•
eine Beschleunigung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (wU > 0).
Geldmengeninflation
wp = wM – wYr + wU
Entscheidend ist das Wachstum der Geldmenge. Steigt die Geldmenge - bei unveränderter Umlaufgeschwindigkeit - schneller als die reale Produktion (wM > wYr), so ist Inflation die unausweichliche Folge.
Kurzfristig kann zwar auch eine Beschleunigung der Umlaufgeschwindigkeit eine zusätzliche Nachfrage
finanzieren und damit für Inflation verantwortlich sein. Auf Dauer ist allerdings kaum zu erwarten, dass die
Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ins uferlose steigt bzw. (was dasselbe ist) die Kassenhaltung nicht immer weiter verringert wird. Umgekehrt muss kurzfristig nicht jede Geldmengenausweitung, die über das
reale Wachstum der Wirtschaft hinausgeht, sofort zu Inflation führen. Kurzfristig kann Geld nämlich "brach
liegen", was bedeutet, dass die vorhandene Geldmenge nicht vollständig nachfragewirksam wird, wodurch
die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes sinkt. Auf längere Sicht wird die Geldmenge jedoch irgendwann für
Güterkäufe eingesetzt.
Ist eine "falsche" Geldpolitik die eigentliche Ursache für das überhöhte Geldmengenwachstum, so liegt die
Verantwortung für die Inflation zweifelsfrei bei der Zentralbank. Diese Auffassung vertreten vor allem
Monetaristen (sog. "Kausalität des Geldes").
6.2
Die Verantwortung der Geldpolitik
6.2.1
Das bisherige Konzept der Deutschen Bundesbank (1974 bis 1999)
In jedem Fall kommt der *otenbank bei der Verhinderung von Inflation
letztlich die zentrale Rolle zu. Ihre Aufgabe muss es sein, die
wM3 = wBIP* – wU*
Geldmengenentwicklung stabilitätsgerecht zu gestalten, also am mittelfristigen realen Wirtschaftswachstum auszurichten. ⇒ Wachstum des Produktionspotenzials
Monetaristische Geldpolitik
Diesem Konzept folgte die Deutsche Bundesbank mit ihrer "Neuen Geldpolitik“ in den Jahren 1974 bis
1999.
Bei der Ableitung des Geldmengenziels orientierte sich die Deutsche Bundesbank an folgenden Größen:
•
Das geschätzte Wachstum der volkswirtschaftlichen Produktionskapazitäten (Wachstum des Produktionspotenzials, wBIP*).
•
Die trendmäßige Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (wU*).
•
Weiterhin stellt sie eine sog. unvermeidliche ("normative") Inflationsrate in Rechnung (wP*).
Hierunter versteht sie diejenige Inflationsrate, die selbst bei zurückhaltender Lohnpolitik und bei stabilitätsgerechter Finanzpolitik ohne unzumutbare Beschäftigungsrisiken nicht niedriger gehalten werden kann. Das erklärte Ziel besteht allerdings darin, diese unvermeidliche Inflationsrate auf nahe Null herunterzustabilisieren.
•
Darüber hinaus formulierte die Bundesbank ihr
Geldmengenziel in Form eines Zieltrichters (z. B.
1,5-Prozent-Korridor), d. h. sie ließ sich einen
mehr oder weniger großen Freiheitsgrad für moderat antizyklische Geldpolitik.
Die Bundesbank formulierte 1988 bis 1998 ihr
Geldmengenziel anhand der Geldmenge M3.
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6.2.2
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Der Mehrfaktorenansatz der EZB
Hauptziel der EZB ist die Sicherung der Preisniveaustabilität. Die Europäische Zentralbank verfolgt hierzu ebenfalls im Kern einen potenzialorientierten Kurs. Sie formuliert einen Referenzwert für die M3Entwicklung. Darüber hinaus praktiziert sie – angelsächsischen Vorstellungen folgend – eine sog. direkte
Inflationssteuerung („inflation targeting"). Der Ansatz wird daher auch als Mehrfaktorenkonzept bezeichnet.
(1) Referenzwert für die M3-Entwicklung
Der erste Eckpfeiler des geldpolitischen Konzepts der Europäischen Zentralbank ist tendenziell potenzialorientiert. Die EZB verzichtet allerdings (bisher) auf angekündigte Geldmengenziele, sondern veröffentlicht
lediglich einen "Referenzwert" für die M3-Entwicklung. Einen Referenzwert für die Entwicklung der europäischen Geldmenge (in der Abgrenzung M3) anzugeben ist inhaltlich allerdings etwas anderes, als ein an-
Referenzwert 4,5 %
zustrebendes Geldmengenziel zu formulieren. Der Referenzwert wird methodisch nach dem gleichen Verfahren hergeleitet und quantifiziert, wie das früher die Deutsche Bundesbank bei der Bestimmung des Zielpfades für die monetäre Expansion getan hat:
wM3 = wBIP* – wU* + wP*
Die EZB verzichtet bei der Ableitung ihres Referenzwertes auf einen Korridor (Zielrichter). Da die EZB
allerdings sich mit dem Referenzwert nicht so stark bindet, wie dies die Bundesbank mit ihrem M3-Zielwert
getan hatte, bleibt allerdings offen, wie groß und wie anhaltend die Abweichung sein darf, bis geldpolitische
Korrekturmaßnahmen (z. B. eine Zinserhöhung) ergriffen werden. Die EZB räumt sich jedenfalls bisher einen größeren diskretionären Spielraum ein.
(2) Direkte Inflationssteuerung
Der zweite Pfeiler der geldpolitischen Strategie der Europäischen Zentralbank wird mit "direkter Inflationssteuerung" umschrieben. Die ZB strebt an, den Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex auf
maximal 2 v.H. gegenüber dem Vorjahr zu begrenzen. Zu diesem Zweck werden kontinuierlich alle für relevant gehaltenen Einflussfaktoren analysiert, um rechtzeitig Risiken für die Geldwertstabilität auszumachen.
Eine Inflationsprognose hat die Europäische Zentralbank erstmals und sehr allgemein im September 1999
veröffentlicht.
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Ursachen von Inflation und Ansatzpunkte der Geldwertstabilitätspolitik
– detaillierte Darstellung –
*achfrageinflation
Angebotsinflation
Preisniveausteigerungen in der
Hochkonjunktur als Folge eines
Überhangs der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage über die volkswirtschaftliche Produktionskapazität
Marktmachinflation (Gewinndruckinflation)
Kostendruckinflation
Preisniveausteigerungen infolge
mit Macht durchgesetzter Kostensteigerungen
Hausgemachte Nachfrageinflation
o
o
o
Konsumnachfrage
Investitionsnachfrage
Staatsnachfrage
Importierte Nachfrageinflation
Lohnkostendruckinflation
Importierte Kostendruckinflation
Preisniveausteigerungen infolge
mit Marktmacht durchgesetzter
Gewinnsteigerungen
Ausbeutungsmissbrauch
durch marktbeherrschende
Unternehmen
Kartelle und abgestimmtes
Verhalten
Verteilungskampfinflation
Kostendruck- und Marktmachtinflation sind letztlich Folge von Verteilungskämpfen auf Faktor- und Gütermärkten
Bekämpfung der *achfrageinflation
Bekämpfung der Kostendruckinflation
Bekämpfung der Marktmachtinflation
Drosselung der Nachfrage:
Verringerung des Kostendrucks:
Kontrolle der Marktmacht:
Kontraktive Fiskalpolitik
der Regierung
Verringerung der Staatsausgaben
Steuererhöhungen
Konsequenz: Budgetüberschüsse / Bildung von Konjunkturausgleichsrücklagen
Produktivitätsorientierte /
kostenniveauneutrale
Lohnpolitik
Missbrauchsaufsicht über
marktbeherrschende Unternehmen
Bekämpfung des importierten Kostendrucks
Kartellverbote und Verbot
abgestimmten Verhaltens
Kontraktive Geldpolitik
der Zentralbank (Zinserhöhungen zur Drosselung der Investitionstätigkeit)
Kontraktive Außenwirtschaftspolitik
Fusionskontrolle
Entflechtung marktbeherrschender Unternehmen
Marktöffnung
Einkommenspolitik
Ziel ist die Kontrolle der Verteilungsauseinandersetzungen:
Imperative Einkommenspolitik (Lohn- und Preiskontrollen)
Kooperative Einkommenspolitik (z.B. „Konzertierte Aktionen“,
„Runde Tische“
Geldmengeninflation („Quantitätstheorie“)
Längerfristig muss jede Inflation letztlich monetär alimentiert werden. Wächst die Geldmenge (mittelfristig)
schneller als die gesamtwirtschaftliche Produktion (Produktionspotenzial), so ist Inflation die Folge
Bekämpfung der Geldmengeninflation
Ausrichtung der Geldmengenentwicklung am Wachstum des Produktionspotenzials
(„monetaristische“ bzw. „potenzialorientierte Geldpolitik“)
Quelle: Pätzold, J und D. Baade.: Stabilisierungspolitik, 7. Aufl., Vahlen Verlag, München 2008
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Teil C: Strategien der Stabilisierungspolitik
1
Wirtschaftspolitische Strategien
Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft ist durch einen
ständigen Paradigmawechsel gekennzeichnet. Entsprechend
ändern sich auch die jeweils vorherrschenden wirtschaftspolitischen Strategien. Es lassen sich im wesentlichen zwei wirtschaftspolitische Konzeptionen unterschieden:
•
das neoklassische Paradigma ("liberales" oder "angebotsorientiertes Konzept" ) und
•
das postkeynesianische Paradigma ("interventionistisches"
oder "nachfrageorientiertes Konzept") .
2
Die stabilisierungspolitische Konzeption der Postkeynesianer
(Stabilisierungspolitik S. 105 bis 166)
2.1
Das Konzept der antizyklischen Konjunkturpolitik
Hinweis: Siehe zu diesem Kapitel
auch die Darstellungen zur aktuellen Wirtschaftskrise unter
Teil A 3.4 Exkurs zur aktuellen
Wirtschaftskrise 2008 ff.
Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 1929/32 wurde das klassisch-liberale Paradigma einer ausschließlich auf die Marktkräfte
bauenden Wirtschaftspolitik nachhaltig erschüttert. Die
"Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Geldes und des
Zinses" von John Maynard Keynes (1936) leitete einen
Paradigmawechsel in der Wirtschaftspolitik ein. ⇒
Postkeynesianismus liefert der Politik praktische Konzepte zur
Bewältigung wirtschaftlicher Krisen - insbesondere zur
Bekämpfung der konjunkturellen Arbeitslosigkeit ⇒ unvollkommenen Güter- und Faktormärkten ⇒ Instabilität des
marktwirtschaftlichen Systems ⇒ "Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung" ⇒ aktive intervenierende Wirtschaftspolitik
⇒ Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung ⇒ Zielkonflikt
(Phillips-Kurve) ⇒ Postkeynesianer sind *achfragetheoretiker:
Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage entscheidet über die Höhe
der Produktion und des Volkseinkommens und damit auch über die Höhe der Beschäftigung ⇒
antizyklische Wirtschaftspolitik/Krise 2009-10.
Besondere Verantwortung übernimmt dabei die Fiskalpolitik ("fiscal policy"): Die öffentlichen Haushalte
sollen aktiv in den Dienst der Konjunkturpolitik gestellt werden. In der Rezession soll z. B. ein sog. deficit
spending (defizitfinanzierte Staatsausgaben) betrieben bzw. die Steuern mit dem Ziel gesenkt werden, die
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verfügbaren Einkommen der Privaten zu erhöhen und damit die Nachfrage anzukurbeln. Mit der staatlichen
Nachfragepolitik gehen zudem nach keynesianischer Überzeugung hohe Multiplikatoreffekte einher, mit
der Folge, dass bereits von einem vergleichsweise gering dosierten Konjunkturprogramm merkliche Nachfrageeffekte ausgehen.
Die Geldpolitik hat die Fiskalpolitik zu unterstützen. Gefordert werden Zinssenkungen in der Rezession. Sie
erleichtern sowohl die Finanzierung der privaten Investitionen als auch die Finanzierung des Budgetdefizite
zur Ankurbelung der Konjunktur. Im Boom soll umgekehrt eine Politik des teuren Geldes betrieben werden,
um die Investitionstätigkeit der privaten zu bremsen. Da die Investitionstätigkeit kaum zinselastisch ist, gehen von einer antizyklischen Zinspolitik allerdings nur geringe Effekte aus. Im Zweifel ist mit langen Wirkungsverzögerungen zu rechnen. Das gilt insbesondere für eine Geldpolitik, die versucht die Wirtschaft aus
einer Unterbeschäftigungssituation herauszuführen.
Zentrale Thesen des postkeynesianischen Paradigmas
Insgesamt ist das postkeynesianische Konzept tendenziell "interventionistisch". Dem Staat wird ganz im Gegensatz zur neoklassischen Konzeption eine aktive beschäftigungspolitische Verantwortung zugewiesen. Das Beschäftigungsrisiko wird
quasi "sozialisiert". Der Interventionismus soll allerdings marktwirtschaftskonform sein, und zwar
dadurch, dass nicht das einzelwirtschaftliche Verhalten, sondern nur die makroökonomischen *achfrageaggregate beeinflusst werden (sog. "Globalsteuerungs-Interventionismus"). Die Fähigkeit
der Politik, die richtigen Maßnahmen zur rechten
Zeit und in der richtigen Dosierung zu ergreifen,
wird sehr hoch eingeschätzt. So gesehen sind Postkeynesianer "Politikoptimisten".
1
Marktwirtschaftliche Systeme neigen zu Instabilitäten
(Instabilitätshypothese).
2
Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage bestimmt die Höhe der Produktion, des Volkseinkommens und der Beschäftigung (*achfragetheorie).
3
Der Staat kann und soll das Marktsystem durch eine
antizyklische Konjunkturpolitik stabilisieren (Politikoptimismus).
4
Die Steuerung der gesamtwirtschaftlichen *achfrage
gilt als marktwirtschaftskonform.
5
Vorrangig ist das Beschäftigungsziel; nachrangig das
Ziel der Preisniveaustabilität („lieber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Arbeitslosigkeit“).
6
Zentraler Politikbereich ist die Fiskalpolitik, da mit ihr
die Nachfrage wirksam gesteuert werden könne („Fiskalisten“). Von ihr gehen zudem hohe Multiplikatoreffekte auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage aus
(„Multiplikatoroptimismus“).
Die interventionistische Schlagseite des Postkeynesianismus zeigt sich auch an den Empfehlungen zur Einkommenspolitik: Im Zuge der postkeynesianischen Wirtschaftspolitik wird die Verantwor- 7 Die Geldpolitik soll die Fiskalpolitik in einer Rezession
mit einer „Politik des billigen Geldes“ unterstützen
tung für die Vollbeschäftigung weg von den Tarif(„monetary fiscal policy“).
parteien und hin zum Staat übertragen. Da die
verteilungspolitische Auseinandersetzungen als
Lohnpolitik aus ihrer beschäftigungspolitischen 8 Um
Folge einer expansiven Konjunkturpolitik zu begrenzen
Verantwortung weitgehend entlassen ist, besteht die
ist eine einkommenspolitische Absicherung durch
Gefahr, dass die Verteilungsauseinandersetzungen
„konzertierte Aktionen“ oder Lohn- und Preiskontrollen
erforderlich.
"aus dem Ruder laufen". Dies wurde bereits früh
von postkeynesianischen Theoretikern (z. B. J. Tobin) erkannt; sie plädieren daher für die Flankensicherung der postkeynesianischen Konjunkturpolitik durch
eine staatliche "Einkommenspolitik". In Deutschland erfolgte diese einkommenspolitische Flankierung mit
dem - wenig wirksamen - Instrument der "Konzertierten Aktion".
Seine praktische Umsetzung fand das postkeynesianische Konzept in Deutschland vor allem Mitte der 60er
Jahre.
Die Erfolge bei der Bekämpfung der konjunkturellen Arbeitslosigkeit waren es, die dem postkeynesianischen Konzept allgemeine Anerkennung verschafften. Weniger erfolgreich war die postkeynesianisch geprägte Wirtschaftspolitik allerdings bei der Bekämpfung der Inflation, die sich zu Beginn der 70er Jahre infolge der hohen Kapazitätsauslastung, der geringen Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Verteilungsauseinandersetzungen zwischen den Tarifparteien einstellte. Auch die konzeptkonforme einkommenspolitische
Absicherung der postkeynesianischen Konjunkturpolitik durch das Instrument der "Konzertierten Aktion"
erwies sich als wenig erfolgreich.
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2.2
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Postkeynesianische Stabilisierungspolitik im Spiegel der Kritik
Wie erwähnt hat das postkeynesianische
Paradigma die Wirtschaftspolitik in Deutschland vor allem in den 60er und 70er Jahren
geprägt. Angesichts zunehmender Fehlentwicklungen sah sich die postkeynesianische
Wirtschaftspolitik seit Mitte der 70er Jahre
steigender Kritik ausgesetzt. Diese Fehlentwicklungen bestanden vor allem
•
im Stagflationsphänomen (zunehmende
Inflation bei gleichzeitig zunehmender
Arbeitslosigkeit),
•
in zunehmenden strukturellen Budgetdefiziten,
•
zunehmende Strukturprobleme (mit
struktureller Arbeitslosigkeit),
•
zunehmende Inflation, infolge zunehmender
Verteilungskämpfe und
•
in einer zunehmenden Erlahmung der Investitionstätigkeit der privaten Unternehmen und damit Wachstumskräfte der
Wirtschaft.
Die postkeynesianische Wirtschaftspolitik war offensichtlich nicht mehr in der Lage, die aktuellen wirtschaftspolitischen Probleme zu lösen.
2.2.1
Lag-Problematik
Antizyklische Maßnahmen sind im Zweifel mit langen Wirkungsverzögerungen verbunden. Besonders
lang und unberechenbar sind die Wirkungsverzögerungen einer expansiven Geldpolitik ("long lagHypothese"). Wird versucht, durch Erhöhung der Bankenliquidität das Zinsniveau zu senken, um die
Investitionstätigkeit zu beleben, so zeigt die Erfahrung, dass die positiven Investitionsimpulse erst
nach langer zeitlicher Verzögerung auftreten (geringe
Zinselastizität der Investitionstätigkeit) . Dies gilt im Zweifel
auch für finanzpolitische Maßnahmen, da der politische
Entscheidungsprozess Zeit in Anspruch nimmt und
beschlossenen
Ausgabenprogramme
vielfach
nur
mit
Verzögerung administrativ umgesetzt werden können. Folge der
time-lags ist, im Zweifel eine Verstärkung der Konjunkturzyklen,
statt
sie
zu
dämpfen.
Die
antizyklische
Konjunkturpolitik wirkt daher häufig destabilisierend.
2.2.2
Asymmetrische Handhabung und Tendenz zu
strukturellen Budgetdefiziten
Das Beschäftigungsziel genießt bei Keynesianern eine hohe Priorität. Postkeynesianische Konjunkturpolitik
ist daher in erster Linie Vollbeschäftigungspolitik. Die Bekämpfung der Inflation tritt demgegenüber zurück. Im Zweifel wurden die Instrumente expansiv eingesetzt. Die Folge ist, dass die durchaus in der Rezession erwünschten staatlichen Budgetdefizite im Boom nicht wieder (rechtzeitig) abgebaut werden. Werden
in der folgenden Rezession erneut Budgetdefizite im Zuge eines Konjunkturprogramms gebildet, die wie-
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derum im darauffolgenden Boom nicht vollständig getilgt werden, so entstehen aus vergleichsweise unproblematischen vorübergehenden konjunkturellen Budgetdefiziten strukturelle Defizite.
Strukturelle Budgetdefizite sind jedoch finanz-, wachstums- und beschäftigungspolitisch problematisch. Zu
verweisen ist insbesondere auf negative Crowding-out-Effekte (Verdrängungseffekte). Zu verweisen ist
insbesondere auf
•
zinsbedingtes crowding-out der Staatsverschuldung,
mit der Folge, dass infolge der Erhöhung des Zinsniveaus die für das Wachstum der Wirtschaft erforderliche private Investitionstätigkeit zurückgedrängt wird,
•
inflatorisches crowding-out der Staatsverschuldung, mit negativen Wachstums- und Beschäftigungseffekten als Folge einer zunehmenden Inflation,
•
wechselkursbedingtes crowding-out der Staatsverschuldung, weil infolge des hohen inländischen Zinsniveaus Kapital in das Inland importiert wird; diese Kapitalimporte führen zur Aufwertung des € und damit
zur Zurückdrängung der Exporte (bzw. Förderung der Importe). Der Staat drängt also die Exportwirtschaft
über seine Verschuldungspolitik zurück.
Zudem wird infolge der zunehmenden Staatsverschuldung der finanzpolitische Spielraum immer kleiner.
Auf Dauer ist daher mit einem Anstieg der Abgabenlast zu rechnen, mit ebenfalls wachstums- und beschäftigungspolitisch problematischen Auswirkungen.
2.2.3
Staatliche „Vollbeschäftigungsgarantie“, induzierte Verteilungskämpfe und die Problematik der einkommenspolitischen Absicherung
Postkeynesianische Konjunkturpolitik ist in erster Linie "Vollbeschäftigungspolitik". Der Staat gibt quasi ein
"Vollbeschäftigungsversprechen" ab. Theoretische Überlegungen (J. Tobin) und praktische Erfahrungen
zeigen, dass im Zuge der staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie die Verteilungsauseinandersetzungen
aggressiver ausgetragen werden. Die Folge ist ein Anstieg der Lohnstückkosten, und - solange der Staat seine expansive konjunkturpolitische Grundlinie nicht verlässt - ein Anstieg der Inflationsrate, mit auf Dauer
negativen Allokations-, Wachstums- und Beschäftigungseffekten. Zudem verschlechtert sich infolge der
gestiegenen Lohnstückkosten die internationale Wettbewerbsfähigkeit, mit ihrerseits negativen Wachstums- und Beschäftigungswirkungen.
Die Notwendigkeit einer einkommenspolitischen Flankierung der postkeynesianischen Konjunkturpolitik
wurde schon früh erkannt. In der Bundesrepublik Deutschland ist es jedoch kaum gelungen diese einkommenspolitische Flanke mit dem Instrument der "Konzertierten Aktion" (§ 3 StWG) abzusichern. Direkte
Eingriffe in die Lohn- und Preisbildung, zu denen z. T. in anderen Ländern gegriffen wurde (z. B. im
"Austro-Keynesianismus") - sind ohnehin ordnungspolitisch bedenklich.
2.2.4
Ordnungs- und gesellschaftspolitische Problematik
Das postkeynesianische Konzept der Wirtschaftspolitik ist tendenziell "interventionistisch". Es weist dem
Staat eine aktive Rolle bei der Vermeidung von Fehlentwicklungen zu. Die postkeynesianischen Interventionen des Staates gelten zwar als "marktwirtschaftskonform", da ja "nur" auf indirekte Weise gesamtwirtschaftliche Makrogrößen gesteuert würden (sog. "Globalsteuerung"), während direkte Eingriffe in den
Wirtschaftsprozess nicht erfolgen. Gleichwohl zeigt die Erfahrung, dass zumindest bei einem zunehmendem
Versagen der Globalsteuerung im Zweifel zu direkten Interventionen Zuflucht genommen wird, um die wirtschaftspolitischen Probleme zu lösen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde daher versucht, die Instrumente einer "aktiven Strukturpolitik" zu verbessern und eine "direkte Investitionslenkung" erwogen.
Bereits 1926 - also vor Keynes - hat L. v. Mises auf das Dilemma einer interventionistischen Wirtschaftspolitik und die Gefahr zunehmender "Interventionsspiralen" hingewiesen. Der postkeynesianische Interventionismus beinhaltet damit die latente Gefahr der Erosion der marktwirtschaftlichen Ordnung.
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2.2.5
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Zur Funktion von Krisen in der Marktwirtschaft
Folge der postkeynesianischen Wirtschaftspolitik war auch eine zunehmende "strukturelle Verhärtung"
(Sklerose). Der Vollzug des Strukturwandels wurde verlangsamt. Keynesianische Wirtschaftspolitik bedeutet ja, dass der Staat versucht, Krisen jederzeit entgegenzusteuern. Krisen gelten im postkeynesianischen
Weltbild als negative Erscheinungen, die es zu vermeiden gilt. Der Charakter von Krisen ist allerdings ambivalent. Für die unmittelbar Betroffenen sind Krisen schmerzhafte Entwicklungen; sie führen zu Insolvenzen und/oder Arbeitslosigkeit.
Versteht man gesellschaftliche Entwicklungen jedoch als einen Prozess der permanenten Umstrukturierung, weg von alten Produkten und Verfahren, hin zu neuen Märkten und Technologien, so wird klar, dass
Krisen durchaus notwendig sein können, um die Umstrukturierung der Volkswirtschaft zu vollziehen. Krisen
können also durchaus auch positiv als "Reinigungskrisen" interpretiert werden.
Postkeynesianische Wirtschaftspolitik ist "Nachfragestützungspolitik". Gesichert wird damit allerdings immer nur die hohe Auslastung der bereits bestehenden Kapazitäten, nicht aber das Entstehen neuer Märkte
und neuer Technologien. Der Versuch, permanente Vollauslastung zu sichern, kommt dem Versuch gleich,
strukturschwache Unternehmen oder ganze Branchen immer wieder mittels staatlicher Stützungsmaßnahmen
am Leben zu erhalten. Der Sachverständigenrat hat die postkeynesianische Wirtschaftspolitik daher auch als
eine "Politik der Geschenke" kritisiert.
Zur Marktwirtschaft gehört eben auch, dass Unternehmen, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind, vom Markt
verschwinden und damit Platz machen für Unternehmen, die innovativ sind und kostengünstig produzieren.
Insbesondere Mancur Olson weist am Beispiel der "englischen Krankheit" nach, dass auch die postkeynesianische Wirtschaftspolitik zum "*iedergang von *ationen" (so der Titel seines Buches) beitragen kann. Der
sich selbstverstärkende Prozess der gesellschaftlichen Verkrustung wird von ihm als "Sklerose" bezeichnet.
Speziell Angebotstheoretiker haben die Wachstumsschwäche der 70er Jahre in Westeuropa auf eine "Eurosklerose" zurückgeführt (Herbert Giersch).
2.2.6
Stagflation als Folge postkeynesianischer Konjunkturpolitik?
Die inflatorische Schlagseite der postkeynesianischen Konjunkturpolitik, die Überforderung der Wirtschaft
im Zeichen der Finanzpolitik und die strukturkonservierenden Effekte, führten zuerst zur Beschleunigung
der Inflation und schließlich zur Investitions-, Wachstums- und Beschäftigungskrise. Der Weg in die "Stagflation" (Stagnation plus Inflation) der 70er Jahre hat sicherlich viele Ursachen. Eine dieser Ursachen ist
nach Überzeugung der Neoklassiker die Wirtschaftspolitik im Zeichen des Keynesianismus.
Postkeynesianische Wirtschaftspolitik im Spiegel der Kritik
1
Kritikebene
Erläuterung (aus neoklassischer Sicht)
Zyklusverstärkung
durch time-lags
Antizyklische Konjunkturpolitik ist im Zweifel mit langen time-lags verbunden. Besonders
lang und unberechenbar sind die time-lags einer expansiven Geldpolitik.
Eine antizyklische Konjunkturpolitik wirkt daher tendenziell destabilisierend auf die wirtschaftliche
Entwicklung.
2
Politische Asymmetrie
Expansive Maßnahmen (Erhöhung der Staatsausgaben, Steuersenkungen) sind politisch leichter durchsetzbar als kontraktive. Auch diese politische Asymmetrie verstärkt die Tendenz zu
strukturellen Budgetdefiziten und zur Inflation.
Zunehmende struktu- Im Zweifel wird das Instrumentarium expansiv eingesetzt, um die Vollbeschäftigung zu sichern. Die Folge sind zunehmende strukturelle Budgetdefizite. Hiervon gehen unerwünschte
Verdrängungseffekte auf Wachstum und Beschäftigung aus ("Crowding-out-Effekte").
3 relle Budgetdefizite
Seite 62/93
Prof. Dr. J. Pätzold
4
5
6
7
Einseitige Nachfrageorientierung / Vernachlässigung der
Angebotsseite
Trügerischer Multiplikatoroptimismus
11
12
Die Erfahrung zeigt, dass in der Realität die multiplikativen Wirkungen von staatlichen Beschäftigungsprogrammen wesentlich geringer ausfallen als dies in postkeynesianischen Modellen unterstellt
wird. Vielfach treten nur kurzfristige "Strohfeuereffekte" auf, während langfristig sogar negative
Effekte auf Produktions- und Beschäftigungsentwicklung zu verzeichnen sind ("negative Multiplikatoreffekte").
Verharmlosung der
Inflation
Die immanenten Inflationstendenzen des postkeynesianischen Konzepts beeinträchtigen
langfristig die Funktionsweise des Marktsystems und haben letztlich weniger Wachstum und
weniger Beschäftigung zur Folge.
Ordnungspolitisch
Die gewählten einkommenspolitischen Flankierungen ("Konzertierte Aktionen", "staatliche
Lohn- und Preiskontrollen") erwiesen sich als unzureichend; sie sind im Zweifel ordnungspolitisch problematisch.
kommenspolitische
Absicherung
10
Durch die einseitige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gehen die Bestimmungsfaktoren der privaten Investitionstätigkeit und des wirtschaftlichen Wachstums ("Angebotsdeterminanten") aus dem Blickfeld verloren. Die Folge ist eine
Verlangsamung der Wachstumsdynamik und eine "wachstumsdefizitären Arbeitslosigkeit".
Kontraproduktive
Folge der staatlichen Vollbeschäftigungspolitik sind nicht nur aggressiver werdende Vertei"Vollbeschäftigungs- lungsauseinandersetzungen und Inflation, sondern auch eine Verlangsamung der Wachsgarantie"
tumsdynamik.
8 problematische ein-
9
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Zunehmende struktu- Folge der postkeynesianischen Wirtschaftspolitik war auch eine zunehmende strukturelle
relle Verkrustungen Verhärtung ("Sklerose"). Die positiven Wirkungen von "Reinigungskrisen" wurden durch
den Postkeynesianismus weitgehend außer Kraft gesetzt - mit auf Dauer negativen Wirkungen
für Wachstum und Beschäftigung.
Kurzfristige Orientie- Postkeynesianische Wirtschaftspolitik ist an den aktuellen Problemen orientiert. Die Summe
rung / Vernachlässi- kurzfristig "richtiger" wirtschaftspolitischer Maßnahmen kann sich jedoch auf Dauer als probgung der langfristilematisch erweisen.
gen Perspektive
Beispiele: Eine immer wieder von neuem expansive Geldpolitik, die auf Dauer die Geldmenge zu
stark ausweitet oder kurzfristig "angemessene" Budgetdefizite, die auf Dauer "strukturell" werden
und damit negative "Crowding-out-Effekte" auslösen.
Tendenz zu direkten
Interventionen
Das zunehmende Versagen des antizyklischen Globalsteuerungs-Interventionismus führt im
Zweifel zu der Forderung, direkter wirkende Maßnahmen zu ergreifen (z. B. direkte Investitionslenkung). Die Folge ist ein zunehmender direkter Interventionismus, der die marktwirtschaftliche Ordnung untergräbt.
Globalsteuerung zur
Bekämpfung struktureller Probleme nicht
geeignet
Das postkeynesianische Konzept ist zur Bekämpfung struktureller Probleme nicht geeignet.
Speziell zur Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit sind spezifische Maßnahmen (Strukturpolitik, Arbeitsmarktpolitik) erforderlich. Die Globalsteuerung ist - wenn überhaupt - nur
zur Bekämpfung der konjunkturellen Zielverletzungen (insbes. konjunkturelle Arbeitslosigkeit) geeignet.
Quelle: Pätzold, J.: Stabilisierungspolitik, 6. Aufl., Paul Haupt Verlag, Bern - Stuttgart - Wien 1998
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Prof. Dr. J. Pätzold
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
3
Die stabilisierungspolitische Konzeption der Neoklassik
3.1
Das Konzept der angebotsorientierten
Wirtschaftspolitik im Überblick
Die postkeynesianische Wirtschaftspolitik wurde besonders heftig von den sog. Monetaristen kritisiert. Bekanntester Vertreter
der Monetaristen ist der amerikanische Ökonom Milton Friedman. Auch der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat sich bereits früh
kritisch mit der postkeynesianischen Wirtschaftspolitik auseinander gesetzt. Im Jahresgutachten 1975 stellt
der Rat dann seine neue "stabilisierungspolitische Konzeption" vor, die in den Folgegutachten weiter konkretisiert wird. Ziel ist die "Verbesserung der Rahmenbedingungen" für die Wettbewerbsfähigkeit des
Standortes Deutschland.
Zentrale Elemente der sog. "angebotspolitischen Konzeption" des Sachverständigenrates sind:
•
Verstetigung der Wirtschaftspolitik und
•
Stärkung der Wachstumskräfte durch
Stärkung der Marktkräfte und der
Leistungsanreize.
H.-W. Sinn: Zur Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit:
Deutschland ist Waren-Exportweltmeister und verliert dennoch bei
der industriellen Wertschöpfung laufend an Boden.“ (S.84) „Der
Wertanteil, den die deutschen Industrie an der realen Zunahme
ihrer eigenen Produktion hatte, betrug in den Jahren 1995 bis
2003 gerade einmal 11%. 38% entfallen auf zusätzliche Vorleistungen aus anderen inländischen Branchen, 51 % gehen auf zusätzliche Vorleistungen aus dem Ausland zurück.“ (S. 75) .... Deutschland hat sich inzwischen zu einer „Basar-Ökonomie“ entwickelt (S.
71) Eine Basar-Ökonomie kann eine wundervolle Exportstatistik
haben, ohne dass dies Beleg für ihre Stärke als Industriestandort
angesehen werden kann.“ (S. 83).
Mit der Bezeichnung "angebotsorientierte
Wirtschaftspolitik" soll einerseits die
Angebotsseite herausgestellt werden. Zugleich grenzt der Rat damit sein Konzept „Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer kann man nur
an einer Größe sicher erkennen, und das ist die Arbeitslosigkeit selbst –
gegenüber der Nachfragepolitik post- nicht an den Exporten und auch nicht am Exportüberschuss. Wenn die
keynesianischer Prägung ab. In Deutsch- Arbeitslosigkeit steigt, hat sich die Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert,
land hat die praktische Wirtschaftspolitik und wenn sie fällt, hat sie sich verbessert. Derzeit sind bald viereinhalb
den Konzeptionswechsel auf Raten voll- Millionen Deutsche arbeitslos. Viereinhalb Millionen Deutsche sind
zogen. Die eigentliche "Wende" in der nicht mehr wettbewerbsfähig.“ (S. 89)
Wirtschaftspolitik hat die Deutsche Bundesbank im Jahr 1974 mit ihrer "*euen Geldpolitik" eingeleitet. Diese Phase kann als "Phase des monetaristischen Übergangs zur Angebotspolitik" bezeichnet werden.
Etwa zur gleichen Zeit erfolgte auch im Ausland - vornehmlich in den USA und in Großbritannien - ein Paradigmawechsel zur "supply-side-economics" (USA: "Reaganomics" und Großbritannien: "Thacherismus").
Das neoklassische Konzept ist im Gegensatz zur postkeynesianischen Konzeption mittelfristig bis langfristig orientiert. Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es die Rahmenbedingungen für die Wirtschaftstätigkeit der
Privaten investitions- und wachstumsfreundlich zu gestalten. Angebotspolitik ist daher in erster Linie
Wachstumsförderungspolitik. Hemmnisse, die die Leistungsbereitschaft der Individuen einschränken ("disincentives") sind zu beseitigen. Gefordert wird eine Stärkung der Leistungsanreize ("incentives") und die
Intensivierung des Wettbewerbs. Die Botschaft lautet: "Mehr Markt und weniger Staat".
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Prof. Dr. J. Pätzold
3.2
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Basishypothesen neoklassischer Stabilisierungspolitik
Basishypothesen des neoklassisch-angebotsorientierten Stabilisierungskonzepts
Hypothese
1
2
Eindeutige Rollenzuweisung
Erläuterung
Jedem Träger ist eine eindeutige Rolle zuzuweisen. Fehlentwicklungen können so leichter
dem jeweiligen Verantwortungsträger zugeordnet werden.
Stabilitätshypothese Wenn der Wettbewerb funktioniert, sind marktwirtschaftliche Systeme inhärent stabil. Aufgabe des Staates ist es daher, dafür Sorge zu tragen, dass die Märkte funktionsfähig sind
("Ordnungspolitik als Kausaltherapie"). Darüber hinausgehende Interventionen werden als
"Symptomtherapie" abgelehnt. Das gilt auch mit Blick auf die antizyklische Konjunkturpolitik "Verstetigungskonzept").
3
Say'sches Theorem "Das Angebot schafft sich seine :achfrage": Bei der Produktion von Gütern entstehen Einkommen und damit kaufkräftige Nachfrage, die den Absatz der Produktion sichern.
4
Schumpeter- Pionierunternehmer
Innovative Unternehmer ("Pionierunternehmer") sind die Träger des Fortschritts- und
Wachstumsprozesses.
Laffer-Theorem
In der Realität sind die aufkommensmaximalen Steuersätze überschritten. Steuersenkungen
fördern die Leistungsbereitschaft ("incentives"), das Wachstum und die Beschäftigten; sie
erhöhen zudem das Steueraufkommen.
5
Laffer steht damit in der Tradition der These vom „Leviathan Staat“ des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1651), der immer weiter ausufert.
Quelle: Pätzold/Baade: Stabilisierungspolitik, 7. Aufl., Vahlen-Verlag, München 2008
APOL_Grundannahmen
3.2.1
Neuverteilung der wirtschaftspolitischen Rollen und Verstetigung der Wirtschaftspolitik
Der Sachverständigenrat tritt für eine Neuverteilung der
wirtschaftspolitischen Rollen ein. Kernelemente dieses sog.
Reassignment sind:
•
jedem Träger ist ein Ziel zuzuordnen (eindeutige Verantwortungszuweisung),
•
Das wirtschaftspolitische Handeln ist zu verstetigen (Potenzialorientierung).
Ziel ist eine eindeutige Verantwortungszuweisung an die
Träger der Wirtschaftspolitik. Im Zweifel ist nämlich zu
beobachten, dass bei Zielverletzungen die politisch Verantwortlichen jeweils anderen Trägern (einschließlich den
Tarifparteien) "die Schuld" an Fehlentwicklungen zugewiesen haben.
Aus neoklassischer Sicht ist zudem problematisch, dass im
Stabilitäts- und Wachstumsgesetz dem Staat die Verantwortung für die Sicherung eines "hohen Beschäftigungsstandes" zugewiesen wird. Damit würden die Tarifparteien
unzulässiger Weise von ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung entbunden. Was diese dann veranlasst, die Verteilungsauseinandersetzungen "aggressiver" auszutragen - mit gesamtwirtschaftlich negativen
Folgen.
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•
Entscheidend ist, dass der Staat keine aktive stabilisierungspolitische Verantwortung mehr zu übernehmen hat. Für die Sicherung der Preisniveaustabilität ist die Zentralbank zuständig. Sie soll dafür Sorge tragen, dass die Geldmenge nicht schneller als das Produktionspotenzial wächst. Eine antizyklische
Geldpolitik wird abgelehnt ("potenzialorientierte" oder "konjunkturneutrale Geldpolitik").
•
Aufgabe des Staates ist es, die Gesellschaft angemessen mit öffentlichen Gütern (insbesondere innere
und äußere Sicherheit, Rechtsprechung, Bildung, Infrastruktur) zu versorgen. Der Staat soll also seine
"Allokationsaufgabe" sachgerecht erfüllen. Im Zweifel wird für einen geringen Staatsanteil am Sozialprodukt plädiert. Die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sind zudem "konjunkturneutral" zu gestalten, d. h. sie sind an der Entwicklung des Produktionspotenzials auszurichten. Eine
antizyklische Konjunkturpolitik des Staates wird vom Sachverständigenrat abgelehnt.
•
Für die Sicherung eines "hohen Beschäftigungsstandes" ist in erster Linie die Lohnpolitik zuständig: sie
soll diejenigen Löhne vereinbaren, die zu Vollbeschäftigung passen, d. h. die Lohnentwicklung ist an der
Entwicklung der Arbeitsproduktivität ausrichten. Damit wird klar, dass aus Sicht des Sachverständigenrates Arbeitslosigkeit in erster Linie ein lohnpolitisch verursachtes Phänomen ist (sog. klassische Arbeitslosigkeit). Der Sachverständigenrat plädiert allerdings nicht für einen totalen Rückzug des Staates
aus der beschäftigungspolitischen Verantwortung: seine Aufgabe ist es, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass der Arbeitsmarkt flexibler und leistungsfähiger wird. Auch Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit werden befürwortet. Zudem ist es Aufgabe des Staates im
Rahmen seiner Allokationspolitik die Infrastrukturausstattung der Volkswirtschaft so zu verbessern, dass
die Voraussetzungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung geschaffen werden. Dem Wachstumsziel dient vor allem eine "offensive Markt- und Wettbewerbspolitik".
•
Zur Sicherung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts wird für flexible Wechselkurse plädiert. Eine
Verpflichtung der Notenbank am Devisenmarkt zu intervenieren um den Wechselkurs auf einem bestimmten Niveau zu stabilisieren wird abgelehnt. Feste Wechselkurse mit Interventionsverpflichtung der
Notenbanken sind vor allem geldpolitisch problematisch: sie zwingen die Notenbank im Zweifel, fremde
Währung gegen € aufzukaufen und so die eigene Geldmenge auszuweiten. Im Grenzfall ist dann eine
"stabilitätsgerechte Geldmengensteuerung" nicht mehr möglich. Flexible Wechselkurse sind folglich
notwendige "Flankensicherung" für die potenzialorientierte Geldpolitik.
•
Die unvermeidlichen und durchaus legitimen Verteilungsauseinandersetzungen sollen weg von der
Lohnpolitik und hin auf die Ebene der Vermögensbildungspolitik verlagert werden. Die Erfahrung
zeigt ohnehin, dass mit der Nominallohnpolitik die funktionelle Verteilung auf Dauer kaum verändert
werden kann. Für den Sachverständigenrat ist daher die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand der
geeignete Ansatz, um auf Dauer die Verteilung von Einkommen und Vermögen "gerechter" zu gestalten.
Ihm schwebt unter anderem vor, die Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer auszubauen.
3.2.2
Stabilitätshypothese
Das marktwirtschaftliche System ist grundsätzlich stabil. Voraussetzung ist allerdings, dass der Wettbewerb
"funktionsfähig" ist, und zwar auf allen Märkten, den Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkten. In der Realität
gibt es jedoch Bedingungen, die die Funktionsfähigkeit des Marktsystems einschränken. Zu nennen sind:
•
ein zu hoher Staatsanteil am Sozialprodukt (insbesondere durch wirtschaftliche Betätigung des Staates in
Bereichen, die auch dem Markt überantwortet werden könnten),
•
staatlich geschützte und "regulierte" Wirtschaftszweige (Landwirtschaft, Energiewirtschaft, Verkehrswirtschaft, Post und Telekommunikationswirtschaft u.a.m.),
•
ein ausuferndes gesetzliches Regelwerk (Ladenschlussgesetzgebung, berufsständische Ordnungen u.a.m.),
•
ein ordnungsrechtlicher Rahmen, der die Funktionsweise der Finanzmärkte beeinträchtigt (z.B. destabilisierende Wirkungen der Bankenregeln gemäß Basel II.
Hinweis: Tendenziell bürokratisches Regelwerk zu Eigenkapitalvorschriften, welches zudem die Tendenz zur Auslagerung risi-
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kobehafteter Geschäfte in eigene „Zweckgesellschften“ fördert. Der wissenschaftliche Beirat beim BMWI hat „dringend“ die Reform dieses Regelwerks angemahnt, um die „destruktiven Wirkungen dieser Neuerrungen zu vermeiden“).
•
Regelungen, die die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes beeinträchtigen (Kündigungsschutzgesetz,
Lohnfortzahlungsgesetz u.a.m.),
•
staatliche Subventions- und Protektionspolitik, die faktisch der Erhaltung nicht wettbewerbsfähiger Unternehmen dient,
•
Beschränkungen im internationalen Wettbewerb,
•
ein hektischer und kurzsichtiger Interventionismus, der langfristige Investitionsentscheidungen erschwert.
Die Folge ist, dass die marktwirtschaftlichen Kräfte "gefesselt" werden und Fehlentwicklungen auftreten.
Die Wirtschaftspolitik muss dafür Sorge tragen, dass die "gefesselten Märkte entfesselt werden" (H.
Giersch). Sie muss insbesondere durch Verbesserung der Rahmenbedingungen für einen funktionsfähigeren Wettbewerb sorgen.
3.2.3
Say'sches Theorem und die Bedeutung der Angebotsseite
J. B. Say (1767 - 1832) gilt als Begründer der klassischen "Theorie der Absatzwege". Danach schafft sich
jedes Angebot seine Nachfrage. Das Say'sche Theorem wurde für eine geldlose Wirtschaft entwickelt. In
einer Tauschwirtschaft schafft sich tatsächlich jedes Angebot seine Nachfrage. In einer Geldwirtschaft müssen die aus dem Angebot resultierenden Einkommen nicht zwingend wieder verausgabt werden; sie können
auch gespart werden. Gerade in der keynesianischen Theorie wird dieses Sparen negativ belegt, da mit ihm
ja ein "Nachfrageausfall" verbunden ist.
Für den Sachverständigenrat ist das Say'sche Theorem gleichwohl auch in einer Geldwirtschaft eine wichtige
Orientierungshilfe für die Wirtschaftspolitik: Denn bei der Produktion von Waren und Dienstleistungen entstehen Kosten und damit Einkommen, die sicherstellen, dass die Produktion auch ihren Absatz findet. Dies
ist zwar nicht für jedes einzelne Produkt gewährleistet (es ist das Risiko jedes einzelnen Unternehmers diejenigen Produkte anzubieten, die auch ihren Absatzmarkt finden), wohl aber für die Produktion insgesamt.
Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene schafft sich das Angebot seine Nachfrage. Die keynesianische Befürchtung, dass die bei der Produktion entstandenen Einkommen gespart, also nicht wieder nachfragewirksam
werden, ist allenfalls ein vorübergehendes Phänomen.
Der Sachverständigenrat beschreibt diesen Sachverhalt wie folgt:
Sachverständigenrat: "In einer Geldwirtschaft gibt es eine Garantie gegen (solche) Gleichgewichtsstörungen nicht. Doch dieses
Problem hat nur eine Randrolle gespielt, solange die wirtschaftliche Dynamik im ganzen kräftig war. Die Kräftigung der Dynamik
ist daher die beste Versicherung gegen solche (kurzfristigen) Gleichgewichtsstörungen. achdem erprobt ist, dass diese Kräftigung über Geschenke der achfragepolitik nicht gelingt, ist man auf die Angebotspolitik verwiesen. Das Theorem, wonach dem
sich das Angebot seine achfrage schafft, ist deshalb so wertvoll, weil es eine (gesamtwirtschaftliche) Gleichgewichtsverheißung
enthält" (JG 1982/82, Tz. 301; Einfügung in Klammern vom Verf.).
Nach Überzeugung des Sachverständigenrates sind Sättigungserscheinungen nicht das zentrale Phänomen
moderner Volkswirtschaften. Im Gegenteil: latente Bedürfnisse gibt es genug; es gilt nur, diese Bedürfnisse
zu erkunden und entsprechende Waren und Dienstleistungen am Markt anzubieten (Gameboy, Computer,
Surfbrett, Mobiltelefon ...). Das ist Aufgabe der dynamischen Pionierunternehmer.
3.2.4
Schumpeter Pionierunternehmer
In seiner "Theorie der Wirtschaftlichen Entwicklung" (1911) interpretiert J. A. Schumpeter die Dynamik der marktwirtschaftlichen
Entwicklung als einen "Prozess
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der schöpferischen Zerstörung". Träger dieses Fortschrittsprozesses sind die dynamischen Pionierunternehmer. Sie sind die Motoren des Fortschritts und der wirtschaftlichen Entwicklung. Sie erkunden neue
Märkte (Produktinnovationen), wenden neue Verfahren an (Verfahrensinnovationen), Erschließen neue
Rohstoffquellen (Ressourceninnovationen) und setzen organisatorische *euerungen um. Den Anreiz
bilden hohe Pioniergewinne, die ihrerseits dafür sorgen, dass "scharenweise" Konkurrenten als Nachahmer
(Imitatoren) auftreten und für die rasche Verbreitung und Diffusion der Neuerungen sorgen. Sättigungstendenzen auf alten Märkten werden so durch Schaffung neuer Märkte überkompensiert. Die Produkt- und
Prozessinnovationen "zerstören" zwar alte Märkte (z. B. werden durch Computer die alten Schreibmaschinen
ersetzt), dieser Prozess der "schöpferischen Zerstörung" ist jedoch wohlstandsmehrend und erhöht die Produktivität der Volkswirtschaft. Ohne Pioniere driftet das Wirtschaftssystem in einen Zustand der "Sklerose"
(Mancur Olson, 1985) ab.
Maßgeblich für das Auftreten der Pionierunternehmer sind entsprechende Rahmenbedingungen. Der Staat
muss insbesondere dafür Sorge tragen, dass
•
die Märkte offen sind, mit der Folge, dass etablierten Unternehmen erfolgreich Konkurrenz gemacht werden
kann,
•
keine internationalen Wettbewerbshemmnisse bestehen,
•
administrative und bürokratische Wettbewerbshemmnisse beseitigt werden und - nicht zuletzt -
•
hohe Pioniergewinne nicht durch eine konfiskatorische Steuerprogression "sozialisiert" werden; denn ohne den
Gewinnanreiz wird es nicht in ausreichendem Umfang dynamische Pionierunternehmer geben.
Wirtschaftspolitisch ist also Marktöffnung, Deregulierung, Privatisierung und die Senkung der hohen Grenzsteuersätze ("Leistung soll sich lohnen") geboten.
3.2.5
Laffer-Theorem
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler A. Laffer hat mit seiner "Ökonomik der Steuerrevolte" (1979) versucht, den Nachweis zu führen, dass in
den meisten westlichen Volkswirtschaften die Steuerbelastung eine leistungsfeindliche Höhe erreicht hat.
Nach der Laffer-Kurve steigt zuerst mit steigendem Steuersatz (t) das Steueraufkommen – allerdings wegen der
zunehmenden Steuerwiderstände und der abnehmenden
Anreizwirkungen unterproportional. Das maximale Steueraufkommen (Tmax) wird beim optimalen Steuersatz (topt..)
erreicht. Steigen die Steuersätze über diese aufkommensmaximale Höhe (z. B. auf teff.), so nehmen die Steuerwiderstände und die leistungsmindernden Wirkungen des
Steuersystems ("disincentives") so stark zu, dass – trotz
höherer Steuersätze – das Steueraufkommen abnimmt. Die
Folge zunehmenden disincentives ist nämlich eine geringere wirtschaftlich Aktivität und damit ein geringeres Steueraufkommen (Teff.). Hohe Grenzsteuersätze drängen zudem
die Wirtschaftssubjekte zunehmend in die Schattenwirtschaft ab, die statistisch nicht zutreffend erfaßt ist („Nachbarschaftshilfen“, Grau- und Schwarzzonen). Entscheidend
ist zudem nicht nur die reine Steuerlast, sondern auch die
Belastung mit Sozialabgaben, die ebenfalls leistungs-
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mindernd wirkt. Swift’sches „Steuereinmaleins“ (Jonathan Swift, 1728).
Laffer empfiehlt eine grundlegende Reform des Steuersystems ("tax revolt"), d. h. eine radikale Senkung
der Steuersätze, um die Leistungsbereitschaft der Wirtschafssubjekte zu steigern, damit das Wirtschaftswachstum zu erhöhen, mit der Folge, dass auch das Steueraufkommen steigt. Trotz Senkung der Steuersätze
würden sich keine Haushaltsdefizite ergeben ("Autokonsolidierung").
Die angebotstheoretische Empfehlung, die "Steuern zu senken" darf allerdings nicht keynesianisch fehlinterpretiert werden. Es geht nicht um steuerliche Entlastungen, mit dem Ziel die verfügbaren Einkommen und
damit die *achfrage, das Wachstum und die Beschäftigung zu erhöhen - dies ist allenfalls ein erwünschter
Nebeneffekt. Es geht um Steuerentlastungen mit dem Ziel die leistungshemmenden Wirkungen des Steuersystems zu mildern und damit mehr Wachstum und Beschäftigung möglich zu machen.
Die Laffer-Theorie hat weltweit einen internationalen Wettlauf der Steuerreformen in Gang gesetzt. Auslöser waren Steuerreformen unter Präsident Ronald Reagan zu Beginn der 80er Jahre.
3.3
Bausteine des Angebotskonzepts
3.3.1
Geldwertstabilität durch potenzialorientierte Geldmengepolitik
„Preisniveaustabilität ist die beste Grundlage für eine wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik“.
Eine strikt am Ziel der Preisniveaustabilität ausgerichtete Geldpolitik setzt voraus, dass die Geldmenge nicht
schneller wächst, als die reale Produktion gesteigert werden kann. Es ist daher Aufgabe der Notenbank, das
Geldmengenwachstum am realen Wachstumsspielraum, d. h. am Wachstum des Produktionspotenzials auszurichten. Eine derartige "potenzialorientierte Geldpolitik" folgt monetaristischen Vorstellungen (Vertreter: M. Friedman). Um die Zentralbankpolitiker an eine strenge Regel zu binden, plädiert Friedman sogar für
die verfassungsrechtliche Verankerung der potenzialorientierten Geldpolitik. Aus Gründen der Praktikabilität und der leichteren Überprüfbarkeit empfiehlt er eine "Vier-Prozent-Regel".
Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1973 hat die Deutsche Bundesbank, wie
erwähnt, einen Paradigmawechsel zu einer monetaristisch inspirierten Geldpolitik vollzogen ("*eue Geldpolitik"). 1974 bis 1998 veröffentlichte sie angestrebte Geldmengenziele für das jeweilige folgende Jahr.
Bei der Ermittlung des Geldmengenziels orientierte sie sich an folgenden Parametern:
•
Geschätztes Wachstum des volkswirtschaftlichen Produktionspozentials (wBIP*) der kommenden Periode.
Bas Produktionspotenzial (BIP*) ist das bei Vollauslastung der Produktionsfaktoren maximal produzierbare reale Bruttoinlandsprodukt = volkswirtschaftliche Kapazitätswachstum.
•
Trendmäßige Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (wU*). Sinkt die Umlaufgeschwindigkeit
des Geldes im Trend, so ist eine größere
Geldmenge erforderlich, um ein gegebenes
Inlandsprodukt zu finanzieren.
•
"Unvermeidliche Inflationsrate" (wP*).
Das ist diejenige Inflationsrate, die unter Berücksichtigung der Ausgangssituation ohne
unzumutbare Wachstums- und Beschäftigungsrisiken kurzfristig nicht niedriger
gehalten werden kann. Es ist das erklärte
Ziel, diese von der Bundesbank auch als
"normative Preiskomponente" bezeichnete
Inflationsrate möglichst im "Gleitflug" auf
Null herunterzustabilisieren.
•
Marge: 1979 bis 1998 gab die Bundesbank ihr Geldmengenziel in Form einer Bandbreite ("Zieltrichter") bekannt. Üblich war eine Marge von ± 1,0 bis 1,5 %.
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Bei den Trendgrößen "Potenzialwachstum" und "Umlaufgeschwindigkeit" handelt es sich um den "monetaristischen Kern" der Neuen Geldpolitik.
•
Die Berücksichtigung einer "unvermeidlichen Inflationsrate" und eines "Trichters" machen jedoch deutlich, dass
das Bundesbankkonzept "pragmatische bzw. keynesianische Elemente" enthält, die es ihr ermöglichen, von
einem strikt monetaristischen Kurs abzuweichen.
Die Zielformulierung erfolgte bis 1987 an Hand der Zentralbankgeldmenge; seit 1988 bis 1998 (seither ist
die EZB für die Geldpolitik verantwortlich) diente die Geldmenge M3 als Zielgröße.
Die Erfolge der Neuen Geldpolitik sind durchaus ermutigend: Seit 1974 konnte die Inflationsrate von damals
knapp 7 Prozent auf tolerierbare Größenordnungen "herunterstabilisiert" werden ("Disinflation"). In jedem
Fall ist die "Neue Geldpolitik" durch eine "Neue Finanzpolitik" (potenzialorientierte oder konjunkturneutrale
Haushaltspolitik) zu ergänzen.
Referenzwert 4,5 %
Zur Strategie der EZB siehe Teil B: Das Inflationsproblem
3.3.3
Potenzialorientierte bzw. konjunkturneutrale Haushaltspolitik (KNH)
Eine "Neue Finanzpolitik" soll nach Auffassung des Sachverständigenrates folgende Elemente enthalten:
1. Zuerst sind bestehende strukturelle Budgetdefizite zu konsolidieren. Denn hiervon gehen langfristig negative
Wirkungen auf Wachstum, Beschäftigung und die Stabilität des Preisniveaus aus; sie belasten zudem künftige
Generationen und engen die Spielräume der Finanzpolitik immer weiter ein.
2. Zudem ist die Staatsausgabenquote und
die Steuerquote (jeweils in Prozent des
Produktionspotenzials) auf ein allokations- und gesellschaftspolitisch erwünschtes Maß zu reduzieren.
3. Nach erfolgter Konsolidierung und
Rückführung der Staatsquoten, sind die
öffentlichen Haushalte "konjunkturneutral" zu gestalten; Konjunkturneutralität erfordert - vergleichbar der Geldpolitik - eine Ausgaben- und Steuerentwicklung, die sich am Wachstum des
Produktionspotenzials orientiert.
4. Schließlich sind die öffentlichen Haushalte sowohl auf der Seite der Steuern
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(Steuerreform) als auch auf der Seite der Staatsausgaben (Ausgabenumstrukturierung) wachstumsfreundlicher
zu gestalten.
Einnahmen und Ausgaben des Staates1)
Schätzung für das Jahr 2009 und Prognose für das Jahr 2010
Art der Einnahmen
2008
und Ausgaben2)
Einnahmen SSSSSSSSSS.SSSS
darunter:
Steuern ......................................................
Sozialbeiträge ............................................
2009
2010
2009
2010
Veränderung gegenüber
dem Vorjahr in vH
Mrd Euro
1 091,8
1 066,3
1 044,6
– 2,3
– 2,0
592,6
408,1
565,1
411,5
547,0
410,0
– 4,6
+ 0,8
– 3,2
– 0,4
Ausgaben SSSSSSSSS......................... 1 090,8
davon:
Vorleistungen ............................................
106,6
Arbeitnehmerentgelt ..................................
172,1
Geleistete Vermögenseinkommen (Zinsen)
67,1
Geleistete Transfers SSSS......................... 675,7
Bruttoinvestitionen .....................................
37,4
Sonstiges3) SSSS.........................SSSSS 31,9
1 138,4
1 169,5
+ 4,4
+ 2,7
113,0
177,0
64,3
713,3
40,1
30,7
117,3
180,1
67,6
730,0
47,8
26,8
+
+
–
+
+
+ 3,8
+ 1,7
+ 5,1
+ 2,4
+19,1
X
Finanzierungssaldo SSSSSSSSS.........
1,0
– 72,1
– 124,9
X
X
Nachrichtlich:
Staatsquote4) SSSS......................SSSSS. 43,7
Steuerquote4) SSSS......................SSSSS. 24,2
Abgabenquote4) SSS..........................SSSSS
39,6
Finanzierungssaldo (vH)5) SSSSS............
0,0
Schuldenstandsquote6) SSSSS................
65,9
47,5
24,0
40,2
– 3,0
71,8
47,6
22,7
38,1
– 5,1
75,3
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
6,0
2,8
4,1
5,6
7,1
X
1) Gebietskörperschaften und Sozialversicherung in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Gebietskörperschaften: Bund, Länder, Gemeinden, EU-Anteile, ERP-Sondervermögen, Kinderbetreuungsausbau, Fonds
„Deutsche Einheit“, Vermögensentschädigungsfonds, Teile des Bundeseisenbahnvermögens, Erblastentilgungsfonds.–
2) Abweichungen in den Summen durch Runden der Zahlen.– 3) Vermögenstransfers, geleistete sonstige Produktionsabgaben sowie Nettozugang an nichtproduzierten Vermögensgütern.– 4) Ausgaben/Steuern sowie Steuern an die
EU/Steuern und Erbschaftsteuer, Steuern an die EU sowie tatsächliche Sozialbeiträge jeweils in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.– 5) In Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.– 6) Schulden (in der
Abgrenzung gemäß dem Vertrag von Maastricht)/Ausgaben des Staates in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.
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Finanzpolitische Kennziffern1)
vH
2003
2005
2006
Finanzierungssaldo3) SSSSS.....................SSSSSSS
– 4,0
– 3,8
– 3,3
– 1,6
0,2
0,0
– 3,0
Struktureller Finanzierungssaldo4) SS..SS.......... – 3,6
– 3,7
– 2,9
– 1,9
– 0,3
– 1,0
– 2,1
Struktureller Primärsaldo4) SSS......................S. – 1,4
– 1,3
– 0,7
0,3
1,5
0,8
– 0,7
Schuldenstandsquote5) SSSS...........................SS.63,9
65,7
68,1
67,7
65,1
66,0
71,8
Staatsquote5) SSSSSSSS......................SS.
48,5
2007
2008
20092)
2004
47,1
46,8
45,4
43,7
43,7
47,5
Abgabenquote6) SSSSSSS........................SSSSSS.
40,0
39,1
39,1
39,5
39,7
39,6
40,2
Steuerquote7) SSSSS...SSS..........................
22,2
22,5
23,3
24,2
24,3
24,0
Sozialbeitragsquote SSS.SS.....................S..SSSSSSS.
17,2
16,8
16,6
16,2
15,5
15,3
16,1
Zins-Steuer-Quote8) SSSSS......................S....
12,7
12,3
11,7
11,3
11,4
22,8
7)
13,3
13,0
1) In der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen.– 2) Eigene Schätzung.– 3) Finanzierungssaldo in
Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.– 4) Um konjunkturelle Einflüsse und transitorische Effekte bereinigter Finanzierungssaldo/Primärsaldo in Relation zum Produktionspotenzial in jeweiligen Preisen; Primärsaldo: Finanzierungssaldo ohne Saldo aus geleisteten Vermögenseinkommen (Zinsausgaben) und empfangenen Vermögenseinkommen.– 5) Schulden (in der Abgrenzung gemäß dem Vertrag von Maastricht)/Ausgaben des Staates in Relation zum
Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.– 6) Steuern einschließlich Erbschaftsteuer, Steuern an die EU und tatsächliche Sozialbeiträge in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.– 7) Steuern einschließlich Erbschaftsteuer sowie Steuern an die EU/tatsächliche Sozialbeiträge in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.–
8) Zinsausgaben in Relation zu den Steuern.
Zu 1: Wie bereits erwähnt lassen sich die öffentlichen Budgetdefizite in drei Komponenten zerlegen:
•
Investitionsorientierte *ormalverschuldung:
Nach Auffassung des Sachverständigenrates ist eine Nettokreditaufnahme (Neuverschuldung) in Höhe von etwa
1,5 Prozent des Produktionspotenzials unproblematisch, da sich die Wirtschaft an diese Inanspruchnahme der
Geldvermögensbildung "gewöhnt" habe. Zudem ist es unproblematisch, dass die staatlichen Infrastrukturinvestitionen - wie private Investitionen auch - im Wege der Kreditaufnahme finanziert werden: Sie fördern das
Wachstum und steigern das künftige Steueraufkommen. Aus dem erhöhten Steueraufkommen können dann der
Zins- und Tilgungsdienst bestritten werden, ohne dass die öffentlichen Haushalte zusätzlich belastet werden.
Für diese "investitionsorientierte *ormalverschuldung" besteht also kein Konsolidierungsbedarf.
•
Konjunkturelles Budgetdefizit:
Das konjunkturelle Defizit lässt sich in zwei Komponenten aufspalten:
a) Automatisches konjunkturelles Budgetdefizit.
Es ist Reflex von automatisch anfallenden Steuermindereinnahmen und/oder Mehrausgaben in der Rezession (z.
B. sinkendes Einkommensteueraufkommen, zusätzliche Arbeitslosenunterstützungszahlungen). Diese Budgetdefizite sind Folge der automatischen Stabilisierungswirkung der öffentlichen Haushalte. Sie sollten hingenommen werden. Sie sollten insbesondere nicht Anlass sein, in der Rezession die Ausgaben zu kürzen oder die
Steuern zu erhöhen. Eine derartige Parallelpolitik wäre prozyklisch - sie ist abzulehnen. Die automatischen
konjunkturellen Budgetdefizite verschwinden im nächsten Boom wieder von allein.
b) Diskretionäres konjunkturelles Budgetdefizit.
Eine weitere Komponente des konjunkturellen Defizits, ist der Teil der Nettokreditaufnahme, der Folge fallweiser ("diskretionärer") postkeynesianischer Konjunkturprogramme ist. Wie erwähnt, lehnt der Sachverständigenrat derartige antizyklische Maßnahmen ab; zu expansiven Beschäftigungsprogrammen sollte nur in extremen
Konjunktursituationen gegriffen werden.
•
Strukturelles Budgetdefizit:
Die restliche verbleibende Nettokreditaufnahme ist das sog. strukturelle
Defizit. Dieses strukturelle Defizit entsteht, weil über eine längere Zeit
hinweg die Staatsausgaben schneller als das Steueraufkommen wachsen.
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Strukturelle Budgetdefizite gehen also auf eine "unsolide" Finanzpolitik zurück. Strukturelle Budgetdefizite sind problematisch: Die öffentlichen Haushalte werden durch den Zins- und Tilgungsdienst zusätzlich belastet. Zudem gehen
von strukturellen Defiziten wachstums- und beschäftigungspolitisch negative Verdrängungseffekte (Crowding-outEffekte) aus. Strukturelle Budgetdefizite sollten konsolidiert werden. Aus neoklassischer Sicht kommt selbstverständlich nur eine Konsolidierung über die Verlangsamung des Ausgabenwachstums, nicht jedoch über Steuererhöhungen in
Betracht.
Wirtschaftsforschungsinstitute: “Die Institute empfehlen, an dem mittelfristigen Konsolidierungskurs grundsätzlich festzuhalten, ihn aber so zu definieren, dass das strukturelle Defizit bis zum Jahr 2004 nahezu abgebaut ist. ... Entscheidend ist, dass bei dieser finanzpolitischen Strategie der
Konsolidierungserfolg an der Senkung des strukturellen Defizits gemessen wird und nicht an der Verringerung des tatsächlichen Defizits.“
Bezug zum Maastricht-Vertrag: Im Abkommen von Maastricht wurden Kriterien für die Europäische Währungsunion definiert; u.a. das Kriterium,
wonach das Budgetdefizit (Neuverschuldung) die Marge von 3 % des BIP nicht überschreiten darf. Konsequenz einer drohenden Überschreitung ist
ein „blauer Brief“ aus Brüssel. Sollte das Defizit nicht unter die Marge von 3 % des BIP gesenkt werden können droht eine finanzielle Strafe für das
bereffende Land (z.B. Portugal).
Sachgerechter wäre es gewesen, im Maastricht-Vertrag eine Begrenzung für das strukturelle Budgetdefizit zu verankern und nicht das tatsächliche Defizit zu wählen. Folge der Orientierung am tatsächlichen Defizit ist, dass dieses Defizit automatisch in der Rezession infolge von Steuerausfällen steigt, obwohl nicht zwingend eine unsolide Haushaltspolitik betrieben worden sein muss. Dies ist ein „Webfehler“ des Maastricht-Vertrages.
Durch die inzwischen vorgenommene Aufweichungen wurde der Pakt allerdings nur „verschlimmbessert“.
Zu 2: Allokationspolitischer *ormalhaushalt
Sind die strukturellen Defizite konsolidiert, so ist ein Haushalt anzustreben, der durch allokations- und gesellschaftspolitisch erwünschte Quoten (jeweils in Prozent des Produktionspotenzials) gekennzeichnet ist
(Basishaushalt). Dieser allokationspolitische *ormalhaushalt dient dem Sachverständigenrat zugleich als
Ausgangsbasis für die Fortschreibung in die Zukunft (Fortschreibungsregeln).
Der Basishaushalt ist durch folgende Quoten gekennzeichnet:
Ist die Staatsausgabenquote (gst) z. B. 33 % (ohne Ausgaben, die dem Zweck der Umverteilung dienen, also ohne Transferzahlungen und ohne Subventionen), so gibt diese
Quote offensichtlich an, dass der Staat im Basisjahr (t0) 33 % der volkswirtschaftlichen
Produktionskapazitäten "für sich" in Anspruch genommen hat, um die Gesellschaft mit
öffentlichen Gütern zu versorgen. Je höher die Staatsquote ist, um so höher ist offensichtlich die Inanspruchnahme von Produktionsfaktoren durch den Staat und die Zurückdrängung der Privaten. Das ist "die Last" des Staates.
Die Finanzierung dient einem abgeleiteten Zweck: Nämlich der Zurückdrängung privater Nachfrage. Damit
wird sichergestellt, dass das Produktionspotenzial nicht zweimal - durch die Privaten und den Staat - in Anspruch genommen wird und Inflation entsteht. Der ordentliche Weg der Finanzierung ist die Abgabenfinanzierung (insbes. Steuern und Sonderabgaben). In der Praxis greift der Staat aber auch auf die Kreditaufnahme zurück.
Ist die Steuerquote (tSt) im Basisjahr z. B. 31,5 %, so bedeutet dies offensichtlich, dass der Staat seine
Staatsausgaben nahezu vollständig "ordentlich", nämlich durch Erhebung von Abgaben finanziert hat. In
Höhe der Steuerquote hat der Staat mithin private Ansprüche an das volkswirtschaftliche Produktionspotenzial über Zwangsabgaben zurückgedrängt um seine Staatsausgaben ohne inflatorische Wirkungen zu finanzieren. Man könnte von einem "steuerlichen crowding-out" sprechen.
Verbleibt zwischen Staatsausgaben und Steueraufkommen eine Lücke, so muss diese durch Kreditaufnahme
geschlossen worden sein: Die Verschuldungsquote (vSt; Nettokreditaufnahme in Prozent des Produktionspotenzials) spiegelt die Inanspruchnahme der Geld- und Kapitalmärkte durch den Staat wider. Aus Konsistenzgründen wird - dem Sachverständigenrat folgend - in der obigen Definition, die Nettokreditaufnahme allerdings ebenfalls auf das Produktionspotenzial bezogen. Die Erfahrung lehrt, dass ein Teil der Staatsausgaben
auch in "normalen" Konjunktursituationen im Wege der Kreditaufnahme finanziert wird, und dass dies gesamtwirtschaftlich unproblematisch ist, da sich die Wirtschaft an eine entsprechende Inanspruchnahme der
Geldvermögensbildung der Privaten "gewöhnt" (Sachverständigenrat) habe. Nach Auffassung des Sachverständigenrates ist eine Nettokreditaufnahme in Höhe von etwa 1,5 Prozent des Produktionspotenzials "unproblematisch" ist. Das entspricht zugleich etwa der Kreditaufnahme zur Finanzierung der staatlichen Inves-
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titionen. Was hierüber hinausgeht, wird (nach Ausschaltung des konjunkturellen Defizits) als "strukturelles
Defizit" bezeichnet.
Zu 3: *eutralitätsregel
Ein Haushalt bleibt konjunkturneutral, wenn die Quoten des gewählten "allokations- und gesellschaftspolitisch erwünschten Normalhaushaltes" unverändert bleiben, wenn also gilt:
Wachstumsraten
Quoten in Prozent des Produktionspotenzials
wGSt
=
wBIP*
Staatsquote (g St)
wT
=
wBIP*
Steuerquote (tSt)
wVSt
=
wBIP*
Verschuldungsquote (vSt )
= konstant
In einer inflatorischen Wirtschaft muss zudem in die Fortschreibungsregel - wie auch bei der Geldpolitik ein "unvermeidbarer Inflationszuschlag" (wP*) eingebaut werden. Die Folge wäre ansonsten eine real sinkende Staats-, Steuer und Verschuldungsquote. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern auf Dauer auch
wachstums- und beschäftigungspolitisch problematisch.
Wird die potenzialorientierte Ausgabenpolitik strikt durchgehalten, so bedeutet dies, dass sich im Boom infolge von Steuermehreinnahmen Budgetüberschüsse und in der Rezession als Folge von Steuermindereinnahmen Budgetdefizite bilden. Diese automatischen Budgetsalden wirken automatisch dämpfend auf den
Konjunkturverlauf ("automatische Stabilisatoren").
Der Sachverständigenrat fordert nicht nur, dass die Staatsausgaben und das Steueraufkommen in ihrer Gesamtheit nicht schneller wachsen als das Produktionspotenzial, sondern dass darüber hinaus die öffentlichen
Haushalte wachstumsfreundlich umgestaltet werden. Dies bedeutet, dass das Steuersystem zu reformieren und die Staatsausgaben umzustrukturieren sind.
Zu 4: Wachstumsfreundliche Umgestaltung des Haushalts
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a) Qualitative Konsolidierung auf der Einnahmenseite
Ziel einer umfassenden Steuerreform sollte sein, die leistungshemmenden Wirkungen ("disincentives") des
bestehenden Systems so weit wie möglich zu mildern und - wo möglich - durch positive Leistungsanreize zu
ersetzen.
In der politischen und wissenschaftlichen Debatte zur Steuerpolitik besteht in einem Punkt weitgehend Konsens: Wir brauchen in Deutschland eine Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, um einen Beitrag für mehr Beschäftigung sowie für eine gerechtere und einfachere Besteuerung zu leisten. Eine solche
Reform muss drei Bedingungen erfüllen:
•
Der Steuertarif bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer muss deutlich abgesenkt werden, um die Investitions- und Leistungsbereitschaft zu fördern und Deutschland wieder zu einem attraktiven Investitionsstandort im
internationalen Wettbewerb zu machen.
•
Steuervergünstigungen sollten abgebaut, die Bemessungsgrundlage also erweitert werden; alles, was Einkommen im wirtschaftlichen Sinne ist, muss - schon aus Gründen der steuerlichen Gerechtigkeit - auch der Besteuerung unterliegen.
•
Um die Dynamisierung der Wirtschaft zu erreichen, ist eine Nettoentlastung geboten, die sowohl dem Unternehmenssektor als auch dem Haushaltsbereich zugute kommen muss.
•
Überfällig ist zudem eine Reform der Gewerbesteuer. Der Sachverständigenrat wirbt für deren Ersatz durch eine
kommunale Wertschöpfungssteuer.
•
"Zu große" Steuerausfälle sind durch
- die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage,
- weitere Ausgabenkürzungen, gegebenenfalls aber auch durch
- die Anhebung von Verbrauchsteuren
gegenzufinanzieren.
•
Wie groß die *ettoentlastung von Wirtschaft und Bürgern ausfallen kann, hängt auch davon ab, wie die Stärke
und der zeitliche Verlauf des Laffer-Effektes eingeschätzt wird. LAFFER_KURVE_NEO
Konkurrierende steuerpolitische Konzeptionen
In der Finanzwissenschaft werden unterschiedliche Konzeptionen einer Reform der Einkommensteuer diskutiert:
•
Synthetische Einkommensteuer
Bei einer synthetischen Einkommensteuer sind alle Einkommen - unabhängig von der Einkommensquelle und
der Einkommensverwendung - in der Bemessungsgrundlage zu erfassen und einem einheitlichen Steuertarif zu
unterwerfen. Mithin müssten beispielsweise auch die Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit und
die (Zins-)Erträge aus Kapitallebensversicherungen besteuert werden. Tarifspaltungen nach der Einkommensquelle sind nicht zu vertreten. Lohneinkommen dürfen dann nicht anders besteuert werden als gewerbliche Einkünfte. Für einen Sparerfreibetrag gibt es von der Steuersystematik her keine Begründung. Zu einer synthetischen Einkommensteuer passt keine getrennte Unternehmensbesteuerung (Einheitslösung). Steuersystematisch
bedeutet dies, dass die Körperschaftsteuer als Vorauszahlung auf die Einkommensteuer zu behandeln ist. Das
Anrechnungsverfahren ist hierbei das adäquate Verfahren. Zudem sollte der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer mit dem Thesaurierungssatz der Körperschaftsteuer übereinstimmen - zumindest müssten beide Sätze nahe
beieinander liegen, um steuerlich bedingte Verzerrungen zu vermeiden. Die Stiftung Soziale Marktwirtschaft
hat ein Reformmodell noch der Methode einer synthetischen Einkommenstuer vorgelegt.
•
Analytische Einkommensteuer
Bei einer analytischen Einkommensteuer besteht das Ziel darin, Einkommen je nach Quelle und Verwendung
unterschiedlich zu besteuern. Eine Tarifvergünstigung für gewerbliche Einkommen ist dann durchaus zu rechtfertigen, wenn man zum Beispiel der Meinung ist, dass dadurch die Investitionen besonders gefördert und damit
neue Arbeitsplätze gewonnen werden könnten (Trennlösung). Auch ein Sparerfreibetrag wäre mit dieser Konzeption steuersystematisch vereinbar. Gegen eine bevorzugte Behandlung einbehaltener Gewinne in Kapitalgesellschaften wird allerdings eingewandt, dass dies zur Fehlallokation des Faktors Kapital führt. Die steuerliche Begünstigung der Gewinnthesaurierung stört die Neutralität der Gewinnverwendung. Sie bewirkt, Gewinne
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im eigenen Unternehmen zu thesaurieren (Lock-in-Effekt). Diese Lösung hemmt eher den Strukturwandel, statt
ihn zu fördern.
Der Sachverständigenrat hat sich seit Jahren für das System einer synthetischen Einkommensteuer ausgesprochen und daraus seine Vorstellungen für eine Reform der Einkommensteuer hergeleitet. Inzwischen
empfiehlt der Rat eine Kombination beider Modelle: Sämtliche Erwerbseinkommen - dazu gehören neben
den Arbeitseinkommen unter anderem auch Unternehmensgewinne, die über die typisierte Eigenkapitalverzinsung hinausgehen – unterliegen dem geltenden linear-progressiven Einkommensteuertarif. Bei den Arbeitseinkommen wird nicht zwischen selbständiger Arbeit und nichtselbständiger Arbeit unterschieden. Das
vorgeschlagene Konzept der Dualen Einkommensteuer vermeidet nach Auffassung des Rates den sachlichen
Fehler, der mit einer pauschal günstigen Besteuerung von Unternehmensgewinnen einhergeht, nämlich die
Diskriminierung nichtselbständiger gegenüber selbständiger Arbeit. Im Mittelpunkt dieses Vorschlags steht
eine Reform der Körperschaftsteuer und Einkommensteuer, die vor allem auf die Verbesserung der steuerlichen Attraktivität des Standorts Deutschland sowie auf die Gewährleistung von Entscheidungsneutralität insbesondere Finanzierungs- und Rechtsformneutralität - zielt.
Steuerreform 2000
Die im Juli 2000 verabschiedete Steuerreform der Bundesregierung, enthält Elemente aller drei Konzeptionen; sie verfolgt demnach keine systematisch saubere Lösung. Der Sachverständigenrat urteilt: "Solange die
Bundesregierung sich nicht für eine geschlossene Konzeption entscheidet, werden die steuerpolitischen
Maßnahmen Stückwerk bleiben und insoweit nicht zu Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit in der Steuerpolitik beitragen können (Jahresgutachten 1999/2000, Tz. 311).
b) Qualitative Konsolidierung auf der Ausgabenseite
Ziel der Umgestaltung der Staatsausgaben ist es, diejenigen Ausgaben
zu reduzieren, von denen hemmende Effekte auf Wachstum und Beschäftigung ausgehen. Damit soll Spielraum geschaffen werden für die
Erhöhung der wachstumsfördernden staatlichen Investitionsausgaben.
Gefordert werden ein konsequenter Abbau der Subventionen (der Rat
spricht von einem "Krebsschaden"), die Eindämmung der staatlichen
Sozialleistungen und die Begrenzung der Personalausgaben. Erhöht
werden sollten staatliche Infrastrukturinvestitionen, Forschungs- und
Entwicklungsausgaben sowie Bildungsinvestitionen.
c) Die neue
bremse
Schulden-
Im Zuge der aktuellen Finanzund Wirtschaftskrise nehmen
weltweit die Staatseingriffe zu
und öffentliche Konjunkturprogramme sind an der
Tagesordnung. Diese umfangreichen Staatsaktivitäten bleiben nicht ohne Wirkung auf die öffentlichen
Haushalte. In Deutschland summierte sich die
Staatsverschuldung Ende 2008 auf rund 1,6 Billionen
EUR, was einem Schuldenstand von 65 % des deutschen BIP entspricht. Da der bisherige Art. 115 GG
weitestgehend wirkungslos geblieben ist (in 38 Jahren wurde diese „investitionsorientierte“ Regel 16
mal durchbrochen), haben sich Bund und Länder im
Rahmen der Föderalismuskommission II (Kommission zur Modernisierung der Bund-LänderFinanzbeziehungen) auf eine neue Schuldenregel
Allerdings: Der Anteil der beim
Staat Beschäftigten ist in
Deutschland mit 12 % vergleichsweise gering (USA: 16%, Frankreich: 25%, Schweden: 33%; jeweils 2003). Sehr hoch ist aber
die Sozialausgabenquote in
Deutschland (30%).
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geeinigt, die einer ausufernden Staatsverschuldung Einhalt gebieten soll.
Entwicklung der Staatsverschuldung
Der öffentliche Gesamthaushalt in Deutschland hatte zum 31.12.2008 Schulden in Höhe von 1 642 Mrd.
EUR angehäuft. Die Zinszahlungen hieraus beliefen sich im Jahr 2007 auf etwa 70 Mrd. EUR und sind damit mehr als doppelt so hoch wie die gesamten Verteidigungsausgaben des Bundes. Betrachtet man die Entwicklung des Schuldenstandes im Zeitverlauf, so hat sich dieser in Deutschland allein seit 1990 fast verdreifacht. Dieses Wachstum ist in erster Linie auf den überproportionalen Anstieg der Bundesschulden zurückzuführen. Zum Ende des Jahres 2009 lag die Schuldenstandsquote (in Prozent des BIP) bei einem Rekordwert von 72 %, 2003 hatte diese Quote noch 64 % des BIP betragen. Der Maastricht-Grenzwert von max. 60
% wird in Deutschland seit 2003 regelmäßig überschritten – 1991 lag diese Quote noch bei 40 % des BIP.
Die neue Schuldenregel in Deutschland
Seit der von der großen Koalition initiierten „großen Finanzreform“ im Jahr 1969 ist der Artikel 115 GG in
Kraft, der in Abs. 1 Satz 2 eine nationale Schuldengrenze enthält: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die
Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen
sind zulässig zur Abwehr einer
Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts.“ In den 38 Jahren
seit Inkrafttreten des Art. 115 GG
überstieg die Nettokreditaufnahme bis
einschließlich 2007 insgesamt 16-mal
die Investitionsausgaben. Die gesetzlich kodifizierte Ausnahmeregelung
wurde damit ad absurdum geführt.
Seit 1997 besteht zusätzlich zu der
grundgesetzlichen noch eine europäische Schuldengrenze im EU-Gemeinschaftsrecht. Gerade Deutschland
hatte – ebenso wie Frankreich – in
jüngster Vergangenheit aufgrund der
schlechten
gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung wiederholt gegen die europäische Schuldengrenze verstoßen. Deshalb ging von diesen zwei
Ländern ein enormer Druck auf die anderen EU-Staaten und die Europäische Kommission aus, den Pakt zu
reformieren, was im März 2005 in Form einer Aufweichung der bisherigen Regeln geschah.
Im Februar 2009 haben sich Bund und Länder auf eine neue Schuldenregel geeinigt, die noch rechtzeitig vor
der Sommerpause 2009 im Grundgesetz verankert worden ist. Diese Schuldenregel ähnelt in ihren Grundzügen der Schweizer Schuldenbremse des Bundes und setzt sich aus einer strukturellen und einer konjunkturellen Verschuldungskomponente, einem Kontrollkonto und einer Ausnahmeregelung zusammen.
•
Strukturelle Verschuldungskomponente
Die strukturelle Verschuldungskomponente soll die langfristige Verschuldung des öffentlichen Gesamthaushalts auf 0,35 % des BIP begrenzen. Dem Bund wird dabei der komplette Verschuldungsspielraum in Höhe
von 0,35 % des BIP vom Jahr 2016 an zugebilligt, wobei ab dem Haushaltsjahr 2011 mit dem Abbau des
bestehenden Defizits begonnen werden soll. Die Länder hingegen sollen von 2020 an grundsätzlich keine
neuen Schulden mehr machen können. In der Übergangszeit von 2011 bis 2019 werden die ärmeren Länder
(Berlin, Bremen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein) mit Konsolidierungshilfen in Höhe von
insgesamt 800 Mio. EUR jährlich unterstützt, um sie in die Lage zu versetzen, die Schuldengrenzen aus eigener Kraft einzuhalten. Ein neu zu schaffender Stabilitätsrat bestehend aus den Finanzministern des Bundes
und der Länder sowie dem Bundeswirtschaftsminister soll die Aufgabe eines haushalts- und finanzpolitischen Frühwarnsystems übernehmen.
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•
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Konjunkturelle Verschuldungskomponente
Neben der Strukturkomponente soll auch eine Konjunkturkomponente zum Einsatz kommen. Bei guter Konjunkturlage erfolgt eine Senkung der Kreditobergrenze bzw. muss ein Überschuss erzielt werden. In einem
Abschwung wird die Verschuldungsmöglichkeit hingegen erhöht, um die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. Über einen kompletten Konjunkturzyklus hinweg muss sich die konjunkturelle Verschuldungskomponente ausgleichen. Strukturelle und konjunkturelle Verschuldungskomponente orientieren sich
an der Close-to-Balance-Obergrenze des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und damit am
Konzept des über den Konjunkturzyklus annähernd ausgeglichenen Haushalts.
•
Kontrollkonto
Mit dem Kontrollkonto soll die tatsächliche Einhaltung der Schuldenregel überwacht werden. Auch bei einem regelkonform aufgestellten Haushalt kann ein nicht geplanter Kreditbedarf entstehen, wenn beispielsweise steuerliche Regelungen falsch eingeschätzt werden. Diese nicht-konjunkturbedingten Abweichungen
zwischen Haushaltsaufstellung (SOLL) und Haushaltsvollzug (IST) werden auf dem Kontrollkonto gebucht
und müssen später ausgeglichen werden. Die Föderalismuskommission II hat sich auf eine Obergrenze des
Kontrollkontos von 1,5 % des BIP verständigt, wobei bereits ab einer Überschreitung von 1,0 % des BIP die
strukturelle Neuverschuldungsmöglichkeit um den überschießenden Betrag, höchstens aber um 0,35 % des
BIP, verringert werden soll. Diese automatische Abbauverpflichtung wird aber nur wirksam, wenn eine positive Veränderung der Produktionslücke eintritt, um prozyklische Auswirkungen auf die Konjunktur zu vermeiden.
•
Ausnahmeregelung
In Sondersituationen (z. B. Naturkatastrophen) soll mittels Ausnahmeklausel ein zusätzlicher Finanzbedarf
gedeckt werden können, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu sichern. Diese Ausnahmeregelung muss
jedoch mit einer hohen parlamentarischen Hürde versehen sein, um einer zu großzügigen Auslegung seitens
der politischen Akteure vorzubeugen. Das Bundesfinanzministerium hat in seinem Entwurf vom Februar
2008 eine Mehrheit von 3/5 oder 2/3 der Parlamentarier vorgeschlagen. Die Föderalismuskommission II hat
für diese Ausnahmeregel lediglich eine qualifizierte Mehrheit in Form einer Mehrheit der Mitglieder des
Bundestages vorgesehen, womit dem Kriterium einer hohen parlamentarischen Hürde jedoch nicht angemessen Rechnung getragen wird.
Folgendes Beispiel soll die Anwendung der neuen Schuldenregel erläutern:
Haushaltsjahr 01 (Abschwung)
Die strukturelle Verschuldungskomponente des Bundeshaushalts für das Jahr 01 beträgt 0,35 % des BIP, das
sind z. Zt. etwa 8,5 Mrd. EUR. Die konjunkturelle Verschuldungskomponente erlaubt eine Verschuldung in
Höhe von 10 Mrd. EUR, da wir uns in einer konjunkturellen Abschwungphase befinden. Strukturelle und
konjunkturelle Verschuldungskomponente ergeben demnach eine rechnerische Obergrenze für die Kreditaufnahme in Höhe von 18,5 Mrd. EUR. Außerordentliche Einnahmen, wie etwa Privatisierungserlöse, sollen
entsprechend den Regelungen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch eine Bereinigung
der strukturellen Verschuldungsmöglichkeit um finanzielle Transaktionen neutralisiert werden. Die in der
Vergangenheit wiederholt angewandte Praxis der Erhöhung des fiskalischen Handlungsspielraums durch
Vermögensveräußerungen soll damit unterbunden
werden. Sind für das Jahr 01 Privatisierungserlöse in
Höhe von 9,0 Mrd. EUR geplant, verringert sich dadurch die Verschuldungsmöglichkeit des Bundes auf
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9,5 Mrd. EUR (bereinigte Obergrenze für Kreditaufnahme).
Haushaltsjahr 02 (Aufschwung)
Im Jahr 02 befinden wir uns hingegen in einer konjunkturellen Aufschwungphase. Über einen kompletten
Konjunkturzyklus hinweg muss sich die konjunkturelle Verschuldungskomponente ausgleichen, d. h. in der
nun folgenden Aufschwungphase muss die Verschuldung wieder um 10 Mrd. EUR zurückgeführt werden
(vereinfachend wird hierbei ein zweijähriger Konjunkturzyklus angenommen). Strukturelle und konjunkturelle Verschuldungskomponente ergeben jetzt eine rechnerische Obergrenze für die Kreditaufnahme in Höhe
von – 1,5 Mrd. EUR, wobei das Minuszeichen einen Überschuss im Haushalt bedeutet. Bei geplanten Privatisierungserlösen im Jahr 02 von wiederum 9,0 Mrd. EUR muss der Bundeshaushalt im Jahr 02 einen Überschuss in Höhe von 10,5 Mrd. EUR aufweisen, um der neuen Schuldenregel zu entsprechen.
Schlussfolgerungen zur neuen Schuldenbremse:
Es ist gut, dass die 40 Jahre alte Regelung zur Schuldenbegrenzung durch eine neue ersetzt wird. Denn seit
Jahrzehnten ist klar, dass die alte Regelung komplett unwirksam ist. Und günstig ist, dass die neue Vorschrift Verfassungsrang hat. Sie kann also nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden. Die jährlichen
Haushaltsgesetze des Bundes und der Länder müssen dieser neuen Verfassungsregelung entsprechen. Dies
kann die jeweilige Opposition von den Verfassungsgerichten nachprüfen lassen. Diese können ein verfassungswidriges Haushaltsgesetz aufheben.
Eher ungünstig ist, dass die bisher schon aufgelaufenen und die bis 2020 entstehenden Schulden nicht betroffen sind. Ziel der Regelung ist also nicht Tilgung der vorhandenen Schulden, sondern nur Verhinderung,
dass es noch schlimmer kommt. Angesichts der Schuldenentwicklung in den letzten Jahrzehnten ist das allerdings realistisch.
In die Regelung eingebaut ist sogar ein Mechanismus für weiteren Anstieg. Nur soweit die Neuverschuldung
des Bundes 1,5% des Bruttoinlandsprodukts übersteigt, muss getilgt werden. Das entspricht den bisherigen
Vorstellungen des Sachverständigenrates über eine „objektorientierte Normalverschuldung“. Mit anderen
Worten: Neuverschuldung in Höhe von 1,5% ist erlaubt. Der Schuldenstand steigt also. Wenn das nominelle
Bruttoinlandsprodukt mit 1,5% steigt, so bleibt offensichtlich auch die Schuldenquote (in Prozent des BIP)
unverändert. Gegenüber der bisherigen Entwicklung ist das allemal ein Fortschritt.
Aber darüber hinaus lässt die neue Regelung mindestens zwei Schlupflöcher!
Erstens müssen die Neuschulden über 1,5% aus konjunkturellen Abschwungphasen nur "konjunkturgerecht" getilgt werden (Art. 115 Abs. 2 S. 4 GG). Damit soll einer prozyklischen Finanzpolitik vorgebeugt
werden. Es steht allerdings zu befürchten, dass passieren wird, was immer passiert ist: In Aufschwungphasen
wird die Regierung behaupten, Tilgung sei jetzt nicht konjunkturgerecht.
Und zweitens kann sich die Regierung frisches Geld beschaffen, wenn eine "außergewöhnliche *otsituation" eintritt. In der Vergangenheit mag man denken an die Ölkrise von 1973, die Wiedervereinigung von
1989, die terroristischen Anschläge von 2001 und zukünftig an den Klimawandel, vielleicht auch an schwere
Spannungen im Renten- und Gesundheitssystem. Hier muss gemäß Art. 115 Abs. 2 S. 8 GG nur "binnen
eines angemessenen Zeitraums" getilgt werden - das ist die Verschiebung auf den St. Nimmerleinstag.
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3.3.4
Produktivitätsorientierte Lohnpolitik
3.3.4.1
Das Konzept
K.-W. Sinn: „Die unmittelbare Verantwortung dafür, dass die Lohnpolitik der letzten 30 Jahre so sehr aus dem Ruder gelaufen ist, tragen die Gewerkschaften, denn sie waren es, die in erbitterten Tarifauseinandersetzungen die
Lohnerhöhungen durchsetzten, die Deutschland heut zu schaffen machen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Arbeitnehmer unterminiert haben.“ … „Marx, Bebel und Lasalle würden sich im Grabe umdrehen, müssten sie erleben, wie die gewerkschaftliche Kartellpolitik ein neues Proletariat schafft …“
Produktivitätsorientierte Lohnpolitik ist vollbeschäftigungskonform und stabilitätsgerecht
Den Tarifparteien empfiehlt der Sachverständigenrat im Kern eine Lohnpolitik, die sich am Produktivitätsfortschritt orientiert ("produktivitätsorientierte Lohnpolitik". Damit
•
nehmen die Arbeitnehmer an der wirtschaftlichen Entwicklung angemessen und dauerhaft teil (Verteilungsneutralität),
•
bleiben die Lohnstückkosten unverändert (Kostenneutralität),
•
gehen von den Lohnerhöhungen keine inflatorischen Effekte aus (Inflationsneutralität) und
•
sind die Lohnsteigerungen nicht Anlass zur Substitution von Arbeit durch Kapital (Beschäftigungsneutralität).
Für die Wachstumsrate der Lohnstückkosten (wlk) folgt:
wlk = wl - wπA
Steigen die Lohnsätze (wl) schneller als die Arbeitsproduktivität (wπA), so steigen die Lohnstückkosten (wlk).
Diese gestiegenen Lohnstückkosten veranlassen die Unternehmer, die erhöhten Kosten in die Produktpreise
einzukalkulieren. Gelingt die Überwälzung der gestiegenen Lohnkosten in die Produktpreise, so ist Inflation
die Folge (Lohnkosteninflation). Gelingt die Überwälzung nicht, weil z. B. die Zentralbank - den Empfehlungen der Neoklassiker folgend - eine potenzialorientierte Geldpolitik betreibt und durch diese Politik die
Überwälzungsbedingungen verschlechtert, so führt der Anstieg der Lohnstückkosten letztlich zur Entlassung
von Arbeitnehmern ("lohnkostenbedingte" bzw. "klassische" Arbeitslosigkeit).
Beide Entwicklungen sind unerwünscht. Der Sachverständigenrat empfiehlt daher den Tarifparteien eine
Lohnpolitik, die die Lohnstückkosten nicht ansteigen lässt, die sich also am Produktivitätsfortschritt orientiert.
Daraus folgt die
•
reine produktivitätsorientierte Lohnpolitik (ohne Inflationsausgleich):
w l = wπA
Diese Urform einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik gewährleistet allerdings nur, dass die LohnStückkosten konstant bleiben. Die gesamten volkswirtschaftlichen Stückkosten ( k ) setzen sich aus den
Lohnstückkosten (lk) und den sonstigen Kostenfaktoren (soKo) zusammen. Zu den sonstigen Kostenveränderungen zählen insbesondere Veränderung der Kapitalkosten und importierte Kostenbe- und -entlastungen,
die an der Veränderung der terms of trade (tot) gemessen werden.
Die gesamten volkswirtschaftlichen Stückkosten bleiben nur dann unverändert, wenn die Lohnpolitik bei
ihren Abschlüssen auch sonstige Kostenveränderungen mitberücksichtigt. Daraus folgt die
•
produktivitätsorientierte Lohnpolitik mit Berücksichtigung sonstiger Kostenänderungen (sog. „kostennieveauneutrale Lohnpolik“ = strenge Definition)
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Vor allem bei Verschlechterungen der terms of trade (z. B. infolge von Ölpreissteigerungen im Zuge der
ersten, zweiten und der gegenwärtigen dritten Ölkrise) ergibt sich damit ein geringerer Verteilungsspielraum. Bei einer Verbesserung der terms of trade (z. B. sinkende Import- und/oder steigende Exportgüterpreise als Folge einer Aufwertung des EURO) folgt ein größerer Verteilungsspielraum.
•
kostenniveauneutrale Lohnpolitik (ohne Inflationsausgleich):
wl = wπA – wsoKo
Eine weitere Modifikation erhält das Konzept der produktivitätsorientierten oder kostenniveauneutralen
Lohnpolitik im Falle einer - nicht von der Lohnpolitik zu verantwortenden - "unvermeidlichen Inflation"
(wP*). Der Sachverständigenrat bezeichnet dies als „kostenniveauneutrale Lohnpolitik“ (mit Berücksichtigung eines „unvermeidlichen Inflationszuschlags“).
Kostenniveauneutrale Lohnpolitik („praxisbezogene“ Definition mit Inflationsausgleich)
wl = wπA – wsoKo + wP*
unvermeidliche Inflation
sonstige Kostensteigerungen (z.B. Ölpreise)
Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität
Lohnsteigerungsrate
•
kostenniveauneutrale Lohnpolitik gilt als beschäftigungsneutral und preisniveaustabilitätsgerecht.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass ein Teil der statistisch gemessenen Arbeitsproduktivität verzerrt ist.
Werden Arbeitskräfte entlassen, so steigt (unter sonst gleichen Umständen) die Arbeitsproduktivität. Diese
Entlassungsproduktivität ist beschäftigungspolitisch nicht nochmals verteilbar. Sie muss aus der Produktivitätsentwicklung herausgerechnet werden (fast 1 % per anno !!). Allerdings reicht diese Korrektur allein
nicht aus, wenn eine im Ausgangszeitpunkt bestehende Unterbeschäftigung abgebaut werden soll. Eine beschäftigungsfördernde Lohnpolitik muss unterhalb des so korrigierten Produktivitätsfortschritts liegen. Es kommt also nicht in erster Linie auf die betriebswirtschaftliche Produktivität, sondern auf die
volkswirtschaftliche Produktivität – unter Einschluss der Arbeitslosen – an, wenn Vollbeschäftigung wieder erreicht werden soll.
Als Faustregel muss gelten: Die Tariflohnanhebungen werden so lange unterhalb der - bereinigten - Fortschrittsrate der Arbeitsproduktivität gehalten, bis Vollbeschäftigung erreicht ist. Einen Teil des Produktivitätsfortschritts sollten die Tarifvertragsparteien also nicht für die Einkommensmehrung der Beschäftigten,
sondern für die Beschäftigungsmehrung zu Gunsten der Arbeitslosen einsetzen.
Wirtschaftsforschungsinstitute:
ach eine Untersuchung des Ifo-Instituts wäre eine Lohnsenkung von 10 % bis 15 % erforderlich, um die strukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland weitgehend zu beseitigen, wobei bei den gering Qualifizierten eine Lohnsenkung um ein Drittel benötigt
würde. Die entsprechenden sozialpolitischen Folgen müssten über die Sozialpolitik abgefedert werden.
3.3.4.1
Kritik der Produktivitätsregeln
Kritisch wird gegen die Konzepte einer produktivitätsorientierten oder kostenniveauneutralen Lohnpolitik
vorgetragen:
•
Sie zementieren die herrschende Einkommensverteilung und verhindern die Verbesserung der Verteilung
zugunsten der Arbeitnehmer. Ein Grundanliegen der gewerkschaftlichen Lohnpolitik ist jedoch, Lohnsatzerhöhungen durchzusetzen, die höher sind als der Arbeitsproduktivitätsfortschritt, um auf diese Weise die Verteilung
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zugunsten der Arbeitnehmer zu verbessern. Die Folge einer derartigen Lohnpolitik ist aber - wie dargelegt entweder Inflation oder Arbeitslosigkeit (sofern die gestiegenen Lohnstückkosten nicht in die Preise einkalkuliert werden können). Beide Entwicklungen sind auch aus Gewerkschaftssicht unerwünscht. Gerade aus diesem
Grund empfiehlt der Sachverständigenrat die Verlagerung der Verteilungskämpfe, weg von der Nominallohnpolitik und hin zur Vermögensbildungspolitik.
•
Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität ist schwer zu prognostizieren. Es kommt schließlich auf den Produktivitätsfortschritt des kommenden Jahres an, nicht auf die Produktivitätssteigerung der Vergangenheit - die
ist längst verteilt! Die Produktivität schwankt stark konjunkturell. Der Sachverständigenrat empfiehlt daher eine
Lohnpolitik, die sich am mittelfristigen Wachstum der Arbeitsproduktivität ausrichtet. Zudem plädiert er für
mehrjährige Tarifabschlüsse.
•
Die Produktivität entwickelt sich in den einzelnen Wirtschaftszweigen und Regionen sehr unterschiedlich. Der
Sachverständigenrat empfiehlt, dass sich die Löhne möglichst differenziert entwickeln. Der Rat plädiert für eine
-
regionale Differenzierung,
-
branchenmäßige Differenzierung und
-
qualifikationsmäßige Differenzierung
der Lohnpolitik.
•
Die sonstigen Kostenfaktoren können lohnpolitisch nicht beeinflusst werden. Zudem ist eine Prognose dieser
Kosten faktisch nicht möglich. Das gilt vor allem für die Entwicklung der terms of trade. Die Lohnpolitik gerät
daher beim Konzept der kostenniveauneutralen Lohnpolitik in eine "Lückenbüßerrolle".
•
Über die Höhe der "unvermeidlichen Inflationsrate" ist Streit zwischen den Tarifparteien vorprogrammiert.
Arbeitgeber werden im Zweifel für eine geringe "unvermeidliche Inflation" plädieren. Gewerkschaften werden
versuchen, die aktuell prognostizierte Inflationsrate in die Tarifverhandlungen einzubringen.
Dass den Arbeitnehmern produktivitätsüberschreitende Lohnsteigerungen letztlich verteilungspolitisch wenig bringen ist inzwischen weitgehend unbestritten. Gerade die Entwicklung der bereinigten Lohnquote
zeit, dass sich die funktionelle Verteilung - trotz teils "aggressiver" Tarifauseinandersetzungen - im Zeitablauf kaum verändert hat. Gleichwohl ist die praktische Lohnpolitik ein schwieriges Geschäft, das nicht am
"Schreibtisch" eines Sachverständigenrates gelöst werden kann. Die oben genannten lohnpolitischen Regeln
können daher nur Leitlinien für die Tarifpartner sein. Unbestritten ist, dass im Zweifel auch der Staat nicht
in der Lage ist, anstelle der autonomen Tarifparteien diejenige Lohnsteigerungsrate anzugeben, die zu Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität passt. Dem Erhalt der Tarifautonomie kommt schon aus diesem
Grund ein hoher Stellenwert zu.
Aber: Die Tarifparteien müssen auch eine Lohnpolitik betreiben, die nicht nur die Interessen der (noch) Beschäftigten, sondern auch die Interessen der Arbeitslosen einbezieht. Das war in den vergangenen 2 Jahrzehnten kaum noch der Fall – anders ist die extrem hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht zur erklären.
Zudem: Um bei der Senkung der Lohnkosten für die Unternehmen voran zu kommen, müssen mehr als bisher Modelle der betrieblichen und überbetrieblichen Vermögensbeteiligung (anstelle von Barlöhnen) praktiziert werden. Bei den Tarifverhandlungen müssten also Beteiligungspläne ausgehandelt werden. (K.-W.
Sinn: „Sparlohn statt Barlohn“).
Fazit: In einer Volkswirtschaft ergibt sich der reale Verteilungsspielraum in erster Linie aus dem Wachstum der
Arbeitsproduktivität. In Höhe dieses Produktivitätsfortschritts kann auch c.p. die volkswirtschaftliche Produktion
(Produktionspotenzial) gesteigert werden. Soll diese (potenzielle) Produktion auch abgesetzt werden, so können und
sollten auch die Einkommen mit der gleichen Rate wachsen, wie Arbeitsproduktivität / Verteilungsspielraum / Produktionspotenzial zunehmen. Da sich die volkswirtschaftlichen Einkommen aus L (Lohneinkommen) und G (Gewinne
und Kapitaleinkommen) zusammensetzen darf mithin L (entsprechendes gilt für G) mit der Rate der Arbeitsproduktivität zunehmen. Das ist die Kernaussage einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik.
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3.3.5
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Offensive Markt- und Wettbewerbspolitik
Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik setzt vor allem auf die dynamischen Kräfte des Marktes. Die "Peitsche des Wettbewerbs" soll die Unternehmen laufend zur Anpassung an die sich ändernden Marktbedingungen, insbesondere zu Produkt- und Prozessinnovationen zwingen. Wirksamer Wettbewerb herrscht,
wenn dieser dynamische Neuerungsprozess ständig vorangetrieben wird. Die Wirtschaftspolitik muss dafür
Sorge tragen, dass die dynamischen Kräfte des Marktes nicht ausgehöhlt werden. Gefordert ist eine "offensive Markt- und Wettbewerbspolitik".
3.3.5.1
Wettbewerbsschutzpolitik
Im Rahmen der Wettbewerbsschutzpolitik geht es vor allem darum, wettbewerbsbeschränkendes Verhalten
zu unterbinden. Hierzu zählen:
•
Kartelle und abgestimmtes Verhalten,
•
Behinderungen anderer Unternehmen, Boykott und Lieferverweigerung (diskriminierendes Verhalten),
•
Ausbeutungsverhalten durch marktbeherrschende Unternehmen (Anbieter- und Nachfragemachtmissbrauch),
•
Unternehmenszusammenschlüsse (Fusionen), sofern hierdurch eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder
eine bereits bestehende marktbeherrschende Stellung weiter verstärkt wird.
Angebotstheoretiker fordern eine strenge Wettbewerbsgesetzgebung und die konsequente Anwendung des
Wettbewerbsrechts. In der Bundesrepublik wurde mit dem "Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen"
(GWB) von 1957 die Rechtsgrundlage geschaffen. Das GWB enthält allerdings keine Möglichkeit zur Entflechtung marktbeherrschender Unternehmen. Insbesondere die Entflechtung des Energiebereichs ist
nach Auffassung der Monopolkommission dringend geboten.
Insgesamt stößt jedoch die nationale Wettbewerbspolitik zunehmend an Grenzen. Mit Blick auf die internationale
Konkurrenz ist die "beste" Wettbewerbspolitik allemal eine offensive "Freihandelspolitik".
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (i.d.F. vom 1.1.1999)
•
•
•
•
•
•
•
Kartelle
Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen
Fusionskontrolle
§§ 1, 2 – 8, 28 - 31
§§ 19 - 23
§§ 35 - 42
generelles Kartellverbot und
Verbot abgestimmten Verhaltens)
Ausnahmen vom Kartellverbot
Ausgenommene Kartellarten
Ausgenommene Wirtschaftszweige
gleichförmiges Verhalten
Ministerkartelle
Sanktion: Geldbußen
•
•
Bei der Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen ist - wie im europäischen Wettbewerbsrecht - mit
der Novelle zum 1.1.1999 das
"Per-se-Verbot" eingeführt worden.
Wenn ein marktbeherrschendes
Unternehmen z.B. missbräuchlich überhöhte Preise verlangt
oder seine Wettbewerber behindert, kann es direkt vor einem
Zivilgericht verklagt werden,
ohne dass ein behördliches Verfahren des Kartellamts vorgeschaltet werden muss.
•
•
•
Bei der Fusionskontrolle gilt wie im europäischen Wettbewerbsrecht - seit 1.1.1999 ausschließlich das "Präventivprinzip". Gegenüber der 5. Novelle
sind allerdings die Eingriffsschwellen erhöht worden.
Fusionswillige Unternehmen
müssen ihr Zusammenschlussvorhaben vor der Fusion anmelden, wenn sie zusammen weltweit einen Jahresumsatz von
mehr als 0,5 Mrd. € aufweisen.
Dann muss das Bundeskartellamt prüfen, ob durch die Fusion
eine marktbeherrschende Stel-
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
•
•
•
3.3.5.2
lung neu entsteht oder verstärkt
wird.
nachträgliche Entflechtung bereits vollzogener Zusammenschlüsse ist möglich
eine „echte“ Entflechtung existiert in Deutschland nicht
Ministerzusammenschluss
Deregulierungs- und Privatisierungspolitik und Marktöffnungspolitik
Wettbewerbsförderungspolitik zielt darauf ab, Marktschranken zu beseitigen. Viele und zu bedeutende Wirtschaftszweige sind vom Wettbewerb weitgehend ausgeschlossen. Es gilt, auch diese Ausnahmebereiche
des GWB dem Wettbewerb zu öffnen. Vor allem Newcomern und mittelständischen Unternehmern soll der
Zugang zum Markt erleichtert werden. Im Laufe der Jahre ist ein dichtes Netz staatlicher Regulierungen
entstanden, das die dynamischen Wachstumskräfte, die Beschäftigungsmöglichkeiten und die internationale
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft behindert.
Gefordert wird die Deregulierung bisher staatlich regulierter Bereiche. Es gilt immer wieder, das im Laufe
der Jahre gewachsene Regelwerk auf seine Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Überreglementierung
hemmt das Wachstum, Beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit und kostet Arbeitsplätze. Die Volkswirtschaft muss immer wieder auf "Deregulierungspotenziale" durchforstet werden, und zwar nicht nur auf nationaler sondern auch auf der Ebene der Europäischen Union. Es muss versucht werden, eine neue Kultur der
Vereinfachung des Rechtssystems und des staatlichen Regelwerkes zu entwickeln, die zur Beseitigung
unnötiger rechtlicher und verwaltungsmäßiger Vorschriften führt und damit Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung stärkt.
Gefordert wird vor allem eine Marktöffnung für folgende traditionelle wettbewerbspolitische Ausnahmebereiche:
•
Liberalisierung der leitungsgebundenen Energiewirtschaft – Strom und Gas.
•
Vollendung der Postreform auch im Standard-Brief-Bereich.
•
Weitere Liberalisierungsschritte im Telekommunikationssektor – u.a. Internet-Telefonie, Einsatz von
Stromnetzen für die Datenübertragung.
•
Weitere Öffnung des Eisenbahnmarktes für Dritte – u.a. durch Trennung von Netz-Infrastruktur und
Erzeugung der Verkehrsleistung. Fortsetzung der Bahnstrukturreform
•
Öffnung und Liberalisierung des ÖP*V-Marktes.
•
Liberalisierung der berufsständischen Handwerksordnungen.
3.3.6
Abbau sozialpolitischer Fehlsteuerungen
Die Entwicklung zur Sozialen Marktwirtschaft wurde
in der Bundesrepublik Deutschland von einer breiten
Zustimmung getragen. Die praktizierte Sozialpolitik
gilt vielen als Abfederung gegen die Härten und die
Probleme, die in jeder Marktwirtschaft auftreten können. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist jedoch die Frage zu stellen, ob das soziale Sicherungssystem, so wie
H.-W. Sinn: „Statt den weniger Leistungsfähigen
Lohnersatzleistungen zu zahlen, ist es besser, ihnen
Lohnergänzungsleistungen zu gewähren.“ (S. 226)
... Empfohlen wird eine sog. „aktivierende Sozialhilfe“. „Der Entwurf (einer aktivierenden Sozialhilfe)
vereint alle Fördermaßnahmen inklusive Sozialhilfe,
Mietzuschuss und Kindergeld sowie alle Abgaben
inklusive der Sozialabgaben und der Steuern zu
einem geschlossenem Gesamtkonzept. (S. 227). Im
Kern läuft der Vorschlag auf eine positive und negative Einkommensteuer hinaus. In den USA entspricht
dies der sog. Earned Inkome Tax Credit.
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wir es in seiner heutigen Ausgestaltung vorfinden, tatsächlich eine optimale Kombination zwischen sozialpolitisch erwünschter Absicherung einerseits und ökonomischer Effizienz andererseits darstellt. Zwischen
diesen beiden Komponenten der sozialen Sicherungspolitik besteht nämlich ein Zielkonflikt.
Soziale Schutzmaßnahmen können die Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und die soziale Zufriedenheit
der Menschen verbessern. Sie schaffen insoweit günstige Voraussetzungen für das Wirtschaftswachstum.
Ein zu weitgehender Sozialschutz kann aber auch negative Leistungsanreize auslösen, die diese positiven
Wirkungen aufheben oder gar überkompensieren. Der Sozialstaat mag ein positiver Produktionsfaktor
sein, aber die mit ihm einhergehenden negativen Anreizwirkungen dürfen nicht vernachlässigt werden. Ein
überhöhtes Sicherungsniveau kann dazu führen, dass die Bereitschaft abnimmt, Erwerbsmöglichkeiten zu
nutzen. In einer Sozialen Marktwirtschaft sollte ein ausgewogenes Verhältnis von Solidarität und Selbstverantwortung angestrebt werden. Angebotstheoretiker plädieren im Zweifel für mehr Selbstverantwortung
und für eine lediglich subsidiäre soziale Sicherungspolitik durch den Staat (Subsidiaritätsprinzip).
4.4
Neoklassische Stabilisierungspolitik im Spiegel der Kritik
Eine Wirtschaftspolitik, die den Grundsätzen der Angebotstheoretiker folgt, stößt naturgemäß auf Widerstände. Die wichtigsten Kritikpunkte sind:
•
Angebotspolitik gilt als sozial- und verteilungspolitisch ungerecht
Viele Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen werden seitens einzelner Bevölkerungsgruppen als sozialpolitisch "ungerecht" und verteilungspolitisch schädlich empfunden. Es erfolge eine "Umverteilung von unten nach oben". Widerstände auf Seiten der Arbeitnehmer sind nicht nur dann
vorprogrammiert, wenn es um steuerliche Entlastungen für die Bezieher höherer Einkommen und eine
Kompensation der Steuerausfälle durch Anhebung der indirekten Steuern (z. B. Mehrwertsteuer) geht;
auch dann wenn Subventionen an Unternehmen gestrichen werden, die bisher der Erhaltung von Arbeitsplätzen dienten, oder protektionistisch wirkende Regelungen abgebaut werden sollen, sind Proteste
nahezu unvermeidlich. Gerade im Subventionsbereich zeigt sich, dass Angebotspolitik in der politischen
Realität vielfach schwer durchsetzbar ist.
•
Unerwünschte *achfrageeffekte einer radikalen Angebotspolitik
Ein mittelfristig angelegtes Wirtschaftskonzept, wie die Angebotspolitik, kann nicht von heute auf
morgen in einem "großen Sprung nach vorn" durchgesetzt werden. Gefragt ist Allmählichkeit, Gleichmäßigkeit und Berechenbarkeit ("Konstanz der Wirtschaftspolitik"). Gerade die vielfach unerwünschten *achfrageeffekte angebotspolitischer Maßnahmen legen es nahe auf eine radikalen Angebotspolitik zu verzichten (z. B. keine radikalen Konsolidierungspolitik bzw. keine forcierte Strategie der
Lohnzurückhaltung).
•
Wirkung des Laffer-Effekts fraglich
Die Schocktherapie in den Vereinigten Staaten unter Präsident Reagan, die abrupten Steuersenkungen,
können kaum als nachahmenswert empfohlen werden. Die Folge dieser radikalen Politik waren extreme
Haushaltsdefizite und, hierdurch bedingt, extreme Defizite in der Leistungsbilanz. Der Sachverständigenrat hat von Beginn an für einen gleitenden Übergang zur Angebotspolitik plädiert und allzu rigorosen
Maßnahmen eine Absage erteilt. Denn die sich aus Steuersenkungen ergebenden positiven Anreizwirkungen wirken nur verzögert, mit der Folge, dass - wie in den USA geschehen - zuerst Budgetdefizite
mit negativen Crowding-out-Effekten entstehen.
•
Angebotspolitik ist kein Sammelsurium von Fördermaßnahmen für Unternehmen
Die Angebotspolitik darf allerdings auch nicht als ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen missverstanden werden. Gefordert ist nicht einfach ein Konzept zur "Wirtschaftsförderung", erforderlich ist
vielmehr ein geschlossenes Konzept zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der marktwirtschaftlichen Ordnung.
•
Keine kurzfristigen Erfolge, sondern "Politik des langen Atems"
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Angebotspolitik verheißt nicht, wie die postkeynesianische Nachfragesteuerung, rasche Erfolge. Die
Vorteile einer konsequent betriebenen Politik der Verbesserung der Rahmenbedingungen sind erst nach
und nach wahrzunehmen. Mit kurzfristigen Programmen lassen sich demgegenüber rasche Erfolge für
einzelne Bevölkerungsgruppen erreichen und die Wiederwahlchancen der Politiker verbessern. Die negativen Auswirkungen des postkeynesianischen Interventionismus treten dagegen oft sehr spät auf und lassen sich dann nicht eindeutig einzelnen Politikern oder Parteien zurechnen.
Lang anhaltende Wachstumsstörungen sind nur mit einer langfristig angelegten Strategie der Revitalisierung, nicht aber mit einer kurzfristigen Strohfeuerpolitik zu bekämpfen. Dies belegen die Erfolge der Angebotspolitik, trotz anfänglicher Skepsis, auch in der Bundesrepublik Deutschland.
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4.
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Synopse stabilisierungspolitischer Konzeptionen
Postkeynesianische Konzeption
"Nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik"
*eoklassische Konzeption
"Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik"
Instabilitätshypothese
Stabilitätshypothese
Marktwirtschaftliche Systeme sind infolge von Wettbewerbsbeschränkungen
inhärent instabil ("Marktpessimisten").
Es besteht insbesondere die Gefahr eines
"Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung").
Die Wirtschaftspolitik ist allerdings
fähig mittels geeigneter Interventionen das Marktsystem zu stabilisieren und Fehlentwicklungen entgegenzusteuern ("Politikoptimisten").
Marktwirtschaftliche Systeme sind
inhärent stabil. Wenn in der Realität
dennoch Instabilitäten zu beobachten
sind, so sind diese Folge eines unzureichend funktionierenden Wettbewerbs
und/oder Folge von Interventionen des
Staates in das Marktsystem. Aufgabe
der Politik ist es die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass der Wettbewerb funktioniert ("Kausaltherapie durch Ordnungspolitik"). Der Staat soll sich im Übrigen
jeglicher Interventionen in das Marktsystem zu enthalten ("Konstanz der Wirtschaftspolitik").
Nachfrageorientierung
Angebotsorientierung
Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist die entscheidende Determinante von Produktion und Beschäftigung:
Das Angebot ist die entscheidende Determinante der wirtschaftlichen Entwicklung. Bei der Produktion von Gütern entstehen Einkommen und damit kaufkräftige Nachfrage ("Say'sches Theorem").
YN = Cpriv + Ipriv + ASt + Ex – Im
"In einer Geldwirtschaft gibt es eine Garantie gegen (solche) Gleichgewichtsstörungen nicht. Doch dieses Problem hat nur eine Randrolle gespielt,
solange die wirtschaftliche Dynamik im ganzen kräftig war. Die Kräftigung
der Dynamik ist daher die beste Versicherung gegen solche (kurzfristigen)
Gleichgewichtsstörungen. achdem erprobt ist, dass diese Kräftigung über
Geschenke der achfragepolitik nicht gelingt, ist man auf die Angebotspolitik
verwiesen. Das Theorem, wonach dem sich das Angebot seine achfrage
schafft, ist deshalb so wertvoll, weil es eine (gesamtwirtschaftliche) Gleichgewichtsverheißung enthält" (Sachverständigenrat, JG 1982/82, Tz. 301;
Einfügung in Klammern vom Verf.).
Wagemutige Pionierunternehmer sind Träger des Fortschrittsprozesses ("Schumpeter-Pioniere"), sie erschließen neue Märkte und
setzen Prozessinnovationen durch. Sättigung tritt nur auf einzelnen Märkten, nicht aber gesamtwirtschaftlich auf ("Ablehnung
der Sättigungshypothese").
Mittels geld- und fiskalpolitischer Maßnahmen soll die gesamtwirtschaftliche Nachfrage antizyklisch gesteuert werden ("Globalsteuerung")
Für das Auftreten der Pioniere müssen allerdings die Rahmenbedingungen stimmen ("freie Marktzugänge", "leistungsfreundliches Steuersystem" u.a.m.).
Die finanzpolitischen Empfehlungen werden mit dem LafferTheorem begründet.
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Vorrang des Beschäftigungsziels
Vorrang des Geldwertstabilitätsziels
Dominierendes Ziel der Wirtschaftspolitik ist die Sicherung der
Vollbeschäftigung. Der Staat gibt damit faktisch eine Art "Vollbeschäftigungsversprechen" ab.
Dominierendes Ziel der Wirtschaftspolitik ist die Sicherung der
Preisniveaustabilität, und zwar auch dann, wenn damit kurzfristig
Beschäftigungseinbußen verbunden wären. Preisniveaustabilität
ist Voraussetzung für das optimale Funktionieren des Preismechanismus („optimale Allokation der Produktionsfaktoren“) und
damit Voraussetzung für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum
und einen hohen Beschäftigungstand (Ablehnung der "PhillipsKurve").
Die Sicherung der Preisniveaustabilität hat im Zweifel hinter der
Beschäftigungssicherung zurückzutreten ("Relativierung der
Geldwertstabilität"). Mit einer (mäßig) inflatorischen Wirtschaftspolitik kann die Arbeitslosigkeit gesenkt werden ("Phillips-Kurven-Hypothese").
Antizyklische Fiskalpolitik
Finanzpolitik als Allokationspolitik
Die zentrale Verantwortung übernimmt die antizyklische Fiskalpolitik. Über sie kann die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wirksam gesteuert werden ("Fiskalisten").
Aufgabe der Finanzpolitik ist die angemessene
Versorgung der Gesellschaft mit öffentlichen
Gütern "Allokationsfunktion").
Zur Bekämpfung der (konjunkturellen) Unterbeschäftigung sind
(konjunkturelle) Budgetdefizite in Kauf zu nehmen.
Im Zweifel wird für einen möglichst geringen
Staatsanteil plädiert. Bestehende strukturelle
Budgetdefizite sind durch zu konsolidieren. Die
öffentlichen Haushalte sind zudem zu verstetigen, d. h. am Wachstum des Produktionspotenzials auszurichten ("konjunkturneutraler Haushalt").
Von staatlichen Konjunkturprogrammen
gehen zudem hohe Multiplikatoreffekte aus
("Multiplikatoroptimismus").
Zudem ist das Steuersystem gemäß dem "Laffer-Theorem" zu
reformieren und leistungsfreundlicher zu gestalten.
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VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Antizyklische Geldpolitik
Stabilitätsorientierte Geldpolitik
Die Geldpolitik soll die Fiskalpolitik unterstützen ("monetaryfiscal policy"). In der Rezession wird eine "Politik des billigen
Geldes" gefordert; damit
werden nicht
nur die Bedingungen für
die Finanzierung der privaten Investitionen verbessert, sondern auch die
Finanzierung
der staatlichen
Budgetdefizite erleichtert.
Eine zentrale Rolle übernimmt die Geldpolitik. Sie soll die Stabilität des Preisniveaus sichern.
Einkommenspolitische Flankensicherung
Vollbeschäftigungskonforme Lohnpolitik
Im postkeynesianischen Konzept wird die Lohnpolitik weitgehend von ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung entlastet. Um die Gefahr exzessiver Verteilungsauseinandersetzungen,
mit negativen Folgen für Beschäftigung und Preisniveaustabilität,
zu begrenzen, wird für eine "einkommenspolitische Flankensicherung" plädiert, und zwar entweder in Form einer "Konzertierten
Aktion" (§ 3 StWG) oder in Form mehr oder weniger direkter
Eingriffe des Staates in die Tarif- und die Preissetzungsautonomie
("Lohn- und Preiskontrollen").
Der Lohnpolitik wird im neoklassischen Konzept (wieder) die
beschäftigungspolitische Verantwortung zugewiesen. Von ihr
werden Lohnabschlüsse gefordert, die zu Vollbeschäftigung passen ("produktivitätsorientierte" oder "kostenniveauneutrale Lohnpolitik").
Hierzu ist die Geldmengenentwicklung am Wachstum des Produktionspotenzials auszurichten ("potenzialorientierte" oder
"monetaristische Geldpolitik").
wl = wπA – wsoKo + wP*
unvermeidliche Inflation
Sonstige Kostensteigerungen
Produktivitätsfortschritt
Lohnsteigerungsrate
Aufgabe des Staates ist es nicht, mit Beschäftigungsprogrammen
Fehler der Lohnpolitik zu neutralisieren.
Markt- und Wettbewerbspolitik
Offensive Markt- und Wettbewerbspolitik
Der Keynesianismus widmet sich kaum den Funktionsvoraussetzungen der Marktwirtschaft. Instabilitäten werden auf mangelnde
Funktionsfähigkeit der Märkte zurückgeführt. Die Politik soll die
Symptome korrigieren, nicht aber die Ursachen beseitigen.
Neoklassiker fordern "mehr Markt". Bestehende Wettbewerbsbeschränkungen und staatliche Regulierungen sind so weit als möglich zu beseitigen ("Deregulierungspolitik"). Staatliche Unternehmen sind weitestgehend zu privatisieren und die Leistungen im
Wettbewerb zu erbringen ("Privatisierungs- und Marktöffnungspolitik"). Auch die Intensivierung des internationalen Wettbewerbs ist Bestandteil einer offensiven Marktpolitik ("Freihandel").
Im Zweifel wird für die Bildung von Großunternehmen (Oligopole) sowie für Eingriffe in den Markt plädiert.
Zudem sind die Faktormärkte (speziell der Arbeitsmarkt) wettbewerbsfreundlicher zu gestalten und das soziale Sicherungssystem
in Richtung „ mehr Leistungsorientierung“ zu reformieren.
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Probleme postkeynesianischer Wirtschaftspolitik
Probleme neoklassischer Wirtschaftspolitik
Das Lag-Problem: Speziell
die Geldpolitik ist mit langen
Wirkungsverzögerungen verbunden. Gefahr der Destabilisierung.
Angebotspolitik ist eine Politik des „langen Atems“, kurzfristige
Erfolge sind nicht möglich.
Politische Asymmetrie: Keynesianer neigen zu expansiven Maßnahmen. Kontraktive Maßnahmen sind (politisch) unerwünscht.
Daher Gefahr der Bildung struktureller Budgetdefizite. Belastung
künftiger Generationen; crowding out-Effekte, geringeres Wachstum und geringere Beschäftigung.
Zudem Verharmlosung der Inflation, mit auf Dauer negativen
Auswirkungen für Wachstum und Beschäftigung.
Einseitige Nachfrageorientierung: Die Determinanten des Wachstums liegen auf der Angebotsseite.
Trügerische Multiplikatoreffekte: Multiplikatoren sind in der
Realität wesentlich geringer als in einfachen Modellen unterstellt.
Bundesbank: nur kurzfristige „Strohfeuer“, längerfristig negative
Multiplikatoren!
Angebotspolitik gilt als
verteilungspolitisch ungerecht und „kalt“. Verteilung „von unten nach
oben“.
Die Wirkungen des Laffer-Effektes sind unsicher.
Einseitige Angebotspolitik (z.B. Abbau struktureller Budgetdefizite oder
massive Lohnzurückhaltung …) verursacht möglicherweise unerwünschte Nachfrageeffekte.
Produktivitätsorientierte Lohnpolitik zementiert die herrschende
Einkommensverteilung.
Mehr Wettbewerb bedroht bisher geschützte Wirtschaftszweige.
Angebotspolitik zielt auf die strukturellen Probleme einer Volkswirtschaft.
Zunehmende Verteilungskämpfe infolge der „staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie“.
Mit der postkeynesianischen Konjunkturpolitik lassen sich allenfalls konjunkturelle Fehlentwicklungen (insbes. konjunkturelle
Arbeitslosigkeit) nicht aber strukturelle Fehlentwicklungen (speziell strukturelle Arbeitslosigkeit) bekämpfen.
Stop-and-go-Interventionismus ist ordnungspolitisch problematisch.
Vertreter:
Vertreter:
Historisch: J.M. Keynes, Wirtschaftsminister a.D. Karl Schiller
Historisch: Milton Friedman, Ronald Reagan, Margrit Thacher,
Graf Lambsdorff
Aktuell: DGB, Peter Bofinger (Minderheitsvotum im Sachverständigenrat).
Aktuell: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („fünf Weise“), Mehrzahl der Wirtschaftsforschungsinstitute.
5 Abschließende Betrachtungen
Paradigmenwechsel in der Volkswirtschaftslehre und neue Weltwirtschaftspolitik
Wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung Radioansprachen des Begründers staatlicher Konjunkturpolitik, des Briten J. M. Keynes, während der Weltwirtschaftskrise 1929/30 im Feuilleton abdruckt, wenn der britische Economist
betont: „We are a capitalist newspaper“, wenn die Financial Times eine Serie The Future of Capitalism startet, und
wenn, last but not least, Frankfurts größte Buchhandlung Hugendubel das Hauptwerk des berühmten Kapitalismuskritikers Karl Marx, Das Kapital, in sein Sortiment aufnimmt – dann müssen offenbar aufregende Zeiten angebrochen sein.
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Prof. Dr. J. Pätzold
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften
In seinem Hauptwerk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, hat der bekannte Wissenschaftstheoretiker,
Thomas Kuhn, den Wechsel theoretischer Modelle als Paradigmenwechsel beschrieben. Und in der Tat: Die vom
US-amerikanischen Immobilienmarkt im Sommer 2007 ausgegangene Hypothekenkrise, die sich im Herbst 2008
nach dem Zusammenbruch der Investment Bank Lehman Brothers zu einem globalen Tsunami ausweitete, der das
bis dahin bestehende internationale Finanzsystem hinwegfegte, um schließlich im Frühjahr 2009 in die weltweit
schwerste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise 1929/30 zu münden, beendet in den Wirtschaftswissenschaften
und der Wirtschaftspolitik den Siegeszug des Neoliberalismus der letzten 30 Jahre. Was in einer beinahe Katastrophe geendet hat, kann offenbar nicht richtig sein.
Wende zum Keynesianismus
Die erneute Wende zum Keynesianismus, die auch in den
Beschlüssen des historischen Gipfels der G20-Staaten Anfang
April 2009 in London zum Ausdruck kommt, ist Anlass genug,
um einen Blick auf die Entwicklung der modernen Makroökonomik und der neuen Weltwirtschaftspolitik zu werfen
(vgl. auch Felderer, B./Homburg, S.: Makroökonomik und
neue Makroökonomik, 9. Aufl., Berlin 2005 und Löchel, H.:
Praxiswissen Volkswirtschaft in Banking & Finance, 3. Aufl.,
Frankfurt 2009).
Entwicklung der modernen Makroökonomik
Bis zur ersten großen Weltwirtschaftskrise 1929/30 war das
herrschende Paradigma in der ökonomischen Theorie die
Ansicht, dass das freie Spiel der Marktkräfte das Beste für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand ist. Legendär
hierfür sind die jedem Studenten der Wirtschaftswissenschaften bekannte Werke von Adam Smith, Alfred Marshall
und Leon Walras. Während ersterer die „unsichtbare Hand des Marktes“ betonte und Marshall das berühmte Angebots- und Nachfragediagramm zur Bestimmung des Preises eines Produktes erfand, konnte letzterer zeigen, wie der
vom Markt über Angebot und Nachfrage gesteuerte Preismechanismus die gesamte Volkswirtschaft in ein allgemeines Gleichgewicht manövriert, in dem nicht nur der Güter-, sondern auch der Arbeitsmarkt geräumt ist.
Durchbruch der Theorie von Keynes
Die dramatische und bis dahin nicht für möglich gehaltene Krise der Jahre 1929 bis 1933, die beispielsweise in
Deutschland zu einem Anstieg der Arbeitslosenquote auf 30 % führte und bekanntermaßen die Nationalsozialisten
an die Macht brachte, stellt den Durchbruch der Theorie von J. M. Keynes dar, der in dem wohl berühmtesten 1936
erschienenen ökonomischen Buch des 20. Jahrhunderts Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des
Geldes nicht nur staatliche Eingriffe im Sinne einer „antizyklischen Fiskalpolitik“ ausführlich begründet, sondern
auch die Geburtsstunde der modernen makroökonomischen Theorie markiert. Dass das freie Spiel der Marktkräfte
zu Vollbeschäftigung führt, wurde von Keynes als „Spezialfall“ seiner „allgemeinen Theorie“ der Unterbeschäftigung abgetan. Überhaupt hielt Keynes wenig von langfristigen Überlegungen: „In the long run we are all dead.“
Sein Interesse galt vielmehr der Stabilisierung des kurzfristigen Konjunkturzyklus.
IS-LM-Modell IS-LM-Modell
Generationen von Studenten der Wirtschaftswissenschaften haben seither das so genannte IS-LM-Modell büffeln
müssen, die bekannteste von John Hicks im Umlauf gebrachte Interpretation der Theorie von Keynes. Der Grundgedanke ist simpel: In einem Konjunkturabschwung muss der Staat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöhen, da
die privaten Investitionen und der Konsum nicht ausreichen, um die volkswirtschaftlichen Angebotskapazitäten
auszufüllen und Vollbeschäftigung zu garantieren. Auch versagt die Geldpolitik, da der Finanzsektor nicht mehr
bereit ist, eine von der Zentralbank zur Verfügung gestellte erhöhte Geldmenge über Kredite in den allgemeinen
Wirtschaftskreislauf zu schleusen. Angeregt durch die zusätzliche staatliche Nachfrage springt über kurz oder lang
auch wieder die private Nachfrage, insbesondere die Investitionen, an und die Volkswirtschaft kehrt zurück zu
Vollbeschäftigung.
Keynes begründete dies mit dem sogenannten Multiplikatoreffekt: Durch steigende Staatsnachfrage steigt auch das
Einkommen der privaten Haushalte, die daraufhin ihren Konsum erhöhen, der seinerseits Investitionen der Unternehmen anregt, die wiederum zu steigenden Einkommen und Konsum führen. Eine Aufwärtsspirale kommt in Gang,
in der die steigende Staatsnachfrage nur eine Art Initialzündung für eine steigende Nachfrage des privaten Sektors
darstellt. Die durch höhere Staatsschulden finanzierte Staatsnachfrage sollte im Boom durch erhöhte Steuereinnahmen wieder rückgängig gemacht werden.
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Prof. Dr. J. Pätzold
VWL 5. Semester: Konjunktur- und Wachstumspolitik (Stabilisierungspolitik)
Das ökonomische Paradigma von Keynes war politisch äußert einflussreich. Es prägte die Politik des genannten
„New Deal“ von Präsident Roosevelt in den USA der 30er Jahre und noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts
war es dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Schmidt die Äußerung wert: „Lieber 5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit.“
Milton Friedmans Gegenargumente
Es war dem großen Neoliberalen, dem Begründer des Monetarismus, Milton Friedman, in einer gemeinsamen mit
der US-amerikanischen Ökonomin Schwarz 1963 veröffentlichten groß angelegten empirischen Studie vorbehalten,
Keynes in einer wesentlichen Begründung für die Notwendigkeit staatlicher Fiskalpolitik zu widerlegen, nämlich
der Annahme, dass Geldpolitik in einem konjunkturellen Abschwung wirkungslos ist – die bekannte „Liquiditätsfalle“. Ganz im Gegenteil konnte gezeigt werden, dass eine der wesentlichsten Ursachen des dramatischen Verlaufs
der Weltwirtschaftskrise die restriktive Geldpolitik der Zentralbanken war, was wiederum heute eine der entscheidenden Erkenntnisse ist, die zur Bereitstellung billigen Geldes durch die Zentralbanken in der gegenwärtigen Krise
führen. Die aktuelle Schwierigkeiten, den Finanzkreis zwischen den Banken einerseits und den Banken und ihren
Kunden insbesondere im Kreditgeschäft andererseits wieder in Gang zu bringen, zeigen jedoch auch, dass so etwa
wie eine Liquiditätsfalle durchaus temporär auftreten kann. Ein anderes Beispiel ist Japan, wo in den 90er Jahren
eine Nullzinspolitik komplett wirkungslos verpuffte.
Untergang des Keynesianismus
Endgültig vom Sockel gestürzt wurde der Keynesianismus aber erst in den 70er des letzten Jahrhunderts durch die
so genannte „Stagflation“, ein gleichzeitiges Auftreten von Inflation und geringerem Wachstum, ein Phänomen,
dass mit der Theorie von Keynes nicht verträglich ist. Ursache hierfür war der so genannte „Ölpreisschock“, d. h.
die dramatische und plötzliche Erhöhung des Ölpreises. Gegen einen solchen Angebotsschock war die Nachfragepolitik natürlich machtlos. Wer es dennoch mit ihr versuchte, konnte nur steigende Staatsverschuldung und Inflation
produzieren. Hier liegt eine allgemeine Erkenntnis der gegenwärtigen wie der vergangenen Wirtschaftskrisen: Vor
der Therapie muss die Diagnose stehen. Angebotsprobleme müssen angebotspolitisch, mangelnde Nachfrage mit
Fiskal- und Geldpolitik in Angriff genommen werden.
Phillips-Kurven- Diskussion Phillips.Kurve
Im Hörsaal ist der Untergang des Keynesianismus insbesondere durch die Phillips-Kurven-Diskussion bekannt, einem großartigen empirisch-intellektuelle Duell zwischen den bekannten zeitgenössischen Keynesianern Samuelson
und Solow auf der einen Seite und den Monetaristen Friedman und Phelps auf der anderen. Während man aus der
Keynesianischen Interpretation der Phillips-Kurve vermuten konnte, dass staatliche Wirtschaftspolitik gewissermaßen eine Auswahl zwischen hoher Inflation einerseits und hoher Arbeitslosigkeit andererseits impliziert, konnten
Friedman und Phelps zeigen, dass dieses Trade-off tatsächlich nur dann besteht, wenn Geldillusion angenommen
wird, was bedeutet, dass sich die Wirtschaftsakteure an nominalen statt an realen Größen in ihrem Handeln orientieren.
Monetarismus
Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Rolle des Reallohns, d. h. des Quotienten aus Nominallohn und Preisniveau. Geldpolitik kann nämlich nur dann im Phillips-Kurven-Modell eine reale Wirkung entfalten, d. h. für mehr
Wachstum und Beschäftigung sorgen, wenn die dadurch vermutete Inflationierung des Preisniveaus den Reallohn
senkt. Das ist aber offenbar nur möglich, wenn das Preisniveau bzw. die Inflationsrate rascher steigt als der Nominallohn. Das ist aber keineswegs zwingend. Wenn nämlich die Arbeitsnehmer und die Gewerkschaften die durch die
Geldpolitik initiierte Inflationierung in ihren Nominallohnforderungen weitestgehend korrekt antizipieren, ändert
sich der Reallohn nicht und als Ergebnis expansiver Geldpolitik bleibt nur ein höheres Preisniveau bei gleichem
Wachstum und Beschäftigung. Geldpolitik hat somit höchstens kurzfristig eine reale Wirkung, langfristig führt sie
nur zu Inflation. Das ist der Kern des Monetarismus: „Inflation is always a monetary phenomena.“
*eoliberale Theorien
Was folgte – bis zur Finanzkrise – war die zunehmende Entstaatlichung und Entpolitisierung der Wirtschaftspolitik
auf der Mikro- wie der Makroebene, befeuert von weiteren auf Friedman aufbauenden neoliberalen Theorien wie
insbesondere der von Lucas im Umlauf gebrachte „Theorie rationaler Erwartungen“, in der der Staat auf die Rolle
eines Nachtwächterstaates wie zu Zeiten der industriellen Revolution zurecht gestutzt wurde und der rational handelnde „homo oeconomicus“ in den Rang eines unfehlbaren Subjekts gehoben wurde. Nach Lucas ist selbst kurzfristig keine reale Wirkung der Geldpolitik zu erwarten, da die Wirtschaftssubjekte keine systematischen Fehler machen.
Wie schon bei den Monetaristen wird des Weiteren argumentiert, dass staatliche Fiskalpolitik die Konjunkturkrise
durch höhere Staatsschulden und dadurch höhere Zinsen am Kapitalmarkt nur weiter verschärft. „Crowding out“,
d. h. die Verdrängung privater durch staatliche Nachfrage, ist hier das bekannte Stichwort aus der Lehre.
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Statt mit mangelnder Nachfrage erklärt der Neoliberalismus das Auf und Ab des Konjunkturyzklus von der Angebotsseite. Das hierfür passende Konzept ist die „Theorie realer Konjunkturzyklen“, die den Konjunkturzyklus als
das Ergebnis von Technologieschocks interpretiert. Staatliche oder geldpolitische Eingriffe sind in diesem Modell
zwecklos, wenn nicht gar schädlich, da ja ein Angebots- und kein Nachfrageproblem existiert.
Folgen des *eoliberalismus
Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung, Geldmengensteuerung und europäischer Stabilitätspakt waren die
unübersehbaren realen Folgen, aber auch unregulierte Hedge Fonds, unbeaufsichtigte globale Finanzmärkte und
enthemmte Banker. Ungebremster Utilarismus und Politikerschelte waren en vogue. Warnsignale wie die schwere
Asienkrise Ende der 90er Jahre oder das Ende der „New Economy“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden beflissentlich übersehen. Wenn überhaupt, gab es nur ein Angebotsproblem. Für die Nachfrage hingegen wurde das sogenannte Say'sche Theorem für wahr gehalten: Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage.
Das scheinbar unerschütterbare Selbstbewusstsein der reinen Marktwirtschaft wurde noch unterstützt durch den
Zusammenbruch der Planwirtschaften in Osteuropa und Russland Ende der 80er Jahre. Bereits 1978 hatte China den
Irrweg der Planwirtschaft beendet und marschiert seither äußert erfolgreich in Richtung Marktwirtschaft. Der Systemwettbewerb schien entschieden, die schöne neue Welt greifbar nahe. In den Politikwissenschaften wurde schon
das „Ende der Geschichte“ ausgerufen.
Was war falsch am Neoliberalismus? Offenbar seine Radikalität. Aus der Tatsache, dass Staaten und Politiker fehlbar sind und staatliche Konjunkturprobleme sowie eine expansive Geld- und Zinspolitik kein Allheilmittel gegen
Krisen sind, wurde geschlossen, dass der Markt – auch die Finanzmärkte – perfekt und unfehlbar sind. Was ist, ist
rational – diese Kantsche Interpretation der Makroökonomie ist das Credo des Neoliberalismus. Fiskalpolitik, Regulierung und Geldpolitik können da nur schaden. Auch in der Politik war der Neoliberalismus sehr erfolgreich. Politiker wie Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA setzten Deregulierung und Entstaatlichung insbesondere auch an den Finanzmärkten bedingungslos um.
Widerspruch zwischen Theorie und Praxis
Der Siegeszug des Neoliberalismus offenbart auch ein methodologisches Problem der Wirtschaftswissenschaften.
Wie kann es sein, dass eine Theorie als richtig anerkannt wird, in der Praxis aber grandios scheitert? Der Grund ist,
dass die Theorie rationaler Erwartungen wie viele andere Theorien im Übrigen auch, weitestgehend einem mathematischen Modell entspricht, das in seiner Geschlossenheit von einem rein logischen Standpunkt immer richtig ist.
Das Problem liegt in den Prämissen, die eine reale Welt vorspiegeln, die tatsächlich so nicht existiert. Beispielsweise ist die Annahme eines perfekt funktionierenden Preismechanismus einfach nicht wahr, da sich in der Realität die
Preise eben nur zeitverzögert, wenn überhaupt anpassen; im übrigen ein Grund, warum keynesianische Fiskalpolitik
und auch Geldpolitik reale Wirkungen entfalten können, wie die moderne Theorie der „Neuen Makroökonomik“
durchaus überzeugend demonstriert.
Empirische Überprüfung für Theorien erforderlich
Etwas ketzerisch könnte man auch sagen, dass oftmals in den Prämissen einer Theorie das Ergebnis schon vorweg
genommen ist. Im Fall der Theorie rationaler Erwartungen impliziert beispielsweise die Annahme eines perfekten
Preismechanismus, dass auch die Märkte perfekt funktionieren und staatliche und geldpolitische Eingriffe überflüssig sind. Eine Theorie, die sich aber einer empirischen Überprüfung entzieht, ist nicht wirklich brauchbar für die
Lösung realer Probleme – ein Argument, dass bereits Karl Popper, der Autor von „Die offene Gesellschaft und ihre
Feinde“ bereits vor über 50 Jahren in die Diskussion eingebracht hat.
Das Problem ist allerdings noch komplexer: einmal angenommen, die postkeynesianische Theorie würde die Realität „gültig“ erklären. Und weiterhin angenommen, die Wirtschaftspolitik orientiere sich an dieser Theorie und
betreibe eine lehrbuchmäßige antizyklische Konjunkturpolitik. Und weiterhin angenommen, die Bekämpfung von
Rezession und Arbeitslosigkeit ist erfolgreich. Diese Erfolge sind dann allerdings die Ursache künftiger Misserfolge. Die Wirtschaftssubjekte werden nämlich ihr Verhalten verändern. Wenn die Angst vor Krisen (Insolvenzen und
Arbeitslosigkeit) beseitigt ist, werden die privaten Akteure anders Handeln, als wenn die Gefahr von Insolvenzen
und individueller Arbeitslosigkeit besteht. Diese Entwicklung war vor allem in den 60er und 70er Jahren als Folge
der „erfolgreichen“ Bekämpfung der Rezession von 1966/67 zu beobachten (insbesondere Zunahme aggressiver
Verteilungskämpfe, Verlangsamung der wirtschaftlichen Dynamik infolge einer zunehmenden „Subventions- und
Unterstützungsmentalität“ u.a.m). Diese Verhaltensänderungen führen nun aber dazu, dass die ursprünglich „gültige“ Theorie, die Realität nunmehr nicht mehr zutreffend abbilden kann. Die Erfolgreiche Theorie und die darauf
aufbauende erfolgreiche Wirtschaftspolitik beraubt sich letztlich ihrer eigenen Grundlagen. Die veränderten ökonomischen Prozesse müssen mit einer neuen Theorie erklärt werden und Bekämpfung der wirtschaftlichen Fehlentwicklungen mit einer neuen Politik erfolgen. Kurz: die Wirtschaftswissenschaften sind keine Naturwissenschaften,
sondern sozial- oder Gesellschaftswissenschaften. Wirtschaftspolitik operiert an einem lebenden Organismus, der
lernt und als Folge der Maßnahmen eben auch sein Verhalten ändern kann.
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Aktuelle Vereinbarungen der G20-Staaten
Angesichts des Scheiterns des Neoliberalismus ist es nur zu begrüßen, dass die Regierungschefs der 20 wichtigsten
Industriestaaten und Schwellenländer Anfang April in London ein klares Bekenntnis zur Geld- und Fiskalpolitik
abgegeben haben. So soll dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zusätzlich 1,1 Billionen
USD zur Verfügung gestellt werden, die sie als Kredite vergeben können, um die Weltwirtschaft zu stabilisieren.
Darüber hinaus haben sich die G20-Länder verpflichtet, über nationale Konjunkturprogramme bis Ende 2010 insgesamt 5 Billionen USD in die Wirtschaft zu pumpen. Die Hoffnung ist, damit das Weltbruttoinlandsprodukt um 4
Prozent zu erhöhen.
Parallel haben sich die Teilnehmer verpflichtet, die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sowie
Preisstabilität sicherzustellen. Dazu sollen glaubwürdige Strategien entwickelt werden, die die derzeitigen Notmaßnahmen wieder zurückzunehmen und mittelfristig neutralisieren. Das soll die weit verbreiteten Sorgen dämpfen,
dass es angesichts enorm steigender Startschulden und aufgepumpter Geldmengen in einiger Zeit zu starker Inflation kommt.
Auch wurde das Ende unregulierter globaler Finanzmärkte und Banken verkündet. Die G20 kündigen an, die Regeln
für das Finanzgewerbe zu verschärfen und die Aufsichtsbehörden zu stärken. Die neue Finanzarchitektur soll unter
anderem sicherstellen, dass die Regeln das Auf und Ab an den Finanzmärkten nicht verstärken, sondern dämpfen,
und dass sie exzessive Risikobereitschaft dämpfen. Dazu gehört, dass Hedgefonds und Ratingagenturen auch der
Aufsicht unterworfen und die Eigenkapitalvorschriften für Banken verschärft werden.
Beginn einer neuen Ära der Weltwirtschaftspolitik
Mit ihren Beschlüssen haben die G20-Staaten eine neue Weltwirtschaftsordnung und eine neue Ära der Weltwirtschaftspolitik eingeleitet. Die spannende Frage für die Volkswirtschaftslehre ist, welche Lehren aus dem Comeback
des Keynesianismus, der in den letzten 30 Jahren so kritisch beäugt wurde, gezogen werden.
6 Literaturhinweise
Pflichtlektüre
Pätzold, J. und D. Baade: Stabilisierungspolitik. Grundlagen der nachfrage- und angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, 7.
Aufl., München 2008 (Verlag Franz Vahlen)
Mussel, G. und J. Pätzold: Grundfragen der Wirtschaftspolitik, 7. Aufl., München 2008 (Verlag Franz Vahlen); für die Ursachenanalyse hinreichend, nicht jedoch für die wirtschaftspolitischen Strategien zur Bekämpfung.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Aktuelles Jahresgutachten.
www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de
Sinn, Hans-Werner: Ist Deutschland noch zu retten? Berlin 2004 (Econ Verlag).
Zur aktuellen Wirtschaftskrise: www.ifo.de Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, Frühj.
2009
Neu: Aktuelle Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute („Frühjahrsdiagnose 2010)
Internet: http://www.ifw-kiel.de
http://www.ifw-kiel.de/wirtschaftspolitik/konjunkturprognosen/konjunkt/2010/gd_2010-1.pdf
Auf der Homepage: http://www.juergen-paetzold.de finden sich weitere Texte und Materialien
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