DIE AUFGABEN DER SCHULE UND DES SCHULSPORTS AUS BILDUNGSTHEORETISCHER SICHT Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br. vorgelegt von Frank Brückel aus Freiburg SS 1999 Gutachter: Prof. Dr. Volker Scheid Prof. Dr. Robert Prohl Sprecher des Gemeinsamen Ausschusses der Philosophischen Fakultäten: Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Brüggemeier Freiburg, den 17.01.2000 2 Inhalt Einleitung __________________________________________________ 5 Teil A: die Aufgaben der Schule im historischen Überblick__________ 16 1. Der Aufbruch zur Moderne__________________________________________ 16 2. Die klassisch-idealistische Epoche ____________________________________ 19 3. Das Zeitalter der Industrialisierung ___________________________________ 40 4. Die Zeit der Reformpädagogik _______________________________________ 49 5. Die Zeit nach 1945 ________________________________________________ 56 6. Zusammenfassung und Fazit_________________________________________ 87 Teil B: Die Aufgaben der Schule in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung__ 92 1. Die Aufgabe der Bildung ___________________________________________ 92 1. Klassische Allgemeinbildungskonzepte als Ausgangspunkt bildungstheoretischer Überlegungen in der heutigen Zeit _______________________________________ 92 2. Bildung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend __________________________ 115 2. Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion __________________ 159 1. Die Mittler- und Orientierungsfunkion___________________________________ 159 2. Die Selektionsfunktion_______________________________________________ 160 3. Zusammenfassung und Fazit________________________________________ 167 Teil C: Die Aufgaben des Schulsports __________________________ 170 1. Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports _____________________________________________________ 170 1. Körper und Bewegung _______________________________________________ 175 2. Gesundheit und Wohlbefinden_________________________________________ 193 3. Spiel, Spiele, Spielen ________________________________________________ 200 4. Leistung __________________________________________________________ 213 5. Ästhetik und Gestaltung ______________________________________________ 220 6. Zusammenfassung und Fazit __________________________________________ 230 2. Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung ____________________ 236 1. Exkurs: Zur Lebenssituation heutiger Kinder______________________________ 238 3 2. Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung ________________________________ 246 3. Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen ____________________ 258 4. Die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung ___________________________ 273 5. Lebenslanges Sporttreiben ____________________________________________ 290 3. Zusammenfassung und Fazit________________________________________ 293 Teil D: Ausblick ___________________________________________ 296 Literatur _________________________________________________ 304 4 Einleitung EINLEITUNG a) Vorwort In fast allen Ländern dieser Erde wird Sport an allgemeinbildenden Schulen als Pflichtfach unterrichtet. International und kulturübergreifend, unabhängig vom politischen System, herrscht anscheinend Übereinstimmung darüber, dass Bewegung ein fester Bestandteil staatlicher Erziehungspraxis sein sollte. Die Entscheidung, alle Kinder und Jugendliche von Staats wegen während ihrer gesamten Schulzeit zum Sporttreiben zu nötigen, bedarf jedoch einer fundierten Begründung. Diese hat die Aufgabe, die Notwendigkeit eines für alle Schüler verbindlichen Sportunterrichtes herauszustellen und klar von den Möglichkeiten abzugrenzen, die den Kindern und Jugendliche durch andere Sportanbieter (z. B. Vereine) geboten werden. Dazu kommt, dass jedes einzelne Schulfach in das Gesamtsystem Schule eingebunden werden muss, zu dem es seinen eigenen unverwechselbaren Beitrag zu leisten hat. Hier bedarf es eines gut begründeten Standpunktes außerhalb des Faches: denn weder aus der Sportwissenschaft noch aus einer Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Sportpraxis lassen sich Maßstäbe gewinnen, die bezüglich der Frage, wieviel und welchen Sport alle Heranwachsenden in unserer Gesellschaft auf welche Weise praktizieren sollen, ein fundiertes Urteil erlauben. In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch einer solchen Klärung unternommen. Der ‘außerfachliche’ Bezugspunkt ist die Frage nach den Aufgaben der Schule, in die sich die Inhalte des Schulsports einzugliedern haben. Mit der Aufgabenbestimmung und ihrer inhaltlichen Ausgestaltung steht dann ein ‘Maßstab’ zur Verfügung, der für eine Beurteilung des Schulsports herangezogen werden kann. Anhand dieses Maßstabes lassen sich systematische Merkmale erkennen, die jedes Fach aufweisen sollte und die somit auch eine Abgrenzung zwischen den einzelnen Fächern zulassen. In dieser Vorgehensweise ist die feste Überzeugung enthalten, dass es fächerübergreifende Vorstellungen davon gibt, was die Institution Schule bewirken soll und von denen sich weder der Schulsport noch andere Schulfächer freimachen können. 5 Einleitung Das Hauptziel der Arbeit ist es, von einer allgemeinen Aufgabenbestimmung der Schule zu einem besseren Verständnis der Aufgaben des Schulsports zu stoßen. Diese sollen so formuliert werden, dass sie einerseits einen klaren Rahmen vorgeben, der verbindlich aufzeigt, über welche Inhalte ein fundierter Schulsport verfügen muss, andererseits jedoch so viel Flexibilität in sich zeigen, dass jede Schule auf die spezifischen Lebensbedingungen ihrer Kinder und Jugendlichen eingehen kann. Immer wieder besteht die Neigung, das Nachdenken über den Schulsport weitgehend unabhängig vom Nachdenken über Schule in ihren gesellschaftlichen und fächerübergreifenden Bezügen zu sehen (vgl. Heymann, 1996, S. 11). Die hier vorliegende Arbeit soll die Einbindung in diese Bezüge aufzeigen und dazu beitragen, dass sich der Schulsport weiterhin als curriculumrelevant legitimiert. Sie versucht eine Brücke zu schlagen zwischen erziehungswissenschaftlichen Überlegungen, die sich auf den gesamten Bereich der Schule beziehen und sportpädagogischen Ausführungen, die sich auf das Schulfach beschränken. Dieser Brückenschlag bietet eine doppelte Chance: • Zum Einen birgt er die Möglichkeit, globalere Überlegungen auf fachspezifische Besonderheiten hin zu untersuchen und zu prüfen, ob eine solche Umsetzung überhaupt möglich ist. • Zum Anderen kann er helfen, fachspezifische Ausführungen in einen größeren Rahmen einzubinden, um dem Vorwurf der Blindheit gegenüber allen Überlegungen, die über das Fach hinausweisen, zu entgehen. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, auf die vielfältigen Verbindungen zwischen den allgemeingültigen Aufgaben der Schule und den Möglichkeiten des Schulsports hinzuweisen. Dabei geht es nicht um eine grundsätzliche Revolutionierung des Faches, sondern darum, Argumente aufzuzeigen, die deutlich machen, dass Sport nicht einfach aus den Schulen ausgelagert werden kann, um die Verantwortung der Bewegungserziehung anderen Institutionen (wie etwa den Vereinen) zu übertragen. Eine letzte Anmerkung ist an dieser Stelle noch wichtig: anfangs habe ich den Versuch unternommen, im Text sowohl die maskuline als auch die feminine Form zu benutzen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass bei der Berücksichtigung beider Geschlechter stilistische Schwierigkeiten auftreten, die mich dazu bewogen haben, nur die maskuline Form 6 Einleitung zu verwenden. Selbstverständlich sind bei diesen Formulierungen alle Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, gemeint. b) Zum Aufbau der Arbeit „Irgend etwas muß faul sein an unseren Schulen, und was ihnen fehlt, ist wohl nicht nur durch mehr Personal und mehr Geld zu kompensieren, es muß vielmehr an der Substanz, also an ihrem pädagogischen Selbstverständnis liegen“ (Giesecke, 1996b, S. 7). Das Buch ‘Wozu ist die Schule da?’ und der gleichnamige Beitrag von Hermann Giesecke aus dem Jahr 1996 haben in der Erziehungswissenschaft starke Resonanz gefunden und heftigen Widerspruch ausgelöst. Eine ähnliche Entwicklung kann auch in der Sportwissenschaft verfolgt werden. Dabei geht es um die Debatte der Instrumentalisierung des Sports1 und um Begründungs- und Legitimationsbeiträge des Schulsports. Und immer wieder bleibt offen, welche Aufgaben die Schule oder der Schulsport zu erfüllen hat: „Darf unter Sport jeder verstehen, was er will?“2 oder „Pädagogische Schulreform - Hoffnungsträger oder Schreckensvision des Schulsports?“3 oder „Schulsport - wohin?“4 sind die zentralen Fragestellungen. Offen bleibt zunächst, ob Sport oder Gymnastik, Turnen, Leibesübungen, Körpererfahrung, Bewegungserziehung überhaupt Bildungs- und Erziehungspotenz haben (vgl. Hecker, 1997, S. 115). „Für die Verneiner dieser Frage ist der Sport nichts anderes als Muskelkult oder aber eine Möglichkeit, in einem Wettkampfsystem Konkurrenzsituationen zu suchen, um Selbstbestätigung zu bekommen, die Sportlerinnen und Sportlern in anderen Lebensbereichen (Schule, Beruf) verschlossen bleibt“ (Hecker, 1997, S. 115). 1 Vgl. unter anderem die Beiträge von Schaller, 1992; Beckers, 1993; Bernett, 1993; Kurz, 1993; Volkamer, 1993; Scherler, 1997; Sportpädagogik 1997, (1). 2 Diesen Titel wählt Hansjörg Kofing für seinen Beitrag in der Ausgabe der Zeitschrift ‘sportunterricht’ vom Mai 1997. 3 So betitelt Matthias Schierz seine Überlegungen hinsichtlich der Schulsportentwicklung in der Zeitschrift ‘Körpererziehung’ vom Mai 1997. 4 So lautet der Titel der sportpädagogischen Grundfragen einer Autorenschaft von 8 Personen im Heft 01/1997 der Zeitschrift ‘Sportpädagogik’. 7 Einleitung Für viele Kritiker hat Sport keinerlei Berechtigung, in den Kanon der Schulfächer aufgenommen zu werden; Huizinga (1987, S. 213) meint dazu: „Der Sport [...] hat keine organische Verbindung mehr mit der Struktur der Gemeinschaft, auch nicht, wenn eine Regierungsgewalt seine Ausübung vorschreibt“. „Auf der anderen Seite stehen die, für die der Sport eine wichtige Erziehungs- und Bildungsaufgabe hat. Für sie leistet Sport einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesamterziehung, wobei neben der Körper- und Bildungserziehung besonders die Persönlichkeitserziehung und die Gesundheitserziehung genannt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass über den Sport der richtige Umgang mit Erfolg und Mißerfolg gelernt wird, dass die Entwicklung eines gesunden Selbstbewußtseins und ein positives Selbstbild gefördert werden, dass Fairneß in Konkurrenzsituationen selbstverständlich und daß natürlich die Gesundheit gefördert und Krankheiten vorgebeugt wird“ (Hecker, 1997, S. 115). Diese Legitimationsfrage des Schulsports ist nicht neu, ebensowenig wie es ausbleibt, dass eine solche Debatte frei ist von persönlichen Ressentiments5. Hinzu kommt, dass Schule als gesellschaftliche Einrichtung, wieder einmal (oder immer noch) stark in der Kritik steht: Der ‘Neue Bildungsnotstand’6 - wenn es ihn tatsächlich gibt - zeigt, dass in den bisher gemachten schultheoretischen Überlegungen die Schwierigkeit der praktischen Umsetzung implizit vorhanden ist: denn wären die bereits versuchten Reformen nicht nur in sich schlüssig, sondern auch nach außen zu tragen, wäre die Diskussion um den ‘Bildungsnotstand’ gegenstandslos. Das alles lässt den Schluss zu, dass kaum etwas „so viel und so Unterschiedliches sein und bedeuten kann wie die Schule“ (Winkel, 1997, S. 25). Mit diesen Worten beginnt Rainer Winkel sein Kapitel über die verschiedenen Theorien von Schule und schließt sich am Ende dem Urteil von Ernst Matthes an, dass es bisher keine wissenschaftlich gesicherte pädagogische Theorie gibt, die eine pädagogische Konzeption legitimieren kann (vgl. Winkel, 1997, S. 58 zitiert nach Matthes 1978). Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gemacht, einen Beitrag zu dieser Thematik zu leisten. Sie ist dabei in 4 thematische Arbeitsschritte gegliedert: 5 Hartmut von Hentig spricht bei seiner Antwort auf Hermann Giesecke von einem ‘Traktat’, von Anne Frommann wird er als ‘Gekränkter’ bezeichnet, die Entgegnungen auf den Beitrag Edgar Beckers waren eine Mischung aus Betroffenheit und persönlicher Rechtfertigung. 8 Einleitung • In einem ersten Schritt (Teil A) bedarf es einer grundlegenden Klärung der Aufgaben der heutigen Schule. Denn bevor nicht geklärt ist, wozu Schüler unterrichtet werden sollen, fällt es schwer, konkrete Aussagen über mögliche Inhalte zu machen. Dies gilt sowohl für eine allgemeine schulische Zielsetzung als auch für fachspezifi- • sche Diskussionen. In einem zweiten Schritt (Teil B) werden diese schulischen Aufgaben inhaltlich ausdifferenziert. Denn wenn beispielsweise eingangs der Bildungsauftrag thematisiert wird, so ist nicht geklärt, was Bildung konkret bedeutet. Diese inhaltliche Ausgestaltung muss jedoch vor dem Einstieg in die Fachdiskussion folgen. • Teil C beschäftigt sich mit der Frage, in welcher Weise der Schulsport einen Beitrag zur Bewältigung der schulischen Aufgaben leisten kann, wie sie bis dahin entwickelt wurden. Dabei werden in Kapitel 1 zunächst übergreifende Überlegungen bezüglich der menschlichen Leiblichkeit angestellt, also anthropologische Fragen erörtert, die sich dann zwangsläufig auf die sich ergebende Erziehungskonzeption auswirken. Kapitel 2 schließlich verbindet die bis hierher einzeln nebeneinander stehenden Erkenntnisse so miteinander, dass danach Aussagen über den Beitrag des Schulsports im Gesamtkonzept der Schule möglich sind. • Ein zusammenführender Ausblick (Teil D) schließt die Arbeit ab. Zusammenfassend soll die Arbeit Aussagen über die schulischen Aufgaben und deren inhaltliche Ausgestaltung im Allgemeinen und über die Einordnung des Schulsportes in dieses Gesamtsystem machen. Eingeschlossen in diese Überlegungen sind dabei sowohl unterrichtliche als auch außerunterrichtliche Fragestellungen. c) Einleitende Bemerkungen Zentraler Gegenstand vor allem soziologisch inspirierter schultheoretischer Ansätze sind die unterschiedlichen Funktionen der Schule innerhalb der Gesellschaft, wobei Schule hier vor allen Dingen als gesellschaftliches Subsystem beschrieben wird (vgl. Heymann, 1996, S. 48ff). Spätestens seit der Veröffentlichung Fends im Jahre 1980 sind Begriffe wie Reproduktionsfunktion oder auch Selektionsfunktion pädagogisches Allgemeingut geworden. Dabei besteht die Gefahr, dass die schulische Vermittlung von Wissen unter 6 Dieser Titel wurde in einer Sondersendung des ZDF am 05.12.1996 gewählt. Es könnten natürlich auch die Reden von Roman Herzog im Herbst 1997 und Frühjahr 1999, der Streik an über 100 deutschen 9 Einleitung einer solchen ‘funktionalen’ Sichtweise zu einer Subfunktion wird, die möglicherweise nicht einmal zu den bedeutendsten gehört. Wie sich in Teil A noch zeigen wird, zählt beispielsweise Theodor Ballauff (1982) 31 Funktionen auf, von denen er lediglich sechs zu den im engeren Sinne bildenden zählt. Nun haben diese Arbeiten auf der einen Seite sicherlich das Bewusstsein für die Gefahr verschärft, Schulen Aufgaben zuzuschreiben, die weder von ihr geleistet werden können, noch zu ihren eigentlichen Angelegenheiten zählen. Andererseits fordert das vermehrte Wissen um die gesellschaftlichen Funktionen der Schule gerade dann die pädagogische Reflexion heraus, wenn es einerseits zu befürchten ist, dass sie diesen ureigensten Aufgaben nicht mehr gerecht wird, andererseits offenbar erheblicher Dissens darüber besteht, welches diese eigentlich sind. „Nicht intendierten Nebenwirkungen schulischen Unterrichts und gesellschaftlichen Zwängen, die Schule qua Institution ausübt, kann nur durch Aufgabenbestimmungen begegnet werden, die in Kenntnis solcher einschränkender Bedingungen erfolgen. Die Berücksichtigung des systematischen Charakters von Schule und ihres Eingebundenseins in übergreifende gesellschaftliche Prozesse und Strukturen bewahrt bildungstheoretische Reflexionen vor idealistischer Abgehobenheit“ (Heymann, 1996, S. 49). Natürlich ist die Spannung zwischen der ‘Idee einer Schule’ und dem, was sie als ‘empirische’ und ‘politisch gestaltbare’ Institution darstellt, nicht aufzulösen. Diese Spannung kennzeichnet - wenn auch auf einer anderen Ebene - das Verhältnis von ‘Aufgaben’ und ‘Funktionen’ der Schule7: „Die Unterscheidung von Funktionen stellt ein theoretisches Mittel zur Beschreibung von Schule dar, wie sie ist; die Unterscheidung von Aufgaben dient der gesellschaftlichen Verständigung über das, was Schule sein soll“ (Heymann, 1996, S. 49). Es macht in vielen Zusammenhängen Sinn, Schule daraufhin zu untersuchen, was sie effektiv leistet. Beschränkt man sich in diesem strengen Sinne auf die Produktauffassung, so kann man versuchen, sie zu operationalisieren und mit empirischen Methoden zu bestimmen. Die Konsequenz daraus ist eine vollständige Abkoppelung einer solchen Aufgabenbestimmung der Schule von den regulativen Ideen dieser Institution. Hochschulen - ebenfalls im Herbst 1997 oder viele andere Beispiele genannt werden. 7 Das Herkunftswörterbuch des Duden verweist dabei auf die Synonymität beider Worte, deren (beider) Ursprung im 17 Jahrhundert liegt. 10 Einleitung Dabei bleibt jedoch die Frage der theoretischen Grundlegung solcher empirischer Untersuchungen bestehen, ohne die die ‘wichtige Spannung zwischen Ist und Soll’ nur unzureichend aufgegriffen und behandelt wird. Die folgende Arbeit konzentriert sich dabei auf die Frage der ‘Aufgaben der Schule’, wohl wissend, dass eine Institution weit mehr ausmacht als nur die Aufgaben: ihre Struktur, ihre Funktionsweise, die Art und Weise, wie sie sich selbst präsentiert, welche Symbole sie verwendet. Dazu gehören darüber hinaus die handelnden Personen, Beteiligte und Betroffene, erstere als die Akteure in Institutionen, letztere als die Adressaten von Institutionen (vgl. Göhler 1997, S. 25). Dennoch ist eine Sollbestimmung, zunächst ohne die Berücksichtigung des ‘Ist-Zustandes’ deshalb notwendig, da sie Ausgangspunkt für jede weitere institutionelle Ausgestaltung ist. Das gilt in der Schule für jedes Schulfach, das - wenn es tatsächlich eine Berechtigung als Bestandteil dieser Institution haben sollte - einen eigenen, unverwechselbaren Beitrag zu den Grundaufgaben der Schule leisten muss. Im Bereich der Mathematik stellt Hans Werner Heymann eben diese Überlegungen in den Mittelpunkt seiner Habilitationsschrift ‘Allgemeinbildung und Mathematik’: „Die folgende Überlegung gilt auch für andere Schulfächer und Lernbereiche: Wenn es in unserer Gesellschaft explizierbare und konsensfähige Vorstellungen davon gibt, was mit der Institution Schule bei der nachwachsenden Generation bewirkt werden soll, so wäre es unvernünftig, den Teilbereich mathematischen Lernens nach gänzlich anderen Kriterien zu gestalten und von den allgemeinen, im großen und ganzen für richtig gehaltenen Zielen abzuspalten“ (Heymann, 1996, S. 11). Folgerichtig kann sich der Sport dieser Diskussion nicht entziehen, ebenso wie es sich aufdrängt, dass bei einer Aufklärung der fachspezifischen Aufgaben des Schulfaches der Begründungsweg über die allgemein anerkannten Grundaufgaben der Schule führen muss. Hier aber scheint eben der Dissens bei den Diskussionen - sowohl der Allgemeinpädagogen als auch der Sportpädagogen - zu bestehen. „Das ‘Institutionelle’ an Institutionen betrifft immer Stabilität, und zwar in einem doppelten Sinn: Zum einen sind sie selbst stabil, nämlich Strukturierungen, die auf eine bestimmte Dauer gestellt sind - zum anderen 11 Einleitung haben sie eine stabilisierende Wirkung, weil sie dem menschlichen Zusammenleben über die Situationsbedingtheit hinaus eine Form geben, die die Handlungen der anderen zu einem gewissen Grade erwartbar und in den Gemeinsamkeiten erkennbar macht. Entscheidend ist, dass diese Strukturierungen von den Individuen verinnerlicht sind. Ist dies der Fall, so sind Institutionen nicht nur äußere Ordnungselemente der Gesellschaft, sondern sie strukturieren durch den Sinn, den sie für die Individuen objektivieren und ihnen gegenüber zum Ausdruck bringen“ (Göhler, 1997, S. 28). Hier liegt auch die Begründung für die Klärung der Aufgaben der Schule: in einer Institution, die auf das menschliche Zusammenleben eine stabilisierende Wirkung ausüben soll, ist es unabdingbar, sich über die Grundaufgaben dieser Institutionen zu verständigen. Wenn in der vorliegenden Arbeit zwischen Aufgaben und Funktionen nicht mehr explizit unterschieden wird, so sind immer Aufgaben gemeint. Die synonyme Verwendung geschieht hier lediglich aus sprachlichen Gründen. d) Historische Bestimmung der Aufgaben der Schule Die historische Betrachtung leistet in der Beantwortung der Frage, was Schule zugemutet werden kann und soll, wertvolle Dienste. Ihr kommt, sofern sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden vermag - eine Art ‘Brückenfunktion’ zu (vgl. Hamann, 1993, S. 5). Am Anfang einer Arbeit, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Grundaufgaben der Schule zu bestimmen, um sich somit der fachimmanenten Diskussion um Inhalte anzunähern, bietet es sich zunächst an, mittels eines historischen Überblicks Auskunft darüber zu bekommen, welches die im Laufe der Jahrhunderte gewachsenen und der Schule zugewiesenen Aufgaben sind. Solche ‘überzeitliche Aufgaben’, wenn sie in einem begründeten Zusammenhang stehen, können die Schule als Institution auch dann legitimieren, wenn gesellschaftliche Rahmenbedingungen Veränderungen unterworfen sind. Ausgangspunkt der historischen Betrachtung soll dabei jene Epoche sein, „in (der) der Bildungsbegriff und mit ihm seine Auslegung als ‘allgemeine Bildung’ erstmalig in der Theorie- und Realgeschichte der Pädagogik zu einem Zentralbegriff pädagogischer Reflexion wurde. Es ist der Zeitraum zwischen etwa 1770 und 1830, ...“ (Klafki, 1996, S. 15). Diese Epoche hatte nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf die Entfaltung eines ‘aspektreichen Bildungsbegriffes’, der, wie sich noch zeigen wird, bis heute immer wieder kritisch reflektiert und diskutiert wird, sondern auch auf die Entwicklung des 12 Einleitung modernen Schulwesens. Beispielsweise hatten die konkreten Reformen Wilhelm von Humboldts in den Jahren 1809 - 1819 nicht nur eine grundlegende Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens durch eine Erneuerung des Staatswesens zum Ziel, sondern haben auch Maßstäbe gesetzt, die weit über diese eigentliche Reformphase hinausreichten. So waren seine Leitgedanken auch Diskussionsgegenstand der Nachkriegsreform (vgl. Hamann, 1993, S. 112). Humboldts Vorstellungen, die immer wieder bis in die Gegenwart hineinfließen, sollten demnach bei einer historischen Beurteilung nicht fehlen. Die Auswahl der anderen hier berücksichtigten ‘klassischen’ Autoren ergibt sich aus der Tatsache, dass sie im Gegensatz zu den anderen in Frage kommenden Autoren (etwa Herder) sich nicht nur theoretisch mit den Fragen zur öffentlichen Erziehung beschäftigt haben, sondern darüber hinaus mit praktischen Umsetzungsproblemen konfrontiert wurden. Humboldt und Schleiermacher waren direkt am Aufbau des preußischen Staates beteiligt, Hegel am Aufbau des Nürnberger Gymnasiums, so dass die von ihnen formulierten Einsichten auch den praktischen Schwierigkeiten der Durchsetzung und Realisierung der jeweiligen bildungspolitischen Überzeugung Rechnung tragen (vgl. Krautkrämer, 1979, S. 12). Johann Heinrich Pestalozzi findet deshalb in Teil A keine eigenständige Berücksichtigung, weil er in Wilhelm von Humboldts Ausführungen explizite Berücksichtigung findet und diese in dem hier behandelten Zusammenhang somit in ausreichender Form berücksichtigt werden. Auch Wilhelm Dilthey war, wenn auch nur ein Jahr, als Lehrer tätig. Darüber hinaus war er der herausragende Pädagoge seiner Zeit, seine pädagogischen Erkenntnisse finden bis in die Gegenwart große Beachtung und dienen als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Aus der Zeit der Reformpädagogik soll Peter Petersen deshalb besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, weil er mit seinem Schulkonzept der Jena-Plan-Schule ebenso wie Humboldt, Schleiermacher und Hegel einer der wenigen war, der theoretische Einsichten in der praktischen Schulwirklichkeit überprüfen und modifizieren konnte. Die in der Nachkriegszeit berücksichtigten Kommissionen und Autoren, die sich auf den ersten Blick nicht einer gemeinsamen Denkrichtung zuordnen lassen, finden ebenfalls deshalb Berücksichtigung, da sie mit der Schulpraxis auf das Engste verbunden sind: zum einen steht der Deutsche Bildungsrat für den Optimismus, der sich Mitte der sechziger Jahre in allen Bereichen der Gesellschaft, so auch in der Schullandschaft zeigte. Der Deutsche Bildungsrat und seine für die damalige Zeit sehr innovativen Forderungen 13 Einleitung sind auch bis heute Gegenstand vieler schulpädagogischer Diskussionen. Dagegen steht Ivan Illich, der mit seiner radikalen Schulkritik zu seiner Zeit Selbstverständliches in Frage stellte und eben durch diese Radikalität einen nicht unerheblichen Einfluss auf das schultheoretische Denken Anfang der 70er Jahre ausübte. Mit Zusammenbruch des Bildungsbegriffs als pädagogisches Leitprinzip Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen Zuwendung zu soziologischen Fragestellungen, wuchs etwa fünfzehn Jahre später auch die Einsicht, dass bildungstheoretische Überlegungen - sollten sie sich wieder in der schultheoretischen Diskussion etablieren - die sozialwissenschaftlichen Leitformeln berücksichtigen müssen. In diese Zeit fällt das bis heute wohl am meisten beachtete Werk aus der soziologischen Schultheorie. An Helmut Fends ‘Theorie der Schule’ aus dem Jahre 1980 kommen bis heute auch neuere pädagogische Schultheorien kaum vorbei. Theodor Ballauff und Hartmut von Hentig stehen für zwei Pädagogen der neuesten Zeit, die mit ihren Überlegungen immer wieder für Aufsehen gesorgt haben und auch in der pädagogischen Praxis von Bedeutung sind. Besonders Hartmut von Hentig steht bis heute mit dem Aufbau der Bielefelder Laborschule stellvertretend für die progressive Arbeit im Bereich der Schulpädagogik. Schließlich werden zum Schluss die Empfehlungen der Bildungskommission aus Nordrhein-Westfalen mit einer Reihe von prominenten Mitgliedern (nicht zuletzt unter der Mitarbeit von Wolfgang Klafki) angesprochen, die durch ihre Denkschrift einen großen Beitrag zur Schulentwicklung in den 90er Jahren geleistet haben. Wie bereits angedeutet, eint die Autoren nicht das Merkmal einer einheitlichen Forschungsrichtung, sondern das Auswahlkriterium ist explizit die enge Verknüpfung und somit auch der große Einfluss zwischen schultheoretischen Überlegungen und dem Praxisbezug. Diese Mischung ist auch deshalb beabsichtigt, weil damit aufgezeigt werden soll, dass die Grundaufgaben der Schule unabhängig von der didaktischen und methodischen Diskussion offensichtlich immer die gleichen bleiben. Wie sich im Folgenden zeigen wird, handelt es sich bei den in diesem Zusammenhang wesentlichen Beiträgen oft nur um fragmentarische Theorieansätze. So darf die Rede 14 Einleitung von Theorien nur im Sinne einer sprachlichen Verkürzung akzeptiert werden; entsprechendes gilt dann auch, wenn die Rede von Epochen ist8. Bei der hier dargestellten Aufarbeitung der Vergangenheit soll es nicht darum gehen, bequeme Lösungen für gegenwärtige Probleme zu finden. „Es gilt vielmehr, zeitbedingte Lösungsversuche zur Kenntnis zu nehmen, die auf konkreten gesellschaftlichen und ideellen Voraussetzungen beruhen. Die Analyse eben dieser Voraussetzungen läßt die Entstehung aktueller Problemlagen überhaupt erst verstehen und bietet einen Einblick in den Begründungszusammenhang von Problemlösungen“ (Prohl, 1999, S. 23). Damit ist der Übergang zu Teil B beschrieben, in dem die Aufgaben inhaltlich soweit ausgeführt werden, dass sie einen Rahmen für die fachspezifische Ausgestaltung bilden. Denn wenn nach dem ersten Teil von vier schulischen Grundaufgaben gesprochen wird, die sich in die Einzelbereiche ‘Bildung’, ‘(Ver)Mittlung’, ‘Orientierung’ und ‘Selektion’ aufgliedern, ist noch nicht ausgesagt, was sie im Einzelnen, in Bezug auf die gegenwärtige Schule, bedeuten. Teil C soll schließlich die Brücke zu dem Schulfach Sport schlagen und aufzeigen, wie das Schulfach unter dem Aspekt der schulischen Grundaufgaben ausgestaltet werden kann. 8 Wie zum Beispiel der ‘klassischen Phase’. 15 Teil A: Der Aufbruch zur Moderne TEIL A: DIE AUFGABEN DER SCHULE IM HISTORISCHEN ÜBERBLICK 1. DER AUFBRUCH ZUR MODERNE „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (Kant, 1970, S. 53)9. Der Optimismus, der in den Worten Kants zum Ausdruck kommt, wurzelte im Vertrauen in die menschliche Vernunft und im Glauben an die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur. In dieser Zeit zielte man auf den Fortschritt des Menschengeschlechts insgesamt10. Da solcher sich jedoch nur durch Mehrung des Wissens, durch Förderung von Erziehung und Bildung garantieren lässt, zeigte sich die Aufklärung auch von einem gewaltigen pädagogischen Enthusiasmus beseelt (vgl. Hamann ,1993, S. 72). Die Idee einer allgemeinen Volksbildung setzte sich immer mehr durch, eine alle Schichten erfassende Bildung sollte weithin aufklären, den Menschen besser und geistig mündig zu machen. Ein Aufblühen der Erziehungskunst zu jener Zeit kann nicht bestritten werden: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheinen in Deutschland mehr Schriften und Aufsätze über Erziehung und Unterricht als in den dreihundert Jahren zuvor und es werden mehr Erziehungsinstitutionen gegründet als je zuvor. „Die Erkenntnis, daß die Erziehung eine eigene, selbständige Macht wird, die die Weichen für die Zukunft stellt, verbindet sich mit dem Glauben an die Allmacht der Erziehung, die den Menschen klug oder dumm, gesellschaftlich nützlich oder unbrauchbar machen könne“ (Menze, 1975a, S. 11). 9 Im Dezemberheft der ‘Berlinischen Monatsschrift’ formuliert Kant im Jahre 1784 seine bekannte Aufklärungsproklamation vom ‘Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit’. 10 Aufklärung bezeichnet einen zeitlich weitgespannten, regional und thematisch vielfältig ausgeprägten Abschnitt der europäischen Geschichte. Ausgehend von Niederlanden und England (Ende des 17. Jahrhunderts), dann auch auf Frankreich und Deutschland übergreifend, repräsentiert sie eine Epoche, die oft als ‘Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte’ bezeichnet wird. (vgl. Tenorth 1988). 16 Teil A: Der Aufbruch zur Moderne Auf politischem Gebiet bedeutete dies, dass sich der Charakter des Staates änderte. Der Staatszweck wurde noch mehr verweltlicht und die Verknüpfung mit dem religiösen Bereich, die sich bereits im 16. und 17. Jahrhundert gelockert hatte, löste sich weiter (vgl. Reble, 1969, S. 124). Aus diesem Grunde nennt man das Staatsgefüge des Ancien Régime im späten 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch ‘Policeystaat’. Gemeint ist damit die allumfassende Breite der Staatsaktivitäten, die von der Heeres- und Verwaltungsorganisation über die Regulierung der wirtschaftlichen Verhältnisse bis hin zur Einmischung in das Bildungswesen reicht (vgl. Lundgreen, 1980, S. 28). Auf das Ende dieser Zeit fiel auch das Preußische General-Land-Schul-Reglement (1763), entworfen von Julius Hecker. Das Reglement war die bedeutendste Schulordnung der Zeit und regelte für alle preußischen Provinzen das bis dahin uneinheitliche Schulwesen durch Festlegung äußerer wie innerer Angelegenheiten. Darüber hinaus bestimmte es das preußische Schulwesen der folgenden Periode und war Vorbild für zahlreiche andere Schulordnungen. Beispielsweise wurde in §1 die allgemeine Schulpflicht für Kinder vom vollendeten 5. bis zum 13./14. Lebensjahr verfügt. Daneben legten die §§4-5 den täglichen Schulbesuch fest, es wurden Anforderungen an den Schulmeister genannt (§§12-14) und die Methode des Schulehaltens angesprochen (§14) (vgl. Dietrich, 1975, S. 69ff). Im Jahre 1787 folgte die Einrichtung einer eigenen oberen Landesbehörde für das Schulund Unterrichtswesen in Preußen (das sogenannte Oberschulkollegium). Diese legte den ersten ‘Gesamtplan für ein künftig vom Staat zu verantwortendes Unterrichtswesen’ mit dem Vorschlag einer dreigliedrigen Schulorganisation vor, welche den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten entsprechen sollte. Hieraus ergaben sich drei Staatsschultypen: die Bauernschulen, die Bürgerschulen und die Gelehrtenschulen (vgl. Heinemann, 1974, S. 47; Lundgreen, 1980, S. 31). In etwa der gleichen Zeit breitete sich in Deutschland eine mächtige pädagogische Bewegung aus: der Philanthropismus, dessen Anhänger sich Philanthropen (Menschenfreunde) nannten. Ihre Ziele in den theoretischen und praktischen Bemühungen waren ‘für die Weiterentwicklung des pädagogischen Denkens, der Schule und des Unterrichts wegweisend’11 (Dietrich 1975, S. 41). 11 Insgesamt sind die Beurteilungen über den Philanthropismus jedoch nicht einheitlich positiv. Reble kommt zu dem Schluss, dass sie „trotz ihres Schlachtrufes wenig Geduld (haben), die natürliche Ent- 17 Teil A: Der Aufbruch zur Moderne „In den Schulen, ihr Fürsten, in den Schulen, ihr Väter des Staates, in den Schulen und nirgends sonst muß man die Werkstatt anlegen, wenn man Menschen veredeln, Gewerbe, Künste und Wissenschaften befördern und Nahrung und öffentlichen Wohlstand des Landes erhöhen will“ (Tenorth, 1988, S. 86 zitiert nach Campe 1786). Die Philanthropen hatten eine ‘vernünftig-natürliche’ Erziehung zum Ziel. An der intellektuellen Bildung war ihnen ebenso gelegen wie an der Naturnähe und der Einfachheit der Lebensverhältnisse. Sie betonten die Notwendigkeit der freien Entfaltung der kindlichen Wachstums- und Lernbedürfnisse und maßen dem Spiel sowie der Leibesund der Sexualerziehung große Bedeutung bei. Hier finden sich die Wurzeln des Turnunterrichtes. Ein auf praktische Weltorientierung und gemeinnützige ‘Lebenstüchtigkeit’ ausgerichteter Unterricht sollte den Erwerbssinn wecken und die ‘Berufstüchtigkeit’ fördern. Das Ziel der Philanthropen war eine Humanisierung des Gesamtlebens zum Nutzen für die gesamte Gesellschaft. Dabei war eine - das subjektive Interesse respektierende - Erziehung um sozialer gesellschaftlicher Willen unbedingt notwendig. Der erzieherischen Komponente im Unterricht wurde gegenüber der Wissensvermittlung Vorrang eingeräumt, auf moralische Unterweisung großen Wert gelegt. Die Schule sollte Stätte der Freude, des Frohsinns und des Spiels werden, die Strafe als pädagogisches Mittel war verpönt. Die Unterrichtsprinzipien waren Anschauung, Lebensnähe und Selbsttätigkeit. Ihre Ideen suchten die Menschenfreunde in den von ihnen gegründeten Philantropinen (Anstalten der Menschenfreunde) zu verwirklichen. Insgesamt gesehen reichten zwar die Planungen der Philanthropen recht weit - von der Bildung eines neuen Lehrerstandes bis zur Aufklärung der Bevölkerung - in der Realität blieben jedoch wenig greifbare und dauerhafte Ergebnisse ihrer Arbeit übrig (vgl. Tenorth, 1988, S. 88). wicklung abzuwarten“ (1969, S. 148) und Tenorth bezeichnet die Philantropinen als ungeeignet, ein Modell der allgemeinen und öffentlichen Schule abzugeben (1988, S. 87). 18 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche 2. DIE KLASSISCH-IDEALISTISCHE EPOCHE Geistesgeschichtlich gesehen ist die Zeit zwischen 1770 und 1840 eine Zeit des Widerstreits zweier mächtiger Strömungen: der Aufklärung und einer neuen ‘humanistischen Bewegung’. Auf sozialem und politischem Gebiet erfolgte ein Aufstieg des Bürgertums, damit verbunden ein Abbau der Standesunterschiede und politischer Schranken. Der Staat wandelte sich vom umfassenden Verwaltungs-, Fürsorge- und Verordnungsstaat hin zum Kultur- und Verfassungsstaat, der dem Bürger mehr Selbständigkeit und Mitwirkung einräumte (vgl. Hamann, 1993, S. 105). Die Aufklärung hatte die Menschen in Europa für die Idee der Volksbildung aufgeschlossen, sie sollten durch Verstandesaufklärung an der Erkenntnis der Wahrheit teilhaben. Der Gebrauch des Verstandes sollte dem Menschen die Welt und sein Leben in dieser Welt begreiflich machen. ‘Nützliche Kenntnisse’ sollten gelehrt werden, und im Sinne der Aufklärung hieß das: reale Kenntnisse und Dinge, die der junge Mensch konkret ‘anwenden’ kann, wie die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben, die neueren Sprachen und Handfertigkeiten. Dieses ‘einseitig realistisch-ökonomische Erziehungsideal’ (Dietrich, 1975, S. 75) forderte nun eine Gegenbewegung heraus, die den während der Aufklärung bereits gepflegten Idealen der Toleranz, Humanität und Menschlichkeit nun mehr Bedeutung zumaß als dem Gedanken der Nützlichkeit (vgl. Dietrich, 1975, S. 74). Allgemeine Bildung, also nicht die Befähigung zum ‘Amt’ und ‘Beruf’, sondern zum ‘Begriff der Menschheit in unserer Person’, war daher das neue erörterte Thema. Der Mensch stand nun im Mittelpunkt aller Tätigkeiten. Hier zeigte sich auch deutlich die Oppositionsstellung der als ‘Neuhumanismus’ bezeichneten Bewegung gegen die der Nützlichkeit verpflichteten Reflexion der Philanthropen (vgl. Tenorth, 1988, S. 124). Dieser neue Gedanke der reinen, allseitig-harmonischen Menschenbildung beeinflusste auch das Schulwesen entscheidend. In engem Zusammenhang mit dem, durch die Französische Revolution und Napoleon vollendeten, Zusammenbruch des alten Staates, erwuchsen, besonders in Preußen, umfassende Reformen des Bildungswesens. Besonders viel erreicht wurde im Bereich der höheren Bildung mit der Gründung des im Sinne des Neuhumanismus gestalteten Gymnasiums. Diese Schöpfung war eng verbunden mit den Ideen Wilhelm von Humboldts. 19 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche a) Wilhelm von Humboldt Wilhelm von Humboldt wurde am 22.06.1767, fünf Jahre nach dem Erscheinen von Rousseaus ‘Emile’ geboren und starb vierzehn Monate nach Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher am 08.04.1835. Wie die meisten Aristokraten seiner Zeit hat er nie eine öffentliche Schule besucht; unterrichtet wurde er zusammen mit seinem Bruder Alexander von dem später bekannt gewordenen Pädagogen Joachim Heinrich Campe. Darüber hinaus genossen die Brüder Privatvorlesungen, die sie bestens auf ein Studium an der Universität vorbereiteten. Als 22-jähriger unternahm er, nachdem er in Frankfurt/Oder und Göttingen Jurisprudenz studiert und dieses Studium nach 4 Semestern beendet hatte, zusammen mit seinem früheren Hauslehrer Campe eine Bildungsreise, die über Brüssel und das Paris der französischen Revolution in die Schweiz führte. Hier lassen sich einige Parallelen zwischen Rousseaus Romanfigur Emile (der auch eine Bildungsreise unternahm) und Humboldt herstellen. Ebenso wie Emile tritt Humboldt nach Beendigung der Reise als Referendar in den Staatsdienst ein (vgl. Benner, 1990, S. 12). Die Erlebnisse der Französischen Revolution, die er als Augenzeuge in Paris selbst verfolgen konnte, beeinflussten ihn wesentlich und nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst im Jahre 1791 beschäftigte er sich mit der Frage, welche Bedeutung die Revolution auf Preußen haben könne. In der Schrift ‘Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen’ die 1792 in Teilen veröffentlicht wurde, nimmt er erstmals öffentlich Stellung zu bildungspolitischen Aspekten. 1794 oder 1795 arbeitete er dann an einem Grundriß seiner Bildungstheorie. Im gleichen Zeitraum verband Humboldt ein reger Gedankenaustausch mit Goethe, Fichte, Schiller, Schlegel und Wolf (vgl. Max, 1996, S. 17f). Der Zusammenbruch Preußens in den Jahren 1806/1807 und der sich anschließende Neuaufbau durch die inneren Reformen des Freiherrn von Stein brachte den eigentlichen Wendepunkt im Leben Humboldts. In die Zeit vor 1812 fallen Humboldts bildungspolitische und bildungsreformerische Tätigkeiten und Schriften. Dieser Zeitraum beginnt mit seiner Ernennung zum Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren im Februar 1809 und endet mit dem Entlassungsgesuch vom April 1810. Im gleichen Jahr wird er als Gesandter nach Wien geschickt. In der Pädagogik hat Humboldt als Bildungstheoretiker und Schulreformer, in der Sprachwissenschaft als Sprachphilosoph und Sprachforscher, in der Anthropologie und Ethnologie als Begründer einer vergleichenden Wissenschaft 20 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche vom Menschen gewirkt. Darüber hinaus hat er in der Politikwissenschaft, in der Altertumskunde, in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft gearbeitet (vgl. Benner, 1990, S. 13f). (1) Allgemeine Menschenbildung. Schultheoretisch am deutlichsten hat sich Humboldt im Litauischen und im Königsberger Schulplan geäußert12. Obwohl beide Schulpläne zunächst regional ausgerichtet waren, haben sie doch weitreichende Bedeutung erlangt. Die Bildungsreform Humboldts, die auch in den Schulplänen zum Ausdruck kommt, erstreckte sich auf das gesamte Gebiet institutionalisierter Allgemeinbildung: „Wie vielerlei Arten von Schulen soll es geben? wie viele von jeder Art? und welche?“ (v. Humboldt, 1964, S. 168) und weiter heißt es: „Es giebt, philosophisch genommen, nur drei Stufen des Unterrichts: Elementarunterricht, Schulunterricht, Universitätsunterricht“ (v. Humboldt, 1964, S. 169)13. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht das Ziel der allgemeinen Menschenbildung14. Das heißt, für ihn stellte sich zunächst die Frage, worin der Bildungshorizont allgemeiner Menschenbildung liegen sollte und in welcher Form dies geschehen könne, damit die Ständegesellschaft nicht durch eine neue, bürgerliche Stände- und Klassengesellschaft ersetzt wird. (vgl. Benner, 1990, S. 178)15. Jede Schule, die nicht den primären Zweck der allgemeinen Bildung verfolgt, ist den allgemeinbildenden Schulen nachzuordnen. Diese strenge Trennung musste notwendigerweise zu sehr eingreifenden praktischen Veränderungen führen, um die damals bestehende Vermischung, die schon im Elementarbereich zu finden war, zu beheben (vgl. Menze, 1975a, S. 123). Humboldt greift hier eine Problemstellung auf, die sich von nun an durch die gesamte Pädagogik und Bildungspolitik der Moderne zieht und bis heute vehement diskutiert wird. 12 Den Königsberger Plan entwarf er in den Monaten Juli/ August 1809 anläßlich der Vorbereitung einer Konferenz zur Verbesserung des Schulwesens in Königsberg; der Litauische entstand während einer Inspektionsreise durch Litauen im September 1809. 13 Humboldt nimmt die berufliche Bildung zunächst aus seinen ‘Unterrichtsstufen’ hinaus, da diese standesspezifisch gegliedert war: „Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, ums abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen“ (v. Humboldt, 1964, S. 188). Hier stehen seine Entwürfe gegensätzlich zu vielen Programmen der Aufklärung, die die Überführung der Ständegesellschaft in eine neue industrielle Ständegesellschaft anstrebten, um die Industrialisierung voranzutreiben. 14 Siehe hierzu die genaueren Ausführungen in Teil B (Kap.1.1). 15 Die Berufsbildung folgt also der allgemeinen Menschenbildung, ist weder mit ihr vermischt, noch geht sie ihr gar voran. 21 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche (2) Elementarunterricht, Schulunterricht, Universitätsunterricht. Die drei Stadien des Unterrichts, mit denen Wilhelm von Humboldt den Elementarunterricht, den Schulunterricht und den Universitätsunterricht beschreibt, werden dadurch charakterisiert, dass jedes so auf das nächste verweist und zu ihm hinführt, 1. dass seine Absolventen fähig sind, in ein höheres Stadium überzugehen oder aber 2. ihre unterrichtliche Allgemeinbildung abzuschließen und sich durch den Übergang ins Leben oder durch den Besuch berufsspezifischer Einrichtungen auf bestimmte Tätigkeit vorzubereiten (vgl. Benner, 1990, S. 179). Grundlage der allgemeinen Menschenbildung ist der Elementarunterricht, der nicht als eine spezifische Unterweisung für das niedrige Volk zu gelten hat, sondern die Heranwachsenden in die Lage versetzen soll, das nächsthöhere Stadium - den Schulunterricht - zu besuchen. „Der Elementarunterricht soll bloß in Stand setzen, Gedanken zu vernehmen, auszusagen, zu fixieren, fixiert zu entziffern, und nur die Schwierigkeit überwinden, welche die Bezeichnung in allen ihren Hauptarten entgegenstellt. Er ist nicht sowohl Unterricht, als er zum Unterricht vorbereitet, und ihn erst möglich macht“ (v. Humboldt, 1964, S. 169). Ziel des Elementarunterrichts soll sein, dass die jungen Menschen befähigt werden, die hier gelernten Elementartechniken selbst auszuführen. Jeder soll dabei den Sinn für sich selbst erkennen lernen: „Der Schüler ist reif, wenn er so viel bei andern gelernt hat, daß er nun für sich selbst zu lernen im Stande ist“ (v. Humboldt, 1964, S. 170). Allgemeinbildendes Lernen im Elementarunterricht beinhaltet demzufolge das Erlernen der Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen, jedoch zunächst ohne den Blick auf eine konkrete berufliche oder außerschulische Situation, sondern primär um das ‘Lernen des Lernens’ zu fördern16. Dass sich die Vermittlung der Kulturtechniken dennoch an 16 Vorbild für die Reformen wurden die erzieherischen Entwürfe des Schweizers Johann Heinrich Pestalozzi, der das Erlernen des Schreibens, Lesens, Rechnens und Zeichnen nicht in Schulen, sondern in der Wohnstubenatmosphäre erprobte und mit einer moralischen und politischen Erziehung verbunden hatte. Die Grundlage hierbei ist der Gedanke der selbständigen Erweckung der geistigen Kräfte in jedem Kinde, die dann zu Selbständigkeit und Freiheit jedes Menschen führt. Besonders Nicolivius, sein späterer Nachfolger, der mit Pestalozzi eng befreundet war, setzte sich stark für die Einführung der Pestalozzischen Elementarmethode ein. Entgegen Befürchtungen von Seiten der Sektion für Kultus und Unterricht im 22 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche den Ansprüchen des ‘wirklichen Lebens’ orientieren sollten, erkennt man daran, dass Humboldt den Schulabgang nach jeder Stufe vorsieht: „Am Ende ihres Lehrganges steht sowohl die vollzogene Grundlegung der Bildung, also die Erfüllung jener Bedingungen, die Bildung überhaupt erst ermöglichen, als auch die abgeschlossene elementare Vorbereitung auf das Leben, also die Ausstattung des jungen Menschen mit Kenntnissen und Fähigkeiten, die ihn qualifizieren, sich in heterogenen Lebenssituationen zurechtfinden zu können“ (Menze, 1975a, S. 223). Hier werden zwei wesentliche Aufgaben der Schule deutlich: • zum einen diejenige mit dem Anspruch einer allgemeinen Menschenbildung für alle jungen Menschen unabhängig ihrer Herkunft und zum anderen • die Sicherstellung der Vorbereitung auf das Berufsleben. Die Kulturtechniken orientieren sich demnach im Elementarunterricht nicht mehr einseitig an Bibel- und Katechsimustexten, sondern sind lebensweltbezogen, da sie von den Schülern als praktische und notwendige Fertigkeit erkannt werden sollen. Der Schulunterricht soll demnach in der Form auf das Leben vorbereiten, dass er nicht eine bestimmte Lebensart oder -form, sondern die Tätigkeiten an der Welt und zwischenmenschliche Kommunikation überhaupt, thematisiert (vgl. Benner, 1990, S. 200). „Wenn also der Elementarunterricht den Lehrer erst möglich macht, so wird er durch den Schulunterricht entbehrlich. Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Studien und unterstützt ihn darin“ (v. Humboldt, 1964, S. 170). Hier wird deutlich, was Humboldt unter dem Begriff des ‘Lernen lernen’ versteht: Junge Menschen werden durch die Schule so erzogen, dass sie zunehmend selbstverantwortlich entscheiden können, was sie lernen möchten. Spätestens nach Abschluss des Schulunterrichts wird der Lehrer in seiner traditionellen Rolle überflüssig und die Schüler widmen sich zunehmend eigenverantwortlich ihren Interessen. Dabei gilt, ebenso wie beim Elementarunterricht, dass die jungen Absolventen fähig sind, entweder in den Universitätsunterricht überzugehen oder aber unterrichtliche Allgemeinbildung abzuschließen und sich durch den Übergang ins Leben oder Ministerium des Inneren schreibt Humboldt am 25. März 1809: „Die Einführung der Pestalozzischen Methode, wenn sie auf die rechte Weise geschieht, hat meinen ungetheilten Beifall“ (v. Humboldt, 1960, S. 97). 23 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche durch den Besuch berufsspezifischer Einrichtungen auf bestimmte Tätigkeit vorzubereiten (vgl. Benner, 1990, S. 189). Schule hat also die Aufgabe, die jungen Menschen aus ihrer Unmündigkeit herauszuführen und auf ein verantwortbares Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Immer wieder betont Humboldt dabei den allgemeinbildenden Charakter der Schule, der keinesfalls mit der Berufsbildung vermischt werden darf. Oberstes Ziel der Schulbildung ist die Schaffung eines Zustandes, in dem sich die verschiedenen menschlichen Tätigkeiten ergänzen. Eine solche Bildung muss das Individuum fördern, darf also auf keinen Fall vorher festgelegte und einheitliche Fertigkeiten vermitteln: „Unter freien Menschen gewinnen alle Gewerbe besseren Fortgang; blühen alle Künste schöner auf; erweitern sich alle Wissenschaften. [...] Soll aber Erziehung dem Menschen eine bestimmte Form erteilen, so ist, was man auch sagen möge, zur Verhütung der Uebertretung der Gesetze, zur Befestigung der Sicherheit so gut als nichts getan“ (v. Humboldt, 1960, S. 108). Und an anderer Stelle wird er noch deutlicher: „Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. [...] Allein was der Mensch beabsichtigt und beabsichtigen muß, ist ganz etwas andres, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit. Nur dies giebt vielseitige und kraftvolle Charaktere. [...] Wer aber andere so raisonnirt, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit miskennt, und aus Menschen Maschinen machen will“ (v. Humboldt, 1960, S. 72). (3) Wertgutachten statt Ziffernzeugnisse. Die allgemeinbildende Aufgabe der Schule kann nach Ansicht Humboldt nur in der Bewusstseinsschaffung von Zusammenhängen liegen, keinesfalls aber in der Erlernung von Faktenwissen. Diese allgemeinbildende und lebenspropädeutische Aufgabe des Schulunterrichts knüpfte er nicht an die Bedingung einer gleich langen Schulzeit für alle. Der Übergang zwischen den Stufen wird zwar durch vorgängige Examen geregelt, Ziffernzeugnisse lehnte Humboldt jedoch ab. Für die Abgangsgutachen sah er schriftli- 24 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche che Wortgutachten vor, in denen die Schule die Leistungen und Fähigkeiten der Schüler beschreibt und würdigt (vgl. Benner, 1990, S. 196f): „Die gelehrte Schule muss zwar zu jeder Zeit entlassen; [...] thut sie es aber nur am Ende eines Schulsemesters, und nie anders, als nach vorhergängigem Examen, dessen Zweck aber nur ist, dem jungen Menschen eine Erklärung mitzugeben, wie viel oder wenig Fortschritte er gemacht hat“ (v. Humboldt, 1964, S. 186). Zusammenfassend zeigen sich also deutlich die Hauptaufgaben, die Humboldt der Schule zuweist: Im Mittelpunkt und als oberstes Ziel steht die allgemeine Menschenbildung. Diese beinhaltet, dass die Schule den jungen Menschen so auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet, dass er sich selbständig und eigenverantwortlich in ihr - kraft der individuellen Möglichkeiten - entfalten kann, unabhängig von seiner Herkunft. Menschenbildung vor Berufsbildung bedeutet aber nicht, dass die Schule abgeschlossen und lebensweltfremd arbeitet. Denn nur ein Mensch, der sich in seiner Lebenswelt zurechtfindet, kann sich auch voll entfalten. Die Übergänge zwischen den einzelnen Schulstufen sind dann auch so gestaltet, dass jeder entweder in die nächsthöhere Stufe wechseln kann oder nach Abschluss in das Berufsleben übergeht. Dieser Übergang zwischen den Stufen soll durch Examina geregelt werden, die jedoch weniger selektiv-vergleichenden, als viel mehr individuell-informativen Charakter haben (vgl. v. Humboldt, 1964, S. 168). Benner beschreibt demzufolge die Aufgabe der Schule als eine zweifache, die davon ausgeht, dass wir um die Bestimmung des Menschen nicht wissen: 1. Sie muss in Anerkennung der unbestimmten Bildsamkeit der einzelnen die Möglichkeit weiterführender allgemeinbildender Studien eröffnen und 2. sie muss Übergänge von unterrichtlichen Lernprozessen ins Leben und von diesem in neue unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse offenhalten und das Bewusstsein dafür schärfen, das der Sinn des im Unterricht Gelernten nicht schon in innerschulischen Situationen erreicht werden kann, sondern auf ein Handeln aus eigener Verantwortung verweist, das seinen Sitz nur zum Teil in der Schule, zum dauerhafteren Teil aber außerhalb derselben hat (vgl. Benner, 1990, S. 213f). 25 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche Viele Überlegungen Humboldts haben die Geschichte der Schule geprägt und immer wieder wird versucht, einzelne Reformmaßnahmen und -konzepte unter Berufung auf oder in Abgrenzung zu seinen Ideen zu legitimieren. So geschehen auch bei der Frage, ob Wilhelm von Humboldt der Vater des dreigliedrigen Schulsystems und des humanistischen Gymnasiums war oder eher als Ahnherr der Gesamtschule fungieren kann. Weder Dietrich Benner noch Clemens Menze lassen solche Überlegungen gelten, sondern verweisen darauf, dass es sich bei dieser Diskussion um einen politischen Streit handelt, „in dem über die Wünschbarkeit der Realisierung der dem Bildungswesen vorgesetzten Zwecke genau so politisch lautstark wie pädagogisch unfruchtbar diskutiert wird“ (Menze, 1985, S. 383). „Vielmehr käme es darauf an, ihn als Denker zu würdigen, der um das Vermittlungsproblem von Bildung und Schulstruktur gewußt hat“ (Benner, 1990, S. 212). b) Georg Wilhelm Friedrich Hegel Etwa zur gleichen Zeit arbeitete auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831) als Professor und Rektor des humanistischen Ägidien-Gymnasiums in Nürnberg. In den Jahren 1808 bis 1815 sprach er bei seinen Reden zur Jahresabschlussfeier über bestimmte, die Schule charakterisierende Merkmale. Diese Reden, die er als Rechenschaftsbericht für Lehrer, Schüler, Eltern und Gönner abgab, geben heute Auskunft darüber, welche zentralen Aufgaben die Schule erfüllen sollte. Hegel sah in ihr das ‘verbindende Mittelglied’ (Hegel, 1970, S. 348, 352) zwischen Familie und wirklicher Welt, das zur Entwicklung der jungen Menschen beitragen sollte. So bezeichnete er die Schule als „eine Sphäre, die ihren eigenen Stoff und Gegenstand, ihr eigenes Recht und Gesetz, ihre Strafen und Belohnungen hat“ (Hegel, 1970, S. 348). Diese Form des ‘Mittelgliedes’ lässt vier Aufgaben zu: 1. Die Orientierung an den Erwartungen der späteren ‘wirklichen’ Welt. 2. Die Bildung des jungen Menschen zu sich selbst. 3. Die Erziehung zur Gesellschaftsfähigkeit. 4. Die Verteilung innerhalb der Gesellschaft (vgl. Apel, 1995, S. 48). (1) Die Orientierung an den Erwartungen der späteren ‘wirklichen’ Welt. Hegel kam zu dem Schluss, dass dem Handeln der Kinder in der Schule nur dann eine ernsthafte Bedeutung zukommt, wenn es diese Muster und Normen der späteren Welt in 26 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche sich aufnimmt. Es ist Aufgabe der Schule, auf die ‘wirkliche Welt’ vorzubereiten. Diese verlangt Einfügung in vorgegebene Ordnungen und Anpassung an bestehende Herrschaftsverhältnisse: „In der Schule hat es [das Kind] im Sinne der Pflicht und eines Gesetzes sich zu betragen und um einer allgemeinen, bloß formellen Ordnung willen dies zu tun und anderes zu unterlassen, was sonst dem Einzelnen wohl gestattet werden könnte“ (Hegel, 1970, S. 349). Und weiterhin äußert er sich zu diesem Thema: „Die wirkliche Welt ist ein festes, in sich zusammenhängendes Ganzes von Gesetzen und das Allgemeine bezweckende Einrichtungen; die Einzelnen gelten nur, insoweit sie diesem Allgemeinen sich gemäß machen und betragen; und es kümmert sich nicht um ihren besonderen Zwecke, Meinungen und Sinnesarten“ (Hegel, 1970, S. 352). Genau hier kann es aber zu Konfrontationen mit eigenen Interessen kommen. Hegel sah in der Schule einen künstlichen Raum zum Einüben der Verhaltensweisen und zum Lernen. Erst die Anwendung des Gelernten in der wirklichen Welt kann dieses Bemühen vervollständigen. „Was durch die Schule zustande kommt, die Bildung des Einzelnen, ist die Fähigkeit derselben, dem öffentlichen Leben anzugehören“ (Hegel, 1970, S. 352). Wichtiger Bestandteil der Schule ist die Klassengemeinschaft, in der die Kinder lernen, mit anderen umzugehen und soziale Tugenden zu erlernen, die notwendig sind, um sich in der Gesellschaft zurecht zu finden: „In der Gemeinschaft mit vielen unterrichtet, lernt es, sich nach den anderen richten, Zutrauen zu anderen, ihm zunächst fremden Menschen, und Zutrauen zu sich selbst in Beziehung auf sie, zu erwerben und macht darin den Anfang der Bildung und Ausübung sozialer Tugenden“ (Hegel, 1970, S. 349). Durch die Schule treten die Kinder in eine ‘zweifache Existenz’ ein, nämlich in die einer Privatperson und in die einer Person des öffentlichen Lebens. (2) Die Bildung des jungen Menschen zu sich selbst. 27 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche Dennoch beruht schulische Bildung auf der Übung des Verstandes, nicht auf einer das Leben eingrenzenden Disziplinierung (vgl. Hegel, 1970, S. 351). Hier sah Hegel einen wichtigen Verbindungspunkt zwischen Schule und außerschulischem Leben. Die Aufgabe der schulischen Erziehung ist ‘wesentlich mehr Unterstützung als Niederdrückung des erwachenden Selbstgefühls’ und nicht ‘der Jugend das Gefühl der Unterwürfigkeit zu geben’. Die Schule muss in erster Linie eine ‘Bildung zur Selbständigkeit sein’ (vgl. Hegel, 1970, S. 350). Zwar forderte Hegel eine unbedingte Notwendigkeit in der schulischen Disziplin der Schüler, diese darf aber nur soweit gehen, wie sie ‘zur Erreichung des Studienzweckes notwendig ist’ (Hegel, 1970, S. 351). Zu der ‘eigentlichen Tätigkeit des Geistes paßt am wenigsten ein unfreier Ton’ (ebd.). Vielmehr erfordert die Erziehung, daß die Jugend sich früh daran gewöhnt, ‘den eigenen Verstand zu Rate zu ziehen’ (ebd.). (3) Die Erziehung zur Gesellschaftsfähigkeit. Schon zwei Jahre zuvor, in seiner Rede zum Schuljahresabschluss am 10. Juli 1809, betonte er, dass es eine wesentliche inhaltliche Aufgabe der Schule sei, „den Schatz der Bildung, der Kenntnisse und Wahrheiten, [...] an welchem verflossene Zeitalter gearbeitet haben, zu erhalten und der Nachwelt zu überliefern“ (Hegel, 1970, S. 307). Nur so wird die ‘Menschheit nicht in alte Barbarei versinken’. In der Überlieferung tradierter Werte sah er jedoch keineswegs eine normative Notwendigkeit, sondern machte deutlich, dass diese bei der ‘Einsicht in das Ungenügende’ (Hegel, 1970, S. 314) durchaus verändert werden sollen, warnte aber gleichzeitig vor einer voreiligen Beseitigung oder Abschaffung alter Inhalte. Vielmehr plädierte er dafür, dass man das ‘Alte in ein neues Verhältnis zu dem Ganzen setzt und dadurch das Wesentliche desselben ebenso sehr erhält, als es verändert und erneuert’ (Hegel, 1970, S. 314). Insgesamt war Hegel der Ansicht, dass der Zweck der Schule die sittliche Bildung des Menschen ist. In der Gymnasialrede von 1810 sagte er hierzu: „Schon die allgemeine Bildung hängt ihrer Form nach aufs engste mit der moralischen Bildung zusammen; denn wir müssen diese überhaupt nicht auf einige Grundsätze einschränken, sondern dafür halten, dass nur der überhaupt gebildete Mensch auch ein sittlicher Mensch sein könnte“ (Hegel, 1970, S. 336). 28 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche Auch ein Jahr später thematisierte er das ‘Verhältnis der Schule und des Schulunterrichts zur sittlichen Bildung des Menschen überhaupt’. Diese wird zwar zu einem großen Teil durch direkte Belehrung über moralische Begriffe und Grundsätze gelehrt, dennoch spielt auch die Person des Lehrenden, der den ‘Samen der Erkenntnis ausstreut’ (Hegel, 1970, S. 306) sowie die mittelbare Wirkung der Einzelschule und ihrer Schulatmosphäre eine bedeutende Rolle. Ziel der schulischen Erziehung war für Hegel die ‘Prägung innerhalb der historischen Kulturgemeinschaft’. Sie muss die Kinder auf die Gesellschaft vorbereiten, auch oder gerade wenn es zu Konfrontationen mit den kindlichen Interessen kommt. In diesem Punkt wendete er sich eindeutig gegen alle Pädagogik ‘vom Kinde aus’ und gegen jede ‘spielende Pädagogik’ (vgl. Reble, 1969, S. 193). (4) Die Verteilung innerhalb der Gesellschaft. Auch über die Leistungsbewertung, die die Schule vornimmt, äußerte er sich in seinen Reden. Hegel bestritt zwar nicht die Berechtigung schulischer Leistungsbewertung, stand ihrer Aussagekraft jedoch kritisch gegenüber: „Das Urteil, das die Schule fällt, kann daher so wenig etwas Fertiges sein, als der Mensch in ihr fertig ist. Die allerhöchste Regierung hat darum befohlen, daß erstens die Zensuren der Schüler nicht öffentlich bekannt gemacht werden sollen; zweitens, daß ausdrücklich, in dem sie den Schülern vorgelesen werden, dabei zu erklären, sie seien als die freien Urteile ihrer Lehrer über sie anzusehen; es komme diesen Urteilen aber ‘kein unmittelbarer Einfluß’ auf die künftige Lebensbestimmung und die dereinstige Stellung in der politischen Verfassung zu“ (Hegel, 1970, S. 354). Er warnte davor, als Hauptkriterium einer erfolgreichen Schullaufbahn die jährliche Versetzung zu betrachten: „Es gilt dabei als Hauptgrundsatz, nicht in höhere Klassen zu eilen; denn die Sicherheit und Festigkeit in den Anfangsgründen ist eine Hauptbedingung, um für das Höhere fähig zu sein, ...“ (Hegel, 1970, S. 355). Hegel sah im Gymnasium ‘eine Spezialschule der Vorbereitung zur höheren wissenschaftlichen und geistigen Bildung’, die den Kindern vorbehalten bleibt, die diese Befähigungen mit sich bringen. In einem Gutachten über die Stellung des Realinstituts zu den übrigen Studienanstalten aus dem Jahre 1810 äußerte er sich zu den Aufgaben der verschiedenen Schularten. Dabei stellte er klar heraus, dass Kinder mit anderen Bega- 29 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche bungen, wie etwa einer ‘technischen Geschicklichkeit’, in anderen Schularten besser untergebracht sind: „Es wird für sie ein gleicher Unterricht so wenig stattfinden (oder derselbe Unterricht für sie so ungleich sein), wie ein Bauer und ein Mensch, der studiert hat, kaum miteinander militärisch exerziert werden können. - Eine höhere Anstalt, die beiden, es sei im einzelnen oder im ganzen, genügen sollte, würde keinem von beiden genügen“ (Hegel, 1970, S. 392). Über die Zuweisung auf die einzelne Schulart entscheidet der Lehrer nach der Primarschule, die ‘die Probierzeit des Talents in sich faßt’ (ebd.). Soziale Selektionen nannte Hegel in seinem Gutachten ebensowenig wie ungleiche Chancenverteilung zwischen Jungen und Mädchen. Somit schließt sich er Kreis der in sich greifenden Schulfunktionen: die Hauptaufgabe der Schule ist bei Hegel gesellschaftlicher Art. Sie bereitet den jungen Menschen auf das gesellschaftliche Leben vor, in das er sich gemäß seiner Begabungen einzugliedern hat. Diese Befähigung zur Gemeinschaftsfähigkeit ist kulturell-gesellschaftlicher Art und nimmt keine Rücksicht auf die individuelle Naturgemäßheit des Kindes (vgl. Reble, 1969, S. 194). Dennoch ist die Bildung zur Selbständigkeit (Sittlichkeit) eine wesentliche schulische Aufgabe, da nur der selbständige Mensch letztlich auch gemeinschaftsfähig ist. Betrachtet man aus historischer Sicht die vielfältigen Äußerungen über die Aufgaben der Schule genauer, so darf ein weiterer Vertreter dieses Zeitraumes, den Hermann Nohl (1970) als ‘Deutsche Bewegung’ bezeichnet hat, nicht fehlen: Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher. c) Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768 - 1834), zunächst Hauslehrer und später Pfarrer, kann insofern als Bildungstheoretiker angesehen werden, als er in den damals entscheidenden Ausschüssen für die Bildungsreform arbeitete. Hier war er unter ande- 30 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche rem sowohl an der Neuordnung des Abiturs als auch der Lehramtsordnung der Gymnasiallehrer maßgeblich beteiligt17. Schleiermacher äußerte sich in seinen Vorlesungen über Pädagogik in den Jahren 1813 und 1826 über die Aufgaben der öffentlichen Schule. Er sah - ähnlich wie Hegel - die Schule als Institution, der die Aufgabe zukommt, die öffentliche Erziehung zu organisieren. Seine schultheoretischen Überlegungen stehen im Kontext einer umfassenden pädagogischen Theorie18 und lassen sich in dreifacher Hinsicht unterscheiden: 1. Die öffentliche Anstalt der Erziehung als notwendige Einrichtung. 2. Die Aufgabe dieser Einrichtung. 3. Die speziellen Zwecke und Mittel der Schularten (vgl. Apel, 1995, S. 59). (1) Schule als Ursprung und Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Schleiermacher sah in der Erziehung den Ursprung des menschlichen Zusammenlebens überhaupt: „Für das menschliche Leben, für die gesamte menschliche Bildung gibt es nichts bedeutenderes als Vollkommenheit der Erziehung. Die Fehler in der Erziehung bewirken die menschlichen Unvollkommenheiten. [...] Es beruht alle wesentliche Förderung des ganzen menschlichen Lebens auf der Erziehung“ (Schleiermacher, 1959, S. 66f). Gesellschaftliche Probleme lassen sich seiner Überzeugung nach immer auf die mangelnde Erziehung zurückführen: „Der Mangel an Übereinstimmung zwischen der richtig organisierten Erziehung und dem bestehenden Leben liegt nicht in der Idee, [...], sondern nur in der Unvollkommenheit der Zustände, in der mangelhaften Ausführung der Idee der Erziehung“ (Schleiermacher, 1959, S. 131). Erziehung ist für ihn eine besondere Form der Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere, die zunächst in der Familie erfolgt (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 136). Das Verhältnis zwischen den Generationen ist durch Autorität bestimmt. Schleiermacher 17 Sein wissenschaftlicher Werdegang führte ihn zunächst nach Halle, bevor er in Berlin tätig war (vgl. Lichtenstein, 1959, S.295ff). 18 Diese sollen hier nur insofern erläutert werden, wie sie zum Verständnis seiner schultheoretischen Überlegungen hilfreich erscheinen. 31 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche unterscheidet jedoch klar zwischen der familiären Erziehung und der Erziehung durch Öffentlichkeit. „In der ersten Periode gehört die Erziehung dem Hauswesen an. In der zweiten Periode entsteht eine neue Aufgabe; es treten Bedürfnisse ein, wodurch Hilfe postuliert wird. Die Eltern allein können diese Aufgabe nicht lösen und die Bedürfnisse nicht befriedigen“ (Schleiermacher, 1959, S. 98). Ausgehend von der Feststellung, dass es beim Phänomen der Erziehung um das Verhältnis der älteren zur jüngeren Generation geht und dass es Unterschiede zwischen familiärer und öffentlicher Erziehung gibt, sucht Schleiermacher nach einer Theorie der Erziehung, die eine Antwort gibt, auf die Frage nach der Art und Weise der Gestaltung dieses Verhältnisses: „Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf die jüngere, und sie ist um so unvollkommener, je weniger gewußt wird, was man tut und warum man es tut. Es muß also eine Theorie geben, die von dem Verhältnisse der älteren Generation zur jüngeren ausgehend sich die Frage stellt: Was will den eigentlich die älterere Generation mit der jüngeren? [...] Auf dieser Grundlage [...] bauen wir alles, was in das Gebiet der Theorie fällt“ (Schleiermacher, 1966, S. 9). (2) Erziehung zur Idee des Guten. So kann also die Aufgabe der Schule erst dann formuliert werden, wenn geklärt ist, was durch Erziehung erwirkt werden kann: „Wir haben somit eine nähere Bestimmung unserer Aufgabe gefunden, indem wir den Prozeß der Erziehung an eine Tätigkeit anknüpften, die im Anfange erregend, im Fortgange leitend, sich an die Idee des Guten anzuschließen habe, mit Rücksicht auf die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen. Es ist aber auf diese Weise weder das Verfahren noch der Anfangs- und Endpunkt der Erziehung genau bezeichnet“ (Schleiermacher, 1959, S. 51). Die Idee des Guten zu wecken und dafür zu sorgen, dass der Mensch nach ihr handelt, ist seiner Ansicht nach die primäre Aufgabe der Erziehung: „Finden wir im Lauf der Erziehung etwas, was dem Begriff des Guten widerspricht: so werden wir es immer der 32 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche Erziehung zurechnen und sagen, dem hätte die Erziehung entgegenwirken sollen ...“ (Schleiermacher, 1959, S. 58). Diese Idee wiederum ist bei jedem Menschen individuell verschieden. Die Erziehung muss dieser Tatsache Rechnung tragen und darf nie gegen die ‘ursprüngliche Anlage im Menschen einwirken’ (Schleiermacher, 1959, S. 72), wenn sie nicht der Idee des Guten widerspricht: „Es soll sich uns im Gebiete der Natur die ganze Mannigfaltigkeit von Erscheinungen entfalten“ (Schleiermacher, 1959, S. 59). Diese Individualität ist dadurch zu gewährleisten, dass die Erziehung den Menschen zur Selbsttätigkeit anregt: „So ist also, was in der Entwicklung begriffen ist, auch zu seiner Selbsttätigkeit gehörig anzusehen, und muss als solches [...] auch im Zwecke der Erziehung liegen“ (Schleiermacher, 1959, S. 59). Hier schließt sich der Kreis: Erziehung hat das sittliche Leben zum Ziel und Selbsttätigkeit ist hierzu das geeignete Mittel. Das sittliche Leben wiederum schließt Fertigkeiten und Gesinnung mit ein (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 150). Der Unterricht soll vorrangig Fertigkeiten ausbilden und einüben, und so seinen Beitrag leisten, eine Weltanschauung begründen und sich in der Gesellschaft zurechtfinden zu können. Die Erziehung soll moralische Selbständigkeit bewirken, die sich an der ‘Idee des Guten’ orientiert. Die Grenzen zwischen Unterricht und Erziehung sind fließend, so dass die jungen Menschen durch das Leben und Lernen in der schulischen Gemeinschaft auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet werden: „Daß aber für den Staat erzogen werden solle, darüber ist die Theorie nicht schwankend“ (Schleiermacher, 1959, S. 61). Gemeinschaftsgeeignete Lebensformen sollen durch die Schule gefördert werden, ungeeignete verhindert. ‘Unterstützen’ und ‘Gegenwirken’ sind zwei Formen der Einwirkungen, die Schleiermacher als Zentrum pädagogischen Handelns sieht (vgl. Schleiermacher,1959, S. 91, 93). (3) Schule als Vorbereitung auf die Gesellschaft. Da die gesellschaftlichen Einflüsse aber auf das Leben der Kinder und Jugendlichen so kompliziert und vielschichtig sind, muss die Schule in einem ‘Schonraum’ arbeiten. Nur so kann sie ‘nicht gemeinschaftsfördernden Lebensformen’ entgegenwirken: „Die Verhütung kann nicht anders bewirkt werden als durch ein relatives Isoliertwerden des Zöglings“ (Schleiermacher, 1959, S. 100). 33 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche Andererseits befürchtet Schleiermacher durch die Isolation eine Realitätsferne, die wiederum hinderlich für die Vorbereitung auf das gesellschaftliche Leben nach der Schule ist. Um diesem Dilemma zu entkommen, teilt er die Schulzeit in bestimmte Phasen auf, in denen die Schule die Kinder mehr oder weniger von der Realität isoliert: „..., d.h. das Freilassen des Lebens in seiner Einwirkung auf den Zögling muss in der letzten Periode seinen Ort haben und sich vollenden, so daß die Übung der Selbsttätigkeit im Kampf schon da vollkommen im Gang ist“ (Schleiermacher, 1959, S. 102). Am Ende der Schulzeit muss sich die Schule aus der Isolation lösen, damit der Eintritt in die Gesellschaft fließend geschehen kann, also ‘Erziehung und gemeinschaftliches Leben als ineinander ohne Störung übergehend’ (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 131) angesehen werden kann. Ähnlich wie Hegel, der die Aufgabe der staatlichen Erziehung darin sah, dass sie die „Überlieferung alter Werte in ein neues Verhältnis zu dem Ganzen setzt und dadurch das Wesentliche desselben ebenso sehr erhält, als es verändert und erneuert“ (Hegel, 1970, S. 314), betonte Schleiermacher als ein Ziel der Erziehung, dass sie die Jugend dazu erzieht, „daß sie tüchtig werde, einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen“ (Schleiermacher, 1959, S. 64). Auch er fordert eine kritische Beurteilung tradierter Werte, um sie gegebenenfalls weiterzuentwickeln. Nur durch diese Bewertung und Fortführung gelingt es, die Missstände zu beheben, ‘welche auf die Erziehung nachteilig wirken’ (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 173). Er lehnte, wie Wilhelm von Humboldt, Standes-, Berufs- und andere spezielle Gesichtspunkte bei den allgemeinen Schulen ab: „Was aber im Staate besteht als Wirkung der noch fortdauernden angestammten Ungleichheit, das ist für die Erziehung nur ein solches äußeres Verhältnis, das verschwinden soll. Dies kann aber nur geschehen infolge der inneren Kraft, welche sich auch in den einzelnen entwickelt, die zu der niederen Klasse gehören. [...] Es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, daß Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt auf dem sie steht“ (Schleiermacher, 1959, S. 76). (4) Notwendigkeit der Differenzierung für spätere Aufgaben. 34 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche Dadurch, dass die Schule auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet, gestand Schleiermacher ihr auch eine Selektionsaufgabe zu. Er sah die Notwendigkeit der Differenzierung für spätere Aufgaben in der Gesellschaft, warnte aber gleichzeitig vor vorschnellen und unreflektierten Urteilen, da diese entscheidenden Einfluß auf das spätere Leben der Zöglinge haben: „Das Urteil der erziehenden Generation muss also so sorgfältig und sicher als möglich sein und von den klarsten Prämissen ausgehen, damit Irrungen nicht vorkommen“ (Schleiermacher, 1959, S. 80). Die Schule muss im Interesse des Staates jeden so fördern, dass „er das werde, was er seiner Beschaffenheit nach werden kann“ (Schleiermacher, 1959, S. 161)19. Insgesamt betrachtet wies Schleiermacher der Schule ähnliche Funktionen zu, wie diese schon bei Hegel zu finden waren. Im Mittelpunkt steht die Bildungsfunktion, die das Ziel hat, in den Menschen die Idee des Guten zu wecken. Aber auch er betonte die Mittlerfunktion der Schule, die die Kinder aus der Familie in die Gesellschaft führen soll. Die Notwendigkeit der Differenzierung innerhalb der Gesellschaft - gemeint sind hier die verschiedenen beruflichen Tätigkeiten - legitimiert schließlich die Selektionsfunktion, wobei er ausdrücklich vor einer ‘standesgemäßen’ Selektion warnte. Allein die Art der Begabung kann als Indikator für die gesellschaftliche Aufgabe nach der Schule gelten; jedem soll seinen Anlagen gemäß eine allgemeine Ausbildung zuteil werden (vgl. Apel, 1995, S. 60). Wie Hegel sah Schleiermacher die ‘wirkliche Welt’ als Orientierungspunkt. Nur was im ‘gewöhnlichen Leben’ auch von Bedeutung ist, soll in der Schule thematisiert werden. Versäumnisse und Ungerechtigkeiten, die in der Gesellschaft vorherrschen, müssen jedoch beseitigt werden. Geschieht dies nicht, ist die Erziehung ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 224). Er strebte, anders als Hegel, keine verschiedenen Schularten an, sondern empfahl als ideale Lösung ein Nacheinander mit einer späten Differenzierung, wobei er zwischen der Volksschule und dem Gymnasium die höhere Bürgerschule einschob (vgl. Reble, 1969, S. 202). Die allgemeine Volksschule legt dabei einen wichtigen Grundstein, denn sie soll so gestaltet sein, dass „sie ihre Zöglinge sowohl in ein rein mechanisches Ge19 Einschränkend muss hinzugefügt werden, daß Schleiermacher diese Bildungschancen lediglich dem männlichen Geschlecht vorbehielt. Das liegt vor allen Dingen daran, daß er gesellschaftliche Positionen ausschließlich als männliche Domäne verstand, während den Frauen die Familie vorbehalten blieb. In diesem Punkt konnte er sich nicht von den Vorstellungen seiner Zeit lösen. 35 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche werbsleben als auch in diejenigen Anstalten, in denen die höchste individuelle Ausbildung erreicht wird, abliefern kann“ (Schleiermacher, 1959, S. 216). Die höhere Bürgeroder Realschule soll denjenigen zu Gute kommen, die später zwischen der ausführenden und der leitenden Schicht angesiedelt sind. Das Gymnasium schließlich dient als Vorbereitung für ein Universitätsstudium. Hier soll eine ‘höhere formale Bildung gepflegt’ werden, deren Inhalte sich an den Wissenschaften anlehnen und denjenigen vorbehalten sein, die gesellschaftliche Führungspositionen übernehmen20. Der Eintritt in eine dieser Schulen hat aber keine Endgültigkeit: „Der Eintritt in die niedere Bürgerschule wird ebenfalls nichts ausschließen, denn jeder wird aus derselben in die höhere Abteilung oder auch in die Gelehrtenschule übergehen können, wenn er Fähigkeiten hat. Und ebenso wird der Übergang aus der höheren Bürgerschule in die Gelehrtenschule sich leicht ausführen lassen. Es würde nur darauf ankommen, dass der Übergang ... erleichtert würde“ (Schleiermacher, 1959, S. 308). Schleiermacher spricht sich also für die Erleichterung der Übergänge zwischen den Schularten aus. Dennoch kann er nicht ohne weiteres als Anwalt eines differenzierten Schulsystems gesehen werden, vielmehr sah er sich mit den damals real existierenden unterschiedlichen Schultypen konfrontiert, die es zu überwinden galt. In seiner ‘Theorie der Erziehung’ versuchte er dagegen ein allgemeinbildendes Schulwesen zu entwickeln, das sich aus dem Prinzip der Selektion und der Leistung herleitet, und das mit der Elementarschule beginnt, die alle Schüler durchlaufen müssen (vgl. Krautkrämer, 1979, S. 284)21. In den Beiträgen von Hegel und Schleiermacher zeigen sich deutlich die schultheoretischen Überlegungen der damaligen Zeit. Doch nicht nur diese theoretischen Grundlagen machen Veränderungen deutlich, auch die Reformbemühungen Preußens wiesen den Weg in die Zukunft. 20 Die Universität hat seiner Ansicht nach nicht die Aufgabe, eine Summe von Berufskenntnissen zu vermitteln. Vielmehr soll das Studium Kenntnisse in den gesamtgesellschaftlichen Rahmen einordnen und bewerten. Dies lässt sich nicht rezeptiv lernen, sondern nur produktiv durch die Forschungstätigkeit. Mittelpunkt eines Studiums ist also das ‘Lernen des Lernens’. Studierende sollen zum eigenen Forschen angeleitet werden; die Universität hat nicht die Aufgabe, bereits bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln. ‘Königin der Wissenschaften’ ist die Philosophie. 21 Dass ihm Humboldt in dieser Frage immer wieder gegenübergestellt wird, rührt daher, dass Humboldt versucht, seine Auffassung in die Praxis umzusetzen und Schleiermacher eine vorsichtigere Position einnimmt und Kompromissforderungen entwickelt, die die verschiedenen Schultypen als Tatsache anerken- 36 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche (5) Der Süversche Unterrichtsgesetzentwurf. Die zunächst von Humboldt eingeleitete äußere Reform des Unterrichtswesens zwischen 1808 und 1819 war eingeordnet in ein Gesamtkonzept preußischer Reformen und erstrebte einen weitgehenden Abbau der hierarchischen Klassenstrukturen. Dabei suchte es den Staat auf ein neues Fundament zu stellen: auf das Engagement seiner Bürger (vgl. Hamann, 1993, S. 112). Exemplarisch lässt sich das neuhumanistische Schulmodell an dem preußischen Unterrichtsgesetzentwurf, entwickelt von Süvers im Jahre 1819, verdeutlichen (vgl. Schweim, 1966, S. 123ff). Hier sprach Süvers in §1 über den Begriff der öffentlichen allgemeinen Schulen, in dem die ‘allgemeine Menschenbildung an sich’ im Vordergrund steht und nicht die ‘unmittelbare Vorbereitung zu besonderen einzelnen Berufsarten’. In den §§3 & 4 wird festgelegt, dass eine dreistufige Schulfolge die Jugendlichen auf die Universität vorbereitet: die Elementarschule im Kindesalter, die Stadtschule im Knabenalter und das Gymnasium im Jugendalter. Danach sollte die allgemein-wissenschaftliche und sittliche Bildung soweit fortgeschritten sein, dass die jungen Menschen entweder auf die Universität oder in das ‘praktische Leben’ (vgl. Lundgreen, 1980, S. 57) entlassen werden können. Alle Stufen waren so ausgerichtet, dass sie aufeinander aufbauten. Die Elementarschule war also nicht die Schule für Arme und niederes Volk, sondern sollte die erste Stufe der allgemeinen Menschenbildung sein und Grundbildung für alle leisten22. Betrachtet man den neuhumanistischen Allgemeinbildungsanspruch hinsichtlich seiner sozialgeschichtlichen Realisierung, so kann man feststellen, dass er angesichts der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse (Finanzschwäche des Staates, Massenarmut) nur für einen relativ kleinen Teil der Gesellschaft erfüllbar war (vgl. Hamann, 1993, S. 120). Eine auf wirklicher Mitbestimmung und Teilhabe des Volkes beruhende Verfassung (worauf die Verwirklichung dieser Gedanken in ihren radikalen Entwürfen notwendig abzielen musste), die dann auch das Schulwesen betroffen hätte, wurde von den Reformern nie ernsthaft beabsichtigt (vgl. Herrlitz, 1993, S. 31). nen. Dies sollte aber keinesfalls als Gegenposition zu Humboldt verstanden werden (vgl. Krautkrämer, 1979, S. 285). 22 Dass eine solche Vorstellung von Schule auch Kritiker fand, liegt bei der Betrachtung der damaligen Gesellschaftsverhältnisse nahe. So bezeichnet beispielsweise Ludolph von Beckedorff, der spätere Leiter des Ressorts Volksschulwesen im Preußischen Kultusministerium, den Süverschen Unterrichtsgesetzentwurf als ein ‘Auflehnen gegen die Ordnung der Natur’ und befürchtet, dass dadurch ‘nichts anderes als Neid, Eifersucht, Feindschaft, Hader und ewiger Kampf [...] in die Gemeinschaft der Menschen eingeführt wird’, welche nichts anderes hervorrufen als Misstrauen und innere Kriege (vgl. Schweim, 1966, S. 222ff). 37 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche So blieben die antiständischen Reformpläne vielfach auf der Ebene der Programmatik. Dazu kommt, dass die von Humboldt viel zu wenig bedachten Mechanismen sozialer Systeme, besonders die, die von einer wirtschaftlichen und technischen Entwicklung ausgingen, Veränderungen und Reformen von vornherein begrenzten. So hielt Humboldt beispielsweise die Mittleren Schulen mit praktischem Selbstverständnis, ausgerichtet an der ökonomischen Realität und den Lebensbedürfnissen, für überflüssig. Am unbefriedigsten war, dass das Elementarschulwesen umgeschrieben wurde auf die ‘volkstümliche Bildung’ der unteren Sozialschichten; das Gymnasialkonzept brachte statt der Menschenschule die bürgerliche Staatsschule zum Zwecke der Sicherung von Bildung und Besitz als sozialer Privilegien hervor (vgl. Hamann, 1993, S. 121f). Betrachtet man die längerfristige Wirksamkeit von Teilreformen, besonders der gelehrten Schulen, dann waren diese Reformen überaus folgenreich und weichenstellend und sind es bis in die Gegenwart. Herrlitz konstatiert drei beherrschende Tendenzen, die, ausgehend von dieser Zeit, die weitere preußisch-deutsche Bildungsgeschichte beeinflusst haben: 1. Das Element der Staatsprüfungen, die das Bindeglied zwischen Abschlussqualifikationen und staatlicher Dienstbefähigung darstellten, wobei hierbei die Normierungen für den Zugang in den Justizdienst 1755 wegweisend waren. Die preußischen Reformer verfolgten diesen Weg konsequent weiter: Humboldt führte im Jahre 1810 das philosophische Staatsexamen als Berufsbefähigung für das Lehramt an Gymnasien ein, womit sich das System der normierten Staatsprüfung endgültig etabliert hatte. 2. Mit dem Abiturreglement von 1834 wurden diese Zugangsbrerchtigungen auch rechtlich verankert: jeder, der fortan in den Staatsdienst wollte, musste das humanistische Gymnasium erfolgreich absolviert haben sowie über ein mindestens dreijähriges wissenschaftliches Studium verfügen und eine mehrjährige Probezeit bestanden haben. 3. Daraus resultierte wiederum eine Hierarchisierung, die sich aus dem zuvor durchlaufenen Bildungsweg ergab: fortan wurde zwischen ‘Subalternbeamten’ und ‘höheren Beamten’ unterschieden (vgl. Herrlitz, 1993, S. 33ff). 38 Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche So verstärkte die neuhumanistische Bildungsreform die funktionelle Verschränkung zwischen Staat und Schule, insbesondere der höheren Bildung 23. Dazu kam, dass sich das höhere Schulwesen immer stärker vom niederen Schulwesen absonderte. Damit waren die weitreichenden Pläne, ein einheitliches nationales Bildungswesen auch wirklich in die Tat umzusetzen, gescheitert. Dies führte schließlich auch zu einer Ausdifferenzierung getrennter Lehrerstände, wobei sich die Gymnasiallehrer durch ihre staatsunmittelbare Sonderstellung und die wissenschaftliche Laufbahn deutlich von den Volksschullehrern abhoben, die von den eigentlich gebildeten Klassen nicht ernst genommen wurden (vgl. Herrlitz, 1993, S. 39ff). In der Ausgestaltung der Schullandschaft zeigte sich eine eigentümliche Überschätzung der formalen Geistesbildung gegenüber der materialen Bildung24. Die Kluft zwischen dem auf relativ niedrigen Niveau stehenden ‘Volk’ und der Schicht privilegierter ‘Gebildeter’ wurde größer. Die in subjektbezogenem Bildungsidealismus befangene Einstellung ließ wenig Raum für die Einsicht in politische und soziale Notwendigkeiten. Die zu sehr aus innerweltlicher Perspektive erfolgende Bewertung der Welt- und Lebensprobleme versperrte den Blick für tiefergehende Einsichten und notwendig zu ergreifende Maßnahmen. 23 Hier ist zunächst das Element der Staatsprüfungen zu nennen, als Bindeglied zwischen Abschlussqualifikation und Dienstbefähigung. Dazu kommt das im Jahre 1810 eingeführte philosophische Staatsexamen. Durch das Abiturientenreglement von 1834 musste jeder, der in den höheren Staatsdienst treten wollte, das humanistische Gymnasium und ein dreijähriges Studium absolviert haben. 24 Gemeint ist hier das zur Lebensbewältigung erforderliche Sachwissen. 39 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung 3. DAS ZEITALTER DER INDUSTRIALISIERUNG In den Jahren 1830 - 1840 gab es einen deutlichen Einschnitt in das gesamte Kulturleben, ein Prozess, der häufig vereinfachend mit dem ‘Geist des 19. Jahrhunderts’ umschrieben wird. Das äußere Kennzeichen dieser Epoche ist die ‘Massenhaftigkeit’, die das Leben in Europa für die nächsten 100 Jahre bestimmt hat (vgl. Reble, 1969, S. 233). Beispielsweise wuchs zwischen 1830 und 1900 die Bevölkerung Deutschlands um mehr als das Doppelte25, ebenso rasant entwickelte sich die gesamte Wirtschaft26. Möglich wurde dies nur durch das Fortschreiten der Technik, die exakte naturwissenschaftliche Erkenntnisse nun konsequent verwertete, um Güter zu produzieren. Es entstand ein ungeheurer ‘Apparat des Daseins’27 (Reble, 1969, S. 233). Im wissenschaftlichen Bereich wurden die Einzeldisziplinen beherrschend, die Philosophie wurde entthront und war auch an den Hochschulen keine treibende Kraft mehr. Insgesamt erfolgte eine Wendung vom idealistisch-philosophischen Denken zu einer realistisch-empirischen Grundhaltung gegenüber Welt und Leben. Daraus resultierte eine andere Auffassung von Erziehung und Bildung. Ähnlich wie in der Zeit der Aufklärung wurde Bildung nun wieder als Nutzbarmachung des Menschen verstanden. Dementsprechend war das Bildungswesen auch von der Verobjektivierung der Welt, der fortschreitenden Zerspaltung sowie der Mechanisierung des Lebens betroffen. Bildung konnte jetzt nicht mehr als Persönlichkeitsgestaltung im Sinne einer allgemeinen Menschenbildung verstanden werden. Der Mensch sollte statt dessen für das ökonomisch-soziale Dasein geschult werden. Naturwissenschenschaftliche, mathematische und technische Inhalte gewannen an Bedeutung. Realien drangen verstärkt in die Lehrpläne ein, Lehr- und Lerninhalte wurden erweitert, das Schulwesen erheblich verzweigt. Berufliche Erziehung und Bildung bekam einen höheren Stellenwert (vgl. Hamann, 1993, S. 133). Die Zeit zwischen 1815 und 1840 war aber auch eine Epoche der Spannungen zwischen konservativen und liberalen Kräften in der Schulpolitik. Auf der einen Seite die Konservativen, die das geschichtlich Gewordene zu bewahren suchten, und auf der anderen 25 Gab es im Jahre 1800 ca. 24 Millionen Deutsche, stieg die Bevölkerungszahl bis im Jahre 1900 auf etwa 60 Millionen an (vgl. Reble, 1969, S. 233ff). 26 Wohnten noch zu Beginn des Jahrhunderts drei Viertel der Einwohner Deutschlands auf dem Lande, war das Verhältnis am Ende des Jahrhunderts genau umgekehrt (vgl. Reble, 1969, S. 233ff). 27 Das gesellschaftliche Leben wird in einem bisher nicht gekannten Ausmaß organisiert, die Wirtschaftsbetriebe wachsen rasant, kleine Betriebe werden mehr und mehr verdrängt, die Arbeit zusehends kollektiviert (vgl. Reble, 1969, S. 233ff). 40 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung Seite die Liberalen, die dem Freiheits- und Fortschrittsglauben der Aufklärungszeit huldigten. Äußeres Anzeichen der restaurativen Tendenzen war der Wiener Kongreß aus dem Jahre 1815. Die hier eingeleiteten Bemühungen gegen freiheitlich-liberale und nationale Entwicklungen konnten auf die Schulpolitik nicht ohne Einfluss bleiben. Als schulpolitischer Vertreter der konservativen Kräfte kann Ludolph Beckedorff gelten, der die einzelnen Bevölkerungsgruppen in ihrem angestammten Berufs- und Lebenshorizont verankern wollte. Ziel war der staatstreue Untertan: „Um aller dieser Gründe willen aber bedürfen wir in der menschlichen Gesellschaft nicht gleichartiger Stufen, sondern verschiedenartiger Berufsund Standesschulen; [...] worin diejenigen, welche diesen zwar verschiedenen, aber gleich ehrenwerten Ständen angehören, von Kindesbeinen an zu ihrer künftigen Bestimmung vorbereitet werden; nicht endlich einer künstlichen Gleichheit der Volkserziehung, sondern vielmehr einer naturgemäßen Ungleichheit der Standeserziehung; zwar allerdings einer übereinstimmenden Bildung zur Religion und Sittlichkeit, aber keineswegs einer gleichartigen Abrichtung in Kenntnissen und Fertigkeiten (Schweim, 1966, S. 229). Beckedorff wandte sich deutlich gegen den Süverschen Unterrichtsgesetzentwurf. Insgesamt entsprach zwar seine Zensur- und Kontrollpolitik dem Obrigkeitsstaat vor 1848, hemmte hier und da Fortschritte im Schulwesen, eine nachhaltige Wirkung auf das sich entwickelnde Volksschulwesen konnte dadurch nicht erreicht werden. Das lag schon allein daran, dass es bis zu diesem Zeitpunkt viel zu wenig ausgebaut war und die entscheidenden Stellen in der Schulverwaltung immer noch von humanistisch und idealistisch gesinnten Männern aus der Reformzeit besetzt waren28 (vgl. Schmitz, 1980, S. 75). Dennoch nahm die Volksschule, die von von Humboldt und Süvers als allgemeine Elementarschule geplant war, eine andere Entwicklung, als ursprünglich intendiert. Sie wurde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit der eindeutigen Definition des Schulpflichtalters vollständig ausgebaut. Im Zuge der missglückten Revolution von 1848 28 Zudem stammten die jungen Lehrer, die seit der Reform in Seminaren ausgebildet wurden, überwiegend aus den unteren sozialen Schichten und verstanden sich als ‘Mittler der Humanität und des objektiven Geistes’ (Blankertz 1982, S. 160). Das von diesen Lehrern vertretene bildungspolitische Konzept war das eines einheitlichen Schulsystems. Mit dem Scheitern der Revolution 1848 und dem Sieg reaktionärer Kräfte wurden solche Grundideen zurückgedrängt. 41 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung wurde eine Volksschulpolitik betrieben, die eng mit dem Namen Ferdinand Stiehl29 verbunden ist. Die Regulative, mit denen die restriktive Schulpolitik eine verbindliche Form erhielt, wurde so maßgeblich von ihm beeinflusst, dass sie mit dem Namen der Stiehlschen Regulative von 1854 in die Geschichte eingegangen ist. Grundlage war eine Theorie der materiellen Bildung, aus der drei Ziele abgeleitet werden konnten, die der Regulative eine feste Norm vorgaben: 1. Die fraglose christliche Gläubigkeit, 2. die Liebe zum Herrscherhaus und Vaterland und 3. die nötige Kenntnis zur Sicherung des bürgerlichen Fortkommens (vgl. Blankertz, 1982, S. 163; Scheibe, 1974, S. 25). Den genannten Zielstellungen entsprechend war der Lehrplan in mehrfacher Hinsicht auf Bildungsbegrenzung angelegt und hatte als Bemessungsgrundlage die einklassige Volksschule auf dem Lande. Unterrichtsstoffe wurden stark beschränkt, alles ‘Überflüssige’ und abstrakte Inhalte sollten verschwinden (vgl. Hamann, 1993, S. 139). Zentrales Ziel war es, „dem praktischen Leben in Kirche, Familie, Beruf, Gemeinde und Staat zu dienen und für dieses Leben vorzubereiten ...“ (Scheibe, 1974, S. 25). Auch wenn der Stiehlschen Regulative keine nachhaltige Negativwirkung auf das sich entwickelnde Volksschulwesen bescheinigt wird, so sind die ursprünglichen Ziele einer allgemeinen Elementarschule durch sie verwischt und auch im Nachhinein nie wieder aufgegriffen worden. Es wird deutlich, dass sich die hier geschaffenen Tatsachen gegen die theoretischen Forderungen von Humboldt oder Schleiermacher wendeten. Galt zunächst dem nach neuhumanistischen Zielen orientierten Gymnasium und der Elementarschule das Interesse der Reformer, wurde den Realschulen und anderen ‘mittleren Schulen’ nun vorerst keine Bedeutung mehr beigemessen. Dies lag im Wesentlichen daran, dass seit den preußischen Reformen von 1809 und 1819 allein das Gymnasium für den Besuch der Universität qualifizieren konnte. Im Bereich der Mittelschulen war das anfangs auch nicht notwendig, da selbst die meisten Gymnasiasten nicht bis zum Abitur auf der Schule blieben. Bald aber entwickelte sich in den Städten eine Bildungsanstalt, die sich verstärkt den ‘Realien’, also den Naturwissenschaften, der Mathematik und den modernen Sprachen zuwendete: die Realschule. 29 Ferdinand Stiehl war evangelischer Theologe, Direktor des Lehrerseminars in Neuwied (Rhein) und arbeitete in den Jahren zwischen 1844 und 1872 im preußischen Kultusministerium. Ab 1850 war er Lei- 42 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung Die Entwicklung dieser Schule nahm einen anderen Verlauf, als es ursprünglich bei ihrer Etablierung beabsichtigt war: Statt der sich entwickelnden Privatindustrie, dem Handel und Gewerbe den Nachwuchs zu sichern und eine an bürgerlichen Interessen orientierte Alternative zur altklassischen Bildung zu bieten, geriet sie in den Sog der auf die Bedürfnisse der beamteten Elite in Staat und Kirche ausgerichteten Gymnasien, eiferte diesen nach und orientierte ihre Konzeption weitgehend auf höhere Allgemeinbildung und breiten Hochschulzugang hin (vgl. Hamann, 1993, S. 151; Herrlitz, 1981, S. 63). Spätestens ab dem Jahre 1900 waren die drei Schultypen Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule30 Abitur- und damit gleichberechtigt. Darin wird deutlich, dass die Entwicklung der höheren Schulen während des 19. Jahrhunderts unter dem Druck eines Systems von Berechtigungen stand. Dieses Berechtigungswesen hatte schon sehr früh eine politische Funktion. Auf der einen Seite nutzte es das Bürgertum gegen das Adelsprivileg, auf der anderen Seite war es ein Instrument gegen die mit der Industrialisierung aufstrebende Arbeiterschaft. „Denn in der Gesellschaft der formal Gleichberechtigten behielten die Besitzenden die politische Macht in der Hand, weil der Zugang zu den Staatsämtern und den gesellschaftlich relevanten Funktionen allein über Berechtigungen ging, die einen Schul- und Ausbildungsgang voraussetzten, den die besitzenden Schichten ihren Kindern sehr viel leichter ermöglichen konnten als die Arbeiterschaft“ (Blankertz, 1982, S. 184). Dagegen hatten berufsbildende Abschlüsse kaum Bedeutung, was die Aufstiegsmöglichkeiten der Arbeiterschaft stark beeinträchtigte. Durch diese Profilierungskämpfe der Schulen untereinander entfernte sich das Bildungswesen allerdings immer mehr von den Intentionen der Theoretiker der damaligen Zeit. Angesichts dieser Situation, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei manchen Zeitgenossen ein aus Kulturpessimismus resultierendes Dekadenzgefühl aufkommen ließ, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kritik laut gegen den ‘Ungeist’ des gesellschaftlichen Lebens, gegen materialistisches Denken und Vermassung, Bildungsphilistertum und Unechtheit des Lebens. Kritiker wie Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) oder Paul de Lagarde (1827 - 1891) zielten auf eine Erneuerung geistigen und kulturellen Lebens. Die Philosophie griff idealistische Gedankengänge auf und propagierte die ganzheitliche ter der Abteilung ‘Volksschulen und Lehrerseminar’ und kann als einer der ersten Vertreter pädagogischen Funktionärstums der verwalteten Schule angesehen werden (vgl. Blankertz, 1982, S. 163). 30 In beiden Schularten konnte das Abitur ohne das Latinum erworben werden. 43 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung Schau der Welt und des Menschen (vgl. Hamann, 1993, S. 181f). Mit der Veröffentlichung der ‘Einleitung in die Geisteswissenschaften’ aus dem Jahre 1883 hat Wilhelm Dilthey31 (1833 - 1911) die ‘verstehenden’ Wissenschaften der Kultur und des Menschen zu ergründen gesucht. Dabei versuchte er, die Manifestation des Menschen in der historisch-gesellschaftlichen Praxis, dokumentiert in den ‘Systemen der Kultur’, zu erkennen. Seine Ideen bildeten die Grundlage für die geisteswissenschaftliche Pädagogik. a) Wilhelm Dilthey Wilhelm Dilthey war zunächst als Lehrer tätig. Er unterrichtete nach seinem theologischen Examen und seiner Lehramtsprüfung an zwei Gymnasien in Berlin, verließ diese aber bereits wieder nach einem Jahr, um sich den Geisteswissenschaften zuzuwenden. Auch wenn er sich mehr für die Begründung einer „wahrhaft wissenschaftlichen Pädagogik interessierte, als für die Schulstube selbst“ (Groothoff, 1981, S. 22), finden sich Ansätze zu einer Theorie der Schule bzw. des Schulsystems an verschiedenen Stellen in seinen Arbeiten32. Grundlage dieser Schultheorie ist eine Theorie der Bildung, ohne die die Didaktiken und Methoden zusammenhangslos nebeneinander stehen. Kann man die beiden Theorien schließlich miteinander verknüpfen, so wird eine allgemeingültige systematische Pädagogik möglich33. (1) Bildung als gesellschaftliche Notwendigkeit. Bildung außerhalb einer Gesellschaft ist Diltheys Ansicht nach nicht denkbar. Die weitere Entwicklung einer Gesellschaft wiederum hängt davon ab, daß einzelne Individuen in ihren Bildungsprozessen diese Gesellschaft und ihr Selbstverständnis prüfen und weiterführen. Somit ist die Bildung des Individuums nicht nur für das Individuum selbst 31 Bekannt gemacht hat ihn unter anderem seine Arbeit über das Leben Schleiermachers. Ausgehend von dieser Arbeit hat er zwei Wege eingeschlagen: er hat sich in die Geistes- und Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit vertieft und sich auch der Gegenwart zugewandt, was zur Folge hatte, dass er die Geisteswissenschaften sowohl historisch als auch systematisch ausarbeitete. Ich möchte an dieser Stelle auf die Werke von Ulrich Hermann (1971) und Hans-Hermann Groothoff (1981) zu Wilhelm Dilthey hinweisen. 32 Schultheoretische Überlegungen finden sich in seinen Gesammelten Schriften vor allen Dingen im VI. Band (Abhandlungen zu Poetik, Ethik und Pädagogik), hier in seinem Kapitel ‘Schulreform und Schulstuben’ und im IX. Band (Pädagogik - Geschichte und Grundlage des Systems). 33 Eine Theorie der Bildung wird dann erst schlüssig, wenn man die ‘Einzelvorgänge’ des Systems in einen ‘Kausalzusammenhang’ bringt (vgl. Dilthey, 1934, S. 179). Dilthey fordert eine Zusammenführung verschiedener sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie der Psychologie, der Anthropologie und der Statistik. Erst so wird eine systematische Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis möglich. Er wußte aber auch, dass man von dieser Zusammenführung damals noch weit entfernt war. 44 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung wichtig, sondern sie liegt auch im ureigensten Interesse einer Gesellschaft (vgl. Groothoff, 1981, S. 157, 159, 179). Hier findet sich auch die Verknüpfung zur Erziehung: „Unter Erziehung verstehen wir die planmäßige Tätigkeit, durch welche Erwachsene das Seelenleben von Heranwachsenden zu bilden suchen. [...] Die Erziehung ist eine Funktion der Gesellschaft“ (Dilthey, 1934, S. 190, 192). Erziehung ist also eine gesellschaftliche Aufgabe, die die ältere Generation gegenüber der jüngeren erfüllen muss. Als gesellschaftliche Notwendigkeit kann sie aber nicht zufällig geschehen, sondern muss geplant sein. Dilthey spricht in diesem Zusammenhang insbesondere von den gesellschaftlichen Institutionen Familie, Gemeinde, Kirche und Staat. Dabei steht die Familie für das Element des persönlichen Glücks, die Gemeinde für das der Brauchbarkeit in der ökonomischen Welt, die Kirche für das der Personalität und der Staat für die Fähigkeit, sich dem Gesetz unterzuordnen und sich im Ganzen zu bilden (vgl. Dilthey, 1934, S. 196). Nur diese Institutionen zusammen bewirken eine umfassende Erziehung: „So bemerkt man, wie gerade in dem Gleichgewicht dieser Herrschaftskräfte, welche die moderne Gesellschaft ausmachen, die Allseitigkeit gesichert ist. Sie wird in Einseitigkeit erstarren, wenn jemals einer dieser Faktoren, eine dieser herrschenden Kräfte sich der Kinderseele ausschließlich bemächtigte“ (Dilthey, 1934, S. 196). Das macht deutlich, dass zumindest Teile der gesellschaftlichen Erziehung an das Unterrichtswesen delegiert werden müssen. Naturgemäß liegt das Erziehungsrecht zwar primär bei der Familie, diese ist jedoch nicht autonom: „Also wird die Funktion der Erziehung, sofern sie von der Familie nicht vollständig besorgt werden kann oder doch im Einzelnen nicht besorgt wird, von Gemeinde, Staat und Kirche ergänzt. An diesem Punkt löst sich die Frage, was die vom Staat den Eltern aufgelegte Schulpflicht sei“ (Dilthey, 1934, S. 194). 45 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung Bildung und Ausbildung wird dann von der Schule übernommen, wenn es sich um ‘wissenschaftlich begründete planmäßige’ (vgl. Groothoff, 1981, S. 163) Erziehung für die gesamte nachwachsende Generation handelt34. (2) Schule als Instanz der individuellen und gesellschaftlichen Bildung. Die wichtigste Aufgabe der Erziehung ist es, den Menschen „nach dem Maß seiner Kraft an der richtigen Stelle zu seiner Befriedung und zum Nutzen der Gesellschaft in dieser Kultur“ (vgl. Dilthey, 1934, S. 14) heranzubilden. Die schulische Erziehung der Heranwachsenden dient der Entfaltung und Entwicklung eines einheitlichen, individualen, in sich wertvollen Seelenlebens. Darunter versteht Dilthey die Wechselwirkung von Ich und Welt, die sowohl zur Identitätsbildung wie zur Verweltlichung (Sozialisation, Enkulturation) des Individuums führt und die als die ‘Bildung’ des entwickelten Menschen beschrieben wird. Dilthey ist - ebenso wie Schleiermacher - der Ansicht, dass Bildung primär als sittliche Bildung verstanden werden muss (vgl. Groothoff, 1981, S. 165f). Das bedeutet aber gerade nicht, dass das Individuum gesellschaftlichen Interessen untergeordnet werden soll. Vielmehr soll jeder Zögling seinen Anlagen gemäß so gefördert werden, dass er dadurch auch der Gesellschaft optimal dienen kann. Auch wenn es Dilthey an keiner Stelle so formuliert hat, ist unverkennbar, dass die Schule zur ‘Selbsttätigkeit’ und ‘Selbst-Bildung’ erziehen muss. Ihre eigentliche Aufgabe ist dann die ‘Anleitung’ und ‘Beratung’ der Zöglinge. Das schließt aber nicht aus, dass es sich hierbei um harte Arbeit handelt, die eine innere Disziplinierung der Schüler teils voraussetzt, teils bewirkt, wozu dann aber seitens des Erziehers auch gewisse ‘Hebel’ benutzt werden können (vgl. Groothoff, 1981, S. 167). Denn nur eine in diesem Sinne erzogene Jugend hat die „plastische Kraft des selbsttätigen Schaffens, die Freude an der Tätigkeit, an Bilden und Gestalten ...“ (Dilthey, 1934, S. 223). Darüber hinaus hat jede Gesellschaft die Pflicht, sich zu reformieren. Der Schule kommt dabei ein entscheidender Anteil zu: „Wirkliche Reformen werden nur durch eine stetige schwere pädagogische Arbeit in den Schulstuben vollbracht“ (Dilthey, 1958, S. 185). Er geht dabei von der Schule als einem Ort des Umgangs, des Unterrichts und der Bildung aus, in dem die Schüler ‘reelle Erfahrungen’35 machen können. Wenn die Schule nicht 34 Die Frage nach der Bedeutung der familiären Erziehung in Bezug auf die öffentlichen Einrichtungen hat sich für Dilthey nicht gestellt. So spricht er auch nicht von speziellen, sich hieraus ergebenden Sonderfällen, wie z.B. einer Pädagogik für die jungen Menschen, bei denen die familiäre Erziehung versagt hat. 35 Zum Erfahrungsbegriff siehe auch die Ausführungen in Kapitel Teil C (Kap.2.3). 46 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung ein ‘Ort der Langeweile und der Fronarbeit’ bleiben soll, aus dem das ‘Leben vertrieben’ wurde, sondern sich statt dessen der ‘Selbst-Bildung’ der Zöglinge zuwendet und diese ‘anleitet’, dann muss sie reformiert werden. Die Orientierung an der Wirklichkeit spielt dabei eine wichtige Rolle: „Der Zusammenhang mit dem Lebendigen, dem Ganzen, muß im Verlauf des Unterrichts beständig unterhalten bleiben. [...] Die Aufgabe einer wirklichen modernen Pädagogik wäre nun, die Methoden zu finden, durch welche die einzelnen Fächer so in den inneren Zusammenhang einer möglichst einfachen Repräsentation des Zusammenhangs der Wirklichkeit gebracht werden können. [...] In dem Maße, in welchem wir uns diesem Ziele nähern, löst sich die pädagogische Frage“ (Dilthey, 1934, S. 217f). Hier wird das Prinzip deutlich, das dem ‘bildenden Unterricht’ zugrunde liegt: Lernen und Denken, Aneignung und Verarbeitung dürfen nicht getrennt werden (vgl. Dilthey, 1934, S. 212). Der Unterricht muss Zusammenhänge erarbeiten, die die Wirklichkeit repräsentieren. Diese kann erst danach erklärt, künstlerisch gestaltet, religiös und sittlich behandelt werden. Ziel des Unterrichtes ist es, die Individuen in die Lage zu versetzen, die erkannten Zusammenhänge auf ihre persönliche Situation zu übertragen (vgl. Dilthey, 1934, S. 212). Damit ein solches schulisches Schaffen überhaupt möglich wird, nennt Dilthey drei gesellschaftliche Vorbedingungen: 1. Die Schule muss ein Ort pädagogischer Freiheit für den Lehrer und damit auch für die Schüler sein (vgl. Dilthey, 1958, S. 87). 2. Die Reform der Schulen kann nur voran getrieben werden, wenn ‘pädagogische Versuchsstationen’ eingerichtet werden (vgl. Dilthey, 1934, S. 89). 3. Die Ausbildung der Lehrer muss eine ‘pädagogische Ausbildung der gesamten Person’ sein (vgl. Dilthey, 1934, S. 8). (3) Verfechter des gegliederten Schulsystems. Auch wenn er ‘pädagogische Versuchsstationen’ (für die Erprobung eines Einheitsschulsystems) forderte, war Dilthey grundsätzlich ein Verfechter des gegliederten Schulsystems, das seiner Ansicht nach den schulischen Aufgaben am ehesten gerecht wird: „Der natürlichen Trennung der Begabungen in den oberen Klassen entspricht die der höheren Unterrichtsanstalten. Aber sie darf erst eintreten, nachdem Neigungen und 47 Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung Talent sich entschieden haben“ (Dilthey, 1934, S. 219). Hauptargument dieser Gliederung ist die strenge Trennung zwischen den Schulen, die auf die wissenschaftliche Ausbildung in den Hochschulen vorbereiten und denen, die den Schwerpunkt auf die ‘Realien’ legen. Wie Schleiermacher betont auch er die späte Differenzierung, die die Grundlage einer individuellen Förderung ist. Der Erzieher hat die Aufgabe, jeden Schüler so zu beurteilen, dass die richtige Schulwahl getroffen wird. Diese Beurteilung soll ausschließlich nach den individuellen Anlagen geschehen, unabhängig von der sozialen Herkunft des Zöglings: „Der Erzieher soll die individuellen Anlagen des Zöglings erkennen und demselben zum Bewußtsein bringen. Er soll die Ausbildung des Zöglings in der Richtung seiner Anlagen zur Anpassung an eine Berufstätigkeit fortleiten. So wird die Erziehung aus einer dem zufälligen Willen der Zöglinge oder Eltern dienenden Technik zur freien, großartig in das Ganze der Gesellschaft greifenden Kunst“ (Dilthey, 1934, S. 198). Eine im Sinne der individuellen Förderung arbeitende Schule leistet dann Diltheys Ansicht nach einen ‘Beitrag zur Lösung der sozialen Frage’: „Der Druck, der auf den körperlich hart arbeitenden Klassen lastet, würde am edelsten gemindert durch die Hoffnungen, welche ihnen gestatten, den Kindern jeden ihren Anlagen entsprechenden Beruf nicht nur in abstracto rechtlich offen, sondern tatsächlich zugänglich zu sehen“ (Dilthey, 1934, S. 199). Eine Schule, die den individuellen Bildungsprozess in dieser Weise initiiert, fördert auch die Entwicklung der Gesellschaft und umgekehrt steht die Erziehung in Zeiten gesellschaftlicher Krisen vor einer schweren Aufgabe, da die Ursachen unter anderem in einer fehlerhaften Erziehung zu suchen sind. Auch wenn sich Dilthey gemessen an seinem Gesamtwerk nur sehr wenig zu schulischen Fragen geäußert hat, ist es ihm doch gelungen, die Aufgaben der schulischen Erziehung deutlich herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt steht dabei die Bildung des jungen Menschen zu sich selbst, die ihn gleichzeitig als gesellschaftsfähigen Menschen aus der Schule entlässt. Diese beiden Funktionen können jedoch nur dann erfüllt werden, wenn sich die Schule an der ‘wirklichen Welt’ orientiert. Diese erfordert jedoch auf Grund der gesellschaftlichen Strukturen eine Verteilung innerhalb der Gesellschaft. Diese Verteilung innerhalb der Gesellschaft 48 Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik muss so gestaltet sein, dass sie zugleich dem individuellen Bedürfnis eines jeden jungen Menschen gerecht wird, muss also auf der Basis einer breiten Allgemeinbildung aufbauen. Hieraus resultiert die Forderung einer späten Differenzierung innerhalb des Schulsystems. 4. DIE ZEIT DER REFORMPÄDAGOGIK Im Zusammenhang mit einem sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Lebensbereichen offenbarenden Wandel des Lebensgefühls36 entstanden in Deutschland innerhalb kurzer Zeit neben- und nacheinander verschiedene reformerische Bemühungen. Damit eng verbunden war auch die Frage nach der Gestaltung des Schulwesens. Die autoritäre ‘Lern- und Buchschule’ geriet in Kritik, eine neue pädagogische Bewegung wendete sich gegen „Zerspaltung und Veräußerlichung von Erziehung und Unterricht, gegen die Auslieferung des jungen Menschen an die Erwachsenenwelt“ (Reble, 1969, S. 258). Schule wurde kritisiert als ein System, das keine Rücksicht auf die späteren Berufsbedingungen der Kinder nahm. Diese Kritik erlebte ihren Höhepunkt, als Wilhelm II. in der Eröffnungsrede der Berliner Schulkonferenz im Jahre 1900 die Gymnasien der bloßen Gelehrsamkeit anklagte und dabei betonte, dass Charakterbildung und Bedürfnisse des täglichen Lebens keine Berücksichtigung fänden. Aus dieser Kritik heraus entstand der ‘Nährboden für die Reformpädagogik’ (Oelkers, 1987, S. 194)37. Zu den wichtigsten Strömungen bzw. Richtungen der reformpädagogischen Bewegung zählen die Jugendbewegung, die Kunsterziehungsbewegung, die Pädagogik ‘Vom Kinde aus’ und die ‘Arbeitsschulbewegung’. Dazu kommen spezifische Versuche zur Umgestaltung des Schullebens, wie die Landerziehungsheimbewegung oder die Lebensgemeinschaftsschulen. Den eigentlichen Durchbruch schafften die reformpädagogischen Ansätze jedoch erst nach dem ersten Weltkrieg, denn die staatliche Schulpolitik der Wilhelminischen Zeit war durch den 36 Gemeint sind hier beispielsweise die Rückwendung zum Menschen, das Streben nach irrationaler Tiefe in der Lebensbedeutung und Lebensgestaltung oder das Bedürfnis nach Kreativität. 37 In der Zeit zwischen 1895 und 1913 wurde sehr viel in den Schulausbau investiert. In diesen Jahren stiegen die jährlichen Pro-Kopf-Ausgaben im Bildungswesen um das Doppelte und im Jahre 1901 blieben nur noch 0,01% der schulpflichtigen Kinder dem Unterricht widerrechtlich fern. Die Erfüllung der Schulpflicht war somit erreicht. Zudem erfuhr die Mädchenbildung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts seinen größten Aufschwung. Nachdem in Baden Frauen im Jahre 1901 zum ersten Mal zum Studium zugelassen wurden, bahnte sich die Gleichberechtigung im akademischen Berufsfeld an. 49 Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik sogenannten ‘Kaiser-Erlaß’38 von Wilhelm II. geprägt. Dieser stammte aus dem Jahre 1889 und wurde bis 1918 nicht grundlegend revidiert (vgl. Hamann, 1993, S. 209ff). Mit der militärischen Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg, der Novemberrevolution 1918 und der Gründung der parlamentarisch verfassten Republik im Jahre 1919 änderten sich die politischen Rahmenbedingungen für jede Art von Gesellschaftsreform. Das galt auch für die Bildungspolitik (vgl. Lundgreen, 1981, S. 11). Während die Ideen der Reformpädagogik vor dem Krieg vorwiegend in Büchern und Zeitschriften diskutiert wurden, setzten sich die Hauptprinzipien nun mehr und mehr durch. Die pädagogisch engagierten Politiker griffen das Gedankengut der Arbeitsschule und der Kunsterziehungsbewegung auf, hier besonders die Prinzipien der staatsbürgerlichen Erziehung und der Selbsttätigkeit, und entnahmen der Kunsterziehungsbewegung das Prinzip des eigenen Schöpfertums. Mit diesen Ideen sollte die Demokratisierung der Schule vorangetrieben werden. Einem solchen inneren Wandel musste jedoch auch ein äußerer folgen, wenn die Schulreform im gesamten Schulwesen durchgesetzt werden sollte: Die Einheitsschule wurde, entgegen der strengen Dreigliedrigkeit39, als die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Demokratsierungsbemühungen zu verwirklichen. Als Ganzes gesehen blieb sie jedoch ein Entwurf, denn aufgrund finanziell-wirtschaftlich ungünstiger Bedingungen in den zwanziger Jahren war bestenfalls die innere Reform zu realisieren. Somit konnte sich die hart umkämpfte Einheitsschule nicht durchsetzen (vgl. Dietrich, 1975, S. 237). An dieser Stelle zeigt sich die Problematik dieser Zeit: bis zum Ende der Weimarer Republik gelang es nicht, die Spannung zwischen dem politischem Pluralismus und dem Aufbau einer für alle Kräfte akzeptablen Schule aufzulösen. Deutlich wurde dies in der Reichsverfassung von 191940, in der zugleich Versprechen wie Enttäuschungen für die bildungspolitischen Reformer enthalten waren. Zu den Enttäuschungen zählte, dass die Regelung der politischen Kompetenzen hinter den Erwartungen der Reformer zurückblieb: Die Hoheit der Länder wurde nicht angetastet und das versprochene Reichsschulgesetz kam auch bis zum Ende der Weimarer Republik nicht zustande (vgl. Tenorth, 1988, S. 244). Um auseinanderstrebende Meinungen und Entwicklungen in Grenzen zu halten und sowohl im Schul- wie im Hochschulwesen so weit als möglich Einvernehmen zu erzielen, wurde das Instrument der Ländervereinbarung geschaffen, das dann ab 38 Die Schule hatte diesem Erlaß zufolge den Auftrag, reichstreue Bürger zu erziehen, den Christenpflichten nachzukommen und gegen die Sozialdemokraten vorzubeugen. 39 Die Dreigliedrigkeit wurde vor allem wegen ihrer Auslesefunktion kritisiert. 50 Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik 1948 in die ‘Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik’[KMK] mündete. So kam es zum ‘Weimarer Schulkompromiß’41 (Lundgreen, 1981, S. 16), der die Verabschiedung des Grundschulgesetzes im Jahre 1920 nach sich zog und weitreichende Folgen hatte. Kernstücke des Kompromisses waren die Einigung auf eine ‘für alle gemeinsame Grundschule’ (Weimarer Reichsverfassung [WRV] Art.146) und das sich anschließende christliche Simultanschulwesen (WRV Art. 146, Abs. 1). Allerdings nicht entschieden war mit Artikel 146, wie der organische Aufbau des mittleren und höheren Schulwesens auf der ‘für alle gemeinsamen Grundschule’ aussehen sollte. Aufgrund der unterschiedlichen Meinungen, die keine Einigung im Parteienspektrum zuließen, war die ‘Nicht-Entscheidung’ die Begründung für das dreigliedrige Schulsystem. Von nun an stand das gesamte Schulwesen unter Aufsicht des Staates (vgl. Lundgreen, 1981, S. 17f; Scheibe, 1974, S. 55ff). Letztlich hat es die Weimarer Republik nicht geschafft, der Formel ‘Freie Bahn dem Tüchtigen’ zur Geltung zu verhelfen. Bildungsprozesse blieben auch nach der Einführung der Demokratie noch abhängig von der Zugehörigkeit zu sozialen Klassen und Schichten (vgl. Tenorth, 1988, S. 247). Im Bereich der inneren Reform wurde jedoch durch private Initiativen von vielen Pädagogen Entscheidendes geleistet. Man gestaltete den Unterricht im Sinne des kindgemäßen Wachsenlassens, was im Rahmen einer Gemeinschaftserziehung am ehesten möglich war. Aus diesem Grunde verstanden sich viele Schulen als Gemeinschafts- oder Lebensgemeinschaftsschulen (vgl. Dietrich, 1975, S. 253; Hoof, 1969). Die Idee und Wirklichkeit einer solchen Schule entwickelte Peter Petersen (1884 - 1952) in seinem Jena-Plan umfassend. Dabei hat er auch fundiert die Funktionen der Schule dargestellt und begründet. a) Peter Petersen Peter Petersen sah seine Überlegungen, die er im Jena-Plan zum Ausdruck brachte, eingebettet in die europäische Bewegung der ‘Neuen Erziehung’. Für ihn war sie weit mehr als eine Schulreform42, und so kann auch die Pädagogik Petersens als Ausdruck eines 40 Hier vor allen Dingen in den Artikeln 142 -150. Beteiligt waren die Parteien der Weimarer Koalition: SPD, Zentrum und die Deutsche Demokratische Partei (DDP). 42 Peter Petersen bezeichnete sie als ‘Ausdruck eines neuen Lebens- und Gemeinschaftswillens von Völkern’, der die Zukunft gehört (Petersen, 1965, S. 15). 41 51 Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik Lebens verstanden werden, das die pädagogische Verantwortung als Kern des pädagogischen Handelns begreift. Seine schulpädagogische Theorie ist alles andere als eine konkrete Utopie. „Sie ist das Nachdenken über die Bedingungen der Möglichkeit einer pädagogisch verantwortbaren Praxis, einer Praxis also, die sich an der Frage orientiert: Welche Schule ist am besten geeignet, der Menschwerdung des Menschen zu dienen“ (Klaßen & Skiera, 1984, S. 8)? 1923 wurde Peter Petersen (1884 - 1952) Ordinarius für Erziehungswissenschaft am Pädagogischen Seminar in Jena und brachte aus der Hamburger Schulreformbewegung neue Ideen mit43, die in vielen Punkten gegensätzlich zu der bisher in Jena gelehrten Pädagogik standen. Dem Pädagogischen Seminar angeschlossen war eine Universitätsübungsschule, an der die Lehrstudenten die pädagogische Praxis erfahren sollten. Petersen löste die bestehende Schule zum Jahreswechsel 1923/24 auf und gründete Ostern 1924 auf der Basis der ‘Neuen Erziehung’ eine ‘Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschule’44. An die Stelle des Begriffs ‘Einheitsschule’ setzte er dann die Bezeichnung ‘freie allgemeine Volksschule’. Der Sache nach war sein Schulkonzept, das er 1919 entwickelt hatte, eine Gesamtschule, die die Kinder des ganzen Volkes vom Kindergarten bis zum Abitur, mindestens aber bis zur 10. Klasse führen sollte. Die neue Schule hatte zum Ziel, von den Kindern als ‘Zuhause’ anerkannt zu werden, in dem sie sich selbst zurechtfinden konnten, sich eine Ordnung geben und selbständig lernen. Dies geschah durch die freie Wahl des Gegenstandes und projektartige Bearbeitungsformen, die am Ende eine Darstellung der eigenen Lernergebnisse vor den anderen Gruppenmitgliedern einschlossen. Petersen nutzte neben den Publikationen zwei weitere Instrumente, um sein pädagogisches Konzept, das 1927 auf der internationalen Konferenz der ‘New Education Fellowship’ in Locarno den Namen ‘Jena-Plan’ erhielt, bekannt zu machen: zum einen entfaltete er eine rege Vortragstätigkeit, zum anderen lud er zu sogenannten pädagogi- 43 Diese Ideen standen gegensätzlich zu denen seines Vorgängers Wilhelm Rein, der weiterhin an der Universität lehrte. Rein stand fortwährend für die überkommene Pädagogik, Petersen für die ‘Neue Erziehung’ (vgl. Retter, 1996, S. 17). 44 Dies tat er im Auftrag der damaligen sozialistischen Landesregierung, die Volksschullehrersausbildung an der Universität reformieren und die Einheitsschule verwirklichen wollte. 52 Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik schen Wochen ein, die als mehrtägige Fortbildungsveranstaltungen für interessierte Pädagogen in seinen Schulversuch einführten (vgl. Retter, 1996, S. 21). (1) Ursprünge der Jena-Plan-Pädagogik. Bereits im Jahre 1910 wurde er durch seinen Wechsel von Leipzig an ein Hamburger Gymnasium mit den Ideen und Zielen der Reformbewegung bekannt: • Schule und Unterricht sollen fortan ‘vom Kinde’ ausgehen. • Dementsprechend arbeiten die Schüler selbsttätig miteinander. • Der Lehrer ist in erster Linie Berater. • Lehrer, Schüler und Eltern bilden eine Schulgemeinde. • Die Schule selbst ist organisch zu gliedern, darf also keine Trennwände zwischen den verschiedenen Ständen und Begabungen errichten (vgl. Dietrich, 1991, S. 25). Fortan versuchte Petersen, die Forderungen der Schulreformbewegung auf die Praxis zu übertragen. 1920 übernahm er die Leitung der Realschule in Hamburg-Winterhude. Durch den ‘Abstieg’ von einem Gymnasium an die Realschule wollte er deutlich machen, dass er eine Integration der Schularten anstrebte. Diese Schule, die schon 1921 eine Oberstufe erhielt, war seine erste ‘Reformschule’. Vor allem das Gemeinschaftsleben der Schüler stand im Mittelpunkt der Unterrichtsarbeit und in der sogenannten Schulgemeinde arbeiteten Eltern, Lehrer und Schüler zusammen. (2) Erziehung zum humanen Menschen. Hier finden sich die ersten Ansätze für seinen Jena-Plan, die er auch schriftlich formuliert: In seinem Buch ‘Gemeinschaft und freies Menschentum’ (1921) sind die wesentlichen Ideen für die Schulreform festgehalten45. Schon in dieser Zeit hat er an der Theorie und Praxis einer Schule gearbeitet, die Kindern aller Schichten dazu dienen soll, ihr Menschentum zu entfalten und Sachkenntnisse zu erwerben. „Wie die Zukunft politisch und wirtschaftlich gestaltet sein wird, das wissen wir nicht und weiß keiner der heute Lebenden, wie es auch niemand zuvor gewußt hat. Die Zukunft wird von Nöten, Interessen, Kämpfen, neuen wirtschaftlichen, politischen, sozialen Bedingungen bestimmt sein, die wir nicht kennen, einige höchstens ahnen können. Aber eines wissen wir alle: Alle diese Nöte usw. können nur behoben werden, wenn jene Zeiten über 45 Es zeigt sich, dass Petersen die Grundlagen für den Jena-Plan bereits vor seinem Wechsel nach Jena ausarbeitete. 53 Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik Männer und Frauen verfügen mit Initiative, fähig und bereit, die Last auf sich zu nehmen und sie zu tragen, freundlich, liebenswürdig, rücksichtsvoll, hilfsbereit und willig, sich selber ganz und gar an ihre Aufgabe hinzugeben, Opfer zu bringen, wahrhaft zu sein, treu, schlichten Herzens, ehrlich, selbstlos, und darunter einige wenige, die bereit sind, mehr zu tun, als die andern für diese andern, ohne davon Aufhebens zu machen. Dienstbereit alle, aber nach Maßgabe des Pfundes, das sie zu verwalten bestimmt und darum in ihr Leben entlassen worden sind“ (Petersen, 1980, S. 41). Das Ziel der Erziehung ist für ihn der ‘humane Mensch’, der sich über die zeitbedingten Aufgaben hinaus um die Humanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen bemüht und die sittlichen Normen durch ‘Tathandlungen’46 zu verwirklichen versucht, wie sie am Grunde des Menschseins entstanden sind und wie sie aufgrund der ‘schöpfungsmäßigen Verbundenheiten’ der Menschen für das Zusammenleben unumgänglich sind. Petersen will mit seinen erziehungsphilosophischen Erkenntnissen nicht nur der Menschheit dienen, sondern vor allem dem einzelnen Menschen, dem Kinde und dem Jugendlichen (vgl. Dietrich, 1991, S. 16). (3) Die Schule als Menschenschule. Hier liegt auch der primäre Auftrag der Schule: Sie soll als ‘Menschenschule’ verwirklicht werden, also als eine Schule, die das Humanum anspricht, in diesem Sinne entwikkelt wird und dafür sorgt, dass die interpersonalen Beziehungen ‘menschlicher’ werden (vgl. Dietrich, 1991, S. 22). Die Konsequenz für die Schule muss also lauten: Schule und Unterricht müssen unter die ‘Idee der Erziehung’ gestellt werden, d.h. das gemeinsame Handeln muss den Mittelpunkt bilden, damit sittliches Tun geübt, sich bewähren und dann bedacht werden kann47 (vgl. Dietrich, 1991, S. 54). 46 Der Begriff ‘Tathandlungen’ stammt von Johann Heinrich Pestalozzi, wird jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht näher erläutert. 47 Grundlage der Pädagogik ist die Betrachtung des Menschen, so wie er ist, in seiner individuellen und gesellschaftlichen Gebundenheit, eben realistisch. In der Tradition Fröbels (1782 - 1852) bedeutet dies, dass das ganze Leben des Menschen ein Leben der Erziehung ist. Durch dieses Verständnis wird aus der geschlossenen Erziehungsanstalt Schule eine offene. Petersen geht also von der grundsätzlichen Unfestgelegtheit und -legbarkeit des Menschen aus: • der Mensch ist ein instinktreduziertes Wesen; • er bedarf daher der Erziehung, um Mensch zu werden; • die Erziehung kann aber immer nur Hilfen anbieten, Ansatzpunkte und Möglichkeiten aufzeigen, wie der Mensch sittlich handeln kann und soll. Das Eigentliche, nämlich die Selbstüberwindung, muss dann jeder Mensch selbst vollbringen. Die hier zum Ausdruck kommende Auffassung vom Menschen hat entscheidende Konsequenzen für Erziehung und Unterricht (vgl. Dietrich, 1991, S. 31). 54 Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik „Die echte Schulgemeinde will also in dem vom Staate abgesteckten Rahmen für planvolle Einwirkung beruflich ausgebildeter Erzieher auf die noch nicht reife Generation ein Zusammenleben und eine Arbeitswelt darstellen, in denen sich die Erziehungsfunktion so rein wie nur irgend möglich auswirkt und alle Verhältnisse bestimmt, vor allen Dingen auch den Unterricht“ (Petersen, 1980, S. 9). (4) Lebensweltorientierung. Diese Bewährung soll sich an realen Gesellschaftsproblemen orientieren. Die Schule hat also die Aufgabe, sich an der Lebenswelt der Kinder zu orientieren und sich mit dieser auseinanderzusetzen. Denn nur der ‘Mensch der polis’48, der sich in dem vielfältigen gesellschaftlichen, politischen und geistigen Ordnungen der Gesellschaft zurechtfindet, kann ein ‘freier Mensch’ sein (vgl. Petersen, 1980, S. 12). So können Bildung und Bewährung nicht ‘zensiert’ werden: „Die Gefahr der Zensur durch den Lehrer kann als nicht groß genug bezeichnet werden. Sofort befördert sie die Einstellung des Lernens auf den Lehrer und verdirbt die eigene Arbeitslinie des Kindes und verstört das eigene sittliche Urteil, die Sicherheit der eigenen Stimme des Kindes. Verschiedene Erlebnisse lehrten das in krassester Form“ (Petersen, 1980, S. 64). Petersen wandte sich deutlich gegen Zensuren, sah aber die Notwendigkeit von individuellen Beurteilungen. Hier unterscheidet er zwischen dem objektiven und dem subjektiven Bericht. „Für die objektive Charakteristik tragen alle Lehrer, die mit dem Kinde zu tun hatten, ihre Beobachtungen und Urteile über das Kind ein und stellen sie den Eltern zur Einsicht, zur kritischen Stellungnahme und zur schriftlichen Gegenäußerung frei“ (Petersen, 1980, S. 64). Diese Charakteristik für die Eltern ist jedoch nicht für das Kind bestimmt. Dazu dient der subjektive Bericht, in dem der Lehrer die Aufgabe hat, „nur das dem Schüler zu sagen, was nach seiner besten Überzeugung für dieses Kind das Beste ist. [...] So muß 48 Auf den Begriff der polis geht Petersen hier nicht näher ein. Es bleibt - ähnlich wie bei Hartmut von Hentig - offen, in wie fern er die negativen Seiten dieser polis in seinen schultheoretischen Überlegungen berücksichtigt. 55 Teil A: Die Zeit nach 1945 manches verschwiegen, anderes milder oder stärker gesagt werden als im objektiven Βerichte“ (Petersen, 1980, S. 65). Es liegt nahe, dass Petersens Jena-Plan-Schule eine Gesamtschule ist. Dies hat auch biographischen Ursprung: er selbst stammte aus einer armen Bauernfamilie und wurde frühzeitig mit der sozialen Frage konfrontiert. Das hat später wesentlich das Handeln von Petersen bestimmt. So erklärt sich sein Engagement für die ‘Förderung aller Begabten’ in der ‘freien allgemeinen Volksschule’, als einer ‘Gesamtschule’. Erst danach entscheidet sich der weitere berufliche Weg. Insgesamt gesehen sind auch bei Petersen die Aufgaben der Schule deutlich zu erkennen: Sie hat seiner Ansicht nach nur eine untergeordnete selektive Funktion, wohingegen die Erziehung zum ‘humanen Menschen’ im Mittelpunkt seiner pädagogischen Überlegungen steht. Wie viele andere reformpädagogische Schulkonzepte beinhaltet die Pädagogik Peter Petersens ein vielfältiges Schulleben und ist darauf angelegt, durch sinnliche Erfahrung und durch Orientierung an den Erfahrungsräumen des gesellschaftlichen Lebens vorhandene Erfahrungsdefizite der Kinder aufzuarbeiten und ihnen selbsterworbene Erfahrungen zu ermöglichen (vgl. Retter, 1993, S. 26). 5. DIE ZEIT NACH 1945 Nach Kriegsende, beim Wiederaufbau des dreigliedrigen Schulsystems nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges, besannen sich die Deutschen auf tradierte Werte. Statt, wie von den Alliierten vorgeschlagen, sich ein neues, bisher nicht gekanntes innovatives Schulsystem zu erschaffen, wollte und musste man das schwere Erbe beachten: ein im Dritten Reich aufgebautes Schulsystem, das die Gleichschaltung der jungen Generation systematisch verfolgte. Dies sollte in Zukunft verhindert werden. Ebensowenig wollte man sich dem Einheitsschulsystem der sozialistischen Bruderstaaten annähern. So kam es zu einem dreigliedrigen Schulsystem: 56 Teil A: Die Zeit nach 1945 „Seine Schaffung und die entschiedene Abwehr einer auch von den Alliierten gewünschten äußeren Schulreform gehören ebenfalls in den Zusammenhang der in der Nachkriegszeit bestehenden allgemeinen Modernisierungsskepsis“ (Deutscher Bildungsrat, 1970, S. 31). „[...] Weil die Lernfähigkeit der Bevölkerungsmehrheit gering eingeschätzt wurde, sollten schulische Einrichtungen für die politische Kultur sorgen und ihr gegen mögliche Gefährdung Halt geben. Die soziale Festigkeit und Selektivität der wiedergeschaffenen Schultypen ist im Rückblick wohl überschätzt worden“ (Deutscher Bildungsrat, 1970, S. 73). Das mutet im internationalen Vergleich erstaunlich an, aber es gab zwei entscheidende Faktoren, die bei einer Beurteilung berücksichtigt werden müssen: 1. Das Fehlen einer republikweiten Bildungspolitik49, welches dadurch zustande kam, dass das Grundgesetz den Ländern die Kulturhoheit zuwies. Aus diesem Grunde wurde die 1948 geschaffene ‘Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik’ [KMK] für die Abstimmung und Lösung zahlreicher (gemeinsamer) Probleme immer wichtiger. 2. Der Zustrom von zirka 11 Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen bis 1960, der eine große Arbeitskräftereserve ergab. Eben dieser Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in anderen Staaten war eines der wichtigsten Argumente für Bildungsreformen. Ein solcher Traditionalismus darf jedoch nicht als einheitliches und klar definiertes Programm verstanden werden. Es war vielmehr eine Vereinigung verschiedener politischer Tendenzen und sozialer Standpunkte, die in traditionellen Schul- und Universitätsstrukturen einen gemeinsamen Nenner fanden. Dieser war vor allen Dingen in einem hierarchischen Bildungssystem zu finden (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung [MPI], 1994, S. 24f). So wurden für die Aufbauphase des nachkriegszeitlichen Schulwesens verschiedene Länderabkommen der KMK recht bedeutungsvoll. Das zeigt auch, dass der innere (konzeptionelle) Ausbau des Schulwesens, im Gegensatz zum materiellen, in den 50er Jahren vorangetrieben wurde50. 49 Die Konzeption der föderalistischen BRD, die 1949 gegründet wurde, ließ eine republikweite, einheitliche Bildungspolitik nicht zu. 50 Beispielsweise setzte im Jahre 1955 das Düsseldorfer Abkommen ‘Zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens’ einem 10jährigen ‘Schulchaos’ ein Ende und normierte die Schultypen des dreigliedrigen Schulsystems unter Einschränkung von abweichenden Schulversuchen. 57 Teil A: Die Zeit nach 1945 Mit dem im Jahre 1953 eingesetzten ‘Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen’51 wurde auch die Reformdiskussion wieder eröffnet. Besonders der ‘Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden und öffentlichen Schulwesens’, in dem der Ausschuß mehr Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und individuell angepasste Bildungsgänge forderte, löste lebhafte Auseinandersetzungen aus. Als wichtigste Empfehlung gilt die ‘Empfehlung zum Aufbau der Hauptschule’. Mit Beginn der 60er Jahre, in Verbindung des fortgesetzten wirtschaftlichen Wachstums, wurde die Bundesrepublik durch die Dynamik der gesellschaftlichen Modernisierung geprägt52. Es entwickelte sich ein gesellschaftlicher Pluralismus, der auch öffentliche Konflikte als legitim erscheinen ließ. Im Bildungsbereich erkannte man, dass bestehende Selektionsbarrieren im Schulsystem zu einem Hemmschuh, vor allen Dingen in Bezug auf die berufliche Vorbereitung, geworden waren. Der Begriff ‘Bildungskatastrophe’ entstand (vgl. MPI, 1994, S. 31f). a) Der Deutsche Bildungsrat 1964 löste man den Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen auf und gründete 1965 den Deutschen Bildungsrat. Der Deutsche Bildungsrat sollte helfen, die Bildungskatastrophe konstruktiv zu beheben. So ist der Bildungskommission am 15.07.1965 die Aufgabe gestellt worden: 1. Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen zu entwerfen, die den Erfordernissen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens entsprechen und den zukünftigen Bedarf an ausgebildeten Menschen berücksichtigen. 2. Vorschläge für die Struktur des Bildungswesens zu machen und den Finanzbedarf zu berechnen. 3. Empfehlungen für eine langfristige Planung auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens auszusprechen (vgl. Deutscher Bildungsrat, 1970, S. 1). (1) Chancengleichheit und individuelle Förderung. 51 Die Aufgabe des Ausschusses war es, ’Die Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesen zu beobachten und durch Rat und Empfehlung zu fördern’. Seine Mitglieder arbeiteten unabhängig von Institutionen und Organisationen. 52 Diese beeinflusste das gesamte Jahrzehnt: Das Ende der Adenauer-Ära (1963), die Regierungsbeteiligung der SPD (1966 große Koalition; 1969 sozial-liberale Koalition) und die Studentenunruhen (1967/68) machten die tiefgreifenden Veränderungen gesellschaftlicher Prozesse deutlich. 58 Teil A: Die Zeit nach 1945 In der 1970 erschienenen ‘Empfehlungen der Bildungskommission’ lautete die Leitfrage, wie sich Chancengleichheit und individuelle Förderung - auch der Hochbegabten in einem Bildungswesen verwirklichen lassen, das zugleich den Erfordernissen einer schnell sich wandelnden Welt Rechnung tragen muss. Der Bildungsrat votierte dabei sehr stark für die Einrichtung von Versuchsschulen, die auf der Basis von Ganztagsschulen organisiert sein sollten. Folgende Motive für die Versuche mit Ganztagsschulen stehen dabei im Vordergrund: 1. Der Mensch ist in zunehmendem Maße in komplexe und schwer übersehbare gesellschaftliche Zusammenhänge gestellt. Die Familie kann ihn nicht auf alle notwendigen Tugenden des öffentlichen Verhaltens hinreichend vorbereiten. Der Schule fällt daher in hohem Maße die Aufgabe zu, auf das Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Die herkömmliche Halbtagsschule kann diese Aufgabe aber nur ungenügend erfüllen, weil sie im wesentlichen auf den Unterricht beschränkt ist und deshalb zur Entwicklung vielfältiger Kommunikationsformen nur wenig beitragen kann. 2. In der BRD besteht eine Ungleichheit der Bildungschancen. In den Schulen gelingt es noch immer nicht, die unterschiedliche Herkunft zu ignorieren. 3. Trotz der Bemühungen vieler Lehrer bleibt die Schule gegenwärtig weitgehend auf den Unterricht beschränkt und überlässt die Hausaufgaben der Familie. Dies aber wiederum setzt familiäre Hilfen voraus, die bei weitem nicht in allen Familien geleistet werden. 4. Die heutige Gesellschaft benötigt Menschen, die die Fähigkeit zu Einzelarbeit mit der Bereitschaft zu Kooperation in der Gruppe verbinden. Die Schule geht zu wenig darauf ein. 5. Die Berufstätigkeit vieler Mütter aller sozialen Schichten hat das Problem der ‘Schlüsselkinder’ und des mit der Arbeit der Schule nicht verbundenen Hortes geschaffen. Die Schulleistungen der dort aufwachsenden Kinder zeigen, dass sie nur ungenügend gefördert werden und zu wenig Anregungen und Unterstützung erhalten. 6. Der Ausfall der Unterrichtszeit bei einer Verkürzung von einer 6 auf eine 5Tage-Woche kann nicht von der Halbtagesschule aufgefangen werden. 59 Teil A: Die Zeit nach 1945 7. In der gegenwärtigen Halbtagesschule bestehen kaum Möglichkeiten für eine zeitliche Flexibilität der Unterrichtsplanung (vgl. Deutscher Bildungsrat, 1970, S. 50-52). (2) Schule als Ort der Persönlichkeitsbildung und fachlichen Qualifikation. Aus diesen 7 Motiven heraus ergeben sich dann auch die Funktionen, die nach Ansicht des Bildungsrates eine Schule erfüllen muss: In hochtechnisierten Gesellschaften bedarf es zweier Grundsäulen der Qualifikation: die der individuellen Persönlichkeit und die der fachlichen Qualifikation. Die individuelle Persönlichkeitsbildung schließt das ‘persönliche Bildungsstreben’ mit ein und die fachlichen Qualifikation die ‘Berücksichtigung der technischen Zivilisation’. Gerade hinsichtlich der Erlangung der Hochschulreife liegt diesem Schulverständnis ein ‘doppelter Bildungsbegriff’ zu Grunde, der sich aus den Überlegungen von Wilhelm Flitner, Heinrich Holzapfel und Robert Ulshöfer53 (1961) herleitet: • Ein pädagogisch-theoretischer, der die humanistische Komponente beinhaltet und bestimmt wird durch - die menschlich-sittliche Reife54, - die formale Bildung55, - die Allgemeinbildung56. • Ein pragmatischer, der sich aus den Voraussetzungen für das wissenschaftliche Fachstudium herleitet. (3) Empfehlung für die Einrichtung von Gesamtschulen. Aus diesen schulfunktionalen Überlegungen heraus resultierte dann auch die Empfehlung für Einrichtung von Gesamtschulen. Sie stellt eine Schulform dar, die zugunsten einer größeren Chancengleichheit auch in einem weiteren Punkt zu einer ‘besseren Schule’ wird: durch eine größere Individualisierung soll die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Schülers gestärkt werden. 53 Vgl. hierzu: Flitner W., Holzapfel H. & Ulshöfer R. (1961). Die gymnasiale Oberstufe. Heidelberg: Quelle Meyer. 54 Gemeint sind hier Gründlichkeit, Zuverlässigkeit, ‘Lebensreife’. 55 Hier wird der Begriff der ‘Studierfähigkeit’ von W. Flitner übernommen. 56 Während der Grad der menschlich-sittlichen Reife wie der der Denk- und Urteilsfähigkeit nicht materiell fixierbar ist, sind die Anforderungen an die Allgemeinbildung im sogenannten Tutzinger Maturitätskatalog zwischen den Beauftragten der KMK und der westdeutschen Rektorenkonferenz 1958 vereinbart worden. 60 Teil A: Die Zeit nach 1945 Aufgrund der Empfehlungen sorgte der Bildungsrat mit seinen 18 Empfehlungen und über 50 Gutachten für wissenschaftliche und politische Kontroversen, die dann im Jahre 1975 zu seiner Auflösung führten. Es wird durch die Empfehlungen des Bildungsrates deutlich, dass, gesamtgesellschaftlich gesehen, das umfassende Bildungsziel die Befähigung des Einzelnen zu individuellem und gesellschaftlichem Leben sein sollte. Jeder sollte zur Wahrnehmung seiner Rechte und Pflichten befähigt werden sowie die Möglichkeit der freien Berufswahl haben. Eine weitere Zielkomponente sollten die Anforderungen der Gesellschaft an den Einzelnen abgeben. Demokratisierung unter Herstellung größtmöglicher Chancengleichheit war die generelle Leitlinie (vgl. Hamann, 1993, S. 244). Kennzeichnend für die Zeit der 60er Jahre ist, dass Problemwahrnehmung und bearbeitung primär politisch definiert wurden. Davon war auch die Bildung nicht ausgeschlossen und so wurde Bildungspolitik immer mehr zu einem relativ selbständigen Politikbereich, eingebunden in die seit 1969 versuchte Reformpolitik der sozialliberalen Koalition (vgl. Tenorth, 1988, S. 273). Damit verbunden war auch die Möglichkeit für Pädagogen gegeben, sich kritisch über das Schulwesen in der Bundesrepublik zu äußern. Einer dieser Pädagogen war Ivan Illich, ein Pädagoge, der sich durch seinen ‘radikalen Humanismus’57 (Fromm, 1972, S. 7) auszeichnete. b) Ivan Illich Im Jahre 1972 veröffentlichte Ivan Illich (geb. 1926) seine zwei Bücher ‘Schulen helfen nicht’ und ‘Entschulung der Gesellschaft’, die durch ihre Zweifel an der Wirksamkeit des Schulsystems kontroverse Diskussionen in der Fachwelt auslösten. „Durch Schulung ist allgemeine Bildung nicht erreichbar. Sie wäre eher erreichbar, würde der Versuch mit alternativen, im Stil auf den jetzigen Schulen aufbauenden Einrichtungen unternommen“ (Illich, 1972a, S. 13). (1) Defizite eurozentristisch verkürzter Schultheorien. 57 Erich Fromm erläutert den Begriff des ‘radikalen Humanismus’ im Vorwort des Buches ‘Schulen helfen nicht’ näher. 61 Teil A: Die Zeit nach 1945 Der ehemalige Priester dalmatinisch-österreichischer Herkunft und Gründer des Centro Interculutral de Documentation (CIDOC) in Cuernavaca (Mexiko) weist in seinen Aufsätzen immer wieder auf zwei wesentliche Defizite ‘disziplinär und historisch eurozentristisch verkürzter Schultheorien’ (vgl. Dauber, 1987, S. 108) hin: 1. Die unzureichende Analyse der ökonomischen, sozialen und kulturellen ‘Verschmelzungen’ der Idee und Praxis der Schule mit der Idee und Praxis des wissenschaftlichen Fortschritts. 2. Die systematische Vernachlässigung der Alltagserfahrungen von Schülern, Lehrern und Eltern58. Illich kann im eigentlichen Sinne nicht als Schultheoretiker bezeichnet werden. Wenn er trotzdem immer wieder genannt wird, dann deshalb, weil er schulische Defizite aufzeigt, die in dieser Form nur selten so klar und gründlich geäußert werden. Darüber hinaus argumentiert er immer wieder vom Blickwinkel eines Aussenstehenden, der die Schwächen der öffentlichen Schule so aufdeckte, wie es einem Autor, der nicht mit den Problemen der sogenannten dritten Welt vertraut gewesen wäre, sicherlich nicht hätte gelingen können. (2) Schule erliegt ihren sekundären Funktionen. Illich zeigte in seinen Aufsätzen immer wieder deutlich die Funktionen der Institution Schule auf. Er kritisierte, dass Bildung dann, wenn sie in der Pflichtschule institutionalisiert wird, ihren sekundären Funktionen59 erliegt. Diese sekundären Funktionen charakterisierte er folgendermaßen (vgl. v. Hentig, 1972, S. 7ff): • Schulbildung hat eine ‘Herrschafts-Eigenschaft’ und eine damit verbundene selektive Eigenschaft: Resultierend aus der Unterweisung, die mit der Benotung von bereits gelerntem und noch nicht gelerntem Unterrichtsstoff zusammenhängt, entsteht in den Schulen eine hierarchischen Gliederung, wobei sich die Schüler nach den Zielen der Lehrer richten, um mit den bestmöglichen Noten abzuschließen (vgl. Illich, 1972a, S. 30, 103). 58 Dies beklagt er vor allen Dingen bei empirischen Untersuchungen. Hentig hat die Funktionen in seinem Vorwort zur ‘Entschulung der Gesellschaft’ als ‘Eigenschaften’ bezeichnet. Ich wähle hier bewusst den Begriff ‘Funktion’ als Synonym, da sich die bisher aufgezeigten Schulfunktionen in den hier genannten Eigenschaften widerspiegeln. 59 62 Teil A: Die Zeit nach 1945 So dienen Schulen vor allen Dingen den Reichen und Privilegierten: Bezahlt von der Mehrheit, bevorteilen sie eine Minderheit. Den Beitrag zum Abbau von sozialer Ungleichheit kann das hierarchisch strukturierte System nicht leisten. • Schulbildung hat eine ‘kapitalistische Eigenschaft’: Sie ist akkumulierbar (sammelbar), gibt dem, der akkumuliert hat, einen prinzipiellen Vorteil über den, der weniger akkumuliert hat, und setzt, wie anderes Kapital, den Reicheren in die Lage, die Bildungsmittel zu monopolisieren - allein schon dadurch, dass eine länger dauernde Bildung, die der Ärmere sich nicht leisten kann, als die ‘höhere’ und bessere gilt (vgl. v. Hentig, 1972, S. 7). Illich kritisiert an dieser ‘kapitalistischen Eigenschaft’ besonders, dass die Auswahl für eine Aufgabe oder Kategorie am Arbeitsmarkt immer mehr von der Länge des Schulbesuchs abhängt (vgl. Illich, 1972a, S. 30), oftmals jedoch nicht von den individuellen Eigenschaften, die der Bewerber für die angebotene Arbeit mitbringt. • Schule hat eine ‘bürokratische Eigenschaft’: Schulen ähneln immer mehr Fabriken: möglichst groß, um rationell zu sein; möglichst differenziert, um arbeitsteilig und spezialisiert unterrichten zu können. In einer solchen nach dem Fabrikmodell organisierten Schule bleibt aktives, selbstdiszipliniertes Lernen auf der Strecke (vgl. Dauber, 1987, S. 108). • Schulbildung hat eine ‘beschwichtigende Eigenschaft’: Sie trennt nicht nur von der Erfahrung des bestehenden Unrechts, indem sie überhaupt von vieler Erfahrung trennt, sie nährt vor allem die Überzeugung, dass man jetzt, da man lernt, nichts tun könne, dass man aber in den Positionen der Kompetenz, die man durch sie erreicht, auch Macht haben werde - und dann werde sich das System ändern (vgl. v. Hentig, 1972, S. 8). (3) Bildung wird zur Schulbildung. Lernen als primäre Eigenschaft der Schule und die Zuweisung gesellschaftlicher Aufgaben als sekundäre Eigenschaft werden Illichs Ansicht nach zur Schulung verschmolzen. So wird Bildung zu Schulbildung. Bildung als Schulbildung, die die genannten Charakterzüge trägt, ist aber zum Gegenteil dessen geworden, was Menschen sich unter Bildung vorstellen und was in den Lexika, in den Präambeln und Theorien steht: ein Stück sozialer Determinismus (hier: Vorbestimmtheit) statt ein Akt geistiger Emanzipation (vgl. v. Hentig, 1972, S. 8). 63 Teil A: Die Zeit nach 1945 Die an Noten, Abschlüssen und Berechtigungen orientierte Lernpraxis der Schule sperrt die Erfahrung von Schülern, Lehrern und Eltern aus und ersetzt die selbständige Bearbeitung von Problemen durch die Gewöhnung an folgenlosen Wissenskonsum (vgl. Dauber, 1987, S. 109). Maßstab des schulischen Lernens ist der angestrebte Abschluss und diese Ergebnisorientierung wiederum Ausgangspunkt für den ‘heimlichen Lehrplan’. So „wird sich bald erweisen, dass die Schule mit Bildung etwa so viel zu tun hat, wie der Medizinmann mit der öffentlichen Gesundheitspflege“ (Illich, 1972b, S. 16). Illich bezeichnet die Schule als Einrichtung, die institutionalisierte Werte quantitativer Art vermittelt. Sie führt junge Menschen in eine Welt ein, in der alles meßbar ist: auch ihre Phantasie und sogar der Mensch selber. Persönliches Wachstum ist aber nicht eine meßbare Größe (vgl. Illich, 1972a, S. 64f). „Die Jugend will (jedoch) Bildungseinrichtungen, die ihr Bildung verschaffen. Sie will und braucht nicht bemuttert, bestätigt oder indoktriniert zu werden“ (Illich, 1972b, S. 20). Diese von ihm aufgezeigten Gegensätze zwischen Schulbildung und Bildung sind Ausgangspunkt für seine weiteren Überlegungen. Bildung ist für ihn „die Ausbildung eines unabhängigen Lebensgefühls und eine Bezüglichkeit, die Hand in Hand damit geht, dass die im Zusammenleben der Menschen aufbewahrten Erinnerungen zugänglich und nutzbar gemacht werden“ (vgl. Illich, 1972b, S. 21). Eine hierarchisch gegliederte Institution, die bestimmte Lerninhalte vorschreibt, kann diese Ausbildung seiner Ansicht nach jedoch nicht vermitteln. Derzeit besteht Schule aus fremdbestimmtem, sozial kontrolliertem Lernen und Leben, das es den Menschen lediglich gestattet, zu schaffen und zu vernichten, zu produzieren und zu verbrauchen. „Die Zukunft hängt jedoch mehr davon ab, dass die Menschen Institutionen schaffen, die ein Leben schöpferischen Tuns fördern, als dass sie neue Ideologien und technische Verfahren entwickeln“ (Illich, 1972a, S. 80f). Hier zeigt sich nun auch deutlich, welche Funktionen Illich der Schule zuschreibt: Schule hat als einzige Aufgabe, jeden Menschen so weit wie möglich zu bilden. Diese Bildungsfunktion steht aber im Widerspruch zu den Funktionen, die eine Schule erfüllt, die im Dienste der Gesellschaft steht. 64 Teil A: Die Zeit nach 1945 (4) Trennung von gesellschaftlichen und schulischen Interessen. Für Illich ergibt dieser Widerspruch nur eine logische Konsequenz: Gesellschaftliche Interessen und schulische Bildung müssen streng von einander getrennt werden. Immer wieder nennt er in seinen Aufsätzen die Trennung zwischen Kirche und Staat als mögliches Vorbild. Denn erst, wenn die jungen Menschen wieder um der Bildung willen in die Schule gehen, kann Schule auch bilden. Die Konsequenzen, die er sich aus einer strikten Trennung versprach, lassen sich bereits erahnen. Heinrich Dauber hat sie in seinem Aufsatz ‘Radikale Schulkritik als Schultheorie?’ in wenigen Sätzen skizziert (vgl. Dauber, 1987, S. 112): • Schulen müssen - solange es keine Alternativen für sie gibt - intern so verändert werden, dass der Lernraum für Schüler und Lehrer nicht länger auf die zumeist sterile Atmosphäre von Klassenzimmern und Schulgebäuden beschränkt bleibt, sondern sich in vielfältigen Aktivitäten in die umgebende soziale und natürliche Umwelt hinverlagert. • Damit relativiert sich die Bedeutung von lebenslang verbeamteten Lehrern, deren Kompetenz sich auf den Unterricht beschränkt. • Die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern muss nicht auf Über- und Unterordnung beruhen, sondern kann in der gemeinsamen Bemühung um Lösungen für reale gesellschaftliche Probleme zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit führen. • Schulisches Lernen muss nicht irrelevant für persönliches Lernen, gemeinschaftliches Handeln und gesellschaftliche Entwicklungen sein. Dies schließt auch die schrittweise Aufhebung der institutionellen Trennung von Lerngelegenheiten für Kinder und Jugendliche einerseits und Erwachsene andererseits mit ein. • Schulen dürfen nicht länger dazu dienen, hochgeschätztes und gesellschaftlich relevantes Wissen nur einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit zugänglich zu machen. • Schulen müssen ihre starren inneren Organisationsstrukturen auflockern. Es dient nur der sozialen Kontrolle, alle Kinder in altershomogenen Gruppen zur gleichen Zeit das gleiche lehren zu wollen. Heterogene Interessengruppen und flexible Zeitpläne sind Elemente stärker selbstbestimmten Lernens. • Schulen müssen von der Aufgabe entlastet werden, Berechtigungen für weiteres Lernen und Arbeiten zu vergeben. Dies bedeutet einen breiten Ausbau frei zugänglicher Lernmöglichkeiten für Erwachsene jeglichen Alters und unterschiedlichster Vorbildung. 65 Teil A: Die Zeit nach 1945 (5) Wege des Lernens. So etwa kann eine Schule aussehen, die neue Wege zum Lernen eröffnet. Diese ‘Wege des Lernens’ bilden die jungen Menschen, statt sie in bestehende Hierarchien einzuführen. Ivan Illich ist sich der Tragweite durchaus bewusst: „Die von mir vorgeschlagenen Bildungseinrichtungen sollen einer Gesellschaft dienen, die es noch gar nicht gibt“ (Illich, 1972a, S. 105). Auch wenn eine Trennung zwischen Schule und Gesellschaft nicht möglich scheint, enthalten die Überlegungen Illichs sicherlich einige Elemente, auf die eine Schultheorie in Zukunft nicht verzichten sollte. Mit Beginn der 70er Jahre kündigte sich eine instabile Wirtschafts- und Finanzpolitik an. Die Expansion im Bildungsbereich war davon, zumindest, was die Schülerzahlen auf den höheren Schulen anging, nicht betroffen. Immer mehr Kinder und Jugendliche besuchten Realschulen und Gymnasien, bisher benachteiligte Gruppen der Heranwachsenden, wie Landbewohner oder Mädchen, nahmen in zunehmendem Maße Bildungsangebote in Anspruch (vgl. Tenorth, 1988, S. 274f). Die Zeit der großen Reformen war jedoch vorüber. In der BRD häuften sich nun die Stimmen, die pädagogische, finanzielle und arbeitsmarktpolitische Konsequenzen der Reform und Expansion fürchteten. Mit der Ölkrise verschärften sich diese Stimmen, und der Bildungsrat, zunächst von allen Parteien gestützt, verlor diesen Rückhalt und wurde, wie bereits erwähnt, im Jahre 1975 abgeschafft. Eine genauere Analyse verschiedener Bildungsindikatoren zeigt an, daß die Zeit zwischen 1965 und 1975 die Periode der großen und schnellen Veränderungen war, die dann deutlich nachließen, jedoch - im Unterschied zur DDR - nie zum Stillstand kamen (vgl. MPI, 1994, S. 41). Es war auch eine Zeit, in der die Hauptschule eine Aufwertung erfuhr. Mit der Erweiterung des 10. Schuljahres können seitdem die Schüler, wie in die Realschule, den Abschluss der mittleren Reife erwerben. Aber an dieser Aufwertung zeigt sich auch ein Folgeproblem besonders deutlich: der Effekt der Abwertung von Qualifikationen. Während früher für den Zugang in bestimmte Berufe der Abschluss mittlerer Bildungseinrichtungen oder sogar der Haupt66 Teil A: Die Zeit nach 1945 schulabschluss ausreichend war, wurden die Zugangsschwellen für bestimmte Berufe immer höher gelegt. Insgesamt betrachtet waren die Jahre ab dem Ende des Deutschen Bildungsrates, verglichen mit den Bemühungen der 60er und frühen 70er Jahre, eine Zeit der Stagnation. Dennoch gab es natürlich auch in dieser Phase bedeutende Theoretiker, die die ‘schulfunktionale Diskussion’ aufgriffen. So stammt aus dem Jahre 1980 die bis heute sicherlich am weitesten ausgearbeitete interdisziplinäre Theorie der Schule60, vorgelegt von Helmut Fend (geb. 1940). c) Helmut Fend Der Autor begründet seine Hauptaussagen immer wieder mit umfangreichen empirischen Arbeiten, die den Fundus seiner Argumentation bilden. Fend versteht Schulen als ‘Institutionen’, wobei er allerdings terminologisch nicht näher auf den Begriff eingeht: „Unter Schulsystemen sollen Institutionen der gesellschaftlich kontrollierten und veranstalteten Sozialisation verstanden werden“ (Fend, 1980, S. 2) (vgl. Einleitung). (1) Gesellschaftliche Notwendigkeit der Erziehung. Eine Gesellschaft braucht Institutionen, die zur Lösung grundlegender Probleme beitragen, etwa zur Herstellung lebensnotwendiger Güter (wirtschaftliche Institutionen) oder zur Konfliktbewältigung (rechtliche und politische Institutionen). Durch die Notwendigkeit und Möglichkeit von Erziehung61, die aus der menschlichen Unfertigkeit resultiert, erklärt sich die Notwendigkeit von Erziehungs- und Schulsystemen. Ein solches gesellschaftliches System benötigt aber eine fundierte Grundlage, die Auskunft über seine Problemlösungsbeiträge in einer hochkomplexen Gesellschaft gibt. So erklärt sich die Notwendigkeit einer Institutionstheorie, in diesem Falle einer Theorie der Schule. Die Hauptaufgabe einer solchen Theorie ist es, zwischen veranstalteten und nicht veranstalteten Lernprozessen genau zu unterscheiden. Hier verweist Fend besonders auf das Problemfeld von ungeplanten Lernprozessen, von ihm als ‘heimlicher Lehrplan’ bezeichnet, die gleichzeitig die Grenzen absichtlicher Erziehung markieren (vgl. Fend, 1980, S. 5). 60 Fends Arbeit hat jedoch eindeutig einen soziologischen Schwerpunkt. Dieser zeigt auch deutlich den Schwerpunkt seiner Theorie an: die Grundzüge einer sozialwissenschaftlich orientierten Theorie von Schulsystemen haben seiner Ansicht nach immer einen soziologischen Schwerpunkt. 61 Hier nennt Fend anthropologische Voraussetzungen wie zum Beispiel Instinktarmut, Weltoffenheit, Lernfähigkeit. 67 Teil A: Die Zeit nach 1945 Von der Gesellschaft veranstaltete, also absichtliche Sozialisationsprozesse lassen sich seiner Ansicht nach in zwei Hauptsträngen darstellen: • Einmal mit Blick auf die Reproduktion der Gesellschaft, bei der in den Schulen eine systematische Resubjektivierung kultureller Objektivationen erfolgt. Dies schließt das Erlernen von notwendigen Qualifikation und Fertigkeiten mit ein. • Zum anderen mit Blick auf das Werden der Persönlichkeit, bei dem die jungen Menschen zu eigenständigen, kritischen und mündigen Bürgern erzogen werden sollen62 (vgl. Fend, 1980, S. 7). Um diesen Hauptaufgaben gerecht zu werden, erörtert Fend die gesellschaftlichen Funktionen des Schulsystems: die Qualifikationsfunktion, die Selektionsfunktion und die Legitimationsfunktion. Unter Qualifikationsfunktion versteht er in erster Linie die Aneignung von ‘Sockelqualifikationen’, die den jungen Menschen das rasche Erlernen konkret notwendiger Arbeitsqualifikationen ermöglichen (vgl. Fend, 1980, S. 28f). Das bedeutet, dass das Schulsystem Qualifikationen erzeugt, die im Arbeitsprozess profitbringend eingesetzt werden können. Hier übt der Staat Komplementärfunktionen für die Wirtschaft aus. So erklärt es sich, dass das Bildungssystem erheblich von wirtschaftlichen Interessen beeinflusst wird (vgl. Fend, 1980, S. 22f). Auch für Fend hat das Erziehungssystem die Aufgabe, als Bindeglied zwischen dem familiären und dem gesellschaftlichen Leben zu fungieren. Hieraus resultiert die Selektionsfunktion des Schulsystems: „Danach wird das Schulsystem als großes ‘Rüttelsieb’ konzipiert, das zwischen den Generationen eingebaut ist und zu einer Neuverteilung von Lebenschancen führt, in dem es den Zugang zu hohen oder niederen beruflichen Positionen und damit zu Prestige, Macht und Einkommen reguliert“ (vgl. Fend, 1980, S. 29). Fend bezeichnet die Selektionsfunktion als Nahtstelle zwischen Schule und Gesellschaft, wobei die Schule hier als Instrument für eine Sozialreform dienen kann. 62 Gleichzeitig warnt er aber vor dem Einfluss, den Bildungsinstitutionen auch im negativen Sinne haben können: „Bildungssysteme selber sind die größten Agenturen der sozialen Beeinflussung, die einem hochentwickelten Volk zur Verfügung stehen, sei es im positiven Sinne als Instanzen der Aufklärung und Liberalität, sei es negativ als riesige Agenturen der Propaganda und Verblendung, wie es unsere Väter noch erlebt haben“ (Fend, 1980, S. 98). 68 Teil A: Die Zeit nach 1945 Seine empirischen Studien zeigen jedoch, dass weiterhin ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung besteht (vgl. Fend 1974) und seine Prognosen in Bezug auf eine Neuverteilung, unabhängig von der sozialen Herkunft, sind pessimistisch: „Eines ist sicher: Das Schulsystem ist kein ‘Rüttelsieb’, das eine vollkommene Neuverteilung der Lebenschancen zwischen den Generationen vornimmt“ (Fend, 1980, S. 37). Besonders der Zwang der frühen Selektion (nach vier Grundschuljahren) und ein fehlendes Bemühen zum Ausgleich von familiär mitgebrachten Lerndefiziten, die seiner Ansicht nach schon viel früher ihren Ursprung finden, verhindern eine sinnvolle Neuverteilung der Lebenschancen durch die Schule. Die bestehende Chancenungleichheit ist somit ein gesamtgesellschaftliches Problem und kann nicht alleine durch die Schule gelöst werden (vgl. Fend, 1980, S. 38f). Wenn aber das Erziehungssystem nicht zum Abbau von gesellschaftlichen Ungleichheiten beiträgt, dann leistet es einen Beitrag zur Reproduktion der normativen Grundlagen von bestehenden Herrschaftsverhältnissen und hilft dabei, es zu legitimieren. Fend zeigt die Legitimationsproblematik an zwei Sachverhalten auf: einmal an der ungleichen Verteilung knapper Güter, zum anderen an der Anerkennung der politischen Instanzen. Die ungleiche Verteilung wird durch eine Leistungsideologie legitimiert, „nach der Ungleichheit das Ergebnis unterschiedlicher Anstrengung und unterschiedlicher Qualität des Menschen (z.B. Begabung) ist. [...] In die Leistungsideologie gehen Vorstellungen von der Chancengleichheit aller Menschen ein, wobei unterschiedliche Ergebnisse individuell geklärt werden: Wer es nicht schafft, der ist selber schuld und kann dafür niemanden verantwortlich machen“ (Fend, 1980, S. 45f). Diese ungleiche Verteilung, begründet durch die Leistungsideologie, kann aber nur dann funktionieren, wenn die Menschen nicht an der Legitimität dieser gesellschaftlichen Ordnung zweifeln. Hier zeigt sich die Verzahnung zwischen der Anerkennung der gesellschaftlichen Verteilung und der Anerkennung des politischen Systems. Das Schulsystem ist durch die unterschiedlich hoch bewerteten Schulabschlüsse an der Verteilung innerhalb der Gesellschaft beteiligt: „Im Verlauf seiner Schulzeit lernt der Schüler, diese Ungleichheit zu akzeptieren, indem er das Regelsystem der Zuordnungen zu unterschiedlichen Leistungspositionen und deren Verfahren (Prüfungen) zu akzeptieren lernt. [...] Selbst der degradierte Schüler fühlt sich schließlich 69 Teil A: Die Zeit nach 1945 als gerecht behandelt, da er sich als wenig begabt, als wenig fleißig und an Höherem uninteressiert einschätzt“ (Fend, 1980, S. 46). Fend macht trotz dieser massiven Kritik an der legitimatorischen Funktion deutlich, dass er nicht die radikale Meinung teilt, nach der diese Funktion ausschließlich kritisch zu beurteilen ist, fordert aber entschieden - und das zieht sich durch seine ganze Arbeit einen Abbau der gesellschaftlich bedingten Chancenungleichheiten und die damit verbundenen Menschenrechte der werdenden Menschen (vgl. Fend, 1980, S. 375f). (2) Schulische Erfahrungs- und Lernfelder. Die schulischen Funktionen dienen der ‘Institution Schule’ dazu, über ‘einen hochdifferenzierten Sanktionsapparat’ jene Ziele im Sinne der Erzeugung von Qualifikationen und Bewusstseinsstrukturen zu erreichen, die für die Reproduktion und Veränderung der Gesellschaft notwendig sind (vgl. Fend, 1980, S. 26). So sollen schulische Erfahrungs- und Lernfelder eröffnet werden, in denen Kinder und Jugendliche lernen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Er unterscheidet • das kulturelle Lernfeld, in dem die Übertragung kultureller Werte und Normen vorgenommen wird, • das soziale Lernfeld, in dem wichtige soziale Prinzipien gelernt werden sollen und das • institutionale und ökologische Lernfeld, in dem die jungen Menschen lernen, sich in einer für die Gesellschaft unentbehrlichen Institution zurechtzufinden. Da sich in diesen Lernfeldern auch die schulischen Funktionen wiederfinden, soll es der Institution Schule gelingen, die jungen Menschen zu mündigen Bürgern der Gesellschaft zu erziehen. Und genau hier setzt die Kritik Helmut Fends an: er stellt ein eindeutiges Übergewicht des Leistungsgedankens fest und bezeichnet die heutige Schule als ‘demokratisch-rational-leistungsorientiert’ (vgl. Fend, 1980, S. 165). „Im Bildungssystem sind wichtige ethische Traditionen institutionell nicht verankert und von daher tendenziell ausgeblendet. Gemeint ist das Sozialprinzip, das [...] die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Personen betont. Institutionell ausgeklammert ist auch das Humanprinzip, nach dem der Selbstwert der Person, der Selbstwert seines intellektuellen Strebens und die Unverletzbarkeit der Person im Mittelpunkt stehen“ (Fend, 1980, S. 161). 70 Teil A: Die Zeit nach 1945 (3) Ungleichgewicht zwischen Qualifikation und Persönlichkeitserziehung. Wieder schließt sich der Kreis: die Schule hat neben grundlegenden Qualifikationen und Fertigkeiten auch die Persönlichkeit der jungen Menschen auszubilden. Die Persönlichkeitsbildung schließt ethische Traditionen mit ein. Fend bezeichnet den Sozialcharakter der heutigen Schulen als „leistungsorientiertes Aufstiegssystem, das sich besonders durch das Fehlen von persönlichem Einsatz, Erlebnis-, Handlungs- und Erfahrungsarmut auszeichnet“ (vgl. Fend, 1980, S. 382). Im Rahmen der Erziehung muss es jedoch darum gehen, „Heranwachsende zu befähigen, ein selbstverantwortliches Leben zu führen und ihre Einsicht und Handlungsfähigkeit zu stärken, um an einem glücklichen Leben aller mitzuwirken“ (Fend, 1980, S. 382). Dieses Erziehungsziel nennt Fend Lebensbewährung. Aber nicht nur auf Zukunft bezogen, sondern auf das Leben in der Schule selbst (vgl. Fend, 1980, S. 383). Solange also wichtige Funktionen, die die Schule zu erfüllen hat, nicht in angemessener Weise berücksichtigt werden, solange kann die ‘Institution Schule’ ihr Ziel der Lebensbewährung gar nicht erreichen. Insgesamt betrachtet, erkennt man auch bei der Theorie der Schule Helmut Fends Schulfunktionen, die nicht neu sind. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen die Funktionen der Qualifikation, Selektion und Legitimation. Aber auch er betont die Mittlerfunktion der Schule, die die Kinder aus der Familie in die Gesellschaft führen soll. Diese Funktionen münden in die Hauptstränge der Qualifikation im Sinne von Fertigkeitslernen und dem Werden der Persönlichkeit im Sinne von Mündigkeit. Helmut Fend ist ein Befürworter der Gesamtschulidee, da er im hierarchischen System der Dreigliedrigkeit keine Möglichkeit sieht, soziale Ungleichheiten zugunsten von Chancengleichheit abzubauen. d) Theodor Ballauff „Die Geschichte der Schule ist ein Trauerspiel. Gemessen an dem, was man ihr auftrug und was man von ihr erwartete, enttäuschten ihre Institution und die Vorgänge immer aufs neue. Ja ihre beobachtbare, feststellbare 71 Teil A: Die Zeit nach 1945 Wirklichkeit bot oft den gegenteiligen Anblick zu ihrer postulierten Gestalt und Verfassung“ (Ballauff, 1982, S. 1). Mit diesen Worten beginnt Theodor Ballauffs (1911 - 1995), im Jahre 1982 verfasste und 431 Seiten starke Schrift, in der 31(!) verschiedene Funktionen der Schule systematisch analysiert werden. Er betont dabei, dass eine Kritik und entsprechende Reformen nur auf der Grundlage einer fundierten Theorie der Schule möglich sind: „Man muß wissen, was die Schule soll, weshalb man sie einrichtet, was ihre Aufgaben und Ziele sind und woran man deren Erfüllung messen kann. Man muß sich über die ‘Funktionen’ der Schule klar sein“ (Ballauff, 1982, S. 1). Denn das, was als Schule gesehen wird, hängt von den Funktionen ab, auf die hin Schule interpretiert und aus deren Synthese sie jeweils erkennbar wird (vgl. Ballauff, 1982, S. 2). (1) Vier schulische Hauptfunktionen. Zunächst unterscheidet Ballauff vier funktionale Hauptgruppen, unter die er die anderen subsumiert. Schule hat a) traditionelle (pervulgate/ triviale) gesellschaftliche Funktionen, b) kommunikative Funktionen, c) projektive Funktionen und d) paideutische (musische/ kulturelle) Funktionen. (a) Die traditionellen gesellschaftlichen Funktionen. Die traditionellen gesellschaftlichen Funktionen formulieren Aufgaben, die den Menschen als Mitglied in die Gesellschaft einführen sollen. Schule soll qualifizieren, reproduzieren, aber auch stabilisieren. Sie verleiht Rechte und Berechtigungen, sie zu besuchen kann zum Privileg werden. Sie soll tradierte Werte übermitteln und selektieren. Sie hat eine sozialintegrierende und auf das Leben vorbereitende Funktion. Insgesamt nennt der Autor 12 solcher Funktionen, denen die Schule als gesellschaftliche Institution gerecht werden soll. (b) Die kommunikativen Funktionen. Schule baut darüber hinaus auf einem personalen Verhältnis auf - sie möchte dem Schüler zur Personalität verhelfen und ihn in die Gemeinschaft integrieren: sie hat also eine personale, eine solidarisierende, aber auch eine sozialisierende und identitätskonstitutierende Funktion. Schule soll zudem die Kinder auch als Jugendliche und junge 72 Teil A: Die Zeit nach 1945 erwachsene Menschen begleiten. Sie soll Eltern und Öffentlichkeit von der Jugend entlasten. Schule gibt den Lehrern einen Beruf. Schließlich muss Schule eine propagandistische Funktion übernehmen, sie muss Dienstleistungen übernehmen. Ballauff erarbeitet 9 kommunikative Funktionen, denen Schule als Stätte der Begegnung von Menschen gerecht werden soll. (c) Die projektiven Funktionen. Schule wird um der Zukunft Willen eingerichtet. Sie soll dies durch Planung, Zielsetzung, Ausrichtung und Lenkung gewährleisten: hieraus ergeben sich vorausschauende, aber auch restriktive Funktionen, die alles verhindern sollen, was der geplanten Zukunft im Wege stehen könnte. Schule soll der Weltverbesserung dienen. Nicht zuletzt gehört hierher die ‘Reeducation’ nach dem zweiten Weltkrieg. Zusammen ergeben sich vier projektive Funktionen, die die Schule zu erfüllen hat. (d) Die paideutischen (bildenden) Funktionen. Gemeint ist die Gruppe der Funktionen, die pauschal mit ‘Bildung’ umschrieben werden können. Zentral werden hier die emanzipatorische Funktion, die partizipatorische Funktion, die theoretische Funktion genannt. Die Gruppe der paideutischen Funktionen umfasst insgesamt sechs Unterfunktionen. Aber auch diese vier Hauptgruppen mit ihren insgesamt 31 Funktionen können noch einmal unterschieden werden in solche Funktionen, die qualifizierender Art sind und solchen, die bildender Art sind. Beide Gruppen stehen einander oft antithetisch entgegen, so dass hier in der täglichen Schularbeit Widersprüche der Umsetzung zu erwarten sind. Ballauff warnt davor, von ‘fundamentalen Funktionen’ zu sprechen und damit eine Fundierungsstruktur einzuführen. Für ihn bilden die Funktionen eine kreisförmige Gegenseitigkeit, deren Systematik keinen Unterbau oder Überbau gestattet. „Das System der Funktionen, im ganzen betrachtet, wird durch seine Zyklik gekennzeichnet; damit ist viel gesagt. Nicht von einem Fundierungskonzept ist auszugehen, nach welchem es ein Fundament mit einem darauf aufbauenden Gefüge gibt, nicht von einem hierarchischem System, nach dem es eine zusammenfassende und richtungsweisende Spitze gibt, nicht von Basis und Überbau, sondern wir haben ein Ganzes vor uns, in welchem alles in kreisförmiger Abhängigkeit steht. [...] Keine Funktion und keine 73 Teil A: Die Zeit nach 1945 Gruppe von Funktionen fundiert oder dirigiert autonom ein von ihnen abhängiges Gefüge, sondern jede Funktion ist auf die andere angewiesen, wie sie selbst ins Ganze eingreift und sich einfügt“ (Ballauff, 1982, S. 424f). Dementsprechend ist auch keine lineare Deduktion möglich, auch wenn es so scheint, als könne man Folge-Funktionen ableiten. Die Gründe hierfür liegen in der Geschichtlichkeit des Schulwesens. In der Schule haben sich die Funktionen nach und nach herauskristallisiert und sind so miteinander verbunden, dass es nicht möglich ist, einzelne Funktionen losgelöst von anderen zu betrachten und zu bewerten. „Daher ist nur mit Vorbehalt die Formulierung von ‘konstitutiven Funktionen’ anzunehmen. Eher könnten wir sagen, dass geschichtlich diese Konstituität wechselt: Im Umschwung mit dem Ganzen geraten andere Funktionen in die Konstituität hinein, um wieder von anderen abgelöst zu werden. Mit der Präferenz wechselt auch das Gewicht der Funktionen“ (Ballauff, 1982, S. 424). (2) Widersprüche der Funktionen. Immer wieder zeigt Ballauff die Widersprüche auf, die sich aus den Funktionen ergeben. Dabei hebt er diejenigen Funktionen hervor, die sich auf den ersten Blick nicht miteinander gleichberechtigt verbinden lassen: 1. Der Widerspruch von qualifizierender und emanzipatorischer Funktion. 2. Der Widerspruch von formaler und materialer Chancengleichheit. 3. Der Widerspruch von normierter Leistung und individueller Bildung. 4. Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis. 5. Der Widerspruch zwischen Bürokratisierung und Verselbständigung (vgl. Ballauff, 1982, S. 403-405). Er begnügt sich jedoch nicht damit, diese Widersprüche zu nennen, sondern versucht sie auch aus anderen Blickwinkeln zu beleuchten und zu entkräften, wo dies angemessen erscheint. Eine Auflösung gelingt ihm letztlich jedoch nicht. Dazu kommt, dass es Funktionen gibt, die besonders gut und oft durchdacht sind und andere, die es nicht sind. Zu den gut artikulierten Funktionen gehören beispielsweise die qualifizierende und tradierende Funktion, nur zögernd wurde dagegen die retardierende oder indoktrinierende Funktion herausgearbeitet (vgl. Ballauff, 1982, S. 415). 74 Teil A: Die Zeit nach 1945 Schließlich ist noch die latente Funktion des geheimen Lehrplans zu nennen: „Die Schule lehrt immer mehr, als was ihr Lehrplan ausdrücklich formuliert. Normen, Werte, Umgangsformen, Arbeitstugenden werden vermittelt, ohne dass sie bewußt gemacht werden oder als Inhalt des Curriculums deklariert wären“ (Ballauff, 1982, S. 417). Wenn man nun aber die Betrachtung der Funktionen im Einzelnen verlässt und nach ihrem Zusammenhang fragt, so wird klar, dass sich die Funktionen, unabhängig davon, ob sie dominanter oder weniger dominant erscheinen, einander durchdringen und bedingen. Nur in diesem Mit- und Ineinander kann eine Theorie der Schule erklärt und bewertet werden (vgl. Ballauff, 1982, S. 420). Hier zeigen sich nun auch die Lösungen, die Ballauff vorschlägt, um das ‘Trauerspiel’ der Schule zu beenden. Die Widersprüche müssen aufgelöst werden und die einzelnen Funktionen so miteinander verbunden, dass Bildung und Qualifikation ermöglicht werden: „Die simple Zielsetzung der Sozialisation: Qualifikation und Identität wird sie (die Schule) in ihrer eruditiven (gelehrsamen) Funktion in selbstlose Verantwortung der Wahrheit zu verwandeln trachten, eingedenk der Unbezielbarkeit der Bildung. Ein Kranz von konvertierten (in sich verschachtelten) Funktionen kann und muß diese Mittelbarkeit, Unplanbarkeit und Unbewirkbarkeit der Bildung ermöglichen. Ja alle Funktionen können mehr oder minder ihre Konversion dadurch erreichen, dass sie zu jener Ermöglichung beitragen“ (Ballauff, 1982, S. 431). Trotz dieser Vielzahl von Funktionen, die das Werk Ballauffs auf den ersten Blick als einen Versuch erscheinen lassen, die Schule in ihren Aufgaben zu überfrachten, lassen sich die Strukturen nach näherem Hinsehen so bündeln, dass vier Hauptaufgaben zu erkennen sind, in denen sich sowohl die gesellschaftlichen, als auch die bildenden Aufgaben widerspiegeln, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Schultheorie ziehen und im Folgenden mit Bildungs-, Mittler-, Orientierungs- und Selektionsfunktion umschrieben werden sollen. (3) Ungleichgewicht zu Gunsten der Qualifikationsfunktion. Ballauff wehrt sich energisch gegen eine Hierarchisierung der Funktionen und betont dagegen die Gleichrangigkeit aller von ihm erarbeiteten Funktionen. Aber gerade zwi- 75 Teil A: Die Zeit nach 1945 schen den Funktionen qualifizierender Art und denen bildender Art entsteht immer wieder ein Ungleichgewicht zu Gunsten der Qualifikation in der schulischen Realität. Dieses Ungleichgewicht muss abgebaut werden, damit Schule den jungen Menschen die Möglichkeit gibt, sich zu bilden, anstatt diese zu bilden oder gar zu sozialisieren (vgl. Ballauff, 1982, S. 10). Dann löst sich auch der Widerspruch auf, der sich scheinbar zwischen der Forderung nach Qualifikation und Persönlichkeitsbildung der nachfolgenden Generation ergibt. So kann Schule auch den vielen von ihr aufgetragenen Aufgaben gerecht werden, ohne überfordert zu sein. Doch nicht nur Helmut Fend und Theodor Ballauf kritisierten das bestehende Schulsystem zu Beginn der 80er Jahre. So konstatieren beispielsweise auch Klaus Klemm, Hans-Jürgen Rolff und Klaus-Jürgen Tillmann in ihren Überlegungen, dass die Schule als „lebensfern, handlungsarm, entsinnlicht, einseitig rationalistisch, [...], als Lernknast, als Sortiermaschine oder auch als totale Institution gesehen“ wird (Klemm, Rolff & Tillmann, 1985, S. 11). Hartmut von Hentig fordert vehement eine Rückkehr der Schule zur Pädagogik und bemängelt, dass diese Schule notwendige Veränderungen63 verpasst hatte. Selbst die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde nicht zu grundlegenden Überlegungen im Schulwesen genutzt; statt dessen wurde den neuen Bundesländern das alte System mit all seinen Schwierigkeiten übergestülpt. So ist es auch kaum verwunderlich, dass in den neunziger Jahren die Kritik an einem Schulsystem immer lauter wird, das als ‘einäugig, bald sogar blind’ (Zeitpunkte, 1996) bezeichnet wird. Die Diskussion über eine Schule, die ihren Aufgaben nicht mehr nachkommt, wird nun auch über die Fachkreise hinaus diskutiert. Dennoch bleibt in den meisten Fällen eine genaue und fundierte Zuweisung von schulischen Aufgaben aus. Im Jahre 1993 meldet sich Hartmut von Hentig mit seinem Buch ‘Die Schule neu denken’ zu Wort, das die heutige Schulsituation treffend charakterisiert. e) Hartmut von Hentig Obwohl kaum ein anderer deutscher Pädagoge in diesem Jahrhundert mehr über Schule geschrieben hat wie der 1925 geborene Hartmut von Hentig und er zu den wenigen gehört, die ihre Vorstellungen in die Praxis umsetzen konnten, wird er von vielen Autoren 76 Teil A: Die Zeit nach 1945 nicht als Schultheoretiker genannt. So wird ihm vorgeworfen, dass er in der Erziehungswissenschaft nicht eindeutig zuzuordnen ist und kein eindeutiges Theoriegebäude hinterlassen hat (vgl. Winkel, 1997, S. 53). Dennoch äußert er sich in zahlreichen Schriften über die Aufgaben, die die öffentliche Schule seiner Ansicht nach zu erfüllen hat. Insbesondere das Buch ‘Die Schule neu denken’ kann als Zusammenfassung seiner Überlegungen betrachtet werden. Darüber hinaus zeigt er auch, wie theoretische Überlegungen konsequent in die Praxis übertragen werden können. Das von ihm geschaffene Schulmodell der Bielefelder Laborschule versucht seit über 20 Jahren deutlich zu machen, wie eine Schule arbeitet, die den Prinzipien eines Pädagogen folgt, der die Bedürfnisse der jungen Menschen in den Vordergrund rückt. Annemarie von der Groeben bezeichnet die Bielefelder Laborschule als ‘Zipfel einer besseren Welt’, das heißt als einen Ort, an dem die Lehrer versuchen, die Probleme der Kinder ernst zu nehmen, diese aufzugreifen, um gemeinsam mit ihnen nach Lösungen zu suchen (vgl. v.d. Groeben, 1991, S. 91f). „Die Aufgabe der Schule in einer Demokratie ist es, aus Kinder und Jugendlichen politikfähige, politikbereite und verantwortungsbewußte Menschen zu machen und die Kultur weiterzugeben - zusammen: der nächsten Generation zu helfen, in der Welt, in der sie lebt, erwachsen zu werden“ (v. Hentig, 1993, S. 17). (1) Minima Paedagogica. Hentig nennt immer wieder verschiedene Erwartungen, die er an eine Theorie der Schule hat und macht deutlich, wie die Schule von ihm geforderte Ziele erreichen kann. Er skizziert dabei verschiedene Grundaufgaben, die er ‘Minima Paedagogica’ nennt. Weil die Schule für die Mehrheit der Kinder für den größten Teil des Tages der wichtigste Aufenthaltsort und Schullernen die beherrschende Lernart ist, wird sie der Ort sein, an dem lebensnotwendige Erfahrungen ermöglicht werden. Diese können aber nur gemacht werden, wenn die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ernst genommen werden. Dafür muss sich die Schule nach außen öffnen und die Lebenswelt der Menschen berücksichtigen, die sich täglich in der Schule aufhalten. Leben und Lernen dürfen seiner Ansicht nach nicht mehr getrennt werden. Hierzu gehört aber auch, dass die Kinder die wichtigsten Merkmale der pluralistischen Gesellschaft kennenlernen. Nur so 63 Gemeint sind hier die immer noch bestehende Chancenungleichheit im Bildungswesen, hierarchische 77 Teil A: Die Zeit nach 1945 werden sie die Vielfalt der Meinungen bejahen können und die Würde des Einzelnen achten. (2) Schule als polis. Die Schule als polis64, also als ein Ort, an dem die Komplexität der Gesellschaft im ‘Kleinen’ wiedergegeben wird, kann den jungen Menschen befähigen, am Modell der Gemeinschaft die Grundbedingungen des friedlichen, gerechten, geregelten und verantworteten Zusammenlebens mit allen seinen Schwierigkeiten zu üben. Da Schule ein überschaubares Gemeinwesen ist, können hier grundlegende Erfahrungen der Gemeinschaft und der Demokratie nicht nur gelernt, sondern auch gelebt werden. Die Kinder organisieren sowohl ihre Klassengemeinschaft (Gruppeninnenpolitik), als auch ihr Verhältnis zu den anderen Klassen selbst (Gruppenaußenpolitik). Es gibt eine Schülerschiedsinstanz und einen gewählten Lehrer, der auf Einhaltung demokratischer Prinzipien achtet. Somit wird die Schule zum Lebens- und Erfahrungsraum mit dem Ziel, „sie auf die Welt vorbereiten, wie sie ist, ohne sie der Welt zu unterwerfen, wie sie ist“ (v. Hentig, 1993, S. 183). Hier wird die Mittlerfunktion deutlich, die die Schule hat: „Die Schule ist eine Brücke zwischen der Kleinfamilie, in der das Kind im Vorschulalter groß geworden ist, und den meist massenhaft organisierten Systemen des gesellschaftlichen Lebens - des Ausbildungs- , Berufs-, Verbrauchs-, Herrschafts-, Verkehrs- und Informationssystems und anderer“ (Hentig, 1993, S. 228). (3) Schule als Ort des Lernens. Immer wieder macht Hartmut von Hentig deutlich, dass es die Hauptaufgabe der Schule ist, Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. Schule ist in erster Linie ein Ort des Lernens: „Aber auch die Schule als Lebens- und Erfahrungsraum ist eine Schule - ein Ort, an dem wichtige Kenntnisse erworben, Fähigkeiten entwickelt und geübt, Vorstellungen geordnet werden. Die Schüler werden auf das Leben Gesellschaftsstrukturen, Rückständigkeit der Inhalte und Verfahren (vgl. v. Hentig, 1987, S. 12). 64 Das Wort ‘polis’ verweist auf die Strukturen der altgriechischen Stadtstaaten. Kritisch muss jedoch, wie bereits bei Peter Petersen, bemerkt werden, dass die Metapher der polis mehr beinhaltet als nur die positiven Seiten des Stadtstaates Athen. Denn der Stadtstaat war auch ein Platz, an dem es Sklaven und entrechtete Frauen, quälende Kultriten und Verbannungen gab. Wenn Hentig von der polis spricht, meint er zwar sicherlich nicht die dunklen Seiten dieser polis, dennoch scheint der Begriff im Zusammenhang mit seinen schultheoretischen Überlegungen nur bedingt geeignet zu sein. 78 Teil A: Die Zeit nach 1945 danach vorbereitet; sie erfahren, wie die Gesellschaft ihre Leistungen einschätzt, welche Rollen und Aufgaben für sie bereitstehen, welche Chancen sie haben und welche nicht. Und auch darin bleibt sie eine Schule, daß sie sich in besonderem Maß um Dialog bemüht, diese oder jene weiterführende Schule oder Ausbildung zu bewältigen. Sie hilft ihnen, eine vernünftige Wahl unter den verschiedenen Laufbahnen - den Berufen und Ausbildungsstätten - zu treffen. Dies aber bleibt jenem Programm untergeordnet, das ich einmal die Menschen stärken, die Sache klären genannt habe“ (v. Hentig, 1993, S. 232). Denn nur dadurch, dass die jungen Menschen Kenntnisse erwerben, können sie die Welt verstehen. Und nur wer die Welt versteht, kann sich seines ‘Verstandes vernünftig’ bedienen. Schule als Lernort thematisiert die kulturellen Errungenschaften und befähigt dazu, diese kritisch zu bewerten und neu zu gestalten. Nur eine Schule, die das Leben der Kinder und Jugendlichen ernst nimmt und somit als Lebensraum Erfahrungen bietet, wird eine Schule sein, in der gelernt wird. So wenig wie möglich Belehrung, so viel wie möglich eigene Erfahrungen (vgl. v. Hentig, 1993, S. 226) machen aus Kindern und Jugendlichen politikfähige, politikbereite und verantwortungsbewusste Menschen. Dass aber die Schule überhaupt zum Lebensort der Kinder und Jugendlichen wird, erklärt sich damit, dass es in einer Gesellschaft, in der die technologischen Errungenschaften immer differenzierter und undurchschaubarer werden, unmöglich geworden ist, ‘am Leben zu lernen’. Kinder haben in vielen Fällen nicht mehr die Möglichkeit, durch den Umgang mit Menschen, mit Tieren, mit der Natur überhaupt, mit Werkzeugen und Maschinen, die man verstehen lernte, alltägliche Dinge zu lernen. Dies war früher die Aufgabe des Lebens, heute ist es die Aufgabe der Schule. „Und weil das so ist, weil unser Leben so technisiert und organisiert ist, daß Kinder es eben nicht mehr am Leben lernen können, schickt man sie immer länger in die Schule; diese wird, ob man will oder nicht, zur Bewahranstalt“ (vgl. v.d. Groeben, 1991, S. 78). (4) Verfechter der späten Differenzierung. Für Hartmut von Hentig sind die hier genannten Aufgaben nicht voneinander zu trennen. Seine Schule ist ein Ort, in der die Schüler so spät wie möglich getrennte Wege gehen. Erst am Ende der Schullaufbahn ist es seiner Ansicht nach sinnvoll, ein individuelles Lernprofil auszubilden. Eine Differenzierung, wie sie im dreigliedrigen Schulsystem (nach Jahrgängen) oder in Gesamtschulen (nach Kursen) erfolgt, wird in Bielefeld 79 Teil A: Die Zeit nach 1945 abgelehnt. An der Laborschule soll allen Schülern eine gemeinsame Bildung gegeben und besondere Leistungsbedürfnisse möglichst durch zusätzliche Angebote befriedigt werden. Wenn die Schule individuelle Lernwege ermöglicht, so schließt dies auch die Abschlüsse mit ein. Auch für Hartmut von Hentig hat die Schule die Aufgabe, die jungen Menschen in der Gesellschaft zu verteilen. Dies kann jedoch nicht durch das System der Benotung geschehen, sondern die Schüler erhalten an Stelle der klassischen Notenzeugnisse sogenannte Beurteilungen (Berichte zum Lernvorgang), in denen ihre individuellen Fortschritte beschrieben werden. Diese Beurteilungen geben darüber genau Auskunft, was bisher gelernt wurde. Sie thematisieren nicht nur den Fortschritt im Sinne des Fertigkeitslernens, sondern auch das soziale Verhalten und das Engagement, das der jeweilige Schüler zeigt. Diese Art der individuellen Beurteilungen kann nicht vergleichend sein und es ist somit auch nicht möglich, ein Zeugnis im Sinne von Ziffernnoten auszustellen. Auch bei Hartmut von Hentig erkennt man deutlich die schulischen Aufgaben: bei ihm steht die Bildung des jungen Menschen zu sich selbst im Mittelpunkt, die ihn gleichzeitig als gesellschaftsfähigen Menschen aus der Schule entlässt. Diese beiden Funktionen sieht Hartmut von Hentig untrennbar verbunden mit der Orientierung an der ‘wirklichen Welt’. Diese erfordert jedoch auf Grund der gesellschaftlichen Strukturen eine Verteilung innerhalb der Gesellschaft. Diese Verteilung ergibt sich aus dem individuellen Bedürfnis eines jeden jungen Menschen, wobei eine breite und gleiche Allgemeinbildung Voraussetzung ist. Aus diesem Grunde ist ein selektives Schulsystem nicht geeignet, die jungen Menschen zu verantwortungsbewussten, politikfähigen und politikbereiten jungen Menschen zu machen. Hieraus resultiert die Forderung einer späten Differenzierung innerhalb einer Schule mit individuellen Profilabschlüssen. Zusätzlich nennt von Hentig die Notwendigkeit der Aufbewahrungsfunktion, die sich aus den Lebensbedingungen vieler Kinder und Jugendlichen ergibt. f) Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft „Als ich im Sommer 1992 die Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’ berief, ging es mir um den Versuch, eine Diskussion in Gang 80 Teil A: Die Zeit nach 1945 zu bringen, die über die Tagesaktualitäten hinaus weit in die Zukunft weist. Wir haben heute mit gesellschaftlichen Umbruchsituationen zu tun, die allen viel abverlangen. Bildungspolitik muß wieder zu einem wichtigen Thema werden in einer Welt, die sich mit großer Dynamik verändert“ (Rau, 1995, S. V). Die Denkschrift der Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’65, die seit 1995 vorliegt, versucht Leitvorstellungen und Empfehlungen zu formulieren, wie eine Schule als Haus des Lernens organisiert werden kann. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass die Reformvorhaben der 70er Jahre keine so starke Wirkung (wie erwartet) entfalten konnten, dass eine grundlegende Veränderung der Arbeit in den Einzelschulen erreicht worden wäre. „Die Kommission hat sich von der Vorstellung tragen lassen, dass Schule der Zukunft ein Ort sein wird, wohin Kinder und Jugendliche gerne gehen sollen, den sie bereichert durch neue Erfahrungen und Kenntnisse verlassen, dazu motiviert, neue und andere Orte des Lernens kennenzulernen“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 78). (1) Ausgestaltung der Lernkultur. Die Kommission versucht, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse aufzuzeigen und die dafür notwendigen Bildungsinhalte zu skizzieren. Dazu zählen: • der Anspruch der Selbstbestimmung, • diesen auch für die Mitmenschen anzuerkennen, • Mitverantwortung für die gesellschaftlichen Prozesse zu übernehmen, • eigene Ansprüche in Relation zu anderen Ansprüchen zu stellen (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. XII). Hier zeigen sich deutlich die Aufgaben, die einer öffentlichen Schule zukommen: 65 Die Mitglieder der Kommission setzten sich zusammen aus: Universitäten, Städte, dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Brandenburg, der Deutsche Bank, des Volkswagenwerkes, der Bertelsmannstiftung, der IBM Deutschland, Industriegewerkschaft Metall, dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie sowie dem persönlichen Beauftragten des Ministerpräsidenten des Landes NRW. Im Einzelnen handelte es sich um: Prof. Dr. Grotemeyer (Vorsitz), Prof. Dr. Buttler, Prof. Dr. Dalin, Prof. Dr. Faulstich-Wieland, Erich Frister, Prof. Dr. Hurrelmann, Prof. Dr. Jacobi, Prof. Dr. Klafki, Hilmar Kopper, Dr. Langemeyer, Dr. Liket, Prof. Dr. Metz-Göckel, Prof. Dr. Dr. Meyer-Dohm, Prof. Dr. Mittelstraß, Reinhard Mohn, Prof. Dr. Rolff, Eva Rühmkorf, Gisa Schulte-Wolters, Dr. Trier, Elisabeth Vogelheim, Prof. Dr. Wasna, Prof. Dr. Von Weizsäcker, Dr. Meyer-Hesemann. 81 Teil A: Die Zeit nach 1945 • Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung, die jedoch zusammen gesehen und vermittelt werden66. • Fachliches und überfachliches Lernen, das in einem Folgeschritt ins Gleichgewicht gebracht werden muss. • Soziales Lernen auf allen Ebenen. • Anwendungsorientiertes Lernen, das mit Bezug zu biographischen, historischen und umweltbezogenen Erfahrungen realisiert wird. • Das Finden der eigenen Identität und die Achtung der Integrität anderer (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. XIV). Schule soll sich auf das Lernen konzentrieren, jedoch nicht im Sinne einer ‘historisch überwundenen Lernschule’, sondern durch die Ausgestaltung einer Lernkultur, die Mittelpunkt der erzieherischen und sozialen Aufgaben sein kann. Der Lernbegriff der Kommission zielt darauf ab, in den Lernzusammenhängen Identitätsfindung und soziale Erfahrungen zu ermöglichen. Das entspricht nicht mehr dem traditionellen Lernbegriff, der von einem festen, geschlossenen Wissenskanon und einem auf seine Vermittlung hin organisierten Unterrichtsplan ausgeht und an einem - auf Lernergebnisse im Sinne von Reproduktion - überprüfbaren Wissen orientiert ist (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. XIV). Deshalb sollen Fachwissen und Alltagsfragen künftig zusammen gesehen werden. (2) Die ‘Neue Ordnung des Lernens’. Die Kommission geht davon aus, dass die von ihr für notwendig erachtete neue Ordnung des Lernens bestimmt wird durch 1. fachliches und überfachliches Lernen in Dimensionen. 2. Offenheit für aktuelle Schlüsselprobleme. 3. Erwerb von Schlüsselqualifikationen. 4. Erwerb von Kulturtechniken. (3) Fachliches und überfachliches Lernen in Dimensionen. Die Bildungskommission stellt klar heraus, dass Lernen in Zusammenhängen geschehen muss, 1. die auf fachlichen Strukturen aufbauen oder diese umfassen; 66 Hier wird der Hauptkritikpunkt Helmut Fends an der öffentlichen Schule wieder aufgegriffen. 82 Teil A: Die Zeit nach 1945 2. die auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen bezogen werden können; 3. die in der Gesellschaft langfristig relevante Problemstellungen aufgreifen. Diese Zusammenhänge werden als ‘Dimensionen des Lernens’ bezeichnet und haben den Erwerb des ‘intelligenten Wissens’67 zum Ziel. „Die Dimensionen sind keine Fächer, Lernbereiche oder Unterrichtsthemen. Dimensionen sind dynamische, nicht streng voneinander abgegrenzte Perspektiven, in denen Menschen ihre Wirklichkeit erfahren, sie erkennen, sich mit ihr auseinandersetzen, sie gestalten. Sie eröffnen bestimmte Denkund Erschließungsmöglichkeiten von Welt, die sich wechselseitig ergänzen, aber auch in Frage gestellt werden können. Sie sollen für die Unterrichtsgestaltung einen festen Bezugsrahmen bilden“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 107). Ein solches Lernen in Dimensionen bildet den Ausgangspunkt zur Identitätsbildung des Individuums und der Individuen in ihren wechselseitigen Beziehungen zueinander. Insgesamt stellt die Kommission sieben Lerndimensionen zur Diskussion: 1. Die Lerndimension Identität und soziale Beziehungen, eigene Körperlichkeit und Psyche. 2. Die Lerndimension Kulturelle Tradition: Weltbilder, Wissenschaften, weltanschauliche Gemeinschaften, Kulturen. 3. Die Lerndimension Natur, Kunst und Medien: Gestaltender Umgang mit Materialien, Konstruktion und Rekonstruktion, Informieren, Manipulieren, Inszenieren und Schaffen, Erleben von Natur und Kunst. 4. Die Lerndimension Sprache, Kommunikation: Sprache als Medium des Ausdrucks und der Verständigung, Wege und Medien der Kommunikation, Internationalisierung der Lebensverhältnisse. 5. Die Lerndimension Arbeit, Wirtschaft, Beruflichkeit: Fremdbestimmung und Selbstverwirklichung in der Arbeitswelt, ökonomische Sachzwänge und Gestaltbarkeit wirtschaftlicher Verhältnisse, Beruflichkeit als Lebens- und Bildungsform. 6. Die Lerndimension Demokratie: Verantwortete Entscheidungen, Beteiligung an der Gestaltung der Wirklichkeit. 7. Die Lerndimension Ökologie: Umgang mit der Welt der heute lebenden und der folgenden Generationen. 67 Der Begriff wird im Anschluss näher erläutert. 83 Teil A: Die Zeit nach 1945 (4) Offenheit für aktuelle Schlüsselprobleme. „Die aktuellen Problemlagen und Konflikte, die in der Regel mit den großen Problemen gegenwärtiger und zukünftiger Gesellschaft zusammenhängen, können als ‘Schlüsselprobleme’ thematischer Bezugsrahmen für das Lernen in bestimmten Zeitabschnitten sein“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 112). Schlüsselprobleme der Gegenwart können kein abgeschlossenes System bilden. Ein auf Schlüsselprobleme orientierter Unterricht kann auch nicht an die Stelle fachlicher Orientierung treten. Die Kommission betont dagegen die Notwendigkeit zeitlich begrenzter Sequenzen innerhalb ‘eines an Schlüsselproblemen orientierten Unterrichts’. Zu den Schlüsselproblemen zählen beispielsweise die Kriegs- und Friedensproblematik, die Umweltfrage, das Verhältnis der Generationen, die Möglichkeiten und Gefahren des Technischen und Ökonomischen, das Thema Arbeit, Berufswahl, Arbeitslosigkeit oder die soziale Ungleichheit. (5) Erwerb von Schlüsselqualifikationen. „Schlüsselqualifikationen sind erwerbbare allgemeine Fähigkeiten, Einstellungen und Strategien, die bei der Lösung von Problemen und beim Erwerb neuer Kompetenzen in möglichst vielen Inhaltsbereichen von Nutzen sind“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 113). Gemeint sind hier Fähigkeiten wie Erkenntnisinteresse und eigenständiges Lernen, die Reflexion und Optimierung der eigenen Lernprozesse und damit die Fähigkeit dazuzulernen, das Zutrauen in die eigene Selbstwirksamkeit als Grundeinstellung, Flexibilität, Fähigkeit zur Kommunikation und zur Teamarbeit, kreatives Denken. Schlüsselqualifikationen sind nicht auf direktem Wege zu erlernen, sondern müssen in Verbindung mit ‘intelligentem Wissen’ aufgebaut werden, welches das Resultat der ‘Lernkompetenz’68 ist. (6) Erwerb von Kulturtechniken. Schließlich betont die Kommission die Notwendigkeit der Sicherheit in den Kulturtechniken, wobei sie diesen Begriff sehr stark erweitert: Über die elementaren Techniken 68 Auch diese werden im Anschluss näher erläutert. 84 Teil A: Die Zeit nach 1945 (Lesen, Schreiben, Rechnen) hinaus, geht es um eine Vielzahl von Instrumenten der Wissensaneignung, angefangen bei der Beherrschung von Arbeitsformen, über Informationserschließung und Darstellungs- und Schreibformen, bis hin zum kompetenten Umgang mit Bibliotheken und neuen Verfahren der Exploration. (7) Lernkompetenz und intelligentes Wissen. Diese ‘neue Ordnung’ des Lernens führt zum Aufbau von Lernkompetenz, dem zentralen Ziel der Schule. Der Aufbau von Lernkompetenz ist nur möglich im Erarbeiten konkreter Lerninhalte und in der Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben. Wissensinhalte, die in diesem Sinne angeeignet werden, stellen das eigentliche Ziel des Lernens dar, nämlich ‘intelligentes’ Wissen. Lernkompetenz hat folgende übergeordnete Merkmale: Lernen wird selbst gesteuert, ist auf einen Dialog angewiesen, ist ein interaktiver Prozess, setzt Selbstinitiative voraus, wird als Lernarbeit verstanden. Das schließt aber ein, dass Schule auf die besonderen Bedürfnisse der Schüler ausgerichtet ist. „Der Aufbau von Lernkompetenz stellt keine Alternative zum Erwerb inhaltlichen Wissens dar, sondern ist nur möglich im Erarbeiten konkreter Lerninhalte und in der Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben. Aufgaben sind um so anspruchsvoller, je weniger eine einzige vorher definierte Lösung feststeht und je weniger der Lösungsweg bekannt ist. Wissensinhalte, die in diesem Sinne reflektiert angeeignet werden, werden in der Lernpsychologie als ‘intelligentes Wissen’ bezeichnet“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 90). In diesem Sinne wird die Schule ein Haus des Lernens, das aber als Institution nur bescheidene Einwirkungsmöglichkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung hat. Institutionelle Selbstkritik und ein neuer Optimismus gegenüber den immer schwerer werdenden Aufgaben des Lebens sind die Möglichkeiten und zugleich die Grenzen der Schule. Wie Hartmut von Hentig auch, spricht die Kommission von der Schule als Lebensraum, wobei das Spektrum des Lernens nicht völlig neu definiert werden muss. Dennoch bedarf es einer Erweiterung dieses Spektrums, das zudem eine Neuordnung des LehrerSchüler-Verhältnisses betrifft: „Der neue Begriff dafür kann ‘Coaching’ lauten. Schule wird für Lehrende und Lernende zum gemeinsamen Erfahrungsraum“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 85). So wird Schulbildung auch Grundlage für lebenslanges Lernen. 85 Teil A: Die Zeit nach 1945 Möglichst alle Jugendlichen sollen einen förmlichen Abschluss der Sekundarstufe I erhalten. Wo dies nicht möglich ist, werden Leistungen bescheinigt und können später erweitert werden. Dazu wird es notwendig sein, eine breite Palette von Schularten mit den unterschiedlichsten Profilen anzubieten. Die Kommission schlägt weiterhin vor, für Schüler mit besonderen Begabungen, Neigungen und Interessen, Einzelschulen mit besonderen inhaltlichen und organisatorischen Profilen einzurichten. Die gymnasiale Oberstufe soll eine individuelle Profilbildung ermöglichen; die Einbeziehung neuer Fächer wird notwendig. Die Schule der Zukunft setzt Weiterbildung voraus, und Weiterbildung setzt eine Schule der Zukunft voraus, in der die Entfaltung der Lernkompetenz als zentrale Aufgabe angesehen wird. „Es kann also nicht sein, dass in dem Haus des Lernens vorrangig auf Prüfungen, Abschlüsse und Berechtigungen hin gelernt wird“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 85). Insgesamt werden auch in der Denkschrift der Bildungskommission NRW die traditionellen Aufgaben der Schule deutlich: Schule als Haus des Lernens muss das Ziel haben, diese Aufgaben zu vernetzen und so zu gestalten, dass sich die jungen Menschen individuell bilden können, dass sich der Lernstoff an den Schlüsselproblemen der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen orientiert, dass Schlüsselqualifikation neben elementaren Kulturtechniken erlernt werden und dass die Dimensionen des Lernens den geeigneten Bezugsrahmen schaffen. Eine Selektion wird nicht abgelehnt, sondern unter die Prämisse der individuellen Profilbildung gestellt, anstatt primär weiterführende Berechtigungen zu ermöglichen. 86 Teil A: Zusammenfassung und Fazit 6. ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT Versucht man sich die schulgeschichtliche Entwicklung seit der Aufklärung zu vergegenwärtigen, so kommt man zu folgendem Schluss: Das Bildungswesen wurde maßgeblich von den allgemeinen kulturellen und politischen Veränderungen der jeweiligen Epoche beeinflusst. So lassen sich die Entwicklungslinien von einer ständisch geprägten Gesellschaft mit einer ebenso ständisch typisierten Schulorganisation zu einer komplexen Industriegesellschaft mit einem offenen und vielschichtigen Bildungssystem nachzeichnen. Dieses gegenseitige sich Beeinflussen macht einen Konflikt deutlich, der sich durch die Geschichte des Schulwesens zieht: immer wieder wurden die von den Theoretikern geforderten Maßnahmen für eine Modernisierung des Schulwesens aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst und untergeordnet. Daher stehen auch nach 1945 kontinuierlich die gleichen Themen zur Diskussion, die seit Anfang des öffentlichen Erziehungswesens immer wieder diskutiert werden: 1. Die Frage von Einheit und Differenzierung, 2. die Suche nach Kriterien begründeter Unterscheidung von Bildungsgängen, 3. das Problem, wie sich Förderung und Selektion, Individualisierung und Egalisierung verbinden und die Herstellung von Chancengleichheit organisieren lassen (vgl. Tenorth, 1988, S. 282). Die Diskussion und die gerade seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder verstärkte und in das Licht der Öffentlichkeit geratene Kritik an dem öffentlichen Bildungswesen zeigt aber auch, dass es in der geschichtlichen Kontinuität nicht gelungen ist, grundlegende, das Bildungssystem behindernde Probleme zu beheben. In Umbruchzeiten sind schon immer neue Konzepte für die Schule gefordert und entworfen worden - zur Zeit Humboldts, im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, nach dem zweiten Weltkrieg und in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. „Für das Schulwesen insgesamt wird man jedoch grundstürzende Reformen oder Umbrüche vergeblich suchen ...“ (Fauser, 1996, S. 3). 87 Teil A: Zusammenfassung und Fazit Dennoch wird immer wieder gefordert, dass sich Schule rasch und radikal ändern muss, „damit sie zeitgemäß wird, damit sie wieder eine sinnvolle Institution der Gesellschaft wird, die sinnvoll in die Kinder und damit in die Zukunft unserer Gesellschaft investiert“ (Struck, 1997, S. 10). Ein anderes Ergebnis des Problems zeichnet sich bei der geschichtlichen Betrachtung von Schule und ihren Aufgaben ab: immer wieder betonen Schultheoretiker ähnliche oder gleiche Aufgaben der Schule und immer sind es diese ihr zugedachten Aufgaben, die sie nicht erfüllt. So fanden schon Anfang des 19. Jahrhunderts die Ideen des Süverschen Unterrichtsgesetzentwurfes aufgrund verschiedener Ursachen, allesamt gesellschaftlich-politischer Art, keine wirkliche Beachtung, was nicht zuletzt an dem fehlenden Interesse der Reformer an tiefgreifenden Veränderungen lag (vgl. Kapitel 2 dieses Teiles). Dass diese Entwicklung während der Industrialisierung, einer Epoche, die sich durch Technisierung und gesellschaftliche Modernisierung auszeichnet, eher verstärkt, verwundert nicht. Dagegen zeichneten sich die Reformpädagogen wiederum durch eine starke Kritik an der autoritären ‘Lern- und Buchschule’ aus, wobei es ihnen - langfristig gesehen - auch nicht gelang, das Schulwesen so zu ändern, dass es auf seine ‘eigentlichen Aufgaben’ im Fundament aufbaute. Wiederum waren es in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich-politische Gründe, die eine Reform scheitern ließen. Höhere Schulbildung blieb weiterhin ein Privileg führender sozialer Klassen und Schichten. Dass sich, wie aufgezeigt, die Kritik an der Schule auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht geändert hat, hat sicherlich viele Gründe. Wenn jedoch Schulkritiker an der Wende zum dritten Jahrtausend immer noch bemängeln, dass Schule ein Ort ohne Lernkultur (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. XIV) sei, in dem vorrangig auf Prüfungen, Abschlüsse und Berechtigungen hin gearbeitet werde, so ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass Schule nie zu ihren eigentlichen, hier herausgearbeiteten Aufgaben gefunden hat. Wenn der heutige Sozialcharakter der Schule tatsächlich gekennzeichnet ist als leistungsorientiertes Aufstiegssystem mit Fehlen von persönlichem Einsatz, der notwendi88 Teil A: Zusammenfassung und Fazit gen Rücksichtnahme, Mitmenschlichkeit, wenn sie sich tatsächlich durch Erlebnis-, Handlungs- oder Erfahrungsarmut (vgl. Fend, 1980, S. 381)69 auszeichnet, dann muss sie sich nicht ‘radikal ändern’, sondern in erster Linie auf ihre tatsächlichen Aufgaben besinnen. Aus dieser Erkenntnis lassen sich zwei Rückschlüsse ableiten: 1. Entweder ist die Schule nicht in der Lage, solchen - in der Theorie sicherlich schlüssigen - Aufgaben, in der praktischen Umsetzung gerecht zu werden. Oder 2. eine möglichst konsequente Umsetzung der theoretischen Ideen in die Praxis der Staatsschule wurde - aus welchen Gründen auch immer - niemals ernsthaft angestrebt. Um die Frage der praktischen Umsetzung schulischer Aufgaben weiter verfolgen zu können, um daraus Rückschlüsse auf das einzelne Fach abzuleiten, ist im folgenden jedoch erst eine genaue inhaltliche Betrachtung jeder einzelnen Aufgabe erforderlich. Wie sich gezeigt hat, ergeben sich aus der historischen Betrachtung vier Grundaufgaben; die gewählte Terminologie ist an Helmut Fend (1980) angelehnt, die bei den hier behandelten Autoren jeweils unterschiedlich benutzten Begriffe bzw. ihre Umschreibungen werden in der Übersicht am Ende dieses Teiles noch einmal deutlich gemacht. 1. Die Bildungsfunktion der Schule. 2. Die Mittlerfunktion der Schule. 3. Die Orientierungsfunktion der Schule. 4. Die Selektionsfunktion der Schule. Diesen Aufgaben muss Schule gerecht werden, damit sie den Menschen aus der ‘Unmündigkeit’ führt. Das betrifft auch jedes einzelne Schulfach. Denn nur wenn die einzelnen Fächer genau belegen können, welchen unverzichtbaren Beitrag sie zu den Grundaufgaben leisten, kann Schule zeitgemäß arbeiten und sich in Zukunft der Kritik stellen. 69 Fend wird hier nur als Stellvertreter genannt. Ähnliche Kritik lässt sich in vielen weiteren Beiträgen nachlesen, wie z.B. bei Struck 1997, Wollersheim 1996 oder auch Giesecke 1996. 89 Teil A: Zusammenfassung und Fazit In Teil B werden nun folgelogisch die einzelnen Aufgaben näher beleuchtet, anschließend soll geprüft werden, welchen unverzichtbaren Beitrag das Fach Sport im Fächerkanon der Schule leistet. „Schule und Bildung sind heute fast sich beißende Begriffe. Zu häufig verkommt Schule zu einer vermeintlichen oder tatsächlichen Wissensmast. Statt Bildung ist Tauschwertpädagogik angesagt. Die Bildungsinhalte sind eigentlich unwichtig. Wichtig ist, was man für die Beschäftigung mit ihnen an Zensuren, Punkten und Abschlüssen bekommt. Schule zu überleben ist wichtiger, als etwas mitzunehmen“ (Bönsch, 1994, S. 21). 90 entlässt die Schüler als gesellschaftsfähige Menschen Vorbereitung auf das Leben in der Gesellschaft strenge Trennung zwischen gesellschaftlichen Interessen und schulischer Bildung Kritik: Schule erliegt ihren sekundären Funktionen, Maßstab für schulisches Lernen ist der ‘heimliche Lehrplan’ Bildung des jungen Menschen zu sich selbst Bildung zum ‘humanen Menschen’ individuelle Persönlichkeitsbildung Bildung des jungen Menschen Persönlichkeitsbildung des jungen Menschen W. Dilthey (1833 - 1911) P. Petersen (1884 - 1952) Deutscher Bildungsrat (1965 - 1975) I. Illich (geb. 1926) H. Fend (geb. 1940) Qualifikationsfunktion Selbstbestimmung für sich und andere Bildungskommission NRW (1995) Mitverantwortung für gesellschaftliche Prozesse politikfähige, politikbereite, verantwortungsbewusste Menschen Berücksichtigung der Lebenswelt, Ort des Lernens Erwerb von Kulturtechniken ‘heimlicher Lehrplan’ Allokationsfunktion Verteilung nach individuellen Begabungen - Grundsatz der Chancengleichheit individuelle Beurteilungen statt Zensuren Verteilung nach den individuellen Bedürfnissen Selektion, aber nicht standesgemäß Verteilung innerhalb der Gesellschaft individuelle Profilabschlüsse individuelle, nicht vergleichbare Abschlüsse traditionelle gesellschaftliche Funktionen Fertigkeitslernen Orientierung an der wirklichen Welt Orientierung am ‘gewöhnlichen’ Leben Orientierung an der späteren Welt Schlüsselprobleme, Schlüsselqualifikationen Schule als ‘polis’ Brückenfunktion paideutische (musische/kulturelle) Funktion kommunikative Funktion ‘Lebensbewährung’ doppelter Bildungsbegriff H. v. Hentig (geb. 1925) T. Ballauf (1911 - 1995) fachliche Qualifikation Orientierung an der technischen Zivilisation Mittlerin zwischen Familie und Gesellschaft Bildungsfunktion als Mittelpunkt F.E.D. Schleiermacher (1768-1834) Schule führt Kinder in die Gesellschaft (schulische Erfahrungsfelder) Lebensweltorientierung Erziehung zur Gesellschaftsfähigkeit als Hauptaufgabe ‘sittliche Bildung’ Bildung zu sich selbst Selektionsfunktion Verteilung in der Gesellschaft, unabhängig von der Herkunft, keine Ziffernzeugnisse F.W. Hegel (1770-1831) Orientierungsfunktion Orientierung an den in der Gesellschaft notwendigen Fertigkeiten, nicht mehr an Bibel- und Katechismustexten Mittlerfunktion fließender Übergang von Unterrrichtsstufe zu Unterrichtstufe oder Abgang nach jeder Stufe Bildungsfunktion Allgemeine Menschenbildung W. von Humboldt (1767 - 1835) Lebensbegleitendes Lernen Erziehungsfunktion keine Hierarchisierung der Funktionen Projektive Funktion Legitimationsfunktion Erziehungsfunktion durch Schulleben und Schulgemeinde nach den Grundsätzen der Erziehungsidee weitere Funktionen Tabelle 1: Die Übersicht macht die Zuordnung der einzelnen Autoren zu den hier benutzten Begrifflichkeiten deutlich: Teil A: Zusammenfassung und Fazit angestrebte Schulform plurales, wohnortnahes Angebot an Bildungsgängen und Abschlüssen Bielefelder Laborschule Befürworter der Gesamtschulidee Entschulung der Gesellschaft Empfehlung zur Gesamtschule Jena-Plan-Schule - Lichtwarkschule freie allgemeine Volksschule späte Differenzierung innerhalb des Schulsystems Allgemeine Volksschule mit später Differenzierung gegliedertes Schulsystem keine Vorbildfunktion für ein bestehendes Schulsystem Teil B: Die Aufgabe der Bildung TEIL B: DIE AUFGABEN DER SCHULE IN IHRER INHALTLICHEN AUSGESTALTUNG 1. DIE AUFGABE DER BILDUNG 1. Klassische Allgemeinbildungskonzepte als Ausgangspunkt bildungstheoretischer Überlegungen in der heutigen Zeit Nachdem nun die Grundlage der Arbeit insofern gelegt ist, dass die Aufgaben der öffentlichen Schule klar umrissen sind, sollen diese im Folgenden inhaltlich näher bestimmt werden. Gerade die Vielschichtigkeit des Begriffes der Bildung gibt ohne nähere Erläuterung noch keinen Aufschluss darüber, wie jedes einzelne Schulfach - in dieser Arbeit der Schulsport - konkret so gestaltet werden kann, dass er bildend wirkt. Wie sich zeigen wird, finden sich die anderen Grundaufgaben in vielfältiger Weise im Bildungsbegriff wieder, so dass sich dieser immer deutlicher als zentraler Bezugspunkt für das weitere Vorgehen herauskristallisiert. Aus diesem Grunde verwundert es auch nicht, dass die Behandlung des Bildungsaspektes im Vergleich einen viel größeren Rahmen einnimmt als die der anderen schulischen Aufgaben (vgl. Teil B, Kapitel 2). Zwar besteht bis heute allgemeiner Konsens über das Primat der Bildung70 im schulischen Kontext. Dennoch scheint es gerade in einer Gesellschaft, die einerseits durch Orientierungslosigkeit und Disparitäten, andererseits durch Leistungsorientierung gekennzeichnet werden kann, schwer zu sein, einen tragfähigen Bildungsbegriff aus den derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen zu entwickeln (vgl. Bönsch, 1994, S. 21). Wenn dies aus der gegenwärtigen Situation heraus nicht möglich ist, so kann es hilfreich sein, jene Epoche als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu nehmen - hier im Sinne kritischer Vergegenwärtigung - die bereits in Teil A den Anfangspunkt markierte und in der der Bildungsbegriff und seine Auslegung als ‘allgemeine Bildung’ erstmalig in der Theorie und Realgeschichte der Pädagogik zu einem Zentralbegriff pädagogischer Re- 70 Wie im vorigen Kapitel deutlich wurde, besteht in diesem Primat von den Autoren unterschiedlichster Herkunft große Übereinstimmung. 93 Teil B : Die Aufgabe der Bildung flexion wurde. Es handelt sich wiederum um den Zeitraum zwischen etwa 1770 und 1830. Folgende drei Gründe sprechen dafür, warum ein geschichtlicher Rückblick sinnvoll erscheint, wenn man einen auch heute gültigen Bildungsbegriff klar herausarbeiten möchte: 1. Eine eindeutige Begriffsbestimmung der Termini ‘Bildung’ und ‘Allgemeinbildung’ sowie ihr im Laufe der Zeit gewandeltes Verhältnis zueinander lassen sich besser verstehen, wenn man die Begriffsgeschichte näher betrachtet71. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass eine solche Unterscheidung notwendig wird, um den schulischen Bildungsbegriff genauer bestimmen zu können (vgl. Heymann, 1996, S. 38). 2. Kein heutiger Versuch den Bildungs- bzw. Allgemeinbildungsbegriff neu auszulegen, kann aus der Problemgeschichte aussteigen. Jeder heutige Beitrag zu unserem Problemkreis müßte sich also schon um der Selbstaufklärung Willen seiner eigenen historischen Wurzeln zu vergewissern versuchen (vgl. Klafki, 1984, S. 456). 3. Schließlich sollten Begriffsbestimmungen in Bezug allgemeiner Bildung, die sich auf die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme in unseren allgemeinbildenden Schulen beziehen, mindestens das Problemniveau und den Differenzierungsgrad bildungstheoretischer Reflexionen erreichen, die bereits einmal gewonnen waren (vgl. Klafki, 1984, S. 456). Natürlich könnte eine historische Bestimmung weit früher beginnen, etwa mit der Aufarbeitung von Platon und Sokrates. Andererseits ist die bis in die Antike zurückreichende Vorgeschichte des bildungstheoretischen Denkens in erheblichem Maße in den Bildungskonzeptionen zwischen 1770 und 1830 berücksichtigt und aufgehoben. Dazu kommt, dass erst in den letzten Jahrzehnten des 18. und den ersten des 19. Jahrhunderts die Grundtendenz der Entwicklung von weitreichenden Demokratisierungsformen erkennbar wird, die bis heute Bestand haben. Denn erst jetzt sind Frühstadien der technischen Entwicklung erreicht und ihre gesellschaftlichen Folgen spürbar. Allerdings sieht nur Hegel die Weiterentwicklung zur großen Industrie voraus. Pestalozzi wiederum ist der einzige, der aus den ökonomisch-gesellschaftlichen Erkenntnissen Konsequenzen für seine Bildungskonzeption gezogen hat. Und schließlich ist die seit der Aufklärung voranschreitende Säkularisierung bewusstseinsgeschichtlich eine weitere Bestimmung 93 Teil B : Die Aufgabe der Bildung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Entfaltung der klassischen Bildungsidee ist demnach nicht denkbar ohne die Freisetzung der im Säkularisierungsprozess eröffneten Möglichkeiten, dass Menschen sich als Subjekte heranbilden, die sich in erster Linie durch ihre ‘vernünftige Selbstbestimmung’ auszeichnen (vgl. Klafki, 1984, S. 456f). Besonders Wolfgang Klafki (1984) verweist in seinen Ausführungen darauf, dass unsere heutige Gesellschaft immer noch als ein Teil der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen ist, in deren entscheidender Durchbruchsphase die klassischen deutschsprachigen Bildungstheorien als Antwort auf die damalige Situation, auf die Gefährdung und die Möglichkeiten des bürgerlichen Subjekts entwickelt wurden. Aus diesem Grunde erscheint eine kritische Vergegenwärtigung jener Bildungskonzepte auch für unsere Gegenwart durchaus sinnvoll und zeitgemäß. Jedoch darf hierin die explizite Gefahr einer unkritischen Übertragung der neuhumanistischen Bildungstheorie in der Form nicht übersehen werden, dass sie zu einem ahistorischen Ideal übersteigert wird und dabei immer stärker ihre historische Dimension verliert: Das im historischen Bildungsbegriff enthaltene kritische Potential wird auf diese Weise „beschränkt auf Sprach-, Text- und Kunstkritik, während die gesellschaftliche, ökonomische und die technologische Tätigkeit gerade durch die Trennung, die angeblich dem Prinzip der Bildung zufolge notwendig sein sollte, der Reflexion entzogen wurde“ (Blankertz & Born, 1978, S. 68). Die Spannung zwischen allgemeiner idealer Menschenbildung und den konkreten Zwängen ‘bürgerlicher Brauchbarkeit’ bestimmt seit Beginn der Aufklärung den Problemhorizont jener Bildungskonzeptionen, die von den Pädagogen in vielfältigen Abstufungen entworfen worden sind. Eine angemessene Interpretation zum Bildungsverständnis im Historischen muss demnach von der Voraussetzung ausgehen, dass der historische Prozess in seiner Gesamtheit mit seinen politischen, sozialen und ökonomischen Verflechtungen die bedingenden Faktoren für die Entwicklung theoretischer Selbstaufklärung darstellt (vgl. Krause, 1989, S. 14). Es kann also nur darum gehen, die bestimmenden Merkmale der damaligen Konzepte in neue, zeitgemäße Konzeptionen zu übertragen, um so den Anforderungen unserer Gesellschaft an eine allgemeinbildende Schule gerecht werden zu können. 71 Zur genauen Unterscheidung zwischen dem Begriff der Allgemeinbildung und dem Begriff der Bildung siehe Kapitel 1.2 dieses Teiles. 94 Teil B : Die Aufgabe der Bildung In Anlehnung sowohl an die Überlegungen Wilhelm von Humboldts sowie die Klassifizierung Wolfgang Klafkis, die als erste in den von ihm veröffentlichten Studien zur Bildungstheorie und Didaktik72 aus dem Jahre 1996 vorliegt, sollen im Folgenden die grundlegenden Momente von Bildung aufgezeigt werden, wie sie sich aus dem historischen Kontext ergeben. Es ist deshalb sinnvoll, zunächst Wilhelm von Humboldt als Ausgangspunkt der Überlegungen zu nehmen, da er der erste war, der eine neuhumanistische Bildungstheorie formulierte, die seitdem immer wieder als Vergleichsmoment herangezogen wird. Die Studien Wolfgang Klafkis bieten sich an, da er in den meisten neuesten Veröffentlichungen immer wieder im Zentrum der Argumentationen steht: „Wie kaum ein zweiter deutscher Pädagoge hat sich Wolfgang Klafki in umfassender, historischer und systematischer Reflexion mit dem Bildungsbegriff beschäftigt. Die im Jahre 1985 veröffentlichen ‘Studien zur Bildungstheorie und Didaktik’ zeigen die Erfordernisse einer allgemeinen Bildung. Zwar ist sich Klafki im Klaren darüber, dass eine einfache Übertragung der historischen bildungstheoretischen Konzepte unmöglich ist, dennoch geht er davon aus, dass es konstitutive Merkmale und Kriterien des Bildungsbegriffes gibt, die in der Zeit zwischen 1770 und 1830 festgemacht wurden“ (Rupp, 1994, S. 296). Die in der Studie gemachten Überlegungen sollen aufgezeigt und wo notwendig näher erläutert werden. Unbeschadet der Kontroversen, die es innerhalb des hier interessierenden Denkzusammenhanges der klassischen Epoche deutscher Bildungstheorie um die spezifische Deutung der einzelnen Pädagogen gibt, sollen mit Hilfe der beiden Autoren die durchgehenden Momente der klassischen Bildungstheorien deutlich werden. Angesichts des Tatbestands, dass es sich bei vielen in diesem Zusammenhang zugrunde liegenden Texten oft um fragmentarische Theorieansätze handelt, darf auch hier - ähnlich wie beim Begriff der Schultheorie (vgl. Einleitung) - die Rede von Bildungstheorien nur im Sinne einer sprachlichen Vereinfachung akzeptiert werden. Darüber hinaus werden sich im Folgenden viele Parallelen zu den schultheoretischen Ansätzen zeigen, so dass die enge Verbindung zwischen bildungstheoretischen und schultheoretischen Überlegungen deutlich wird. 72 Die hier erwähnte Studie wurde erstmals im Jahre 1984 unter dem gleichen Titel in der Zeitschrift für Pädagogik veröffentlicht. 95 Teil B : Die Aufgabe der Bildung a) Wilhelm von Humboldts ‘Allgemeine Menschenbildung’ als Ausgangspunkt neuhumanistischer Bildungstheorien Zunächst handelt es sich bei der neuhumanistischen Bildung, wie sie von Wilhelm von Humboldt formuliert wurde, um ‘allgemeine Bildung’ oder noch genauer ‘allgemeine Menschenbildung’. Humboldt beschreibt ein Ideal der Persönlichkeitsentwicklung, von dem er annimmt, dass es dem Menschen schlechthin gerecht werde. In seinen Ausführungen wird die Selbstdeutung und das Weltverständnis der damaligen Zeit exemplarisch deutlich. Wilhelm von Humboldt kam zunächst zu der Einsicht, dass die ständig zunehmenden Kenntnisse in den verschiedensten Wissenschaften die Menschheit zwar verändert, aber keinesfalls verbessert haben. Im Gegenteil, er befürchtete, dass sich der Mensch selbst den von ihm geschaffenen Errungenschaften anpassen und die Herrschaft über sie verlieren könnte (vgl. Menze, 1975a, S. 9). „An die Stelle einer Politik, die das überkommene Herrschaftssystem des Adels nur bewahrt, und an die Stelle einer Politik, die in einem revolutionären Akt eine neue, bessere gesellschaftliche Ordnung zu begründen hofft, setzte er darum das Programm einer bildenden gesellschaftlichen Praxis, welche die Menschen weder zu Opfern der Geschichte reduziert, noch zu Tätern der Geschichte hypostasiert, sondern die bessere Ordnung durch eine Veränderung der bestehenden Ordnung herbeiführt, indem sie Bildung ermöglicht und freisetzt“ (Benner, 1990, S. 39). Die zentrale Frage war dabei, welchen Nutzen die Menschheit aus den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ziehen kann, denn Humboldt war der Überzeugung, dass das pädagogische Denken auf diese Veränderungen reagieren musste, da das Leben der Menschen nicht mehr in den tradierten vorgezeichneten Bahnen verlief. Ziel war es, in Freiheit künftig mehr als private Willkürfreiheit, in Brüderlichkeit mehr als Gesinnungsgenossenschaft und in Gerechtigkeit mehr als formale Rechtsgleichheit zu erkennen und in die gelebte Realität umzusetzen (vgl. Benner, 1990, S. 36). Damit war Humboldt vor die Frage gestellt, wie der Mensch in diesen neuen Situationen handlungsfähig werden soll, die mit einem Mehr an Freiheit zugleich auch ein Mehr an Bedrohung, an Möglichkeiten der Verkehrung und Selbstpreisgabe bringen (vgl. Menze, 1975a, S. 12). (1) Die Idee einer allgemeinen Menschenbildung. 96 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Humboldt war der Überzeugung, dass an dieser Stelle nur eine neu gedachte Bildung weiterhelfen kann. Diese muss sich jedoch von überlieferten erzieherischen Überlegungen fundamental unterscheiden, denn nur so kann den neuen gesellschaftlichen Anforderungen zeitgemäß begegnet werden. 1792 schreibt er seinen ersten Entwurf einer Bildungstheorie nieder. Sie ist in seiner staatstheoretischen Abhandlung enthalten und trägt den Titel ‘Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen’. Leitgedanke darin ist die Idee einer allgemeinen Menschenbildung, denn nur in dieser lässt sich der gesellschaftliche Fortschritt begründen. Die Schule hat Humboldts Idee zu Folge nun nicht mehr nur die Aufgabe, bei den jungen Menschen lediglich Kenntnisse und Fertigkeiten auszubilden, die sie für die Tätigkeit in einem bestimmten Beruf benötigten, sondern sie sollte die Schüler vornehmlich dazu befähigen, sich selbst zu bilden. Diese Aufgabe ist losgelöst von Herkunft, Geburt oder Stand; Ziel war die Selbstbestimmung jedes Einzelnen. Politisch bedeutet dies dann aber, dass an die Stelle einer gesellschaftlichen Ordnung, die die Menschen in verschiedene Stände und Klassen unterscheidet, eine Politik treten muss, die auf der Idee einer freien Bildung und der Wechselwirkung aller Individuen basiert und sich somit von tradierten gesellschaftlichen Mustern löst. „Denn die wichtige Untersuchung der Grenzen der Wirksamkeit des Staates muß - wie sich leicht voraussehen läßt - auf höhere Freiheit der Kräfte, und größere Mannigfaltigkeit der Situationen führen. Nun erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichthum der handelnden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke, und diesem Reichthum, so muss man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht“ (Humboldt, 1960, S. 58)73. 73 Eine solche Theorie steht in der Tradition Rousseaus: Die reine Menschenbildung ersetzt die Ausbildung, der sich selbst bewusste Mensch, der nicht mehr erzogen wird, sondern sich selbst erzieht, löst den staatshörigen Bürger ab. 97 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Erziehung kann somit nicht mehr normativ arbeiten, an die Stelle der Ausbildung tritt dann die reine Menschenbildung, die den jungen Menschen nicht mehr erzieht, sondern ihn befähigt, sich selbst zu erziehen. (2) Die höchste und proportionierlichste Bildung. Bildung und Politik treten damit in ein neues, einander nicht mehr untergeordnetes, sondern nicht-hierarchisches, dialektisches Verhältnis: „Daß er der Erörterung des Zwecks des Staates diejenige des Zwecks des Menschen voranstellt, um dann die Aufgabe einer öffentlichen Erziehung von beiden her zu bestimmen, weist ihn als einen Bildungstheoretiker der Neuzeit aus, der die Bestimmung des Menschen nicht mehr einem vorgegebenen gesellschaftlichen Ganzen oder einer im vorhinein konstruierten gesamtgesellschaftlichen Ordnung entlehnt, sondern darum weiß, daß die Möglichkeiten eines politischen Fortschritts der Gesellschaft ebenso von der Bildung der Einzelindividuen abhängig sind wie deren individuelle Bildung umgekehrt von gesamtgesellschaftlicher Zukunftsplanung“ (Benner, 1990, S. 45). Hier stellt sich nun die zwingende Frage, was denn der Zweck des Menschen sei, wenn er sich nicht aus dem Zweck des Staates ableiten lässt. „Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltiges der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus“ (Humboldt, 1960, S. 64). Was heißt nun ‘höchste und proportionierlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen’? Dietrich Benner setzt sich in seinen Überlegungen zu Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie (1990)74 mit dieser Frage auseinander und zeigt, dass dies nur klar werden kann, wenn die aporetische Struktur offengelegt und diese auf den historisch- zeitgeschichtlichen Kontext hin ausgelegt wird. Und hier zeigt sich, dass 74 Benner bezieht sich hier im wesentlichen auf Humboldts Ausführungen in seiner Schrift ‘Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen’ (Humboldt, 1960), beruft sich darüber hinaus jedoch auch auf Hegels Überlegungen der ‘Grundlinien des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse’ (1965). 98 Teil B : Die Aufgabe der Bildung • der Begriff der ‘höchsten und proportionierlichsten Bildung’ weder auf eine ursprüngliche Übereinstimmung des Ichs mit sich selbst zielt, noch auf eine Übereinstimmung des Ichs mit vorgegebenen, vorbildlichen Weltinhalten; • der Begriff der ‘höchsten Bildung’ auch nicht meint, dass es eine allgemeine, höchste Norm von Bildung gäbe, an der sich die Bildung der Einzelnen wie eine Latte messen ließe; der Begriff ebensowenig irgendwelche allgemeingültigen Proportionen oder Maßverhältnisse meint, an denen sich die Zweckbestimmung der Menschen und die Proportionen individueller Bildung ausrichten könnten (vgl. Benner, 1990, S. 49). Humboldt selbst sagt dazu: „Jeder Mensch vermag auf Einmal nur mit Einer Kraft zu wirken oder vielmehr sein ganzes Wesen wird auf Einmal nur zu Einer Tätigkeit gestimmt. Daher scheint der Mensch zur Einseitigkeit bestimmt, indem er seine Energie schwächt, sobald er sich auf mehrere Gegenstände verbreitet. Allein dieser Einseitigkeit entgeht er, wenn er die einzelnen, oft einzeln geübten Kräfte zu vereinen, den beinah schon verloschen wie den erst künftig hell aufflammenden Funken in jeder Periode seines Lebens zugleich mitwirken lassen, und statt der Gegenstände, auf die er wirkt, die Kräfte, womit er wirkt, durch Verbindung zu vervielfältigen strebt. Was hier gleichsam die Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der Gegenwart wirkt, das wirkt in der Gesellschaft die Verbindung mit anderen. Denn auch durch alle Perioden des Lebens erreicht jeder Mensch dennoch nur Eine der Vollkommenheiten, welche gleichsam den Charakter des ganzen Menschengeschlechts bilden. Durch Verbindungen also, die aus dem Inneren der Wesen entspringen, muss einer den Reichtum des anderen sich zu eigen machen. [...] Der bildende Nutzen solcher Verbindungen beruht immer auf dem Grade, in welchem sich die Selbständigkeit der Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält“ (Humboldt, 1960, S. 64f). Benner führt weiter aus, dass Humboldt unter der Einförmigkeit der Situationen sowohl 1., die dem einzelnen in der Ständegesellschaft von Geburt her zugewiesene künftige Bestimmung als auch 2., die fortschreitende Arbeitsteilung innerhalb der in der Entwicklung begriffenen bürgerlichen Gesellschaft meint, welche die Einzeltätigkeiten immer weniger nach Kriterien einer Güter produzierenden handwerklichen Tätigkeit und immer mehr im Sinne einer auf Warenproduktion ausgerichteten Arbeitsteilung differenziert (vgl. Benner, 1990, S. 50). 99 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Diesen beiden Vergesellschaftungsformen stellt Humboldt nun eine dritte Form gegenüber, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Mensch eben nicht geburtsständisch vorbestimmt ist, sondern dass er angeregt werden muss, seine Bestimmung zu erkennen und diesen Weg nicht zu verfehlen. In seiner Bildungstheorie macht Humboldt die Beziehung des Menschen zur Welt und seine Bestimmung deutlich (vgl. auch Teil C, Kap. 1). Die Ausführungen von Clemens Menze (1975a) zeigen diese Beziehung und die damit verbundene Bestimmung75: Im Mittelpunkt des Humboldtschen Bildungsgedankens steht die Frage nach dem, was der Mensch ist und werden soll, wobei diese nur dann beantwortet werden kann, wenn das Verhältnis des Menschen zur Welt mitbedacht wird. In diesem Zusammenhang führt Humboldt die Begriffe der Kraft, der Tätigkeit und der Welt76 ein und zeigt auf, dass die Kraft in dem menschlichen Vollzug nichts anderes als Tätigkeit ist, die eines Gegenstandes bedarf, an dem sie tätig wird: der Welt. Welt wiederum umfasst alle Hervorbringungen des Menschen: Sprache, Geschichte, Kunst, Wissenschaft, Werkzeuge, Verhältnisse. Anders ausgedrückt ist die Welt alles, was der Mensch geschaffen hat, womit er umgehen und was er benutzen kann. Das bedeutet, dass Welt zunächst all das ist, was nicht Individualität ist. Sie kann als Resultat der Kraft bezeichnet werden, als Summe ihrer Objektivationen, die dem Menschen fremd sind, aber dennoch von ihm geschaffen. Ohne diese Welt ist menschliches Leben, gleichsam als eine weltlose menschliche Existenz, unmöglich. Welt bedeutet für Humboldt also zunächst nichts anderes als die vom Menschen geschaffene Welt. „Das Verhältnis des Menschen zur Welt läßt sich somit nicht als ein bloß statisches, unveränderliches fassen, sondern es handelt sich um eine Wechselbeziehung, in der sich Welt und Mensch verändern. Der Mensch kann gar nicht anders als weltgestaltend wirksam werden. In dem Tätigsein seiner Vermögen ändert der Mensch die Welt, und als neues Objekt wirkt die veränderte Welt auf den Menschen zurück“ (Menze, 1975a, S. 29). 75 Menze bezieht sich hier im wesentlichen auf seine eigenen Ausführungen in den Schriften ‘Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen’ (1975b) und ‘Unvergänglichkeit und Bildung’ (1973). Dabei beruft er sich auf die Briefe Wilhelm von Humboldts an Friedrich Schiller aus dem Jahre 1796 und an Karl Gustav Brinkmann aus dem Jahre 1803 sowie auf die Ausführungen Humboldts, erschienen in den von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaft herausgegeben Gesammelten Schriften, in den Bänden 1, 2, 5, 6 & 7. 76 Auf den Weltbegriff wird im Rahmen dieser Arbeit in Kap. 1.2 dieses Teiles näher eingegangen. 100 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Damit der Mensch nun aber die Welt immer weiter verändern kann, entwickelt er immer mehr Fertigkeiten, die dann nach dem Grad ihrer Brauchbarkeit unterschieden werden können. Ulrich Hübner bezeichnet diese ‘begrifflichen Elemente der Bildung bei Humboldt’ (Hübner, 1983, S. 126) als die entscheidenden, denn er sieht in der Bildung die gehobene Stellung des Menschen in der Welt. Bildung ist somit kein rein pädagogischer Begriff mehr, „sondern ein Begriff, der die Stellung des Menschen in der Welt, d.h. in der geschichtlichen Wirklichkeit bestimmt. Und dies nicht nur begrifflich, sondern auch praktisch. Es ist dies das Fundament seines Bildungsdenkens“ (Hübner, 1983, S. 125). Für Humboldt stellt sich nun die Frage, welche Welt überhaupt den Menschen in vorzüglicher Weise bilde. Er ist der Ansicht, dass die Kunst hierbei eine besonders bildende Wirkung habe, die Sprache sie aber noch überträfe. In einem Brief an Caroline heißt es: „Das ganze Feld der Gedanken, alles was den Menschen zunächst und zuerst angeht, selbst das, worauf Schönheit und Kunst beruht, kommt nur in die Seele durch das Studium der Sprache, aus der Quelle aller Gedanken und Empfindungen.“ (Menze, 1975a, S. 38 zitiert nach Humboldt 1906 - 1916) Kunst und Sprache sind also jene vorzüglichen Bildungswelten, an denen und durch die hindurch sich der Mensch in einzigartiger Weise bilden kann. Dennoch ist die Frage noch nicht geklärt, warum sich der Mensch überhaupt bilden soll. „Schon der Ausgangspunkt der Humboldtschen Bildungstheorie zeigt, dass sich das Leben des Menschen nicht darin erfüllen kann, vom Zufall zugewiesene und erlernte Beschäftigungen auszuüben, seine Pflicht in einem Wirkungskreis zu tun, in den sich der einzelne aus welchen Gründen auch immer hineingestellt findet. Es genügt nicht, dass der Mensch Bauer, Handwerker, Soldat, Gelehrter, Politiker ist und sich so erschöpfend von ihm sagen läßt, er verstehe das seinem jeweiligen Wirkungskreis entsprechende Geschäft. Es muß vielmehr unabhängig von diesen je verschiedenen Tätigkeiten und den durch sie erbrachten Werken ein Werk ablösbar sein, das über die keineswegs bestrittene Notwendigkeit der Arbeitsteilung hinausgreift“ (Menze, 1975a, S. 46). Dieses über die notwendige Arbeitsteilung hinausgehende Werk ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch sich zu einem unverwechselbaren Individuum entwickelt, das ihn einzigartig macht und dennoch die Menschheit in seiner wesenhaften Eigentümlichkeit vertritt. 101 Teil B : Die Aufgabe der Bildung (3) Lebenslanges Lernen. Die höchste und proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen sieht die menschliche Bildung schließlich als eine unabschließbare Aufgabe und bezieht sich auf die Entwicklung individueller Urteilskraft und Handlungskompetenz in allen Bereichen menschlicher Praxis (vgl. Benner, 1990, S. 52). „Denn durch alle Perioden des Lebens erreicht jeder Mensch dennoch nur Eine der Vollkommenheiten, welche gleichsam den Charakter des ganzen Menschengeschlechts bilden. Durch Verbindungen also, die aus dem Innren der Wesen entspringt, muss einer den Reichthum des andren sich eigen machen“ (Humboldt, 1960, S. 64f). Das bedeutet, dass die höchste und proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen somit eine Aufgabe darstellt, die wir nie ganz und nie endgültig erfüllen können, sondern immer verfehlen müssen. „Fortschreitende Bildung ist überhaupt nur möglich, weil wir nie endgültig mit uns identisch sind, sondern stets von Neuem an unserer Bestimmung arbeiten können“ (Benner, 1990, S. 52). Die Fähigkeit, sich fortschreitend zu bilden, kann also nie abgeschlossen sein und das Werk das dem Menschen als Mensch zukommt, ist nicht ablösbar von seinem gelebten Leben. Orientierungspunkt ist dabei die ‘individuelle Idee’ des Menschen: „Die reinste Form mit der leichtesten Hülle nennen wir Idee […] oder, um ohne Bild zu reden, je ideenreicher die Gefühle des Menschen, und je gefühlvoller seine Ideen, desto unerreichbarer seine Erhabenheit“ (Humboldt, 1960, S. 66). Die ‘individuelle Idee des Menschen’ ist demnach eine Fähigkeit, deren Ausbildung sich über ein ganzes Leben erstreckt und nicht an einem bestimmten Punkt abgeschlossen ist. Hieraus resultiert die Forderung des lebenslangen Lernens. Benner (1990) kommt an dieser Stelle noch einmal auf den Kraftbegriff77 zurück und stellt heraus, dass der Mensch nur dann seine Kraft oder Bildsamkeit entwickeln kann, wenn er in der Welt tätig wird. Diese Bildsamkeit ist aber eben unbestimmmbar, weshalb der Mensch in mannigfaltiger Weise an seiner Bestimmung arbeiten muss. 77 Benner setzt für den Kraftbegriff den neuzeitlichen Begriff der Bildsamkeit als Synonym. 102 Teil B : Die Aufgabe der Bildung „Diese Kraft nun und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muß, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung. Wie diese Eigenthümlichkeit durch Freiheit des Handelns und Mannigfaltigkeit der Handelnden gewirkt wird, so bringt sie beides wiederum hervor“ (Humboldt, 1960, S. 65). Der Mensch besitzt eine Originalität eben nur dann, wenn er weiß, dass es kein ‘Original’ für seine Bestimmung gibt. Bildung in diesem Sinne ist zuhöchst individuell und von Mensch zu Mensch grundverschieden: „Der Mensch ist von seinem ersten Odemzuge an Mensch, und sein ursprünglicher Charakter ist kein andrer als der Charakter seiner Persönlichkeit, [...]“ (Humboldt, 1960, S. 481). Hier wird auch der Unterschied deutlich, den Humboldt zwischen dem Mensch als gesellschaftliches Wesen und dem Mensch als Menschen macht. Für die ‘Werke’ im gesellschaftlichen Zweckverband, also für die Berufe, gilt, dass sie austauschbar sind, denn jede Funktion, die von einem Menschen ausgeführt wird, kann in zumindest ähnlicher Weise von einem anderen ausgeführt werden. Die ‘Bildung’ des Menschen hin zu seiner individuellen Idee jedoch ist nicht austauschbar und lässt es sich vor allen Dingen von anderen nicht vorschreiben, wie sie aussehen soll (vgl. Menze, 1975a, S. 51). „Der Geist, der Gewalt gehabt hat, sich vom Ganzen loszureißen und sich allein zu denken, der bleibt ewig und hört nicht mehr auf selbständig zu sein“ (Humboldt, 1963, S. 170). Dennoch bleibt immer noch die Frage bestehen, warum sich der Mensch überhaupt bilden muss. Auch wenn diese Frage bei den Humanisten nicht eindeutig geklärt wurde, so besteht Einigkeit darüber, dass der Zusammenhang von Bildung und Freiheit unauflösbar ist, dass Bildung einen Menschen befähigen kann, frei zu handeln. Ohne eine rein menschliche Bildung kann auch die bürgerliche Bildung nicht in rechter Weise wahrgenommen werden (vgl. Menze, 1975a, S. 52). Zusammenfassend lassen sich bei der Bildungstheorie Humboldts folgende Merkmale festhalten, die Bildung als ‘reine Menschenbildung’ kennzeichnen: 103 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Ausgehend von der Überlegung, dass der Mensch sich nicht unreflektiert neuen gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen solle, steht die Frage, wie der Mensch in Situationen handlungsfähig werden kann, die mit einem Mehr an Freiheit, aber auch einem Mehr an Bedrohung, an Möglichkeiten der Verkehrung und Selbstpreisgabe verbunden sind und wie er diese Situation als Chance für sich wahrnehmen kann. Schule sollte aus dieser Überlegung heraus nicht mehr nur Kenntnisse und Fertigkeiten ausbilden, sondern die jungen Menschen, unabhängig ihrer Herkunft, zu Selbstbestimmung befähigen. An die Stelle einer normativen Erziehung tritt dann die reine Menschenbildung, die den jungen Menschen nicht mehr erzieht, sondern ihn dazu befähigt, sich selbst zu erziehen, was auch bedeutet, dass Politik und Bildung in ein neues, nicht-hierarchisches Verhältnis treten müssen. Ulrich Herrmann (1985) sieht besonders in diesem Zusammenhang das bildungspolitische Wirken von Humboldts: bei der Frage, ob die Schule den Mensch zum Menschen oder zum Bürger zu erziehen habe, hat sich Humboldt deutlich für die erste Möglichkeit ausgesprochen. Aus dieser Überlegung heraus stellt sich nun die Frage nach dem Zweck des Menschen, wenn er nicht mehr für die Belange des Staates erzogen werden soll. Diesen beschreibt Humboldt als die ‘höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen’, deren erste Grundvoraussetzung die Freiheit des Menschen ist. Im Mittelpunkt dieses Bildungsgedankens steht die Frage nach dem, was der Mensch ist und werden soll. Kunst und Sprache sind dabei jene Bildungswelten, an denen sich der Mensch in einzigartiger Weise bilden kann. Dabei ist noch nicht geklärt, warum sich der Mensch überhaupt bilden soll: Für Humboldt steht es außer Frage, dass der Mensch nicht nur dazu geschaffen wurde, einem bestimmten, austauschbaren Beruf nachzugehen, sondern dass es eine Bestimmung gibt, die weit über das gesellschaftliche Werk der Arbeitsteilung hinausgeht. In diesem Sinne ist der wahre Zweck des Menschen die Ausbildung einer individuellen Urteilskraft und Handlungskompetenz in allen Bereichen menschlicher Praxis. Diese Individualität macht ihn einzigartig und vertritt dennoch die der Menschheit wesenhaften Eigentümlichkeiten. Der wichtigste Ansatzpunkt des Humboldtschen Bildungsideals muss somit die menschliche Individualität sein, die das Gegenteil des ‘gleichförmig gebildeten Schablonenmenschen’ (vgl. Spitta, 1985, S. 2) darstellt. 104 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Die Ausbildung der ‘individuellen Idee des Menschen’ erstreckt sich jedoch über ein ganzes Leben und ist nicht an einem bestimmten Punkt abgeschlossen. Hieraus resultiert die Forderung des lebenslangen Lernens. Auch kann kein in diesem Sinne gebildeter Mensch jemals mit sich oder mit einem anderen Menschen identisch sein, noch kennt er seine Bestimmung, noch lässt sich diese von einem anderen Menschen vorschreiben. Der Zweck einer solchen Bildung führt dann zwangsläufig dazu, dass der Mensch frei handeln kann. Bildung im Sinne der reinen Menschenbildung ist in Humboldts Augen schließlich die unbedingte Voraussetzung für eine bürgerliche Bildung. b) Wolfgang Klafkis Studie ‘Die Bedeutung der klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung’ In den oben gemachten Ausführungen zeigen sich deutlich die Momente, die auch Wolfgang Klafki in seiner Studie benennt, wobei es Klafki hier gelungen ist, eine allgemein anerkannte und weiteren Autoren immer wieder als grundlegende Basis dienende Zusammenführung der übergreifenden Charakteristika der klassischen Bildungstheorien und ihre Zusammenhänge herauszuarbeiten. Er selbst bezeichnet diese Studie als das Ergebnis einer vergleichenden und synoptischen Interpretation. Klafki unterscheidet dabei folgende Bedeutungsgehalte: 1. Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung. 2. Bildung als Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit. 3. Individualität und Gemeinschaftlichkeit im klassischen Bildungsbegriff. 4. Die moralische, kognitive, ästhetische und praktische Dimension im klassischen Bildungsbegriff. 105 Teil B : Die Aufgabe der Bildung (1) Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung. Ausgehend von Kants Überlegungen, formuliert in seiner Abhandlung ‘Was ist Aufklärung?’, sieht Klafki hier die Grundintentionen des gerade angesprochenen Begriffskomplexes. Klafki erkennt trotz zahlreicher unterschiedlicher Interpretationen von Kants Texten durchgehende Momente der klassischen Bildungstheorien, die sich auch deutlich bei Humboldt zeigen: • Der Mensch ist ein zu freier und vernünftiger Selbstbestimmung fähiges Wesen. • Diese Tatsache macht es ihm zur Aufgabe, seine Bestimmung zu realisieren. • Die individuelle Bestimmung kann sich jeder jedoch nur selbst geben. • Bildung ist zugleich Weg und Ausdruck solcher Selbstbestimmungsfähigkeit (vgl. Klafki, 1984, S. 459). So lassen sich seiner Ansicht nach synoptisch folgende Begriffe umschreiben, die sich deutlich hervorheben, wenn man verschiedene grundlegende Texte78 zu Rate zieht: Selbstbestimmung, Freiheit, Emanzipation, Autonomie, Vernunft, Selbsttätigkeit. „Bildung wird also verstanden als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, die die Emanzipation von Fremdbestimmung voraussetzt oder einschließt, als Befähigung zur Autonomie, zur Freiheit eigenes Denkens und eigener moralischer Entscheidungen. Eben deshalb ist denn auch Selbsttätigkeit die zentrale Vollzugsform“ (Klafki, 1984, S. 458). Im Vergleich mit den Ausführungen Humboldts wird schnell deutlich, dass sich die zentralen Momente der Bildungstheorie entsprechen. (2) Bildung als Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit. Bildung ist jedoch weit mehr als ein höchst anspruchsvoller Subjektivismus, wie es nach näherer Betrachtung des ersten Punktes - insbesondere der Begriffe Selbstbestimmung, Autonomie, Selbsttätigkeit - scheinen kann. Demgegenüber muss betont werden: der zugrunde liegende Subjekt- bzw. Selbstbestimmungsbegriff ist alles andere als subjektivistisch! Das wird deutlich, sobald man 78 Klafki bezieht sich in seiner Studie insbesondere auf Texte von Goethe (Wilhelm Meister, Pädagogische Ideen), Hegel (Werke), Herder (Werke), Humboldt (Anthropologie und Bildungslehre), Kant (Werke, Ausgewählte Schriften), Lessing (Ausgewählte Texte zur Pädagogik), Marx (Kritik der Hegelschen 106 Teil B : Die Aufgabe der Bildung eine zweite Gruppe von Bestimmungen ins Auge fasst. Klafki benennt hier als zentrale Begriffe die der Humanität, Menschheit und Menschlichkeit, Welt, Objektivität und des Allgemeinen. „Das bedeutet: Vernünftigkeit, Selbstbestimmungsfähigkeit, Freiheit des Denkens und Handelns gewinnt das Subjekt nur in Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozessen mit einer Inhaltlichkeit, die zunächst nicht ihm selbst entstammt, sondern Objektivation bisher menschlicher Kulturtätigkeit im weitesten Sinne des Wortes ist“ (Klafki, 1984, S. 460). Auch hier werden die Parallelen zu Humboldt deutlich, wenn dieser fordert, dass der Mensch sich zu einem unverwechselbaren Individuum entwickelt, das ihn einzigartig macht und dennoch die Menschheit in seiner wesenhaften Eigentümlichkeit vertritt. „Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll? Man verlangt, dass Bildung, Weisheit, Tugend so mächtig und allgemein verbreitet als möglich unter ihm herrschen, dass es seinen inneren Wert so hoch steigere, dass der Begriff der Menschheit, wenn man ihn von ihm als dem einzigen Beispiel abziehen müßte, einen großen und würdigen Gehalt gewönne“ (Humboldt, 1956, S. 29). In diesem Punkt wird der Begriff der Allgemeinbildung deutlich: sie soll von der Allgemeinheit und nicht nur von einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe gleichermaßen getragen werden und Gültigkeit besitzen. Insofern bedeutet in diesem Verständnis ‘allgemeine Bildung’ gleichzeitig ‘Bildung für alle’. Hier zeigen sich jedoch auch die Grenzen des klassischen Bildungsbegriffes und die bereits angesprochene Gefahr, dass Spannungen zwischen allgemeiner idealer Menschenbildung und den konkreten Zwängen gesellschaftlicher Realität nicht erkannt werden. Die Bildungstheoretiker der damaligen Zeit waren der Ansicht, dass die Freisetzung der Menschheit zur Selbstbestimmung trotz aller Hindernisse ein abschließbarer Prozess ist. Diese Annahme soll in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden. Wichtig ist allerdings, dass Humboldt (wie auch Schleiermacher) in dieses Denken sowohl die institutionalisierte als auch individuelle Auswahl von konkreten Inhalten einbezogen. Eine Konsequenz, die sich aus diesen Überlegungen von individuellen Inhalten ergibt, ist das ‘lebenslange Lernen’. Rechtsphilosophie, Die Deutsche Ideologie), Pestalozzi (Werke), Schiller (Briefe über die ästhetische 107 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, wie sie in Punkt 1 dargestellt wurde, ist nur möglich im Medium des Allgemeinen. Gemeint sind hier historische Objektivationen der Humanität. Das bedeutet, dass nach erzieherischen Möglichkeiten gesucht werden muss, die den humanitären Fortschritt garantieren. Ausgedrückt werden kann dies mit den Worten Schleiermachers, der meint, dass die Jugend ‘tüchtig’ werden solle, „einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzutreten“ (Schleiermacher, 1959, S. 64, vgl. auch Teil A, Kap. 2). (3) Individualität und Gemeinschaftlichkeit im klassischen Bildungsbegriff. „Erst auf dem Hintergrund der dialektischen Beziehung zwischen der Selbstbestimmungsfähigkeit und einer objektiv-allgemeinen Inhaltlichkeit wird eine dritte Bestimmung des klassischen Bildungsbegriffs angemessen interpretierbar. Die Zentralbegriffe heißen hier: Individualität und Gemeinschaftlichkeit“ (Klafki, 1984, S. 463). Der Begriff der Individualität, wie er von den Klassikern genutzt wird, ist nicht als ‘selbstbezogene Vereinzelung’ zu verstehen, sondern wird erst in seiner Beziehung zur Allgemeinheit deutlich. Bei der Betrachtung der Überlegungen Humboldts wird diese Beziehung zwischen Individualität und Allgemeinheit an vielen Stellen deutlich, besonders jedoch - wie dargestellt - bei seinen Ausführungen zu den Begriffen der Kraft, der Welt und der Sprache (vgl. Abschnitt a dieses Kapitels). Auch bei Schleiermacher erkennt man die Geselligkeit als eine Form primär nichtinstitutionalisierter, kommunikativer Begegnung, für die aber auch in den Bildungsinstitutionen, insbesondere der Schule, freie Räume eröffnet werden müßten. „Die utopische Leitvorstellung der klassischen Bildungstheoretiker wird nun deutlich: Ziel war ein friedliches, von Beherrschungsabsichten freies Zusammenleben von Völkern, Nationen, Kulturen in wechselseitiger Anerkennung und in wechselseitigem Austausch zur Beförderung der Humanität, um es in Anspielung auf die Forderung Herders auszudrücken. Somit schließt die humanistische Bildungsphilosophie eine friedenspädagogische Perspektive ein“ (Klafki 1984, S. 465). Da sich hier zwischen dem hohen Niveau kritischer Rationalität und vernunftgeleiteter Moralität der deutschen Klassiker auf der einen Seite und den sich auf die bildungstheoErziehung des Menschen) und Schleiermacher (Pädagogische Schriften). 108 Teil B : Die Aufgabe der Bildung retischen Ideale berufenden Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts auf der anderen Seite eine grundlegende Diskrepanz erkennen lässt, fordert Klafki die Einführung von für die Gegenwart verbindlichen ‘Schlüsselproblemen’. Diese stehen für den Teilbereich des Allgemeinen in der Bildung79, der den Gegenwartsbezug deutlich macht. (4) Die moralische, kognitive, ästhetische und praktische Dimension im klassischen Bildungsbegriff. Soll Bildung, wie bereits bei Humboldt deutlich wurde, allgemeine Bildung in dem Sinne sein, dass sie die Entfaltung aller menschlichen Kräfte fördert, so muss „die damit angesprochene Mehrdimensionalität menschlicher Beziehungsmöglichkeiten zur natürlichen und zur menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit an die Einheit der verantworteten Personen zurückgebunden bleiben“ (Klafki, 1984, S. 467). Klafki nennt hier vier Dimensionen, die den klassischen Bildungsbegriff kennzeichnen: a) die moralische Dimension, b) die Dimension des Erkennens bzw. Denkens, c) die ästhetische Dimension, d) die praktische Dimension. (a) Die moralische Dimension und (b) die Dimension des Erkennens. Die selbstbestimmte moralische Verantwortlichkeit, die moralische Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit ist bereits in den bisher behandelten Punkten hinreichend deutlich geworden. Auch bei der Betrachtung der Ausführungen Humboldts dürfte in diesem Punkt kein Zweifel bestehen. Dagegen zeigt Klafki auf, dass in der von Kant entwickelten Unterscheidung der Begriffe Verstand und Vernunft eine wichtige Differenzierung besteht: • Verstand bezeichnet im engeren Sinne des Wortes die instrumentelle Rationalität. Sie bezeichnet die Aneignung von Wissen und Erkenntnis in einem nicht abschließbaren Prozess. Das Wissen und die Erkenntnis können dann im Folgenden zu beliebigen Zwecken in einem technischen Sinne angewendet werden. • Vernunft aber meint jenen reflexiven Modus von Rationalität, mit dem der Mensch zum einen nach den Voraussetzungen verstandesmäßiger Erkenntnis und zum ande79 Zur näheren Begründung der Schlüsselprobleme siehe Kapitel 1.2, Abschnitt b dieses Teiles. 109 Teil B : Die Aufgabe der Bildung ren nach begründbaren Zielen der Verwendung von Wissen und Erkenntnis gefragt wird. Hierin eingeschlossen ist die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Verstandestätigkeit für eine humane Existenz. „Kognitive Bildung, Bildung des Erkenntnisvermögens sollte im Sinne der Klassiker niemals instrumentelle Rationalität ohne Rückbindung an die vernunftgemäße Reflexion auf ihren humanen Sinn, auf die Verantwortbarkeit ihrer Verwendungsmöglichkeiten fördern. Im Grund ist damit schon das Urteil gesprochen über alle modernen Formen naiver Wissenschaftsgläubigkeit und eine nicht-pädagogisch reflektierte ‘Wissenschaftsorientierung’ des Lernens, sofern dabei Wissenschaft auf instrumentelle Dimension reduziert wird“ (Klafki, 1984, S. 468). Gemeint ist hier nicht eine undifferenzierte Wissenschafts- oder Technikfeindlichkeit, sondern vielmehr der Appell an ein Konzept allgemeiner Bildung, das Menschen Voraussetzungen vermittelt, damit sie an der Bewältigung dieser Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben mitwirken können. (c) Die ästhetische Dimension. Dass die ästhetische Dimension im Laufe des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit zu Gunsten der kognitiven Dimension vernachlässigt und schließlich vielerorts vergessen wurde, ist für Wolfgang Klafki ein weiteres Zeichen der Verfallsgeschichte des klassischen Bildungsbegriffes. Als Kernbegriffe gemeint sind hier die • Bildung der ‘Empfindsamkeit’ gegen Naturphänomene und des menschlichen Ausdrucks, • Entwicklung der Einbildungskraft oder Phantasie, • Entwicklung des Geschmacks, • Entwicklung der Genussfähigkeit und der ästhetischen Urteilsfähigkeit, • Befähigung zum Spiel und zur Geselligkeit. „Die ästhetische Dimension zeichnet sich dadurch aus, dass sie spezifische Sinn- und Freiheitserfahrungen als Möglichkeit in sich birgt und daher eine unverzichtbare Perspektive allgemeiner Bildung ist“ (Klafki, 1984, S. 469). Auch bei Humboldt kommt dieses ästhetische Moment immer dann zur Sprache, wenn er fordert, dass die reine Menschenbildung weit mehr ist, als die bloße Eingliederung in das gesellschaftliche Leben. Nur wenn die ästhetische Komponente ausreichend einbe110 Teil B : Die Aufgabe der Bildung zogen ist, kann ‘höchste und proportionierlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen’ auch vollzogen werden. Dabei wird deutlich, dass der ästhetische Begriff weit über den Bereich der ‘großen’ Kunst hinausgeht und auch die Ästhetik des Alltags mit einschließt. Klafki zeigt hier einmal mehr auf, dass die bildungstheoretischen Ansätze jener Epoche weit über den Rahmen von Schulbildung hinausgehen. Explizit verdeutlichen dies die von Schiller verfassten ‘Briefe über die ästhetische Erziehung’ aus dem Jahre 179580. Für Schiller kristallisieren sich zwei Argumentationslinien heraus, die die Wichtigkeit der ästhetischen Erfahrung unterstreichen: 1. Als Vorbereitung zur Vernunftbestimmung, in dem der ästhetische Zustand81 erfahren wird. In diesem Zustand produktiver Rezeption von Kunst oder des eigenen ästhetischen Gestaltens erfährt der Mensch die Synthese seiner naturhaften Antriebe und seiner Vernünftigkeit. In der genussvollen Erfahrung der Einheit von vernunftbestimmter (ästhetischer) Gesetzmäßigkeit und Naturhaftigkeit wird der Gestaltende (schon das Kind) zwanglos jener Freiheit inne, die er in der Situation moralisch relevanter Vernunftansprüche dann ggf. auch gegen seine widerstrebende Natur durchsetzen muss. 2. Als eigenwertige menschliche Möglichkeit: Erfahrung des Glücks, menschlicher Erfüllung, erfüllter Gegenwart. „... der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller, 1960, S. 41) (vgl. Teil C, Kap. 1.3). In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Erziehung und Bildung keine getrennten Sachverhalte darstellen, sondern dass Erziehung als eine bewusste pädagogische Hilfe verstanden werden kann, die Bildung ermöglicht82. 80 vgl. Schiller (1960). Briefe über die ästhetische Erziehung. 15. Brief. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 41. Diesen bezeichnet Schiller auch als den Zustand des Spiels oder der Erfahrung des Schönen. 82 Es soll hier nicht weiter auf die Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung eingegangen werden, da diese nicht wesentlich zur Klärung des hier behandelten Sachverhaltes beiträgt. 81 111 Teil B : Die Aufgabe der Bildung (d) Die praktische Dimension. Schon für Humboldt stand außer Frage, dass die ‘allgemeine Menschenbildung’ die Komponente der gesellschaftlichen Realität mit einschließt. Ziel seiner Überlegungen war eine gesellschaftliche Ordnung, in der die Menschen frei von Herrschaftsabsichten leben können. Dabei verkannte er zwar keineswegs die berufliche Bildung, meinte aber, die berufliche Vororientierung und die Vorbereitung auf spätere berufliche Spezialisierungen zeitlich und institutionell scharf von der allgemeinen Grundbildung trennen zu müssen. Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen lässt sich die von den Bildungsklassikern geforderte Einbindung der praktischen, also gesellschaftsrelevanten Bildung nicht verleugnen. Wolfgang Klafki arbeitet bezüglich dieser Dimension zwei entscheidende Kerngedanken heraus: 1. Die praktisch-werktätige Auseinandersetzung des Menschen mit der Wirklichkeit ist eine fundamentale Basiskomponente seiner personalen Entwicklung, sofern sie nicht zu früher Abrichtung degeneriert. 2. Es kann nur dem Anspruch einer umfassenden, allgemeinen Menschenbildung genügen, wenn von der frühesten Phase an (wenn auch im gestuften Gang) die Perspektive künftiger beruflicher Tätigkeiten und Bewährungen im Bildungsgang selbst repräsentiert ist (vgl. Klafki, 1984, S. 471). Als Konsequenz dieser Dimension fordert er, dass es eine der zentralen Aufgaben heutiger bildungstheoretischer Arbeit und zukünftiger Bildungspraxis sein muss, die Differenz zwischen Allgemeinbildung und beruflicher Bildung zu überwinden und die Berufsbildung in eine neue Allgemeinbildungskonzeption zu fassen. Das aber würde gleichzeitig die permanente Relativierung und Rückbindung jeder beruflichen bzw. berufsorientierten Spezialisierung an die allgemeinen Zusammenhänge individueller und gesellschaftlicher Existenz bedeuten. Hier wendet er sich gegen den Ansatz Humboldts und zeigt seine Schwächen auf, die es in einer zeitgemäßen Einbindung der praktischen Dimension in ein Konzept der Allgemeinbildung zu überwinden gilt. 112 Teil B : Die Aufgabe der Bildung c) Folgerungen Will man nun aus den gewonnenen Erkenntnissen Folgerungen für die Gegenwart ziehen, so stellt sich zuerst die Frage, in wieweit es den klassischen Bildungstheoretikern gelungen ist, ihre Vorstellungen selbst in die Praxis umzusetzen. Auf den ersten Blick lässt sich diese Frage nur für Schleiermacher83 positiv beantworten. Jedoch soll an dieser Stelle aufgezeigt werden, dass auch Wilhelm von Humboldt an einer konkreten Umsetzung der Ideen in die Schulwirklichkeit gearbeitet hat. Grundlage der Umsetzungsmöglichkeit seiner Ideen in die Praxis war, wie schon in Teil A (vgl. Kap. 2) beschrieben, die Tatsache, dass er zwischen Februar 1809 und April 1810 Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren war. Aus dem Jahre 1809 stammen auch der Königsberger und der Litauische Schulplan, in denen er seine Vorstellungen zur Neuordnung des öffentlichen Schulwesens festgehalten hat. Und obwohl beide, formal gesehen, auf zwei bestimmte Gebiete Preußens bezogen sind, haben sie für das gesamte preußische Bildungswesen eine herausragende Bedeutung, deren Folgen zum Teil bis in die heutige Zeit nachwirken (vgl. Max, 1996, S. 36). Die Reform der Elementarschule war eine wesentliche Voraussetzung, um eine Erneuerung des Staatslebens in Preußen voranzutreiben. So kam im Zusammenhang mit den Reformen des Freiherrn von Stein auch Bewegung in das Elementarschulwesen. Vorbild für die Reformen wurden die erzieherischen Entwürfe Pestalozzis, der den Grundgedanken der selbständigen Erweckung der geistigen Kräfte in jedem Kinde entwickelt und die Selbsttätigkeit und Freiheit eines jeden Menschen propagiert hatte. Wenn nun eine Beurteilung der Humboldtschen Neuordnung im 20. Jahrhundert versucht wird, kann dies nur dadurch geschehen, dass diese unter den Bedingungen des Zeitgeistes gedeutet wird (vgl. Max, 1996, S. 85). Sind die Betrachtungen der verschiedenen Autoren auch nicht immer einheitlich, so zeigen sich in der Gesamtschau dennoch Momente der konkreten Umsetzung in die Schulwirklichkeit, die eindeutig auf die Initiative Wilhelm von Humboldts zurückgehen. Immer wieder ist zu erkennen, dass vier wichtige Grundsätze des Schulunterrichts bei Humboldt bis heute Bestand haben84: 1. Ziel des Schulunterrichts ist nicht nur das Lernen, sondern das Lernen des Lernens. 83 Die Frage könnte auch für Pestalozzi positiv beantwortet werden; da er aber bisher nicht näher erläutert wurde, soll darauf nur kurz hingewiesen werden. Wie bereits erwähnt, finden sich sein für diese Arbeit wichtigen Gedanken in dem Konzept Humboldts wieder. 84 Vergleiche hierzu unter anderem die Arbeiten von Franz Schnabel (1947), Irmgard Kawohl (1969), Clemens Menze (1975b), Herbert Scurla (1976), Ulrich Herrmann (1985) und Dietrich Spitta (1985). 113 Teil B : Die Aufgabe der Bildung 2. Der Schulunterricht muss vornehmlich universal sein, um der späteren wissenschaftlichen Spezialbildung an den Universitäten bzw. der Berufsbildung ein sicheres Fundament zu geben. 3. Im Unterricht müssen die individuellen Interessen des Schülers geachtet und gepflegt werden85. 4. Am Ende steht die Schaffung von Bildungsmöglichkeiten für alle Menschen. Dennoch war schon bald klar, dass die Reformbemühungen Humboldts scheitern würden und dass das Konzept der allgemeinen Menschenbildung zu einem gesellschaftlichen Privileg verkam, das bewusst als Abgrenzung gegen die ‘ungebildeten Massen’ eingesetzt wurde86. Dass er, wie auch viele andere Denker der damaligen Zeit noch keine direkte Verbindung zwischen pädagogischen und politischen Maßnahmen sahen, liegt sicherlich daran, dass sie im Grunde die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte des Fortschritts der Humanität ansahen. „Diese Grundüberzeugung hinderte jedoch keinen Denker daran, zahlreiche Hemmnisse, Rückfälle und schwere Verfehlungen gegen den Prozeß der Humanisierung zu erkennen und zu kritisieren. Daß sich die Menschheit bessert, diese Überzeugung hat sich jedoch nicht bewahrheitet“ (Klafki, 1984, S. 474). 85 In diesem Punkt muss darauf hingewiesen werden, dass die Einheit von übergreifenden Orientierungen und Individualisierung, die Humboldts Bildungsidee kennzeichnete nicht um das einseitige Moment der Individualisierung verkürzt werden darf. Gerade auch Klafki bezweifelt, dass die Zulassung verschiedener, streng voneinander getrennter Schultypen, diese Einheit widerspiegelt (vgl. Klafki, 1996, S. 47). 86 Hier wäre insbesondere Pestalozzi zu nennen, dessen Verdienst vor allen Dingen darin lag, dass er, wie kein anderer in seiner Zeit, eine Rückbindung aller Bildungsbemühungen an die soziale Lebensrealität der Menschen betont hat. Er gehörte zu den wenigen, die die Ausschließung der verarmten Bevölkerung bei der Bildungsdiskussion kritisierten. Auch wenn er sich für die Belange der armen Bevölkerungsschichten einsetzte, so lagen seine Zielsetzungen doch in einer Gesellschaft, die sowohl berufs- als auch sozialständisch gegliedert war. Das damit automatisch verbundene Maß ökonomischer und gesellschaftlicher Ungleichheit hielt er letztlich für unaufhebbar, ja für gottgegeben (vgl. Klafki, 1984, S. 472). Schleiermacher schließlich war derjenige, der den widersprüchlichen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und humanen Entwicklungsmöglichkeiten bzw. ‘Bildung’ andererseits in seiner pädagogischen Theorie am nachdrücklichsten betonte. Er unterschied dabei zwischen angestammter (historischgesellschaftlich bedingter) und angeborener (natürlicher) Ungleichheit. Im Hinblick auf die angestammte Ungleichheit betonte er, dass Erziehung in keinem Falle dazu beitragen darf, dass gesellschaftliche Ungleichheit verfestigt werde, wenngleich es nicht in ihrer Macht stehe, die gesellschaftlichen Verhältnisse direkt zu verändern. Ziel ist vielmehr, den Schülern zur optimalen Entfaltung ihrer menschlichen Möglichkeiten zu verhelfen, die wiederum zu einer gesellschaftlichen Änderung führt. 114 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Schließlich sollte jedoch nicht vergessen werden, dass gerade in diesem Jahrhundert Fortschritte im Bereich des Bildungswesens erzielt wurden. Da aber die Aufgabe keineswegs gelöst ist und schon deshalb nie ein für allemal gelöst werden kann, weil gesellschaftliche Prozesse selbst in denkbar optimalen demokratischen Systemen nie so gestaltet werden können, dass die Möglichkeit, neue Ungleichheiten zu produzieren, völlig auszuschließen wäre, ist es sinnvoll, sich die grundlegenden Bildungsüberlegungen der Klassiker zu vergegenwärtigen und ihre Errungenschaften in moderne Konzepte angemessen mit einzubeziehen. Dies kann jedoch nur dann sinnvoll sein, wenn man zunächst einen zeitgemäßen Bildungsbegriff für die Gegenwart formuliert. 2. Bildung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend Die gegenwärtige Transformation der Industriegesellschaft in eine Informationsgesellschaft (oder Risikogesellschaft, wie Beck (1986) konstatiert) stellt für die Erziehungswissenschaft in vielfältiger Hinsicht eine Herausforderung dar. Otto Hansmann und Winfried Marotzki (1988) stellen in der Eröffnung ihres Diskurses über die Bildungstheorie zwei besonders deutliche Entwicklungstendenzen einander gegenüber: • Einerseits werden infolge der technologischen Umwälzungen die meisten Arbeitsund Lebensvollzüge zunehmend abstrakter und weniger anschaulich. Der Grad der Verwissenschaftlichung steigt gesamtgesellschaftlich weiter an. Das Wissen, das für die selbständige Bewältigung des Alltags und der individuellen beruflichen Entwicklung benötigt wird und vom einzelnen angeeignet werden muss, nimmt explosionsartig zu. • Andererseits stellt sich trotz dieses quantitativ wachsenden Wissens zunehmend die Erfahrung ein, dass die Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Lösung dringender praktischer Probleme (Ökologie, Arbeitslosigkeit, intergenerationeller Wertewandel, Geschlechterverhältnis, internationale Verflechtungen und Konflikte, ...) zusehends abnimmt. Gefühle der Ohnmacht, die Einstellung der Gleichgültigkeit, Rückzugstendenzen auf die bloße Subjektivität, ein ethischer Relativismus machen sich breit. Gleichzeitig wird vielfach von der Erziehungswissenschaft eine moralische und sitt115 Teil B : Die Aufgabe der Bildung liche Begründung angesichts dieser Lebensbedingungen gefordert (vgl. Hansmann & Marotzki, 1988, S. 9). Hier kann auch eine Chance liegen, nämlich dann, wenn sich die Erziehungswissenschaft ihrer traditionellen Pflicht der Zukunftsorientierung bewusst wird. Nimmt sie diese Pflicht ernst, sind von ihr Visionen gefordert, schon allein deshalb, weil auch die nachwachsende Generation eine Zukunft braucht. Aus diesem Grunde kann sie auch keine ‘l´art pour l´art - Wissenschaft’ (Opaschowski, 1994, S. 258) sein. Hinsichtlich solcher Zukunftsfragen hat sie eine doppelte Verantwortung, denn die Zukunftsgesellschaft wird auch eine Lern- und Bildungsgesellschaft sein und ihre Entwicklung kann nicht dem Zufall oder dem privaten Belieben überlassen bleiben: 1. Sie sollte Konzepte vorstellen, die die humanitären klassischen Ideale einerseits angemessen berücksichtigen und 2. gleichzeitig Lösungen für Bewältigung heute noch nicht absehbarer zukünftiger Probleme integrieren. Gerade der Bildungsbegriff scheint hier die Möglichkeit zu bieten, die beiden Aufgaben miteinander zu verbinden. „Eine in der Tradition der europäischen Aufklärungsphilosophie stehende kritische Erziehungswissenschaft müßte eine Bildungsidee formulieren, die als Kriterium praktischer Bildungsarbeit darüber wacht, dass die organisierten Lernprozesse der Heranwachsenden zu kritischem Selbstverständnis, zu Selbstbestimmung und zu konkreter Handlungsfähigkeit führen, bei gleichzeitiger stetiger Reflexion über den gesellschaftlichen Zusammenhang, generell und konkret der soziokulturellen und institutionellen Bedingungen wie der praktizierten Interaktionsverhältnisse und der verordneten Lernintentionen und -inhalte“ (Bönsch, 1994, S. 30). Bereits die problemgeschichtliche Hinwendung im vorigen Kapitel hat deutlich gemacht, welche konzeptionelle Fülle und inhaltliche Spannung dieser Begriff aufweist. Will man nun den Bildungsbegriff für die heutige Zeit neu bestimmen, so kann es nur um eine dialektische Zusammenführung von systematischer Analyse und problemgeschichtlicher Aneignung gehen. Die problemgeschichtliche Aneignung wurde bereits im vorigen Kapitel geleistet, die systematische Analyse setzt bei den vielschichtigen Problemen der Gegenwart an. Versucht werden soll dadurch, 116 Teil B : Die Aufgabe der Bildung 1. Bildungsprozesse in diesem Kontext gewissermaßen aufzuspüren, um die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Ermöglichung und/ oder ihrer Behinderungen bzw. Verkehrung zu studieren, 2. ihre problematischen und widersprüchlichen Elemente auf den Begriff zu bringen und für die Reformulierung des Bildungsbegriffs fruchtbar zu machen (vgl. Hansmann & Marotzki, 1988, S. 10). Ein solcher Zugang ist somit gegenwartsbezogen und kann dann für konkrete didaktische Überlegungen als Ausgangspunkt dienen. Eine Analyse der jüngeren bildungstheoretischen Geschichtsschreibung beginnt in der Regel mit dem Zusammenbruch des Bildungsbegriffs als ‘pädagogische Leitkategorie’ in der Mitte der 60er Jahre. Die ‘Bildungskatastrophe’ (Picht, 1964) wurde vornehmlich ausgerufen, weil maßgebliche Kreise aufgrund quantitativer Vergleiche einen Standortnachteil für die BRD im Vergleich zu anderen Industrienationen befürchteten. Die Steigerung des Bildungs-Outputs, d.h. Vermehrung der Abiturientenzahlen, Ausschöpfung der Begabungsreserven und der damit verbundenen Verwissenschaftlichung des schulischen und außerschulischen Lernens auf allen Ebenen war das Gebot der Stunde. Mit Robinsohns Curriculum-Revision (1967) erreichte diese Strömung ihren Höhepunkt (vgl. Heymann, 1996, S. 15). Dass die traditionellen Begriffe der Bildung nicht mehr griffen, wurde nun immer deutlicher. Das Bildungsverständnis änderte sich in eine empirische Ausrichtung und der Bildungsbegriff wurde ersetzt durch ‘theoretische Äquivalente’ wie Wissenschaftsorientierung, Lernen, Erziehung oder Unterricht (vgl. Hansmann, 1988, S. 24). Eckhard Meinberg konstatiert als Hauptgründe für die damalige Abkehr vom Bildungsdenken, dass die Bildungstheoretiker nicht in der Lage waren, die gesellschaftliche Praxis in ausreichendem Maße in ihre Überlegungen zu integrieren, da es ihnen am notwendigen Realitätssinn mangelte. Aus diesem Grunde wurde den bildungstheoretischen Entwürfen mangelnder Gesellschaftsbezug vorgeworfen. Schließlich war allem bildungstheoretischen Erkenntnisgewinn die Berufung auf hermeneutisch-phänomenologische Verfahren gemein, so dass der Verdacht aufkam, viele Bildungstheoretiker hätten zwar ein Interesse am Bestehenden, nicht aber an notwendigen Veränderungen (vgl. Meinberg, 1991, S. 71f). 117 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Deutlich wird diese veränderte Haltung auch an einer Kritik Theodor Wilhelms an der kategorialen Bildung Wolfgang Klafkis: „Wir sprechen von etwas prinzipiell anderem als dem ‘aufschließenden’ Charakter der Bildungskategorien. Dort wird die Rettung der Schule im Angesicht der Überfülle der Stoffe von den intensiven Kategorien des Fundamentalen und Elementaren erwartet, wobei die Wirklichkeit, in der der Schüler lebt, geheimnisvoll und formelhaft wird“ (Wilhelm, 1969, S. 227). Fragte man hier nach der entsprechenden ‘Anthropologie der Wissenschaftsschule’ (Wilhelm, 1969, S. 228), so waren die entsprechenden Erfordernisse für die wissenschaftliche Haltung ‘Sachlichkeit’, ‘Veränderungsfähigkeit’ und ‘Öffentlichkeitsstatus’. Als Wege hin zu diesen Erfordernissen wurden Begriffe wie Sozialisation, Qualifikation oder Identität geprägt, ohne diese Formeln gleichzeitig mit einem zu verändernden Bildungsbegriff in logische Beziehung zu setzen. Andererseits gilt heute aber auch, dass, wenn der Bildungsbegriff wieder stärker in den Mittelpunkt des Interesses treten soll (und das tut er, wie die Zahlen der jüngeren Veröffentlichungen zu diesem Thema zeigen), er die in diesen Beiträgen formulierte Kritik berücksichtigen und einschließen muss. „Sollte der Bildungsbegriff als pädagogisch-praktisch-wissenschaftlicher Leitbegriff wiedergewonnen werden, sind die erwähnten sozialwissenschaftlichen Leitformeln in ihren Unterscheidungen aufzunehmen, voneinander abzugrenzen, vor allem aber in ihren horizonterweiternden wie horizontverstellenden Dimensionen zu interpretieren“ (Hansmann, 1988, S. 24). Bönsch vertritt die Ansicht, dass geprüft werden muss, welche Art von Bildung wir gesellschaftlich benötigen, um unsere Lebensverhältnisse humaner, freundlicher und entkrampfter zu gestalten. Das bedeutet auch, dass zunächst geklärt wird, was die Menschen an Lebensausrüstung benötigen, um ihr Leben, wie das der anderen, lebenswert zu gestalten (vgl. Bönsch, 1994, S. 31). Auch Klafki greift die Kritik auf und gesteht ihr ‘partielle Wahrheitsmomente’ zu (vgl. Klafki, 1996, S. 44). Dennoch lässt er einen Verzicht auf den Bildungsbegriff als Grundkategorie im Hinblick auf die sich stellenden pädagogischen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben aus zwei Gründen nicht gelten: 118 Teil B : Die Aufgabe der Bildung • Zum Einen ist eine zentrale Kategorie wie der Bildungsbegriff unbedingt notwendig, wenn die pädagogischen Bemühungen um die nachwachsende Generation und der heute unabdingbar gewordene Anspruch an das ‘lebenslange Lernen’ (dieser betrifft alle Generationen) nicht in ein unverbundenes Nebeneinander von zahllosen Einzelaktivitäten auseinanderfallen soll. Vielmehr sollen pädagogisch gemeinte Maßnahmen begründbar und verantwortbar sein und bleiben. • Zum Anderen erweist es sich, dass in manchen neueren pädagogischen Theorien zwar auf den Bildungsbegriff verzichtet wird, dies jedoch nicht im Sinne einer ‘ersatzlosen Streichung’, sondern mit analogen Zentralbegriffen geschieht. So sollen Begriffe wie ‘Emanzipation’ oder ‘Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit’ im Sinne oberster Lernziele strukturell das gleiche leisten wie die Kategorie der Bildung: sie bezeichnen zentrierte, übergeordnete Orientierungs- und Beurteilungskriterien für alle pädagogischen Einzelmaßnahmen. In Anknüpfung an die Versuche von Heydorn, Blankertz, Horkheimer oder auch Nipkow, die progressiven Momente der Denkansätze des klassischen Bildungsbegriffes herauszuarbeiten, begründet auch Klafki in seiner zweiten Studie die Grundbestimmungen eines Allgemeinbildungskonzeptes. Ausdrücklich weist er dabei darauf hin, dass es sich dabei um eine ‘kritische Aneignung’ des Bildungsbegriffes handelt. Dies aus zwei Gründen: 1. In den klassischen Bildungstheorien ist der Zusammenhang von Bildung und Gesellschaftsstruktur und damit die politische Dimension nur unzureichend erkannt worden. 2. Die Forderungen nach der allgemeinen Menschenbildung der klassischen Bildungstheoretiker sind durch die unverkennbare Einseitigkeit gekennzeichnet, dass sie sich nur auf das männliche Geschlecht bezogen. Auffallend ist, dass es in letzter Zeit eine Fülle von Veröffentlichungen gegeben hat, die sich mit der Neuformulierung des Bildungsbegriffes auseinandersetzen. Auch hier wählen die meisten Autoren einen dialektischen Zugang zwischen historischer Analyse und kritischem Gegenwartsbezug. Besonders ausführlich bemühen sich die Herausgeberwerke von Otto Hansmann und Winfried Marotzki mit ihrem zweibändigen Diskurs der Bildungstheorie aus den Jahren 1988 und 1989 und die Münchner Pädagogen Her119 Teil B : Die Aufgabe der Bildung bert Seibert und Helmut Serve (1994) in ihrem Herausgeberwerk mit dem Titel ‘Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend’ um eine Neuordnung des Bildungsbegriffes. Die Schwierigkeit besteht nun darin, den Bildungsbegriff so auszugestalten, dass er Gültigkeit für alle pädagogischen Handlungsfelder besitzt. Es gilt also, einen Ordnungsrahmen zu finden, der gleichzeitig als Orientierung dienen kann. a) Allgemeinbildung und Bildung: Begriffliche Klärungen „Bildung ist nicht gleich Wissen, aber wohlverstandenes Wissen ist für sie unerläßlich, da es Erkennen und Ermessen ermöglicht, .... Bildung ist nicht Allgemeinbildung, aber Wissen und Denken aus einem ‘Allgemeinen’“ (Ballauff, 1989, S. 119). Zwar wird in der neueren Literatur zwischen den Begriffen der Allgemeinbildung und der Bildung kaum systematisch unterschieden. Dennoch sprechen, wie die Ausführungen bei der Darlegung des historischen Bildungsbegriffes (vgl. Teil B, Kap. 1.1) schon deutlich gezeigt haben, problem- und begriffsgeschichtliche Gründe dafür, die Begriffe zu unterscheiden und den Allgemeinbildungsbegriff gegenüber dem Bildungsbegriff zu bevorzugen, gerade dann, wenn es um eine Einbeziehung in schultheoretische Überlegungen geht. Zunächst einmal spricht hierfür der Tatbestand, dass der Begriff ‘Bildung’ heute einer der unklarsten und verschwommensten Grundbegriffe sowohl in der deutschen Pädagogik als auch im allgemeinen Sprachgebrauch ist. Ebensowenig besteht eine Übereinstimmung darüber, was unter Bildung zu verstehen ist; die Tatsache, dass der Bildungsbegriff bis heute von den gegensätzlichsten pädagogischen und schulpolitischen Positionen in Anspruch genommen wird, weist darauf hin, dass vor der inhaltlichen eine begriffliche Bestimmung vorgenommen werden muss. In Bezug auf die Schule setzt sich mehr und mehr der Allgemeinbildungsbegriff durch. Unbestritten notwendig ist hierbei die immer wieder zu stellende Frage, welche Fächer (und daran anschließend, welche Inhalte und welche Vermittlungsformen) aus welchen 120 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Gründen für die Allgemeinbildung unverzichtbar, welche reduzierbar oder ergänzungsbedürftig sind. Hat die Allgemeinbildung den Anspruch, Bildung für alle zu vermitteln, so muss genau geklärt werden, welches Wissen, welche Fertigkeiten und Haltungen allen Schülern anzutragen sind. Dazu kommt, dass gerade in den höheren Stufen Schulfächer als wissenschaftliche Propädeutik auf Kosten der Allgemeinbildung betrieben werden. „In dem Maße, in dem die Leitfunktion der Wissenschaften verschwindet, in dem Maße muß man sich über Bedingungen von fächerübergreifenden Kriterien Gedanken machen. Die Tragfähigkeit eines neuen Allgemeinbildungskonzeptes wird nicht zuletzt danach zu beurteilen sein, in wieweit es Kriterien für die einzelnen Fächer bereitstellt. Dies weist auf einen schwarzen Fleck hin, da es bisher kaum Überlegungen in Hinsicht der curricularen Binnenstruktur gibt“ (Heymann, 1996, S. 29). Die Universalität, das heißt, die Allgemeinheit der Bildung wird seit langem missverstanden: In Wahrheit ist kein Enzyklopädismus intendiert, sondern Wissen als ein Ganzes, wie es durch erkennendes und ermessendes Denken offenbar wurde. Es geht darum, das, was ist und sein kann, in der Fülle seiner Erscheinungen zu erschließen (vgl. Ballauff, 1989, S. 119). Um terminologische Ungenauigkeiten zu vermeiden, müssen zunächst die Termini Bildung und Allgemeinbildung begriffskritisch voneinander abgegrenzt werden, damit sie als pädagogische Leitkriterien dienen können. (1) Unterscheidungen des Bildungsbegriffes. Der Begriff der Bildung, aber auch Ableitungen wie ‘allgemeine Bildung’ oder ‘Allgemeinbildung’ zeigen zunächst typisch deutsche semantische Traditionen auf. Nicht nur, dass in anderen westeuropäischen Sprachen die Differenz von Erziehung und Bildung nicht so artikuliert werden kann, wie das im Deutschen (aber auch im Russischen) möglich ist, auch problemgeschichtlich verweist die Historie von Bildung auf besondere Merkmale der deutschen Gesellschaft (vgl. Tenorth, 1986, S. 10). Ihren Ursprung und die fortdauernde Bedeutung hat diese spezifische deutsche Tradition bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In dieser Zeit erfährt der Begriff der Bildung nicht 121 Teil B : Die Aufgabe der Bildung nur „eine einzigartige philosophisch-ästhetische und pädagogische Überhöhung und ideologische Aufladung“, hier werden auch schon die bis heute kontroversen Deutungen seines Gehaltes und seines Anspruchs vorgetragen (vgl. Vierhaus, 1972, S. 508). Einerseits wird Bildung zum Leitbegriff einer gesellschaftlichen Bewegung, in der Freiheit und Autonomie der Bürger, ihr Verständnis von Individualität und Persönlichkeit formuliert und zugleich die gesellschaftliche Bedeutung der Bildungseinrichtungen, der gelehrten Berufe und der Gebildeten für den Staat ausgedrückt wird. Andererseits gewinnt der Bildungsbegriff neben dieser sozialen Funktion auch philososphische Identität: Als systematische Deutung des Prozesses, in dem sich die Subjekte ihre Welt aneignen und sich erst wirklich zum Menschen bilden. Dabei kennt der Begriff der Bildung in dieser Konstitutionsphase zumindest philosophisch noch keineswegs schicht- oder klassenspezifische Begrenzungen (vgl. Tenorth, 1986, S. 10). Dem gegenüber steht die Indienstnahme für den gesellschaftlich nützlichen Nachweis ‘höherer wissenschaftlicher‘ Bildung. Eine in diesem Sinne verstandene Bildung bestätigt die Existenz eines ‘sozialen Klassensystems’ und entkräftet zugleich den überlieferten humanistischen Anspruch (vgl. Blankertz, 1969). Erst jetzt, da der Gedanke ‘allgemeiner Bildung’ politisiert und ideologisch aufgeladen wird und der ursprünglich aufklärerische und egalitäre Anspruch dementiert ist, findet auch allmählich die substantivierte und bis dahin nicht benutzte Fassung ‘Allgemeinbildung’ Eingang in die öffentliche und pädagogische Diskussion. „‘Allgemeinbildung’ als Formel für kontingentes Wissen und als Etikett für den Lehrplan einer speziellen, nämlich zur akademischen Berufslaufbahn führenden Ausbildung ersetzt im pädagogisch-bildungspolitischen Diskurs die Idee allgemeiner Menschenbildung. Damit wird zugleich die Differenz zwischen einer allgemeinen Theorie der Bildung des Menschen und der historischen Gestalt von Allgemeinbildung in Lehrplänen und Schulstrukturen vorerst und anscheinend bis heute irreversibel festgeschrieben“ (Tenorth, 1986, S. 14). In der bildungstheoretischen Diskussion wird der Begriff dann in sich schematisiert. An die Stelle der allgemeinen, als der jedem Menschen unerläßlichen Bildung tritt jetzt der Begriff der ‘grundlegenden Bildung’, der der Berufsbildung folgt, während die wahre Allgemeinbildung ihren Ort nur noch außerhalb der öffentlichen Pflichtschulen finden kann. Der ‘Beruf des Staates zur Erziehung’, den Schleiermacher schon 1814 skeptisch erörterte, wird vielleicht nicht grundsätzlich bestritten, aber der Zweifel ist doch unüber122 Teil B : Die Aufgabe der Bildung sehbar, ob die Erziehungseinrichtungen des Staates den Anspruch der Bildungsanstalt zu Recht erheben (vgl. Benner, 1978). Sobald das Schulsystem aber nur noch als Stätte einer gesellschaftlich definierten und kontrollierten Verallgemeinerung der Subjekte erscheint, verlagern sich auch theoretische Fragen aus dem schulhistorischen und schulpädagogischen Kontext. Klassische Themen der Bildungsphilosophie - das Verständnis von Subjektivität, Individualität und Humanität, sogar der Bildungsbegriff, spalten sich von den pädagogisch-professionellen Erörterungen über Schule und Erziehung ab und werden in Philosophie und philosophischer Anthropologie, in Ästhetik oder kritischer Theorie verhandelt. Auf die Schule bezogen, wird dagegen die ‘Kontinuität von Ungleichheit’ zum dominierenden Eindruck und diese Ungleichheit erstreckt sich auf die Lernziele und Lehrpläne, die Inhalte und Berechtigungen, die Lebenschancen und die über Schulen und Karrieren vermittelte soziale Lage (vgl. Kaelble, 1978, 1983; Lundgreen, 1981). Das Bildungssystem erlaubt somit kaum den Schluss, dass es dem klassischen bürgerlichen Anspruch entsprochen hat, ‘alle in Allem’ zu bilden oder ihnen auch nur den Teil an Bildung zu vermitteln, den man für ‘unerläßlich’ halten kann (vgl. Tenorth, 1986, S. 15). In dieser Perspektive - der Kontinuität von Ungleichheit wie der Universalisierung von Lernprozessen - ist die Wirklichkeit allgemeiner Bildung zuerst und nachdrücklich gegenwärtig. Hier ist die Pädagogik gefordert, Auskunft darüber zu geben, wie unter dem Anspruch allgemeiner Bildung Freiheit und Gleichheit, Einheit und Differenzierung, Individualisierung und Vergesellschaftlichung legitimiert und zugleich Leitlinien pädagogischer Arbeit werden können. Dass hier zunächst eine begriffliche Bestimmung notwendig ist, zeigt sich schon allein daran, dass in der Realität verschiedene Auffassungen von Bildung aufeinandertreffen, die außer der gleichen Begrifflichkeit nur wenig Gemeinsamkeiten aufzeigen. Das hat durchaus auch einen praktischen Grund: Um Problemen der Gegenwart zu begegnen ist es nicht Voraussetzung, Informatik oder Ökonomie oder Arbeitswissenschaft zu lernen, sondern zu wissen, was Bildung oder Allgemeinbildung ist, welche Möglichkeiten sich für diese (allgemeine) Bildung überhaupt bieten, und welchen Anspruch sie nicht unterbieten darf (vgl. Tenorth, 1986, S. 22f). 123 Teil B : Die Aufgabe der Bildung (2) Die Bedeutungsdimensionen der Bildung. Wendet man sich zunächst den wichtigsten Bedeutungsdimensionen des Bildungsbegriffes zu, die sowohl in der Alltags- als auch Fachsprache verbreitet sind, so lassen sich drei Hauptdimensionen erkennen (vgl. Beck, 1987; Heymann, 1996; Hentig 1996): a) Bildung als Idee b) Bildung als Produkt c) Bildung als Prozess (a) Bildung als Idee. In vielen bildungstheoretischen Texten ist explizit die Rede von der ‘Idee der Bildung’ oder vom ‘Geist der Bildungsidee’. Gemeint ist hier kein empirischer Sachverhalt, sondern die Tatsache, dass sich der Mensch von einer ‘Idee’ leiten lassen kann. Denn ob beispielsweise ein Lehrer, der versucht, im Geiste der Bildungsidee zu unterrichten, dies auch wirklich tut oder nicht, lässt sich empirisch kaum nachweisen, da viele seiner praktischen Umsetzungen unterschiedlich zu deuten sind. Dennoch schwebt die Idee nicht beziehungslos über unserem praktischen Handeln, da sie sich in ihm immer konkretisiert. Hier zeigt sich das verwirrende Spektrum, das der Bildungsidee anhängt. (b) Bildung als Produkt. Hierbei handelt es sich sicherlich um die verbreitetste Dimension des Bildungsbegriffes. Gemeint ist ein bestimmtes Wissen, das sich gegenüber einem anderem Wissen als Bildungswissen unterscheidet. Unterstellt wird dieser Art der Bildung, dass sie sich wie ein Produkt erwerben und besitzen lässt. „Bildung wird manifest als ein Ensemble von Wissen und/ oder Fähigkeiten, über das eine Person verfügt und das sie im Laufe ihres bisherigen Lebens erworben hat“ (Heymann, 1996, S. 36f). Im Unterschied zur Bildung als Idee lässt sich hier empirisch überprüfen, ob eine Person gebildet ist. (c) Bildung als Prozess. Bildung als Prozess manifestiert sich vor allen Dingen in dem Verb ‘bilden’. Bildung drückt hier eine Aktivität aus, die in der Regel zunächst keinen unmittelbaren Nutzen hat. Im Unterschied zur Bildung als Produkt wird Bildung nicht erst als ein bestimmtes Ergebnis wahrgenommen, sondern sie wird schon in der Auseinandersetzung als Bereicherung empfunden. Gemeint ist hier die (intellektuelle) Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen jeglicher Art. Bildung in dieser Form ist nur sehr schwer zu in124 Teil B : Die Aufgabe der Bildung stitutionalisieren, da sie sich nicht den dafür notwendigen Vereinheitlichungszwängen unterwirft. In allen drei Fällen ist Bildung als ein Prozess der Auseinandersetzung mit Welt und Aneignung von Welt87 zu sehen; dieser kann Bildung als Produkt oder Zustand für das Individuum hervorbringen, wenn er im Geiste der Bildungsidee verläuft. Das ‘Verlaufen im Geiste der Bildungsidee’ bezeichnet somit eine Qualität des Prozesses, und zwar diejenige, die in dem gesuchten Leitkriterium konkretisiert werden muss. Konkret bei Unterricht heißt dies: Unterricht kann im Geiste der Bildungsidee verlaufen, dann darf er bildend genannt werden (vgl. Heymann, 1996, S. 37). In der Unterscheidung zeigt sich nun bei näherer Betrachtung, dass Bildung zunächst ein Oberbegriff von Allgemeinbildung ist. Allgemeinbildung scheint da etwas spezielleres zu sein, wo ihr beispielsweise Berufsbildung oder andere Spezialbildungen gegenübergestellt werden. Da eine derartige Hierarchie heute aber eher eine Ausnahme zu sein scheint, empfiehlt sich eine Unterscheidung in der Art, dass beide sehr große Ähnlichkeiten mit einer Reihe konnotativer Unterschiede aufweisen (vgl. Ballauff, 1989, S. 119). Bildung betont stärker die Seite des Individuums, wohingegen Allgemeinbildung stärker auf das Moment der gesellschaftlichen Kulturvermittlung abzielt: „Im Prozeß der begegnenden Aneignung zwischen dem Individuum und der Kultur, in der es heranwächst, betont der Allgemeinbildungsbegriff stärker die Seite der Gesellschaft, der Bildungsbegriff stärker die des Individuums. Die Institutionalisierung von Lern- und Erziehungsprozessen in Form eines öffentlichen Schulwesens, auf das die Gesellschaft angewiesen ist, wenn sie ihr kulturelles Erbe und das für ihren Fortbestand lebensnotwendige Wissen an die nachwachsende Generation übermitteln will, ist im Allgemeinbildungsbegriff, wie er heutzutage verwendet wird, im Unterschied zum Bildungsbegriff von vornherein mitgedacht“ (Heymann, 1996, S. 42). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Bildung und Allgemeinbildung als Antworten auf zwei unterschiedliche Probleme stehen: 87 Gemeint ist hier ein Weltbegriff, der die Erde (Erdoberfläche, Biosphäre), die globalen Lebensbedingungen und -realitäten, Natur und Kulturen unseres Planeten sowie den astronomischen Nahbereich (Sonne, nahe Planeten, Mond) umschreibt, welcher auch den gebräuchlichsten darstellt. 125 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Dabei ist Bildung die Antwort auf die Frage, was das Menschsein des Menschen ausmacht. Heymann bezeichnet diese Frage in Bezug auf Ballauff (1989) als die anthropologische Grundidee, wobei es sich hier um ein theoretisches, philosophisches und anthropologisches Problem handelt und es nicht geklärt werden kann, ob dies lösbar ist. Allgemeinbildung antwortet dagegen auf die Frage, was den Heranwachsenden durch die öffentlichen Schulen vermittelt werden soll. Wie bereits am Ende von Teil A erwähnt, handelt es sich hier um das schulpädagogische Grundproblem. Somit ist Allgemeinbildung also in diesem Fall das angemessenere Leitkriterium. Allgemeinbildung geht aber weit über den schulischen Kontext hinaus: „Worauf es mir bei der Verklammerung von Schule und Allgemeinbildung ankommt, ist vielmehr die Einsicht: Allgemeinbildung, die wesentliche Grundzüge unserer Kultur repräsentiert, stellt eine entscheidende Voraussetzung für individuelle Bildung dar: für individuelle Aneignung von Kultur, letztlich für die Menschwerdung innerhalb unserer Kultur. Indem Schule sich um Allgemeinbildung als Angebot an alle bemüht, hat sie für ihre Schüler die Möglichkeit von Bildung (Menschwerdung) zu eröffnen. Bewirken, produzieren oder gar erzwingen kann sie Bildung nicht“ (Heymann, 1996, S. 43). Allgemeinbildung ist demnach so zu konzipieren, dass sie Bildung in großer Vielfalt möglich macht. In diesem Sinne ist Bildung nicht Allgemeinbildung, aber Wissen und Denken aus einem ‘Allgemeinen’. „So gesehen bedeutet Bildung die Erhebung zu diesem Allgemeinen und enthebt dem Partikularen, Individuellen ebenso wie dem Gelegentlichen und Zufälligen“ (Ballauff, 1989, S. 119). Das schließt auch eine Fülle von unterschiedlichen, sich eventuell widersprechender Bildungsidealen mit ein. Allgemeinbildung ist Voraussetzung vernünftiger Selbstverwirklichung für den Einzelnen, die ihm Zugänge zu allem Besonderen eröffnet, auf das er sich einlassen und für das er tätig werden kann. Es wird deutlich, dass mit der Allgemeinheit der Bildung kein Enzyklopädismus intendiert ist, sondern Wissen als ein Ganzes, wie es durch erkennendes und ermessendes Denken offenbar wird. Es geht darum, dass das, was ist und sein kann, in der Fülle seiner Erscheinungen erschlossen wird. 126 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Ausgearbeitete Konzepte, wie beispielsweise das von Wolfgang Klafki, dienen dann als Brücke zwischen der Idee und ihrer konkreten praktischen Umsetzung und können einen Kompromiss darstellen in der Konsensfindung bei der Curriculumsentwicklung. Wenn im weiteren Verlauf dieser Arbeit von Bildung die Rede ist, wird das Wort der Vereinfachung wegen mit dem Begriff der Allgemeinbildung synonym gesetzt und nur dann explizit auf die Unterscheidung verwiesen, wo diese notwendig erscheint. b) Grundbestimmungen eines Konzeptes der Allgemeinbildung als Ausgangspunkt für den Fachunterricht Das Vorhaben, die Bildungsfunktion der Schule über das Kriterium der Allgemeinbildung zu formulieren, konkretisiert sich mehr und mehr. Der folgende Abschnitt soll den Grundstein dafür legen, dass es möglich wird, sowohl konkrete curriculare als auch allgemeinbildende Vorgaben für den Fachunterricht zu formulieren. So gelingt es dann auch, die Beziehungen zwischen den in Teil A herausgearbeiteten Aufgaben der Schule abzuleiten. Bildung, respektive Allgemeinbildung, als pädagogisches Leitkriterium präzisiert sich im Folgenden in vier verschiedenen Punkten, die zusammen genommen den Rahmen der Aufgaben bilden, die eine zeitgemäße Schule zu erfüllen hat, wenn sie dem Anspruch einer demokratischen Einrichtung gerecht werden will, „aus Kindern und Jugendlichen politikfähige, politikbereite und verantwortungsbewusste Menschen zu machen und die Kultur weiterzugeben - zusammen: der nächsten Generation zu helfen, in der Welt, in der sie leben, erwachsen zu werden“ (Hentig, 1993, S. 17). Diese 4 verschiedenen Aufgaben stellen eine Synopse verschiedener bildungstheoretischer Überlegungen dar und versuchen, die Gemeinsamkeiten zu bündeln. Auch hier zeigt sich die starke Anlehnung an Wolfgang Klafkis Konzept der Allgemeinbildung, die Gründe wurden bereits zu Beginn dieses Kapitels näher erläutert: 1. Der gesellschaftliche Aspekt zeitgemäßer Bildung. 2. Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen. 3. Die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung. 4. Lebenslanges Lernen. 127 Teil B : Die Aufgabe der Bildung (1) Der gesellschaftliche Aspekt zeitgemäßer Bildung. Zunächst einmal gilt es, das generelle Verhältnis zwischen Bildung und Gesellschaft zu klären, denn Bildungsfragen sind immer Gesellschaftsfragen. Diese zunächst selbstverständlich klingende Formel ist aber mehrdeutig und lässt, wie Klafki zeigt, mindestens zwei unterschiedliche Auslegungen zu: 1. Sie kann so gedeutet werden, dass pädagogische (Bildungs-) Theorie und (Bildungs-) Praxis als Funktionen der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet werden. Wie sich bereits gezeigt hat, wird der Bildungstheorie in diesem Falle eine IstBestimmung vorangestellt und Bildung hat sich an den Grundstrukturen und Anforderungen der Gesellschaft zu orientieren. 2. Die andere Deutung hält nicht an dieser Abhängigkeit von Bildung an den gesellschaftlichen Voraussetzungen fest und zwar deshalb, weil sie erkennt, dass Gesellschaft zum einen immer von Menschen gemacht ist und deshalb auch veränderbar ist. Zum anderen sind in den modernen Gesellschaften und in den ihnen impliziten Entwicklungstendenzen zahlreiche Widersprüche vorhanden. Wo sich aber Gesellschaft in einer Entwicklung befindet, in der unterschiedliche Interessengruppen miteinander ringen, sind auch Handlungsspielräume und Interpretationsmöglichkeiten gegeben, die mitbestimmungs- und handlungsfähige Personen fordern. So besagt dann diese Deutung, dass der pädagogischen (Bildungs-)Theorie und (Bildungs-)Praxis Möglichkeiten und Aufgaben zugesprochen werden, dass sie auf gesellschaftliche Verhältnisse und Veränderungen nicht nur reagieren, sondern unter der Prämisse der pädagogischen Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebensbedingungen auch aktiv gestalten kann (vgl. Klafki, 1996, S. 50). Für den hier behandelten Zusammenhang ist die zweite von Klafki vorgeschlagene Deutung relevant, denn für die Schule kommt ein Bildungsauftrag nur dann in Betracht, wenn sie nicht nur „Transformationsriemen vordergründiger gesellschaftlicher Erwartungen“ ist (Bönsch, 1994, S. 43). Theodor Ballauff bezeichnet diesen Vorgang als ‘Freigabe’: „Der Prozeß der Sozialisation wird durch den Gedanken der Freigabe zu einer neuen Interpretation erhoben: Nicht lassen wir uns gegenseitig in Kommunikation und Interaktion als das erscheinen, was wir Dank der Sozialisation ‘sein’ dürfen, oder die Rolle zuweisen, in der wir aufzutreten haben; vielmehr werden wir unsere gegenseitigen Mittler. Jeder verhilft dem 128 Teil B : Die Aufgabe der Bildung anderen, in Kosmos und Gesellschaft sich ‘sein Wesen’ zu bilden, das sich zusammenschließt aus der Selbständigkeit des Ich im Denken und der dadurch ermöglichten Übernahme, besser: Teilnahme an bestimmten sachlichen und mitmenschlichen Aufgaben, Werken, Taten, die dem einzelnen als dem Verantwortlichen zugerechnet werden“ (Ballauff, 1989, S. 117). Die Aufgabe der schulischen Bildung lässt sich demnach dahingehend umschreiben, dass der Unterricht zunächst nicht schüler- oder lehrerzentriert ist, sondern sach- und aufgabenzentriert. Immer behält diese ‘Emanzipation’ nur ihren Sinn, wenn ihr der Gedanke der Partizipation, der Teilhabe, Teilnahme und Teilgabe korrespondiert (vgl. Ballauff, 1989, S. 118). Auch Bönsch knüpft in diesem Zusammenhang an dem Begriff der Freiheit an, hier verstanden als dialektischer Zusammenhang von individueller und gesellschaftlicher Freiheit und Gerechtigkeit, individueller Vernunft und vernunftgemäßen gesellschaftlichen Verhältnissen. Unabhängig von ökonomischem Zwang muss unter dieser Prämisse geprüft werden, welche Art von Bildung wir gesellschaftlich benötigen, um unsere Lebensverhältnisse humaner, freundlicher, entkrampfter zu gestalten. Der Mensch muss immer wieder prüfen, was seine Gattung an Lebensausrüstung benötigt, um ihr Leben lebenswert zu machen (vgl. Bönsch, 1994, S. 31). Andererseits hat Bildung und die damit verbundenen Institutionen nur so viel Wirkungschancen, wie ihnen insgesamt von der Gesellschaft zugestanden werden. Konkret bedeutet dies, dass die Schule die ständige Ausbalancierung von individueller und sozialer Bildung und pragmatisch formulierter Qualifikationen versuchen muss. Gerade hier zeigt sich ein wesentliches Merkmal des Verhältnisses zwischen Bildung und Gesellschaft: Moderne Bildung identifiziert sich nicht mit Sozialisation88, sondern sollte den Menschen befähigen, diese kritisch zu reflektieren. Nur so gibt sie ihn zu selbständiger Gedanklichkeit frei. 88 Geißler bezeichnet Sozialisation bezugnehmend auf Geulen & Hurrelmann (1982) als den ‘Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt’. Im Bezug zwischen Sozialisation und Bildung lautet seiner Ansicht nach die Frage, wie der Mensch sich zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet. Beschränkt man sich dabei auf das ‘Lernen der Normen und Werte einer Gesellschaft’, so kann der bildungstheoretische Aspekt in der Erziehung ausgeblendet werden. Soll aber der Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung stärker akzentuiert werden, dann kann das der Erziehung nur gelingen, wenn Bildungstheorien und Gesellschaftstheorien verknüpft werden (vgl. Geißler, 1994, S. 34ff). 129 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Man könnte geradezu ein reziprokes Verhältnis von Sozialisation und Bildung ansetzen: Je mehr die Sozialisation überwiegt, desto geringer wird die Bildung; je mehr die Bildung - die Verselbständigung im Denken - überwiegt, desto mehr wird die Sozialisation in ihren Funktionen und Prozessen zurücktreten. Bildung bedeutet, eine Balance zwischen personaler und sozialer Identität herzustellen und aufrecht zu erhalten. „Dann bereite ich mir nicht ein Selbst, indem ich zum Beispiel einen Beruf mit diesem Selbst identifiziere und ihn mir zu eigen mache, um mich wiederum auf ihn hin identifizieren zu lassen, sondern ich erfülle eine Berufstätigkeit, weil ich ihren Sinn, ihre Notwendigkeit einsehe, weil ich beides erfahren habe und jene Tätigkeit verwirklichen möchte - aber nicht mich“ (Ballauff, 1989, S. 44). Es zeigt sich, dass ein modernes Bildungskonzept „nicht hinreichend, ja nicht einmal primär durch den Bezug zur modernen Industriegesellschaft begründet werden kann“ (Klafki, 1996, S. 51). Damit ist nicht gesagt, ein solches Konzept solle die gegenwärtigen und vermutlich zukünftigen gesellschaftlichen Anforderungen nicht berücksichtigen, im Gegenteil: damit ist gesagt, dass es die ausdrückliche Aufgabe hat, diese aufzugreifen und kritisch zu erweitern. Erst dadurch können „auch die Herausforderungen, die sich aus der Weiterentwicklung der Industriegesellschaft für die Theorie und Praxis einer neuen Allgemeinbildung ergeben, angemessen interpretiert und konstruktiv beantwortet werden“ (Klafki, 1996, S. 51). Schule hat somit die Aufgabe der ‘Weltorientierung’. Mit der Aufgabe der ‘Weltorientierung’ spricht Heymann einen Bereich an, dessen zentrales Anliegen es ist, die Schüler mit materialem Wissen über die Welt auszustatten. Um hier gleich Missverständnissen vorzubeugen, muss deutlich gemacht werden, dass sich Heymann hier mit seinem Begriff der Weltorientierung an den von Becker (1980) benutzten Terminus ‘Weltverständnis’ oder den von Ballauff beschriebenen Aufbau eines „umfassenden Interpretationshorizontes, eines Gedankenkreises, der Erkennen und Ermessen ermöglicht“ (Ballauf, 1989, S. 94) anschließt89. Es geht hier weder um den bereits erwähnten Enzyklopä- 89 Auch der von ihm gewählte Terminus der Weltorientierung ist weit verbreitet: vgl. Stegmaier, 1984; Geißler, 1984; Fetscher, 1986; Maier, 1986. Dieser Weltbegriff darf nicht verwechselt werden mit dem bereits beschriebenen Weltbegriff, wie ihm Humboldt benutzte. 130 Teil B : Die Aufgabe der Bildung dismus, noch um eine Wissenschaftsorientierung90, die wichtige Aspekte der ursprünglichen Idee der Weltorientierung in den Hintergrund gedrängt hat: die lebensweltlichen und nicht primär wissenschaftlich repräsentierbaren Aspekte des Weltverstehens, etwa in der Form, dass Musik auf Musikwissenschaft reduziert wird91. Natürlich sind die modernen Wissenschaften ein fester Bestandteil unserer Welt, weshalb die jungen Menschen auch ihre zentralen Gegenstandsbereiche, Zuständigkeiten, Problemlösungskapazitäten und spezifischen Weltsichten kennen sollten. Dennoch sollte in den Schulen auch klar gemacht werden, welche Bedeutung die fachlichen Begriffe und Strukturen für das Verständnis sachlicher, sozialer und ideeller Alltagsprobleme haben, welche nichtfachlichen Probleme sich mit ihrer Hilfe lösen lassen und wo die Grenzen der jeweiligen Wissenschaft liegen. Gerade auf der Suche nach solchen Grenzen erhält die Frage nach den zentralen Inhalten eines Schulfaches große Bedeutung. „Wenn man sich also entscheidet, den Fachunterricht an grundlegenden oder zentralen Ideen zu orientieren, so sollten diese nicht in erster Linie von fachimmanenter Bedeutung sein, sondern in ihnen sollten sich die Beziehung des Fachs zur übrigen Welt spiegeln“ (Heymann, 1996, S. 82). Und genau an diesem Punkt bezieht sich Heymann auf das Allgemeinbildungskonzept von Wolfgang Klafki und bezeichnet die von Klafki geforderte Auseinandersetzung mit den Welt- und Schlüsselproblemen im Rahmen der Allgemeinbildung als dringend notwendig. „Sie sollte auf den Aufbau eines allgemeinen Vorstellungs- und Urteilshorizontes bezogen werden. Sie ist einzubetten in eine nicht nur kurzatmig erworbene Kenntnis von historischen, politischen, geographischen, naturwissenschaftlichen und ökologischen Zusammenhängen. Und weil mit den Schlüsselproblemen viel emotionale Betroffenheit in Spiel kommen kann, bedarf die Auseinandersetzung mit ihnen einer gewissen Gelassenheit und Fähigkeit zur Distanzierung. Betroffenheit und Angst allein lähmen, wenn solchen Gefühlen keine konkreten Handlungsmöglichkeiten entsprechen“ (Heymann, 1996, S. 88). 90 Die Wissenschaftsorientierung wurde im Strukturplan des Deutschen Bildungsrates 1972 gefordert, um einen gesicherteren Zugang zu der Welt zu haben und um die Chancenungleicheit abzubauen. Heymann zeigt deutlich die Grenzen dieser Wissenschaftsorientierung auf: erstens würden Handlungen und Entscheidungen im Lebensalltag unzumutbaren Beschränkungen unterworfen, wenn nur auf ‘wissenschaftlich abgesicherte’ Informationen zugegriffen werden dürfe, zweitens erweist sich eine erhoffte Eindeutigkeit in der Systematik der Wissenschaften und des Wissens als Illusion und drittens sind die einzelnen Wissenschaften selbst von Experten nicht mehr zu überschauen (vgl. Heymann, 1996, S. 82). 91 Im Bereich des Sportes stellt sich in der Schule die Problematik der Reduktion von Sport auf Sportwissenschaft nicht. 131 Teil B : Die Aufgabe der Bildung (2) Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen. Dieser Abschnitt unterteilt sich in zwei Bereiche: zum Einen werden die Kompetenzen Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Gemeinschaftlichkeit angesprochen, zum Anderen die der Verständigung und Kooperation behandelt. (a) Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Gemeinschaftlichkeit. „Wenn eine Schule der Zukunft die Verschiedenheit von Individuen stärker beachten soll, als es bisher üblich ist, dann muß sie in den Stand versetzt werden, die jeweils spezifische Komplexität von Kompetenzen wahrzunehmen“ (Wessel, 1994, S. 414). Unter Kompetenz versteht Wessel in diesem Zusammenhang die zum jeweiligen Abschnitt des Lebens entfalteten Begabungen als Voraussetzungen für die Weiterentfaltung und Nutzung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, also nicht die Begabung oder Veranlagung schlechthin, sondern ihre Herausbildung bzw. Nutzung zum Zeitpunkt der Betrachtung bzw. Einschätzung des Individuums. Die Kompetenz eines Individuums ist somit nur im Prozess darstellbar, wobei grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass jedes Individuum über die notwendigen Kompetenzen verfügen kann, wenn sie entsprechend geweckt werden. Die Schwierigkeit im Hinblick auf die Entwicklung von Kompetenzen kann nun darin bestehen, dass in verschiedenen konkreten Situationen ein ganzer Komplex von Kompetenzen gefordert ist. Neben dieser Herausbildung muss es der Schule darüber hinaus gelingen, die Schüler zu befähigen, verschiedene Kompetenzen miteinander zu verknüpfen. In diesem Zusammenhang liegt der Anknüpfungspunkt Wolfgang Klafkis, der fordert, dass Bildung heute als selbsttätig erarbeiteter und personal verantworteter Zusammenhang verschiedener Grundfähigkeiten (Kompetenzen) verstanden werden muss. Bei näherer Betrachtung92 kristallisieren sich hierin zunächst die drei Fähigkeiten heraus: 1. Die Selbstbestimmung jedes Einzelnen über seine individuellen Lebensbedingungen und Sinndeutungen menschlicher, beruflicher, ethischer oder religiöser Art; 92 vgl. auch u.a. Klafki, 1994; Meinberg, 1991; Wollersheim, 1996; Bildungskommission NRW, 1995; Hentig, 1993, 1996; Seibert & Serve, 1994; Hansmann & Marotzki, 1988, 1989; Ballauff, 1989. 132 Teil B : Die Aufgabe der Bildung 2. die Mitbestimmungs- und Verantwortungsfähigkeit für die Gestaltung gemeinsamer kultureller, ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse; 3. die Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit93 in dem Sinne, dass der eigene Anspruch auf Mit- und Selbstbestimmung nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn dies den anderen Menschen aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse nicht vorenthalten wird. Eingeschlossen in diese Fähigkeiten sind andere, nicht minder wichtige Fähigkeiten, die deutlich machen, wie anspruchsvoll diese drei von Klafki genannten Fähigkeiten sind. Zunächst zeigt sich, dass die drei von Klafki vorgeschlagenen Grundfähigkeiten durchaus auch den kritischen Vernunftgebrauch beinhalten, wie er beispielsweise von Heymann in Anlehnung an Kant gefordert wird. Diesem liegt eine doppelte anthropologische Annahme zu Grunde: 1. Der Mensch ist fähig zur vernünftigen Selbstbestimmung, 2. Vernünftiges Denken fällt ihm nicht in den Schoß, er kann es verfehlen, wenn ihn Bildung und Erziehung nicht unterstützen (vgl. Heymann, 1996, S. 89). Wie bereits in der Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft (vgl. dieser Teil, Kap. 1.1) deutlich wurde, geht es hier um die Aufgabe, den Menschen zu befähigen, seine eigene Vernunft kritisch zu gebrauchen. Das bedeutet, dass er Tatsachenbehauptungen und Werturteile nicht einfach hinnimmt, sondern sie auf mögliche Widersprüche hin untersucht und der eigenen Urteilskraft vertraut. Kritischer Vernunftgebrauch fordert in hohem Maße gedankliche Folgerichtigkeit und Unterscheidungsvermögen und beinhaltet auch die Fähigkeit zur Selbstkritik. Der kritische Vernunftgebrauch ist dann auch die Voraussetzung für Mündigkeit im Sinne Theodor Adornos: „Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet“ (Adorno, 1971, S. 10). Wer mündig ist, nimmt sein Leben selbst in die Hand und trifft Entscheidungen selbstverantwortlich. Das zeigt ein hohes Maß an Selbstbestimmung. Kritischer Vernunftgebrauch erleichtert wiederum die Emanzipation, verstanden als Befreiung aus ungerechtfertigten Abhängigkeiten und falschen Zwängen, sowohl individuell als auch gesellschaftlich verstanden. Denn mittels kritischer Vernunft kann der Einzelne Abhängigkeiten und Zwänge durchschauen. Die Parallelen zum Aufklärungsbegriff Kants sind hier unübersehbar, denn die Aufklärung zielt auf die Freisetzung, auf die Verwirklichung des kritischen Vernunftgebrauchs. 133 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Natürlich dürfen die Grenzen des kritischen Vernuftgebrauches und letztlich der Forderungen nach den hier genannten Fähigkeiten nicht übersehen werden. Horkeimer & Adorno (1969) kommen in ihrem Buch ‘Dialektik der Aufklärung’ in Anbetracht des unmittelbaren Eindrucks der nationalsozialistischen Verbrechen94 schon zu dem Schluss, dass die Welt eben nicht aufgeklärt ist und nie sein wird. Den Grund sehen sie in der fehlenden Selbstbegrenzung des Denkens. Hier zeigt sich der Ansatzpunkt Hartmut von Hentigs. Hentig sieht als Hauptmerkmal von Aufklärung „die ständige Prüfung des Denkens durch Denken“ (Hentig, 1989, S. 315). Und unter Denken versteht er die folgerichtige Beurteilung des Tatbestandes unter Berücksichtigung der sinnlichen Wahrnehmung durch gesunde menschliche Organe und durch Gesetze der Logik. Die daraus resultierende Annahme, dass mit dem menschlichen Verstand grundsätzlich alles erreichbar und erklärbar sei, bezeichnet er als irrational. Damit kann auch nur eine vernünftigere und nicht eine vernünftige Welt, das Pensum der Aufklärung sein (vgl. Hentig, 1989, S. 319). Auch Ballauff (1989) spricht im Kontext der Willentlichkeit von der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, wenn er deutlich macht, dass es das Ziel der Bildung sein muss, dass sich das Denken selbst vom Willen befreien muss. Denn in der Willensfreiheit sieht er ein Missverständnis doppelter Art: • Entweder setzt sie einen Willen voraus, der unabhängig von jeder anderen Instanz sich bestimmt (angesichts von Alternativen), also auch unabhängig vom Denken, von Einsicht oder Wissen (diese sind selbst bestimmende Instanzen) oder • die Einsicht bestimmt, und zwar mich. Dann würde diese mir zuteil und ich denke die Einsicht und versuche, ihr zu entsprechen. Eine andere als die Erkenntnis steht mir dann nicht zur Verfügung, es bedarf dann nicht eines ‘Willens’. Höchstens kann eine gewisse ‘Kraft’, eine Stärke oder Festigkeit gemeint sein, aber diese ‘wollen’ nicht, sondern sind mein Können (vgl. Ballauff, 1989, S. 56). So gesehen bedeutet dann Selbstbestimmung, inmitten eines Kranzes von Wahlmöglichkeiten, Alternativen, Angeboten, aber auch Vorschriften, Regeln, Gesetzen, Auswahl und Verwirklichung zu bestimmen. Dazu kommt, dass jeder Mensch in einer Gemein93 Wolfgang Klafki schlägt hier den Begriff der Solidarität vor, in dem hier genannten Sinne zu wenig eindeutig ist. Unverfänglicher ist deshalb der Begriff der Gemeinschaftlichkeit. 94 Erstveröffentlicht wurde das Buch im Jahre 1947. 134 Teil B : Die Aufgabe der Bildung schaft lebt und nicht beanspruchen kann, allein Mensch zu sein (vgl. Abschnitt b sowie Punkt 3 ‘Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung’). Da aber das ‘Wollen’ der Ansicht Ballauffs genau dies will, führt es zur Selbstsucht. Im Gegensatz dazu steht die Einsicht, die zu bedachten, begründeten, nachvollziehbaren Aussagen, Intentionen und Projekten führt, sofern sie aus dem Gesetz der Einsicht hervorgeht (vgl. Ballauff, 1989, S. 58f). Die pädagogische Folgerung wiederum ergibt die Unerläßlichkeit des langen Weges vom Wollen zum Denken. Wollen muss dann der Einsicht und dem Wissen mit ihrer Selbstkritik weichen. Dies schließt auch die Mitbestimmungsfähigkeit und die Solidarität mit ein. Ballauf betont immer wieder, dass Bildung nur deshalb immer noch thematisiert werden muss, da es Aufgabe der Erziehung und Bildung ist, „dass sie den jungen Menschen auf den ‘rechten Weg’ bringen“ (Ballauff, 1989, S. 67). Dass es noch keine recht verstandene praktische Umsetzung der Bildung gibt, liegt unter anderem an einem falschen Verständnis von Selbstbestimmung, die in Wahrheit immer wieder Fremdbestimmung ist, da sich der Mensch viel zu sehr von außen lenken lässt. Diese falsch verstandene Selbstbestimmung führt dann auch zwangsläufig zu einer missverständlichen Auffassung von Solidarität. Hier zeigt sich die enge Verknüpfung zu dem ersten Punkt der Allgemeinbildung, umschrieben mit dem ‘gesellschaftlichen Aspekt zeitgemäßer Bildung’: Es kann nicht die Aufgabe der Schule sein, im Sinne von Fremdbestimmung zu sozialisieren. Dass in dieser Arbeit die Begrifflichkeiten, wie sie Wolfgang Klafki vorschlägt (mit Ausnahme der Solidarität), vorgezogen werden, liegt daran, dass die drei Grundfähigkeiten (in denen die anderen in der Formulierung, wie Klafki sie gewählt hat, integriert sind) im schulischen Kontext aussagekräftiger und somit verständlicher sind als der ‘kritische Vernunftbegriff’. Gleiches gilt auch für die Abwägung gegenüber dem Begriff der Emanzipation, der nur dann als Leitbegriff fungieren kann, wenn er in seiner ganzen Vielfalt immer wieder ergänzt wird. Hier scheint der Begriff der Aufklärung zunächst unverfänglicher, jedoch zeigt sich schnell, dass er in der pädagogischen Argumtentation in so unterschiedlichen Kontexten benutzt wird, (von der historischen Epoche bis hin zum Bereich des menschlichen Sexualverhaltens) dass er nur noch in Verbindung mit der ‘kritischen Vernunft’ seine Klarheit behält. Mündigkeit schließlich scheint mehr und 135 Teil B : Die Aufgabe der Bildung mehr aus dem pädagogischen Vokabular zu verschwinden, so dass es fragwürdig erscheint, ob dieser Begriff die große aktuelle Brisanz des Themas auszudrücken vermag. Ziel der Ausbildung der hier genannten Grundfähigkeiten (Kompetenzen) ist die Erlangung von Souveränität: „Souveränität ist auf Selbstbestimmung, Selbstfindung, Selbstförderung und Selbstbild gerichtet. Nicht der beste, schönste, klügste, sondern er ist der, der die Maßstäbe des Menschen zur Kenntnis zu nehmen vermag, sich demenstprechend beurteilt, der den anderen, den ‘besseren’ wie ‘schlechteren’ Menschen in der einen wie anderen Hinsicht zu würdigen vermag und sein Streben auf Dinge zu richten weiß, die zu bewältigen möglich sind, die Grenzen weder zu hoch noch zu tief anlegt, aber sehr zufrieden zusein vermag, wenn er seine Grenzen ausgeschritten hat, seine Grenzen und die Zufriedenheit auch behält, wenn andere über diese hinauszugehen vermögen (Wessel, 1994, S. 417f). (b) Verständigung und Kooperation. Die geglückte Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsfähigkeit sowie die Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit beinhalten die Fähigkeit zur Verständigung und Kooperation zwischen den beteiligten Personen. Verständigung meint dabei ein interaktives Verhalten, das sowohl auf mitmenschliches Verstehen, als auch auf Interessenausgleich und Ermöglichung eines praktischen Miteinanders zielt. Das schließt die Einsicht in fremde Standpunkte, Gedanken und Meinungen mit ein, ist aber ebenso vom Bemühen getragen, anderen einen Zugang zu den eigenen Vorstellungen zu gewähren. Somit ist Verständigung eine Grundvoraussetzung für ein gelungenes Zusammenleben, sowohl im privaten wie im politischen Rahmen. Kooperation meint das gemeinsame Hinarbeiten auf ein Ziel, über das man sich (ausdrücklich oder nicht ausdrücklich) im Vorhinein verständigt hat. Kooperation kann ein wichtiges Mittel sein, um Verständigung zu vertiefen, setzt somit Verständigung voraus. Es zeigt sich also, dass Kooperation und Verständigung in einem Wechselverhältnis stehen, wobei Verständigung dabei die grundlegendere Bedingung ist und Kooperation Verständigung voraussetzt. Andererseits beinhaltet eine gelungene Verständigung nicht zwingend Kooperation. 136 Teil B : Die Aufgabe der Bildung In diesem Sinne gemeinte Verständigung und Kooperation meint von außen geschaffene Situationen, die es Schülern nahelegen, sich auszutauschen und Probleme in gemeinsamer Arbeit anzugehen. Um dies in einer für alle befriedigenden Weise durchzuführen, muss in den Schulen eine Unterrichtskultur geschaffen werden, die Verständigung und Kooperation als selbstverständlich voraussetzt und auch fordert. Eine so geschaffene Unterrichtskultur ist antinomisch zu dem Konkurrenz- und Leistungsprinzip, das Kindern und Jugendlichen aus vielen Bereichen in und außerhalb der Schule vertraut ist. In vielen schulischen Situationen wird das Konkurrenzprinzip häufig als belebendes Element akzeptiert, besonders dann, wenn es gelingt, Lernprozessen das Gepräge eines sportlichen Wettstreits zu verleihen. Würde die Schule auf solche Möglichkeiten extrinsischer Motivation verzichten, würde sie sich eines wirksamen Mittels zum Anstoßen erwünschter Lernprozesse berauben (vgl. Heymann, 1996, S. 112). Verständigung und Kooperation, wie die Allgemeinbildung sie einschließen, bilden somit einen Gegenpol zur Überbetonung des Kokurrenzprinzips, sollen aber auch nicht so verstanden werden, dass eine Verlagerung auf diese Merkmale zur Folge haben, dass Schule ihres ‘eigentlichen Auftrages’ (nämlich die fachliche Instruktion der Schüler) beraubt wird. Im Gegenteil: Verständigung und Kooperation sind Voraussetzungen dafür, dass Schüler dahingehend unterrichtet werden, wie man mit anderen zusammen fachlich lernt. Gerade in der Sportpädagogik erkennt man hier viele Zielsetzungen, die immer wieder mit dem Terminus ‘soziales Lernen’ umschrieben werden (vgl. Teil C, Kap. 2.3). Die hier, in Anlehnung an Heymann gewählte Terminologie wird aber deshalb vorgezogen, da globale Zielsetzungen, wie sie hier angesprochen werden, gegen ideologische Vereinnahmungen nicht gefeit sind. Gerade in Bezug auf ‘soziales Lernen’ oder ‘sozialer Kompetenz’ hob man in den sechziger und frühen siebziger Jahren eher auf Interessendurchsetzung und Auseinandersetzung unter emanzipatorischem Anspruch ab und vergaß bisweilen, dass ‘soziales Lernen’ ebenso auch Toleranz, Kompromissbereitschaft und Willen zum Konsens mit einschließen kann. Die hier in Anlehnung an Heymann (1996) gewählten Begriffe der ‘Verständigung und Kooperation’ sind in diesem Sinne jedoch relativ unbelastet. 137 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Inhaltlich vereinigen die Begriffe der ‘Verständigung und Kooperation’ ein Bündel von Kompetenzen, die in Anlehnung an Harm Prior (1976, S. 83ff) unter folgende ‘Richtzielen’ subsumiert werden können, wohlwissend, dass sie nicht nur in der Pädagogik, sondern auch in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (zum Teil mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten) gängig sind: Identität, Toleranz, Kooperation, Kritik, Solidarität, Sensibilität und Sprache. Wenn der Begriff der Solidarität, der ja schon als eine wesentliche Grundfähigkeit dargestellt wurde, hier noch einmal auftaucht, so macht das die enge Verknüpfung zwischen individuellen Grundfähigkeiten und dem Leben in der Gemeinschaft deutlich, die untrennbar miteinander verbunden sind. Darüber hinaus wird der Begriff der Solidarität in diesem Zusammenhang noch einmal erweitert. Diese Verbundenheit verstärkt sich dann noch durch die Begrifflichkeiten der Kooperation und Identität. Die Richtziele dienen sowohl als basale Qualifikationen und sind zugleich Grundbedürfnisse menschlichen Sozialverhaltens. Aus diesem Grunde sind sie auch als Leitkategorien des sozialen Lernens anzusehen, das Ziel ist die Ausbildung einer umfassenden Sozialkompetenz. Auffallend ist, dass diese Leitkategorien sowohl in den 70er Jahren als auch in dem 1994 erschienen Bericht der Arbeitsgruppe Bildungswesen des MaxPlanck-Instituts für Bildungsforschung [MPI] und den 1995 erschienenen Empfehlungen der Bildungskommission NRW (vgl. Teil A, Kap. 5) angemahnt werden, was zum einen ein Indiz der ständigen Aktualität anzeigt, zum anderen deutlich macht, dass es in diesem Bereich in der heutigen Schule immer noch einen erheblichen Nachholbedarf gibt. Identität95 meint dabei die Übereinstimmung des Menschen mit seinen individuellen Fähigkeiten und Wünschen, seinem Willen und Handeln, mit seiner Umwelt und Gesellschaft, ihren Anforderungen und Erwartungen. Identität ist demnach das Ergebnis eines Prozesses der Anpassung und Auseinandersetzung zwischen Individuum, Umwelt96 und Gesellschaft. Das Ergebnis bleibt aber immer unsicher und muss lebenslänglich fortgeschrieben werden. Krise und Veränderung von Identität sind normal, denn diese Dialektik bestimmt die Identität. Schulische Lernkompetenzen verlangen die Ent- 95 An dieser Stelle soll nicht auf die Unterscheidungen zwischen persönlicher und sozialer Identität unterschieden werden, wie es etwa Goffmann (1967) oder Habermas (1968) getan haben. 96 Unter Umwelt werden hier die Bezugspersonen, sowie die Primär- und Sekundärgruppen einschließlich ihrer materiellen Bedingungen und Normen verstanden. 138 Teil B : Die Aufgabe der Bildung wicklung von Identität in Lernarrangements mit wachsender Eigenverantwortlichkeit der Schüler (vgl. MPI, 1994, S. 37ff; Bildungskommission NRW, 1995, S. 80ff). Toleranz bedeutet die Entschlossenheit, die Meinung anderer Personen und Gruppen gelten zu lassen. Voraussetzung für Toleranz ist der Besitz eines eigenen Standpunktes. Entscheidend ist, dass Toleranz ein aktives Verhalten ist, das eingeübt werden muss (vgl. Drechsler, Hilligen & Neumann, 1992, S. 462). Kooperation97 ist darum bemüht, die Schüler zur gegenseitigen Zusammenarbeit anzuregen. Zentraler Bezugspunkt ist der Aspekt der Arbeit und von Bedeutung ist, dass ein Produkt gemeinsam erstellt wird. Die Bildungskommission NRW spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Kooperationsfähigkeit zu einer Schlüsselqualifikation in der Schule werden muss (vgl. Deutscher Bildungsrat, 1970; Bildungskommission NRW, 1995, S. 52ff). Kritik ist die Fähigkeit zu unterscheiden und zu urteilen. Dabei ist nicht die Negation gemeint, sondern das Sichtbarmachen von Zusammenhängen. Korrespondierende Begriffe sind Konfliktfähigkeit oder Kreativität. Wichtig ist, dass Kritik immer auf Realitätsbewusstsein basiert, das heißt, sie soll sich an der Realität messen, kann aber an utopischen Vorstellungen orientiert sein, solange sie das Machbare nicht aus den Augen verliert. Kritik sollte immer die Überzeugung der Lernfähigkeit in sich bergen, das bezieht sich sowohl auf die eigene als auch auf die Lernfähigkeit des jeweils anderen. Schließlich setzt Kritikfähigkeit ein bestimmtes Maß an Rationalität voraus (vgl. MPI, 1994, S. 390ff; Bildungskommission NRW, 1995, S. 33ff). Solidarität in Gruppen geht nicht von gefühlsmäßigen oder natürlichen Bindungen der Beteiligten aus, sondern von gemeinsamen Interessen. Sich mit jemanden zu solidarisieren meint, dass man gemeinsame Ziele bejaht, aber nicht alles billigt, was die Gruppe unternimmt (vgl. Drechsler, Hilligen & Neumann, 1992, S. 414). Neben diesem hier beschriebenen Außenaspekt der Solidarität ist der Binnenaspekt von gleicher Wichtigkeit: Er darf nicht gekennzeichnet sein durch hierarchische Strukturen. Solidarische Gruppen müssen gewissermaßen den Zustand schon vorwegnehmen, den sie erreichen wollen (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. 81). 97 Kooperation kann weiterhin in zwei verschiedene Aspekte unterschieden werden, einen individuellsozialen und einen technischen. Der individuell soziale Aspekt beinhaltet die Fähigkeit auf andere einzugehen, eigene Schwächen zuzugeben, konstruktive Kritik üben zu können usw.. Der technische Aspekt bezieht sich auf die Fähigkeit zur Spezifisierung verschiedener Arbeitsschritte, die Fähigkeit zur Materialbeschaffung und die Fähigkeit des Zusammenfügens einzelner Arbeitsschritte zu einem Gesamtprodukt. 139 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Sensibilität meint die Empfänglichkeit für soziale Reize (eigenes und fremdes Sozialverhalten, soziale Beziehungen, soziale Probleme, ...) und die Bereitschaft zum sozialen Engagement. Somit bezieht sich Sensibilität auf „die sozialen Konsequenzen der Handlungen, auf die Motive und Probleme anderer Personen (Empathie) und auf die Abweichungen zwischen Normen und beobachtetem Verhalten“ (Fend, 1971, S. 44). Sensibilität zeigt sich innerhalb eines sozialen Geschehens dreifach: 1. als vorausschauende soziale Phantasie, 2. als Einfühlungsvermögen innerhalb der Interaktion, 3. als nachfolgende Reflexion des Verhaltens (vgl. MPI, 1994, S. 58). Sprache schließlich in dem hier erwähnten Zusammenhang zu nennen, erscheint zunächst paradox. Da jedoch gemeinsame Sprache die Voraussetzung für ein gemeinsames Handeln in der Schule ist, beeinflusst sie maßgeblich die Wahrnehmung und das Denken. Das Fehlen einer sozialen Sprache führt zu einem Mangel an sozialer Wahrnehmung. Das heißt, dass problemlösendes Denken nur unzureichend ausgebildet wird (vgl. Roth, 1971, S. 398). Sprache strebt die planmäßige Einübung und Anwendung der (sprachlichen) Kommunikation für den Bereich des Sozialen an. Es geht darum, Gefühle und Meinungen ausdrücken zu können, begrifflich zutreffend und verständlich artikulieren zu können, die Wirkung der Sprache zu kennen und mit anderen kommunizieren zu können, anstatt an ihnen vorbei. Die Bildungskommission NRW schlägt aus diesem Grunde Sprache als eine von sieben Lerndimensionen vor, die die Identitätsbildung der Schüler fördern soll und insbesondere als Medium der Verständigung in ihrer vollen Tragweite in der Schule bisher vernachlässigt wurde (vgl. MPI, 1994, S. 388ff; Bildungskommission NRW, 1995, S. 107ff). Natürlich erkennt man in diesem Punkt viele in anderen Zusammenhängen bereits angesprochene Forderungen. Wenn auch an der einen oder anderen Stelle der Verdacht der Wiederholung aufkommen sollte, ist dies lediglich ein Indiz für die enge Verwobenheit der Kompetenzen, die in ihrer Gesamtheit den allgemein gebildeten Menschen ausmachen. (3) Die Bedeutungsmomente der ‘Allgemeinbildung’. Neben der begrifflichen Unterscheidung, die sich zwischen Bildung und Allgemeinbildung zunächst als Frage stellt (vgl. Teil B, Kap. 1.1), gilt es, die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung näher zu bestimmen, um auch hier aufkommende Unklarheiten besser begegnen zu können. 140 Teil B : Die Aufgabe der Bildung (a) Dreifache Bestimmung. Zunächst kann in Anlehnung an Wolfgang Klafki Allgemeinbildung in dreifachem Sinn bestimmt werden (vgl. Klafki, 1996, S. 53): 1. Allgemeinbildung als Bildung für alle 2. Allgemeinbildung als kosmische Verantwortung 3. Allgemeinbildung unter der Bedingung der Mehrdimensionalität des Menschen 1. Allgemeinbildung als Bildung für alle. Bildung muss, wenn sie als demokratisches Bürgerrecht anerkannt werden soll, Bildung für alle sein. Hierin verbergen sich zwei Bedeutungsmomente: ein inhaltliches und ein organisatorisches. Nimmt man sich zunächst den organisatorischen Maßnahmen an, zeigt sich, dass auch in diesem Bereich immer wieder für die Demokratisierung gekämpft werden muss. Das ist schon alleine deshalb notwendig, weil ein Allgemeinbildungskonzept, beruhend auf den Ideen der Bildungsklassiker und basierend auf der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht von seinen organisatorischen Realisierungsbedingungen abgekoppelt werden kann. In dieser Arbeit soll es nicht darum gehen, Grundforderungen für schulorganisatorische Maßnahmen zu stellen. Vielmehr sollen aus dem Allgemeinbildungskonzept Folgerungen für den Fachunterricht gezogen werden. Aus diesen Gründen wird dieser Punkt nur insofern Berücksichtigung finden, als dass seine prinzipielle Wichtigkeit als Teil der Allgemeinbildung hier genannt wird. Zu organisatorischen Maßnahmen, insofern sie in der hier behandelten Thematik relevant werden, wird dann Stellung bezogen, wenn die dazu notwendigen Ausführungen hinreichend vollzogen sind (vgl. Teil C, Kap. 2.4). 2. Allgemeinbildung als kosmische Verantwortung. Allgemeinbildung muss neben der Befähigung zur vernünftigen Selbstbestimmung, der Befähigung zur Gemeinschaftlichkeit sowie den inhaltlichen und organisatorischen Momenten auch solche Themen aufweisen, die „die Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlichen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft und als Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen, Gefahren“ beinhalten (Klafki, 1996, S. 53). Die Auseinandersetzung mit in der Geschichte bereits entwickelten Denkergebnissen ist hier ebenso 141 Teil B : Die Aufgabe der Bildung enthalten, wie die Tatsache, dass das in diesem Zusammenhang gemeinte Allgemeine weit über eine nationale oder eurozentristische Begrenzung hinausgeht. Insofern ist hierunter die Bildung im Medium des Allgemeinen zu verstehen. Aber auch (oder gerade) im Kleinen (das muss die moderne Schule berücksichtigen) gilt es die bereits geforderte Selbstbestimmung und Individualität in einen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu bringen. Der Mensch ist nicht nur ein Individuum mit eigener Lebensgeschichte, deren spezifische Ausprägung aus Interaktion und Erfahrung resultiert, sondern auch ein Exemplar seiner Gattung und somit in gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet (vgl. Hurrelmann, 1991; vgl. Punkt 2a dieses Kapitels). Allgemeinbildung berücksichtigt neben der individuellen auch die gesellschaftliche Komponente und geht sogar noch einen Schritt weiter. Ballauff (1989, S. 93) spricht in Anlehnung an Jonas (1984) von einer kosmischen Verantwortung, von der der Mensch in Anspruch genommen wird. Es geht ihm darum, dass der Mensch nicht nur sich selbst und die Gesellschaft ins Auge fasst, sondern ebenso dem ‘Kosmos’ entsprechen muss. „Heute sind wir auf eine kosmische Verantwortung in Anspruch genommen; sie zeichnet ein Ermessen vor, das sowohl jenen Entdeckungen98 gerecht wird als auch jener Zweiseitigkeit, nicht nur uns Menschen, unsere Gesellschaft ins Auge zu fassen, sondern ebenso dem Kosmos, dem wir entsprechen müssen (Ballauff, 1989, S. 93). Als Beispiele nennt er in diesem Zusammenhang etwa den Tierschutz, der versucht, jeder Tierart einen angemessenen Lebensraum zu bewahren oder auch den Umweltschutz, der in übertragenem Sinne ähnliches versucht (vgl. Teil C, Kap. 2.3). In Rückbesinnung auf Kant würde das bedeuten, dass jeder Mensch seine Maxime daraufhin überprüfen muss, dass sie eine wie auch immer gestaltete Freigabe von Sachen, Wesen, Mitmenschen, Verhältnissen die Konstitution eines Kosmos gewährleistet, in der sowohl die Selbständigkeit im Denken gewahrt wird als auch die größtmögliche Freisetzung dessen, was sein kann. Eine solche Verantwortung setzt jedoch nicht erst in größeren Zusammenhängen ein: 98 Gemeint ist die Entdeckung der Individualität und Singularität des Menschen, die Ballauff als ‘entdekkende Einsicht’ aus dem 18. und 19. Jahrhundert bezeichnet. 142 Teil B : Die Aufgabe der Bildung „In jeder noch so kleinen Tat, in jedem Wort, in jeder alltäglichen Verrichtung stehen wir in kosmischen Bezug, sind wir verantwortlich für Ordnung und Gestaltung des Ganzen, für Zusammenhang und Verhältnis eines jeden, das ist oder wird, im und zum Ganzen“ (Ballauff, 1989, S. 95). In Bezug auf schulische Vermittlung einer solchen ‘kosmischen Verantwortung’ zeigen sich hier bereits deutliche Schwierigkeiten, denn bei einer in diesem Sinne praktizierten Pädagogik werden Rede, Werk und Tat die Verantwortung übernehmen müssen (vgl. Ballauff, 1989, S. 95). Sie können nicht Gewinn, Anerkennung und Rückerstattung von außen einkalkulieren, was, wie sich noch zeigen wird, ein wesentliches Merkmal schulischer Selektion darstellt (vgl. Teil B, Kap. 2). 3. Allgemeinbildung unter der Bedingung der Mehrdimensionalität des Menschen. In diesem Zusammenhang wird auch ein Komplex angesprochen, dessen historischer Hintergrund das Kanonproblem bildet. Lässt man nämlich die Fragen der Schulstruktur einmal außer Acht, dann wird die Arbeit im Klassenzimmer (und mit ihr der Lehrplan) zum entscheidenden Faktor. Nimmt man die bisher gemachten Überlegungen als Voraussetzung für inhaltliche Überlegungen, so kommt es jetzt nicht mehr nur darauf an, ‘Alles’ zu lehren, sondern auch, ‘Alle in Allem zu bilden’. Deshalb wird die Reflexion von Inhalten notwendig, die geeignet sind, dem Bildungsauftrag gerecht zu werden (vgl. Teil C, Kap. 2.4). „Hier liegt auch die Problematik des Allgemeinen: Unter den Bedingungen einer fachlich gegliederten Schule, strukturiert von Berechtigungen und professionellen Erwartungen, modifiziert sich dieses Allgemeine der Allgemeinbildung dann aber bald zu einem Kanon, in dem lokale Traditionen der Schule und alte Überlieferungen, die neue Struktur der Wissenschaften und die Rückwirkungen der Abiturprüfungen einen schwer entwirrbaren Kompromiß eingehen“ (Tenorth, 1986, S. 20f). Es wird immer Uneinigkeit darüber geben, welche Inhalte schulische Relevanz haben und auf welche im Zuge von notwendigen Beschränkungen verzichtet werden muss. Zunächst einmal liegt der Schluss nahe, dass man bei der Frage, an welchen Inhalten und auf welche Weise der bisher skizzierten Bildungsidee nachgegangen werden soll, gegenüber dem herkömmlichen Bildungskanon Skepsis anmelden muss, da er Bildungsinhalte fein sortiert, aber häufig lebensfern anbietet. 143 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Hentig sagte bereits in den sechziger Jahren: „Die Lernziele der Bildung sind nicht mehr nach den alten Einteilungen und Disziplinen zu bestimmen, sondern nur noch nach den Aufgaben, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, mit jenen (gesellschaftlich bestimmten) Veränderungen fertig zu werden“ (Hentig, 1968, S. 105). Und auch Wolfgang Klafki meldete bereits 1969 Bedenken gegen die gängige Praxis an, Lernziele aus Fragestellungen, Methoden und Resultaten unreflektiert abzuleiten. Für ihn war nicht ausreichend geklärt, welchen Zusammenhang die einzelnen Fächer und ihre Lernziele zueinander im Rahmen eines Gesamtcurriculums haben. Er folgerte aus diesen ungeklärten Zusammenhängen, dass der Wert eines Lernziels letztlich daran gemessen wird, inwieweit es innerhalb des organisierten Lernprozesses dazu beiträgt, „die Fähigkeit des Schülers zur Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und sein Selbstverständnis und seine Handlungsfähigkeit in der jeweiligen historischen Situation zu fördern“ (Bönsch 1994, S. 33 zitiert nach Klafki 1969). Manfred Bönsch kommt 25 Jahre später zu dem ernüchternden Schluss, dass ein Haupthindernis der verfestigte und kaum aufzubrechende Fächerkanon ist, „der quasi naturgesetzlich herrscht“ (Bönsch, 1994, S. 33). Es ist bereits deutlich geworden, dass sich Allgemeinbildung insbesondere auf die Herausbildung von Kompetenzen bezieht. Die Inhalte, die gewählt werden, um die jungen Menschen mit den geforderten Kompetenzen auszustatten, sind in diesem Zusammenhang zunächst einmal von untergeordneter Bedeutung. Dazu kommt, dass die bereits erwähnte gegenwärtige Transformation der Industriegesellschaft in eine Informationsgesellschaft gesellschaftliche Entwicklungen bereit hält, die derzeit nicht abzusehen sind. (b) Epochaltypische Schlüsselprobleme. Eine zeitgemäße Schule wird aber immer die Aufgabe haben, gemeinsame aktuelle Frage- und Problemstellungen aufzugreifen. Entgegen der starren Inhalte geht Wolfgang Klafki von einer notwendigen Fokussierung auf epochaltypische Schlüsselprobleme aus. 144 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Die Beschäftigung mit solchen Schlüsselproblemen hilft den Menschen, problemsichtig zu werden und ein differenziertes Problembewusstsein zu gewinnen. Das wird nach Klafkis Ansicht dadurch erreicht, dass jeweils einige historische Wurzeln solcher Probleme aufgedeckt und dazu einige zentrale und unterschiedliche Lösungsvorschläge mit den dahinterstehenden Interessen aufgeklärt, sowie die emotionale Ansprechbarkeit und erste Handlungserfahrungen entwickelt werden (Klafki, 1996, S. 62). Wichtig dabei ist, dass es sich um Strukturprobleme von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung handelt. Dabei geht es nicht um die Festlegung auf eine einzige Sichtweise, was ja auch nicht vereinbar mit den bisher erläuterten Merkmalen der Allgemeinbildung wäre. Eine weitere Erläuterung hat für Wolfgang Klafki gleich hohes Gewicht: Der Vorschlag, die Konzentration auf Schlüsselprobleme als eines der Zentren eines Allgemeinbildungskonzeptes anzuerkennen, setzt voraus, dass ein weitgehender Konsens über die gravierende Bedeutung solcher Probleme erreicht werden kann, nicht aber, dass damit gleichzeitig die Wege zur Problemlösung schon vorgezeichnet sind. Vielmehr ist er der Ansicht, dass es, je nach unterschiedlichen ökonomisch-gesellschaftlich-politischen Interessen auch verschiedene Antworten gibt. Daraus lässt sich wiederum nicht die Gleichwertigkeit aller Antworten schließen. Diese müssen mit Hilfe verschiedener Kriterien einander gegenübergestellt werden, die das Allgemeinbildungskonzept durch seine Bestimmungsmomente bereitstellt (vgl. Klafki, 1996, S. 60ff). Ein vollständiger Aufriss solcher Schlüsselprobleme kann aus zweierlei Gründen nicht das Ziel schulischer Vermittlung sein: Zum einen wäre zu jedem Zeitpunkt eine fundierte Theorie des gegenwärtigen Zeitalters erforderlich, die nur unvollständig ausfallen kann. Zum anderen soll die Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen an exemplarischen Beispielen die Aneignung von Einstellungen und Fähigkeiten fördern, die weit über das spezifische Beispiel hinausgehen. Klafki hebt vier grundlegende Einstellungen und Fähigkeiten heraus, die jeweils inhaltsbezogene und kommunikationsbezogene Komponenten enthalten (vgl. Klafki, 1996, S. 63f): 1. Kritikbereitschaft und -fähigkeit einschließlich der Selbstkritik, in dem Sinne, dass ein bisher entwickelter Standpunkt für die weitere Prüfung offengehalten wird. 2. Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit, in dem Sinne, dass eigene Positionen und eigene Kritik so in den Zusammenhang eines Gesprächs eingebracht wird, dass den Gesprächspartnern Verstehen und kritische Prüfung ermöglicht wird. 145 Teil B : Die Aufgabe der Bildung 3. Empathie in dem Sinne, dass man fähig wird, ein Problem aus der Lage des jeweils anderen sehen zu können. 4. Vernetztes Denken in dem Sinne, dass hinsichtlich globaler gesellschaftlicher Probleme ein auf die eigenen Fächergrenzen beschränktes Denken nicht mehr hilfreich sein kann. Die hier geforderten Fähigkeiten lassen erkennen, dass Bildung im Medium des Allgemeinen nicht nur kognitive Ansprüche stellt, sondern dass es auch darum geht, emotionale Erfahrungen und Betroffenheit zu ermöglichen, zum Ausdruck zu bringen und zu reflektieren und die moralische und politische Verantwortlichkeit, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit anzusprechen (vgl. Klafki, 1996, S. 65). Dass der von Wolfgang Klafki gemachte Vorschlag einer Fokussierung auf epochaltypische Schlüsselprobleme von großer Reichweite ist, zeigt sich zunächst einmal darin, dass diese in der aktuellen Curriculumsdiskussion immer wieder aufgegriffen wird. In den Empfehlungen der Bildungskommission Nordrhein-Westfalen nehmen sie eine ebenso zentrale Stellung ein, wie in aktuellen Veröffentlichungen, die sich mit dem Thema der 'Bildung in einer veränderten Welt’99 beschäftigen. Dazu kommt, dass eine solche Schwerpunktsetzung verschiedene Ansätze zeitgemäßer Bildung vereinigt, die allesamt auf Verpflichtungen hinweisen, die ein in der heutigen Zeit gebildeter Mensch als Wissender, Wahrnehmender für sich und andere eingehen muss. Als Beispiele solcher Ansätze sollen an dieser Stelle etwa das Konzept des innovativen Lernens, vorgestellt vom Club of Rome im dem Jahre 1980100, die ‘Pädagogik im Atomzeitalter’ der Freiburger Pädagogen Kern und Wittig aus dem Jahre 1982101 oder die Ökologische Ethik des Göttinger Philosophen Patzig102 angeführt werden. Schließlich soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass es durchaus auch kritische Stimmen gegen das Konzept der Schlüsselprobleme gibt, wie die Kritik Hermann Gieseckes in der NEUEN SAMMLUNG und der postwendenden Kritik zur Kritik der Jahre 1997 und 1998 zeigen (vgl. Giesecke 1997; Klafki, 1998). Diese Diskussion soll 99 Siehe hierzu beispielsweise Hentig, 1993; Zöpfl, 1994; Wiater, 1994; Bönsch, 1994; Struck, 1995; Thurn, 1997; u.a. 100 Siehe hierzu auch das Herausgeberwerk von A. Peccei (1983). Der Weg ins 21. Jahrhundert. Bericht für den Club of Rome. München: Molden & Seewald. 101 Siehe hierzu Kern P. & Wittig H. G. (1982). Pädagogik im Atomzeitalter. Freiburg: Herder. 146 Teil B : Die Aufgabe der Bildung hier nicht aufgegriffen und nur soweit kommentiert werden, als dass sich Wolfgang Klafki als einer der wenigen Pädagogen auszeichnet, der sein Konzept explizit als kritisch-konstruktiv bezeichnet und somit seine grundsätzliche Offenheit für dynamische gesellschaftliche Prozesse zeigt. (c) Allgemeinbildung unter der Bedingung der Mehrdimensionalität des Menschen. Allgemeinbildung zeichnet sich, wie bereits näher erläutert, durch ihr Verhältnis zum Ganzen aus. Wissen als Ganzes, nach außen hin sichtbar durch erkennendes und ermessendes Denken ist jedoch mehr als die exemplarische Behandlung von epochalen Schlüsselproblemen. „Überdies ist jene Konzentration auf Schlüsselprobleme mit Anspannungen, Belastungen, Anforderungen intellektueller, emotionaler und moralischpolitischer Art verbunden, die nicht zuletzt auch für junge Menschen zur Überforderung und zur Einschränkung ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten werden könnten, wenn sie Bildungsprozesse ausschließlich bestimmen würden“ (Klafki, 1996, S. 69). Es bedarf also noch einer Ergänzung von Bildungsdimensionen, deren Inhalte sich nicht durch ihren Beitrag der Auseinandersetzung mit zentralen Zeitproblemen auszeichnen. Vielmehr zielen diese auf die Mehrdimensionalität menschlicher Aktivität und Rezeptivität ab: auf die Entwicklung seiner kognitiven, emotionalen, ästhetischen, sozialen, praktisch-technischen Fähigkeiten sowie seiner Möglichkeiten, das eigene Leben an individuell wählbaren ethischen und/oder religiösen Sinndeutungen zu orientieren. Gerade in der individuellen Dimension des Menschen und seiner personalen Verfassung liegt die Begründung der Anthropologie. Anthropologie bedeutet zunächst das Wissen über sich selbst, besser wäre es wahrscheinlich zu sagen: das Nachdenken des Menschen über sich selbst, weil der Prozess des Nachdenkens offensichtlich genauso wichtig ist wie dessen Ergebnis. Ein solches grundsätzliches Nachdenken beeinflusst den Menschen nicht nur in dem, was er tut, sondern existentiell in dem, was er ist (vgl. Teil C, Kap. 1). 102 Siehe hierzu Patzig G. (1983). Ökologische Ethik - innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 147 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Für die Pädagogik stellt sich nun die schwierige Frage, wie man jemanden von außen her so beeinflussen kann, dass er nach und nach - unabhängig von jedweder Fremdhilfe - Selbständigkeit zu demonstrieren imstande ist; wobei diese Selbständigkeit jedoch nicht Internalisierung bedeuten darf, sondern dem Anspruch der Aufklärung nach denkerischer Radikalität - bis zu den ‘Wurzeln’ hinab selbständig - gerecht werden soll (vgl. Geißler, 1994, S. 46ff). Es wird deutlich, dass es sich hier prinzipiell um Zugänge aller Arten menschlicher Existenz handelt. Klafki trifft diesbezüglich folgende Unterscheidungen: • der lustvolle und verantwortliche Umgang mit dem eigenen Leib, • die kognitiven Möglichkeiten des Menschen, • die handwerklich-technische und hauswirtschaftliche Produktivität, • die Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungsmöglichkeiten, • die ästhetischen Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Urteilsfähigkeit, • sowie die ethische und politische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit (vgl. Klafki, 1996, S. 54). Diese inhaltliche Bestimmung ergänzt zum einen die terminologische Unterscheidung zwischen dem Allgemeinbildungsbegriff und dem Bildungsbegriff und zeigt wiederum die große Bandbreite dessen auf, was Allgemeinbildung einschließt. Eine zentrale Forderung der Thematisierung solcher Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten ist das Lernen zu lernen, um es den jungen Menschen zu ermöglichen, in einer Welt, deren Erkenntnisbestände, Anforderungen, Chancen und Gefahren sich schnell wandeln, selbständig oder mit fremder Hilfe immer neue Lernprozesse zu vollziehen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, wie bereits in den historischen Grundlegungen deutlich geworden ist (vgl. Teil A). ‘Lernen lernen’ meint in diesem Zusammenhang: 1. Offenheit dafür zu gewinnen, neue Erfahrungen machen zu können und zu wollen, die das bisherige Wissen erweitern und in Frage stellen, 2. Grundkategorien zu gewinnen, in deren Spur neue an Erfahrungen angelehnte Fragen gestellt werden können (Wie kommt das? Wie wird das begründet?), 3. die Bereitschaft zu erlernen, neue Informationen einzuholen und zu verarbeiten. Dieses Vielseitigkeitsprinzip führt zu einer Konsequenz, die Wolfgang Klafki als Aspektverknüpfung bezeichnet: 148 Teil B : Die Aufgabe der Bildung „In den pädagogisch vermittelten Lernprozessen müßten kognitive Anforderungen und kognitive Förderung verbunden werden mit sozialem, mit kooperativem Lernen, ästhetische Gestaltung und Rezeption mit der Reflexion über ihre Voraussetzungen und Wirkungen. Praktischhandwerkliches Gestalten bzw. technisches Handeln und Konstruieren müßte in produktive Wechselbeziehung zum Entdecken und Begreifen der zugrundeliegenden naturwissenschaftlichen und technologischen Gesetzmäßigkeiten und zur Einsicht in ihre Funktion in den außerschulischen Produktionsverhältnissen gebracht werden. Berufliche Grundbildung muß verknüpft werden mit der Aufklärung der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen beruflicher Tätigkeiten, der Bedeutung des Berufs für die Ausbildung der personalen Identität und der Beziehungen zwischen beruflicher Arbeit und Freizeit“ (Klafki, 1996, S. 72). (4) Lebenslanges Lernen. Als ein Fazit dessen, was in den bisher genannten Punkten gesagt wurde, kann gelten, dass Allgemeinbildung weit über die Spanne der Schulzeit hinausgeht. Im Unterschied zur früheren Beschränkung auf das Kindes- und Jugendalter werden heute immer mehr Lernerfordernisse nicht nur für das mittlere, sondern auch auf das späte Erwachsenenalter formuliert. In diesem Sinne fordert die Denkschrift der Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’, dass Bildung und Lernen, wollen sie die Menschen dazu fähig machen, den Veränderungen, welche die gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt, gewachsen zu sein, sich nicht auf die Kindheit und Jugendzeit beschränken können. Auch kann es dabei nicht um eine funktionale Anpassung gehen, sondern es sind im schulischen Rahmen Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung und selbstverantworteten Lebensgestaltung zu schaffen (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. 56). Lebenslanges Lernen gehört an der Schwelle zum dritten Jahrtausend zu den herausragenden bildungspolitischen Schwerpunkten - national und international. „Die große Bedeutung des Themas wird auch daran deutlich, dass die Europäische Union und die OECD sich dieser Sache besonders annehmen wollen. Auf Beschluß des Europäischen Rates veranstaltet die Europäische Union 1996 das ‘Europäische Jahr des lebensbegleitenden Lernens’. Eine Bildungsminsiterkonferenz der OECD im Januar 1996 befaßt sich ausschließlich mit dem Thema ‘lifelong learning’ (Boppel, 1996, S. 7). 149 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Ein gültiges Allgemeinbildungskonzept hat der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die ‘spürbare Entkonventionalisierung in allen Lebensbereichen der Gesellschaft’ (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. 56) dazu herausfordert, die herkömmlichen Orientierungsmuster, Normen und Werte auf ihre Gültigkeit zu überprüfen und daraus neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die dann wieder einem Wandlungsprozess unterliegen. In einer Welt des Wandels wird es für die Menschen zunehmend wichtig, immer wieder neue Qualifikationen aufbauen zu können. Dies jedoch erfordert die Fähigkeit und Bereitschaft, Lernkompetenz in einem lebenslangen Prozess kontinuierlich und selbständig zu aktivieren. Gerade die gegenwärtige Transformation der Industriegesellschaft in eine Informationsgesellschaft (oder Risikogesellschaft) hat zur Folge, dass bisherige, als sicher vermutete Wissens-, Kenntnis- und Fähigkeitsbestände überdacht, verändert und weiterentwickelt werden müssen und völlig neue Befähigungen hinzukommen. Die Denkschrift der Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’ sieht in der Möglichkeit, lebenslang weiterlernen zu können, nicht nur eine berufliche Notwendigkeit, sondern auch ein Zeichen der Demokratisierung von Bildungsmöglichkeiten, denn so verstandenes lebenslanges Lernen setzt Bildungsentscheidungen des einzelnen voraus und damit auch die Befähigung, sie zu treffen (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. 56f). In diesem Sinne bezeichnet Nipkow Bildung als ‘Lebensbegleitung’, wenn er davon spricht, dass es sich hierbei um einen auf den gesamten Lebensweg bezogenen Prozess handeln muss, bei dem die Freiheit und Würde der Person respektiert und diese vor fremdbestimmtem Verfügenwollen bewahrt wird (vgl. Nipkow, 1990, S. 603f). Für Loch schließlich zeigen sich die Wurzeln für das lebenslange Lernen in der Erziehung: „Umgekehrt hat die Erziehung, die einem Menschen widerfährt, mehr oder weniger Einfluß darauf, welche Bedeutung sein Lebenslauf für ihn erhält, welche Lebensziele man ihm als sinnvoll bezeichnet, welche Lebensmöglichkeiten ihm eröffnet und welche ihm zunächst damit verschlossen werden. Denn es gehört zu den grundlegenden Aufgaben der Erziehung, dem Individuum für seine Bildung Lebensbezüge zu vermitteln, die in der Gesellschaft für den Nachwuchs als bedeutsam gelten und einen produktiven und befriedigenden Lebenslauf versprechen [...]. Die Absichten erzieherischen Verhaltens gewinnen oder verlieren ihren Sinn mit den Wirkungen, die sie in den Lebensläufen der erzogenen Individuen haben. In dieser sozialen Hinsicht muß der Zusammenhang von Lebenslauf und Erziehung pädagogisch verantwortet werden“ (Loch, 1979, S. 13f). 150 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Eine wichtige Erziehungsinstanz ist ohne Zweifel die Schule, die damit auch im Bereich des lebenslangen Lernens eine gewichtige Rolle spielt. Diese muss jedoch die individuellen Selbstgestaltungsmöglichkeiten berücksichtigen, das heißt, den jungen Menschen dabei behilflich sein, eigene biographische Entscheidungen treffen zu können. Unter diesem Aspekt kann das Ziel schulischer Allgemeinbildung nur sein, den Schülern die Einsicht zu vermitteln, dass solche Entscheidungen nie endgültig sind. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Lebensaufgabe, denn zu sehr erneuert sich ständig das gesellschaftliche Wissen, zu schnell wandeln sich Anforderungen und Situationen (vgl. Bönsch, 1994, S. 36). „Schulausbildung, Aus- und Weiterbildung müssen im Lebenszyklus neu gewichtet werden. Schulische Bildungsgänge müssen sich mehr als bisher auf die Entwicklung von elementaren Fähigkeiten und Grundkompetenzen beschränken und vor allem die Motivation zum ‘Lebenslangen Lernen’ fördern“ (Boppel, 1996, S. 7). Klafkis Forderung nach der Thematisierung epochaler Schlüsselprobleme und ihrer exemplarischen Eigenschaften zeigt an, dass Menschen über Qualifikationen verfügen sollten, die es gestatten, auch in Zukunft handlungsfähig zu bleiben, selbst wenn sich neue praktische Probleme auftun, die heute noch nicht abzusehen sind. Schließlich ist für ihn Allgemeinbildung „die Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlichen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft und als Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen, Gefahren“ (Klafki, 1996, S. 53). Hier spiegelt sich auch das wieder, was Heymann anspricht, wenn er von der Notwendigkeit spricht, dass Schule kulturelle Kohärenz103 zu stiften hat und damit meint, dass die Frage nicht lauten kann, ob der Schule eine kulturtradierende Aufgabe zukommt, sondern wie sie diese Funktion zeitgemäß erfüllt, da Innovation ohne Tradition genauso zum Scheitern verurteilt ist, wie Tradition ohne Innovation. Auch Dohmen ist der Überzeugung, dass die zentrale Frage heute nicht mehr die nach dem Warum lebenslangen Lernens sein kann, sondern nach dem Wie. Dabei erkennt er 103 Was kulturelle Kohärenz hier (in Kürze) meint, hat Leo Kolakowski (1970), der die Dialektik von Tradition und Fortschritt einprägsam auf den Punkt gebracht hat: „Erstens, hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition rebelliert, würden wir heute noch in Höhlen leben; zweitens, wenn die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell würde, werden wir uns wieder in Höhlen befinden. Der Kult der Tradition und der Widerstand gegen die Tradition sind gleichermaßen unentbehrlich für das gesellschaftliche Leben“ (Kolakowski, 1970, S. 1). 151 Teil B : Die Aufgabe der Bildung in der internationalen Diskussion schon deutliche Konsensbildungen (vgl. Dohmen, 1996, S. 13f): „Es setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass lebenslanges Lernen weitgehend ein selbstgesteuertes Lernen sein muss, bei dem die Lerner selbst jeweils aus einer wachsenden Vielfalt verschiedener Lernmöglichkeiten nach ihren eigenen Bedürfnissen auswählen und kombinieren müssen“. Die Rolle der Schule sieht er dabei so, dass sie sich mehr auf die Vermittlung der notwendigen Verständnis- und Motivationsgrundlagen für das lebenslange Weiterlernen und auf die neugierfördernde Gewöhnung der Schüler an selbständiges Lernen konzentrieren muss. In der Umsetzung dieser Forderungen sieht er jedoch Schwierigkeiten: „Es ist allerdings nicht leicht, den immer noch zu sehr auf den Sektor des geplanten, organisierten Lernens eingeengten Blick der Pädagogen und Bildungsmacher zu öffnen für die umfassenderen Dimensionen menschlichen Lernens“ (Dohmen, 1996, S. 15). Seine Forderungen diesbezüglich beziehen sich auf eine Veränderung des schulischen Lernen in die Richtung, dass die Person des Schülers mit seinem individuellen Aktionspotential, eigenen Denken und eigenem Gewissen in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. „Wir brauchen also eine umfassende, der tatsächlichen Komplexität und Eigendynamik menschlichen Lernens angemessene Gesamtkonzeption, die auf ein weites, offenes Netzwerk vielfältiger Lernformen und praktischer Lernmöglichkeiten bezogen ist. Der entscheidende Ansatzpunkt [...] ist eine neue Offenheit für das informelle Selbstlernen“ (Dohmen, 1996, S. 15). Ausblickend sieht er die Möglichkeiten der Schule darin, dass sie sich auf eine umfassendere Kompetenzentwicklung des lernenden Menschen konzentrieren muss, um ihn auf das nächste Jahrtausend vorzubereiten (vgl. Dohmen, 1996, S. 20). c) Zusammenfassung, Fazit und Ausblick Damit in Zukunft die Schule stärker ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommt, den jungen Menschen zu bilden, ist es zunächst wichtig, sich daraufhin zu besinnen, was unter Bildung im eigentlichen Sinne zu verstehen ist. Hierzu bedarf es nun zuerst einer Unterscheidung zwischen dem Begriff der Bildung und dem der Allgemeinbildung. Während Bildung stärker auf die Seite des Individuums abzielt, also danach fragt, was den Menschen als Menschen ausmacht, antwortet die Allgemeinbildung dagegen auf die Frage, was den Heranwachsenden vermittelt werden soll, damit für die Gesellschaft notwendiges kulturelles Erbe und für ihren Fortbestand lebensnotwendiges Wissen an die nächste Generation weitergegeben wird. 152 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Gerade aber in einer Gesellschaft, die sich durch ein hohes Maß an Veränderungen auszeichnet und der Mensch einerseits mit einer explosionsartigen Wissensvermehrung, andererseits mit einer zunehmenden Handlungsunfähigkeit bezüglich dringender gesellschaftlicher Probleme konfrontiert wird, stellt sich die Frage nach einer zeitgemäßen Allgemeinbildung. Nach der Abkehr vom Bildungsdenken in den 60er- und 70er- Jahren des 20. Jahrhunderts aus Gründen der gesellschaftlichen Praxisrelevanz, kam man bald auf den bildungstheoretischen Erkenntnisgewinn zurück. Jetzt allerdings unter der Prämisse, zukünftig mit Hilfe eines ‘pädagogisch-praktisch-wissenschaftlichen Leitbegriffes’ (Heymann, 1996) wesentlich dazu beizutragen, dass die menschlichen Lebensverhältnisse ‘humaner, freundlicher und entkrampfter’ (Bönsch, 1994) gestaltet werden. Es bleibt die Frage der Herangehensweise. Da es in einer Gesellschaft, die allgemein durch Orientierungslosigkeit, Disparitäten und Leistungsorientierung gekennzeichnet wird, nur schwer möglich ist, einen tragfähigen Bildungsbegriff zu entwickeln, bietet sich ein Rückgriff auf die Epoche zwischen 1770 und 1830 an, in der der Bildungsbegriff erstmals in pädagogischer Reflexion entwickelt wurde. Eine historische Rückbesinnung scheint aus verschiedenen Gründen sinnvoll: • Zunächst einmal lässt sich die begriffliche Unterscheidung der Termini Bildung und Allgemeinbildung besser verstehen, die bei einer schulischen Betrachtungsweise notwendig ist, • zweitens kann eine bildungstheoretische Untersuchung nicht hinreichend deutlich werden, wenn die historischen Wurzeln außer Acht gelassen werden und • schließlich sollten bildungsbegriffliche Bestimmungen zumindest das Differenzierungsniveau jener Epoche erreichen. Dabei darf es freilich nicht bleiben. Eine historische Betrachtungsweise ist nur dann sinnvoll, wenn es gelingt, die bestimmenden Merkmale der damaligen Konzepte auf die heutige Zeit zu übertragen, um so den Anforderungen einer zeitgemäßen allgemeinbildenden Schule gerecht zu werden. Somit ergibt sich also eine doppelte Verantwortung für die Erziehungswissenschaft: Sie sollte Konzepte vorstellen, die die humanistischen klassischen Ideale einerseits angemessen berücksichtigen und gleichzeitig Lösungen für Bewältigung heute noch nicht absehbarer zukünftiger Probleme integrieren. 153 Teil B : Die Aufgabe der Bildung Eine Gesamtschau auf die klassischen Bildungstheorien ergibt zunächst vier wesentliche Merkmale der klassischen Bildung: 1. Bildung ist die Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, 2. beinhaltet die Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit, 3. vereinigt die Individualität und die Gemeinschaftlichkeit und zeichnet sich 4. durch die moralische, kognitive, ästhetische und praktische Dimension aus. In diesen Merkmalen enthalten sind Begriffe wie Selbstbestimmung, Freiheit, Emanzipation, Autonomie, Vernunft und Selbsttätigkeit. Sie werden aber nur dann wirksam, wenn diese individuellen Merkmale mit der Humanität, Menschlichkeit, Welt und dem Allgemeinen in Zusammenhang gebracht werden können. Der Mensch kann sich nur zu einem unverwechselbaren Individuum entwickeln, wenn er auch die Menschheit in ihrer ‘wesenhaften Eigentümlichkeit’ (Humboldt, 1956) vertritt. Hier liegt der Anknüpfungspunkt für den Begriff der Allgemeinheit, der eine doppelte Bedeutung hat und einerseits ‘Bildung für alle Menschen’ fordert und sich andererseits von der ‘selbstbezogenen Vereinzelung’ (Klafki, 1984) hin zu einer ‘Beziehung des Menschen zur Welt’ (Humboldt, 1960) entwickelt. Gemeint ist hier die vernunftgemäße Reflexion auf den humanen Sinn menschlichen Zusammenlebens mit dem Ziel, die Menschen zu befähigen, an der Bewältigung der Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben mitwirken zu können. Unter dieser Sichtweise wird dann die Notwendigkeit der vier bereits mehrfach angesprochenen Dimensionen deutlich. Denn ohne die Empfindsamkeit gegenüber natürlichen Erscheinungen, ohne die Entwicklung einer Genussfähigkeit, ohne die Befähigung zu Spiel und Geselligkeit, ohne die praktische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist es kaum möglich, zu einer ‘höchsten und proportionierlichsten Bildung der Kräfte zu einem Ganzen’ (Humboldt, 1960) zu gelangen. Der kurze Rückblick auf die problemgeschichtliche Hinwendung des (Allgemein)Bildungsbegriffes macht die konzeptionelle Fülle und die inhaltliche Ausdifferenziertheit deutlich. Will man nun den (Allgemein)Bildungsbegriff für die heutige Zeit neu bestimmen, so muss es nun darum gehen, die Erkenntnisse auf die Gegenwart anzuwenden, um so die Möglichkeiten der dann entstehenden schulischen Allgemeinbildung voll ausschöpfen zu können. 154 Teil B : Die Aufgabe der Bildung In einer synoptischen Zusammenführung von klassischer und neueren respektive neuen Bildungstheorien ergeben sich im Folgenden vier Punkte, die zusammen den Rahmen allgemeinbildender Aufgaben bilden, die eine zeitgemäße Schule zu erfüllen hat, will sie dem hohen Anspruch der Allgemeinbildung gerecht werden. 1. Der gesellschaftliche Aspekt zeitgemäßer Bildung macht zunächst deutlich, dass Bildungsfragen immer auch Gesellschaftsfragen sind. Damit ist gleichzeitig ausgesagt, dass gegenüber einem zeitgemäßen Allgemeinbildungsbegriff nicht der Vorwurf erhoben werden kann, an der gesellschaftlichen Realität vorbeizugehen (Wilhelm, 1969). Wichtig dabei ist, dass das Individuum die gesellschaftliche Realität nicht als eine Ist-Bestimmung voranstellt, sondern befähigt wird, die Herausforderungen, die sich aus der Weiterentwicklung der Gesellschaft ergeben, sieht, angemessen zu interpretieren und konstruktiv zu beantworten. Hierin spiegelt sich die Beziehung des Menschen zur Welt wider, wie sie schon Humboldt herausgearbeitet hat. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist es notwendig, den jungen Menschen das Wissen der modernen Wissenschaften näher zu bringen, ohne jedoch ihre Grenzen aus den Augen zu verlieren. 2. Doch zunächst stellt sich die Frage nach den für die konstruktive und sinnvolle Weiterentwicklung der Gesellschaften notwendigen Kompetenzen, mit denen die Schule die jungen Menschen ausstatten soll. Bei näherer Betrachtung kristallisieren sich drei Kompetenzen heraus, die wiederum weitere vereinigen. Gemeint sind die Selbstbestimmungsfähigkeit, die Mitbestimmungs- und Verantwortungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit. Ziel der Ausbildung der genannten Kompetenzen ist die Erlangung von Souveränität. Auch in diesem Punkt zeigen sich deutlich die Parallelen zu den Inhalten des klassischen Bildungsbegriffes. Die Erlangung der gerade aufgeführten Kompetenzen ist jedoch nur dann geglückt, wenn die jungen Menschen diese nicht nur im Selbstbezug erlangt haben, sondern auch fähig zur Verständigung und Kooperation mit anderen sind. Hier gilt es, das noch häufig vorzufindende Konkurrenzprinzip hinter sich zu lassen und die Befähigung zu erlangen, sich mit anderen auseinanderzusetzen. Gemeint sind hier die Richtziele der Identität, Toleranz, Kooperation, Kritik, Solidarität, Sensibilität und Sprache. 155 Teil B : Die Aufgabe der Bildung 3. Der dritte Punkt bezieht sich auf die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung, wobei der Allgemeinbildungsbegriff in dreifachem Sinne bestimmt werden kann: zunächst handelt es sich um ein organisatorisches Moment, dahingehend, dass eine Demokratie immer wieder dafür kämpfen muss, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft, unabhängig von ihrem Status die gleichen Bildungschancen eröffnet werden. Allgemeinbildung hat über die individuelle und gemeinschaftliche Verantwortung hinaus auch eine ‘kosmische Verantwortung’ (Ballauff, 1989) zu übernehmen. An diesem Punkt schließt sich die Forderung Wolfgang Klafkis nach der Vermittlung von ‘epochalen Schlüsselproblemen’ an. Die dritte Bestimmung setzt an der Überlegung an, dass sich Allgemeinbildung vor allem durch ihr Verhältnis zum Ganzen auszeichnet. Wissen als Ganzes ist jedoch mehr als die Erlangung von Kompetenzen und die Einsicht in die epochalen Probleme einer Gesellschaft. Hier erkennt man deutlich die vier Dimensionen der klassischen Bildungstheorie wieder, wenn man sich gewahr wird, dass sich eine solche Mehrdimensionalität durch die kognitiven, emotionalen, ästhetischen, sozialen sowie praktisch-technischen Fähigkeiten auszeichnet. 4. Der letzte Punkt, der die schulische Allgemeinbildung auszeichnet, das lebenslange Lernen, könnte auch der erste sein. Die Schule muss die geforderten Kompetenzen so ausbilden, dass der Mensch befähigt wird, auch die über die Schulzeit hinaus, den Veränderungen, die die gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt, zu erkennen und ihnen gewachsen zu sein. In einer Welt des Wandels ist es unabdinglich, neue Qualifikationen zu erkennen und die Bereitschaft zu behalten, diese auch aufbauen zu können Ein Allgemeinbildungsbegriff, wie er hier vorgestellt wurde, kann nun im Folgenden der Ausgangspunkt für die weitere Ausformulierung des Vorhabens dienen. Zum einen gelingt es nun, den Zusammenhang zu den in Teil A herausgearbeiteten schulischen Aufgaben herzustellen und aufzuzeigen, in wieweit diese sich dann aus den Forderungen der Allgemeinbildung ableiten lassen. Zum anderen ist nun die Grundlage gelegt, fachspezifische Ableitungen nachzuweisen und aufzuzeigen, in wie weit das Schulfach Sport dazu dienen kann, einen eigenen unverwechselbaren Beitrag zur allgemeinbildenden Aufgabe der Schule zu leisten. Denn nur wenn dies gelingt, können in Zukunft Kritiker in ihre Schranken verwiesen werden, die eine Ausklammerung des Schulsports zu Gun156 Teil B : Die Aufgabe der Bildung sten anderer Einrichtungen (wie zum Beispiel den Vereinen) fordern. Die folgende Abbildung verdeutlicht diese Zusammenhänge und soll die Vielzahl der Verschränkungen aufzeigen, die sich aus den bisherigen Überlegungen ergeben. . 157 Gesellschaftlicher Aspekt von Bildung Klassische Bildungskonzepte Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung Zeitgemäße schulische Allgemeinbildung Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen Berücksichtigung der Dimensionen Gemeinschaftlichkeit berücksichtigend Bildung für alle Vernünftige Selbstbestimmung Lebenslanges Lernen Gesellschaftliche Realität Teil B : Die Aufgabe der Bildung Abbildung 1: Konzept der schulischen Allgemeinbildung im Überblick. 158 Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion 2. DIE AUFGABEN DER ORIENTIERUNG, MITTLUNG UND SELEKTION Das Allgemeinbildungskonzept, wie es bisher vorgestellt wurde, gibt deutliche Hinweise darauf, wie sich die anderen in Teil A formulierten Aufgaben als ‘Komplementäraufgaben’ in das Konzept einfügen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich die implizite Ausformulierung der Mittler-, Orientierungs- und Selektionsfunktion in der Bildungsfunktion, die zusammen das Allgemeinbildungskonzept erst vervollständigen. 1. Die Mittler- und Orientierungsfunkion Die Schule als Brücke zwischen der Kleinfamilie, in der das Kind im Vorschulalter groß geworden ist und „den meist massenhaft organisierten Systemen des gesellschaftlichen Lebens“ (Hentig, 1993, S. 228 - vgl. Teil A, Kap. 5), hat die Aufgabe, die jungen Schulabgänger zu befähigen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Die Mittlerfunktion hat dort ihre eigenständige Berechtigung, wo sie den Ausgangspunkt schulischen Lernens markiert (nämlich das Kind, das bisher in der Familie aufgehoben war) und den Endpunkt vorgibt (den jungen Menschen, der sich selbstverantwortlich in der Gesellschaft zurechtfindet). Das Konzept der Allgemeinbildung zeigt dabei den Prozess auf, den die jungen Menschen in ihrer Schulzeit durchlaufen sollen. In der Mittlerfunktion spiegelt sich genau dieser Prozess wider. Dabei sind in allen Schulstufen neben inhaltlichen und organisatorischen sowohl entwicklungsbedingte Fragestellungen, wie auch Fragen aus der Sozialisationsforschung relevant104. 104 Die Entwicklungstheorie gibt dahingehend Antworten, dass sie darüber aufklärt, welche Entwicklungsphasen der Mensch durchläuft. Jede Entwicklungsphase zeigt wiederum Möglichkeiten dessen auf, was Kinder können und wo ihre Grenzen sind. Im Bereich des Schulsports zum Beispiel ist hier insbesondere die motorische Entwicklung von Bedeutung, die neben der Entwicklung motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten auch neurophysiologische und somatische sowie umweltbedingte Aspekte thematisiert (vgl. Baur, Bös & Singer, 1994). Kernpunkt ist dabei die motorische Entwicklung im Lebenslauf, insbesondere die Phase von der mittleren Kindheit bis zum Jugendalter. Der Bereich der Sozialisationsforschung gibt darüber Auskunft, wie sich Entwicklung und Sozialisation zueinander verhalten. Neben den zentralen Dimensionen der kognitiven, sprachlichen, emotionalen, politischen, geschlechtsspezifischen Sozialisation sowie der Selbstentwicklung, sind die Erkenntnisse der Sozialisation durch die verschiedenen zentralen gesellschaftlichen Instanzen wie der Familie, des Kindergartens oder auch den Massenmedien für die Schule besonders interessant (vgl. Hurrelmann & Ulich, 1991). 159 Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion Der Endpunkt der Schulzeit ist zunächst willkürlich festgelegt und bildet die Antwort auf die Frage, wie lange die gesellschaftliche Institution der Schule braucht, um die jungen Menschen in die Gesellschaft einzufügen. Für eine inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung des Schulsports ist es wichtig, die Ziele des Allgemeinbildungskonzeptes mit den entwicklungstheoretischen Erkenntnissen und den Aussagen der Sozialisationsforschung zu verknüpfen (vgl. Teil C, Kap. 2.4). Die Orientierungsfunktion hingegen hebt besonders den gesellschaftlichen Aspekt der Bildung hervor, wie bereits in Kapitel 1.1 dieses Teiles aufgezeigt wurde. Dieser hat in dem hier vorgestellten Allgemeinbildungsbegriff einen hohen Stellenwert und muss nicht zuletzt immer wieder betont werden, da gerade der Vorwurf des Mangels an Realitätsbezug für die Abkehr vom Bildungsdenken verantwortlich war (vgl. Kap. 1 dieses Teiles). Die Orientierungsfunktion erfährt ihre Eigenständigkeit durch ihren Charakter als Prüffunktion. Sie mahnt immer wieder an, den Anspruch der Allgemeinbildung kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls den sich ändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Besonders deutlich wird dies bei der Auswahl und Ausgestaltung der ‘epochaltypischen Schlüsselprobleme’. Ohne sich in Wiederholungen verlieren zu wollen, zeigt sich, dass sowohl die Mittler- als auch die Orientierungsfunktion in einem umfassenden Allgemeinbildungskonzept mitgedacht sind. Dass diese dennoch immer wieder von den maßgeblichen Schultheoretikern als eigenständige Aufgaben angemahnt werden, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der schulische Bildungsbegriff bislang die hier vorgestellte Vielschichtigkeit nicht erreichen konnte. Wie anders kann eine solche Ausdifferenzierung in schulische Aufgaben erklärt werden? 2. Die Selektionsfunktion Etwas komplexer verhält es sich bei der Einbindung der Selektionsfunktion. Zwar zeichnet das Allgemeinbildungskonzept auch den Weg der Selektion vor: die Institution der Schule hat die Aufgabe, junge Menschen ihrer individuellen Begabungen gemäß zu fördern und sie dahingehend zu beraten, in welchen Bereichen ihre jeweiligen Stärken und Schwächen liegen. Das schließt auch die Frage der beruflichen Laufbahn mit ein. Die Selektionsfunktion soll also jedem Schüler ein möglichst objektives Bild über die erbrachte Leistung105 vermitteln. 105 Auf den Begriff der Leistung wird in Teil C, Kap. 1.1.5 näher eingegangen. 160 Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion Jedoch lässt sich insbesondere in Bezug auf die Selektionsfunktion eine gewisse ‘Paradoxie’ feststellen, die sich auch (oder gerade) im Schulsport zeigt (vgl. Prohl, 1999, S. 103): Sie wird durch die institutionalisierte Erziehung deutlich, die zwischen den Anforderungen der Gesellschaft nach Qualifikation und Selektion einerseits und dem Anspruch des Schülers auf Anerkennung als Person und individueller Entwicklungsförderung andererseits besteht. Prohl sieht diese Spannung zwischen individuellen Ansprüchen und gesellschaftlichen Forderungen durch eine Reihe antinomischer Begriffe gekennzeichnet: • „Auf der einen Seite sollen Schüler als Persönlichkeiten unter Respektierung ihrer Individualität ganzheitlich gefördert werden, auf der anderen Seite sind sie in ihrer Schüler-Rolle als Teile der Gesellschaft sozial zu integrieren. • Einerseits soll das pädagogische Anliegen darin bestehen, der Interessenslage der Schüler gerecht zu werden, andererseits sind die Lernergebnisse zu kontrollieren, so dass sie als Grundlage für selektive Maßnahmen dienen“ (Prohl, 1999, S. 103). In der Praxis des Sportunterrichts sieht Prohl zu allererst den Sportlehrer in der Verantwortung, denn dieser muss die erzieherische und/ oder qualifikatorische Bedeutung des Schulsports nach pädagogischen Kriterien interpretieren und gewichten. Bei näherer Betrachtung bildet das Zensurensystem106 die zentrale Problematik der schulischen Selektionsfunktion, wobei die Diskussion um den Sinn und die Aussagekraft der Zensuren diese Aufgabe als Teil der Allgemeinbildung letztlich nicht in Frage stellt. Es geht dabei vielmehr um die Thematik der Vereinheitlichung der Notengebung, hier verstanden als eine zahlenmäßige Bewertung, deren Eigentümlichkeit es ist, durch eine eindimensionale Rangordnung jede Leistung mit jeder anderen vergleichbar zu machen (vgl. Steinthal, 1983, S. 39). Dabei wurden Zensuren im Laufe der Geschichte zunehmend zu Leistungs- und Berechtigungsnachweisen, die vom staatlichen und wirtschaftlichen Interesse viel stärker 106 Zensuren werden hier als Kurzbezeichnungen für den überlieferten und gegenwärtig immer noch praktizierten Vorgang der Feststellung und Bewertung von Schülerverhalten verstanden, in dem die Feststellung oder Messung des Verhaltens durch mündliche, schriftliche oder ‘sportliche’ Prüfungen sowie Beobachtungen erfolgt, deren meßmethodische Qualität nicht ausreichend bekannt ist, und bei dem in einem vom Meßvorgang kaum unterscheidbaren Bewertungsakt in der Regel Ziffernzensuren vergeben werden. Das in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschende Zensurensystem mit den Ziffernoten von 1 - 6 für Schulzeugnisse wurde unter dem Aspekt der Vereinheitlichung von der Kultusministerkonferenz am 03.10.1968 beschlossen und gilt bis heute (vgl. Ingenkamp, 1974, S. 11ff). 161 Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion als von pädagogischen Notwendigkeiten geprägt waren. Ingelkamp stellt dabei fest, dass die Selektionsfunktion mit den Zensuren das falsche Instrumentarium zur Hand hat und darüber hinaus mittlerweile so aufgesplittet ist, dass sie nichts mehr mit der ‘eigentlichen Aufgabe’ der Selektion gemein hat: „Das gleiche Instrumentarium, an dessen Handhabung sich im letzten Jahrhundert nichts Entscheidendes geändert hat, soll Berechtigungsfunktionen, Auslesefunktionen, Kontrollfunktionen, Berichtsfunktionen und wie man es sonst noch nennen mag, übernehmen“ (Ingenkamp, 1974, S. 13). Ingelkamp bemängelt diesbezüglich insbesondere, dass es die Erziehungswissenschaft trotz heftiger Einzelkritik nicht geschafft hat, die Paradoxie aufzulösen und dem Lehrer schließlich allein die Last bleibt, diese Aufgabe in der Praxis zu verwirklichen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass ein erheblicher Teil der Zensurengebung nicht aus pädagogischen Gründen, sondern im Auftrag des Staats erfolgt (vgl. Ingenkamp, 1974, S. 26). Dadurch entsteht ein weiterer Widerspruch, der in erheblichem Maße vom Anspruch der schulischen Selektion wegführt: „Der Widerspruch ist auch hier wie an vielen Stellen unseres öffentlichen Lebens nicht zu übersehen: Zensuren geben ein unrichtiges Bild der Wirklichkeit, sind in einem tieferen Sinne unwahr, auf der anderen Seite können wir uns ein Bildungswesen in der ganzen Welt ohne Zensuren nicht vorstellen. Zensuren sind ein Element der Aufklärung, aber zugleich sind sie ein ambivalentes Instrument der Kontrolle“ (Becker, 1991, S. 1). Auch Hellmut Becker und Hartmut von Hentig wenden sich ausdrücklich gegen das bisherige Notensystem und sprechen in diesem Zusammenhang von dem ‘Aberglauben an die Wahrheit von Zensuren’ (vgl. Becker & Hentig, 1983, S. 10). Die Argumente gegen eine herkömmliche Zensurengebung sind vielfältig und die Literatur über diese Thematik unüberschaubar. Erstaunlich ist die Tatsache, dass im Allgemeinen Konsens darüber besteht, dass • einerseits die in irgendeiner Altersstufe festgestellten Leistungen und Fertigkeiten nichts oder fast nichts aussagen über das, was später im Beruf, in der Praxis oder auch nur in der Theorie geleistet wird107, 107 Becker macht beispielsweise unter Bezug auf die verschiedenen Epochen von Rousseau, Pestalozzi, Herbart oder Schleiermacher über die idealistischen Schule deutscher Pädagogen von Nohl, Litt, Spranger, Weniger und Flitner bis hin zu neueren empirischen Untersuchungen deutlich, dass sich nirgendwo 162 Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion • andererseits der Glaube an die Zensur als Maßstab unverändert geblieben ist. „Die richtigen Erkenntnisse über die Fragwürdigkeit der Zensuren, [...] reichen offenbar nicht aus, um das Bedürfnis des einzelnen nach Bestätigungen einfach abzuweisen. Eine Welt ohne Zensuren wird es nicht geben, weil das gegenwärtige menschliche Bewußtsein diese Kontrolle offensichtlich verlangt. Von der Grundschule an ist die in Zahlen zu messende und mit anderen konkurrierende Leistung dem einzelnen so eingepaukt, er ist auf Zensuren hin derart sozialisiert, dass er schließlich im Alter glaubt, ohne Zensuren nicht mehr arbeiten zu können“ (Becker, 1983, S. 29). Die Problematik der Zensuren liegt in der (bereits angedeuteten) Eindimensionalität. Schulleistungen dagegen sind vieldimensional, wie schon einige wenige Fragestellungen bezüglich der Kriterien deutlich machen: Soll die Anstrengung oder das Endergebnis gewertet werden? Wie werden unterschiedliche körperliche Voraussetzungen berücksichtigt? Wie wird Kreativität bewertet? usf. Wird dennoch an der bisherigen Notengebung festgehalten, so liegt der Schluss nahe, dass Zensuren „gar nicht dazu dienen, Leistungen objektiv zu bewerten, sondern dass sie in erster Linie dazu dienen, eine Leistungsskala herzustellen, auf der man die Guten, die einigermaßen Guten, die weniger Guten und die Schlechten voneinander trennen kann“ (Lempp, 1983, S. 68). Eine solche Leistungsskala hat wiederum nichts mehr mit dem Gedanken der Selektion gemein. Die Sache tritt in den Hintergrund und die Zensur erhält eine Bedeutung, die ihr nicht zukommt. „Häufig beginnen Eltern bereits in der Volksschule, die Noten als ausschließlichen Maßstab für Eifer und Erfolg ihrer Kinder in der Schule zu betrachten. Sie mühen sich nicht, die Leistungen ihrer Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen zu überprüfen. Lob und Tadel werden nicht nach Leistungen, sondern nach dem Notenbild erteilt. Ist der Schüler aber bereits in einer Hauptschule oder höheren Schule, wird diese Entwicklung beschleunigt, weil die sachliche Einschätzung der Schülerleistungen für die Eltern immer schwieriger wird. Es kommt zu einer einseitigen Hochschätzung der Note. Der Schüler lernt, dass er nur zu trachten habe, auf irgendeinem Wege, sei es auch Schwindel und Betrug, zu guten Noten zu kommen“ (Weiss, 1974, S. 55). ein positives Urteil über die Art findet, wie Leistungen anhand von meßbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten festgestellt werden. 163 Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion Dennoch muss sich ein realistisches Allgemeinbildungskonzept der Aufgabe der Selektion stellen und zeigen, wie damit umgegangen werden kann. Es hilft nichts, darüber zu klagen oder ihre Berechtigung zu leugnen: Die Hoffnung auf ihre ersatzlose Streichung gehört zu den unerfüllten pädagogischen Träumen (vgl. Heymann, 1996, S. 30). Die Suche nach Alternativen zu dem herkömmlichen Zensurensystem kann somit zu einer Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn der Selektionsfunktion werden. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, wie es möglich wird, die Handhabung der Selektionsfunktion kritisch zu überprüfen und aufzuzeigen, in welcher die Momente der Bildung trotz, wegen oder mit ihr nicht beeinträchtigt werden. Im Rückbezug auf das dargestellte Allgemeinbildungskonzept wird deutlich, dass eine sinnvolle Selektion nur zu realisieren ist, wenn jedem Schüler ein möglichst hohes Maß an Individualität zugestanden wird: das beinhaltet die Berücksichtigung des individuellen Lerntempos sowie die Möglichkeit der gezielten Auswahl von Inhalten, um Schwächen auszugleichen und Stärken weiter zu profilieren (vgl. Fend, 1980, S. 90). Dadurch ist es möglich, • dass die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler nicht durch starre, entwürdigende und verletzende Formen der Leistungsbeurteilung beeinträchtigt wird, • dass die Ungleichheit sozialer Chancen durch Selektionsmechanismen aufgefangen wird und • dass sinnvolle Gegengewichte gegen eine Überbetonung des Auslesegesichtspunktes und der Leistungskonkurrenz im schulischen Alltag gesetzt werden (vgl. Heymann, 1996, S. 112). Dabei ist die Notwendigkeit unbestritten, den einzelnen Schüler bereits über die Schuljahre hinweg über individuelle Stärken und Schwächen zu informieren. Eine solche Information hat zwei Hauptanliegen: zum Einen soll der Einzelne in das gesellschaftliche Gesamtsystem eingegliedert werden, zum Anderen dient sie als Rückmeldung, sowohl für den einzelnen Schüler, als auch für die Eltern. Dem Schüler sollen eigene Schwächen deutlich gemacht werden, um ihm die Möglichkeit zu geben, diese zu beheben, aber auch Stärken aufgezeigt werden, die weiter verfolgt und ausgebaut werden kön- 164 Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion nen108. Den Eltern dient eine solche Information dazu, angemessene Erziehungsmaßnahmen zu ergreifen, um ihre Kinder zu fördern (vgl. Weiss, 1974, S. 53). (1) Berichte zum Lernvorgang statt Ziffernzeugnisse. Wenn also die schulische Aufgabe der Selektion durch das gegenwärtige Zensurensystem ad absurdum geführt wird, gilt es, nach einem Verfahren zu suchen, das die pädagogischen Absichten und Möglichkeiten der Beurteilung mit der gesellschaftlichen Funktion verbindet und verträglich macht. In Anbetracht der Tatsache, dass es trotz der Fragwürdigkeit der Zensuren bisher nicht gelungen ist, diese aus dem Schulalltag zu verbannen, muss eine solche Veränderung im Windschatten der Erfüllung des Notensystems und im Vertrauen auf die pädagogische Überlegenheit einer nichtmessenden Beurteilung vorgenommen werden (vgl. Hentig, 1983, S. 100). Solche Versuche gibt es bereits in verschiedenen Formen, wie die Beispiele der Waldorfschulen, Montessorischulen oder der Bielefelder Laborschule zeigen. Insbesondere die Bielefelder Laborschule hat dabei nach einer Beurteilungsform gesucht, die • sachlich und sprachlich differenzierter ist als die herkömmliche Zensurengebung, • entschlossen pädagogischen Gesichtspunkten folgt (und darum stark individualisiert), • in erster Linie der geschärften Wahrnehmung des jeweiligen pädagogischen Zustands der Schule dient und damit als Hilfe für das Handeln der Lehrer, der Eltern und der Schüler • und dabei doch Nachprüfbarkeit durch Dritte gewährleistet, also eine mit den genannten Merkmalen verträgliche Objektivierung zuwege bringt, soweit das geht (vgl. Hentig, 1983, S. 102f). Ein solches Beurteilungsverfahren muss verschiedene Merkmale aufweisen, damit es den hohen Ansprüchen auch nur annähernd gerecht werden kann. Dazu gehört in erster Linie, dass die zu beurteilenden Leistungen genau zu benennen sind. Im Bereich des Schulsports kann es somit eine Gesamtbeurteilung in Form einer Ziffer nicht mehr geben. Vielmehr muss die Vielschichtigkeit des einzelnen Faches und die damit verbundenen unterschiedlichen individuellen Möglichkeiten in jeder Beurteilung Berücksichti108 An dieser Stelle spricht Rudolf Weiss von der pädagogischen Funktion der Motivation, die das Individuum dazu veranlaßt, zu lernen. Es muss jedoch angemerkt werden, dass die Meinungen bezüglich der Lernmotivation bezüglich weit auseinandergehen. Unbestritten ist, dass ein Lernprozess ohne fortlaufende Überprüfung des Lernerfolges wenig wirksam ist. Andererseits zeigt sich an diesem Punkt auch, dass die 165 Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion gung finden. Die nicht meßbaren, möglicherweise nicht einmal einheitlich definierbaren Faktoren sollen ausdrücklich berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer erheblichen Anstrengung dahingehend, dass die Einzelleistungen und der gegenwärtige Entwicklungsstand der jeweiligen Person entsprechend in die Beurteilung mit einfließen. Somit kommt dem Vergleich nur eine untergeordnete Rolle zu und es ist nicht zu erwarten, dass die herkömmlichen Ziffernoten aus den Berichten ‘ableitbar’ sind. An der Laborschule Bielefeld, wie auch an anderen Gesamtschulen des Landes Nordrhein-Westfalen sind aus diesen Überlegungen sogenannte Berichte zum Lernvorgang oder Berichte zum Lernprozess entstanden. Dabei zerfällt wiederum jeder Einzelbericht in zwei Teile: eine ‘Beschreibung des Unterrichts’ und eine ‘Beschreibung des Lernverhaltens des Schülers’, wobei Standardsätze in den Berichten entfallen sollen. Zwar bezeichnet Hartmut von Hentig diese Berichte als ein ‘pädagogisches Instrument zur Steuerung des Lernens des Schülers und des Lehrens des Lehrers’, die dazu dienen, sowohl Schüler als auch Eltern zu unterrichten, dennoch sieht er in ihnen kein Instrument der Auslese (vgl. Hentig, 1983, S. 106). Andererseits kommt diese Form der Berichterstattung den Forderungen der Selektionsfunktion sehr nahe, wenn diese die entsprechende Verteilung der Individuen in der Gesellschaft gemäß individuellen Neigungen und Begabungen anstrebt. Natürlich gibt es auch bei der Beurteilung durch Lernberichte Probleme, die bedacht sein und verbessert werden müssen. Ziffernoten kommen dem Bedürfnis der Schüler, Eltern und Lehrer nach Einordnung entgegen. Sie geben eine soziale Sicherheit und ermöglichen eine einfache Anschauung einer sonst komplizierten Beziehung. Dazu kommt, dass die Erfahrungen über Lernberichte nur sehr spärlich sind, zumal die Schulen, die sich für diesen Weg der Beurteilung entschieden haben, um der Anerkennung ihrer Abschlüsse willen gezwungen werden, eine Umrechnung in die Notenskala 1 - 6 beizulegen (was nicht funktioniert, wie gerade aufgezeigt wurde). Damit ist aber auch zu befürchten, dass die Vielschichtigkeit der Aussagen, die den Bericht gegenüber dem Ziffernsystem auszeichnet, wieder aufgehoben wird. Sollten sich die Berichte zum Lernvorgang gegenüber dem herkömmlichen Zensurensystem durchsetzten, so ist dies auch ein Schritt in die Richtung einer schulischen Selektion, die sich sowohl ihrer historischen als auch pädagogischen Wurzeln annähert. Dies Frage der Lernmotivation zunächst nichts mit der Aufgabe der Selektion zu tun hat (vgl. Weiss, 1974, S. 166 Teil B : Zusammenfassung und Fazit bedeutet, dass die Lehrenden angehalten sind, über den individuellen Bildungsstand jedes Schülers in der geforderten Vielschichtigkeit Auskunft zu geben. Der dann fehlende Vergleich zwischen den einzelnen Schülern birgt die Chance, die derzeit bestehende Ungleichgewichtung zwischen Qualifikation und Persönlichkeitsbildung aufzuheben und die Selektionsfunktion als gleichgewichtigen Teil in das Konzept schulischer Allgemeinbildung einzugliedern. 3. ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT In der historischen Herleitung wurden vier schulische Aufgaben deutlich, wobei die Bildungsaufgabe den zentralen schulischen Bezugspunkt für weitere Überlegungen darstellt. Die weiteren Aufgaben spiegeln sich in der Bildung wider, ohne dass sie jedoch an Eigenständigkeit verlieren: • Die Mittlerfunktion stellt die Spanne dar, in der sich schulische Bildung vollzieht und zeigt sowohl den Anfang als auch das Ende der Schulzeit an. • Die Orientierungsfunktion unterstreicht den gesellschaftlichen Aspekt zeitgemäßer Bildung und erfährt ihre Eigenständigkeit somit als Prüffunktion. Diese ist schon allein deshalb wichtig, da der geschichtliche Rückblick immer wieder deutlich gemacht hat, dass schulische Bildung dann in den Schulen nur noch eine untergeordnete Rolle spielte, wenn sie als zu realtiätsfremd angesehen wurde. • Die Selektionsfunktion schließlich hat die Aufgabe der Kenntlichmachung des jeweils individuellen Leistungsstandes der Schüler, damit diese ihre Eigenständigkeit erkennen und ihren eigenen, unverwechselbaren Platz in der Gesellschaft finden. Somit ist der Zusammenhang zwischen den schulischen Aufgaben zunächst geklärt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sich die Selektionsfunktion durch das eindimensionale Ziffernotensystem dahingehend wandelte, dass die Vergabe von Leistungs- und Berechtigungsnachweisen zu Gunsten von pädagogischen Gesichtspunkten in den Vordergrund rückte. Durch die Notenvergabe werden vieldimensionale schulische Leistungen zu eindimensional dargestellt, was dazu führt, dass diese Form der Bewertungsskala nichts mehr mit dem Gedanken der Selektion gemeinsam hat. 53f). 167 Teil B : Zusammenfassung und Fazit Soll die Selektionsfunktion jedoch wieder in das System der schulischen Aufgaben eingegliedert werden, so gilt es eine Möglichkeit zu finden, wie die einzelnen Schüler über ihre individuellen Stärken und Schwächen informiert werden können, ohne dass das Ergebnis zu sehr in den Vordergrund des Interesses rückt. Eine Möglichkeit wären Berichte zum Lernvorgang, die die Vielschichtigkeit sowohl des jeweiligen Faches als auch die individuellen Möglichkeiten jedes Schülers berücksichtigen. Insgesamt gesehen ist es wichtig, dass alle vier schulischen Aufgaben in einer Einheit gesehen werden, in der jede ihre unverzichtbare Rolle spielen und die sich in der Gesamtschau um die Bildung der jungen Menschen bemüht. Sobald diese Einheit durch die Überbetonung einer Aufgabe in ein Ungleichgewicht gebracht wird, ist das innere Gleichgewicht gestört und es ist zu befürchten, dass Schule ihrem Auftrag nicht mehr gerecht werden kann. Abbildung 2: Die Schulfunktionen in ihrem Verhältnis. Wenn das Gleichgewicht gestört wird, wirkt sich das auf das gesamte System aus. Bildung Mittlung Mittlung Bildung Selektion Orientierung Orientierung Selektion 168 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports TEIL C: DIE AUFGABEN DES SCHULSPORTS 1. ANTHROPOLOGIE & SPORTANTHROPOLOGIE ALS AUSGANGSPUNKT FÜR INHALTE DES SCHULSPORTS Weder die Aufgaben der allgemeinbildenden Schule noch ihre inhaltlichen Ausführungen, die darauf hinauslaufen, dass es sich hierbei um das zentrale Anliegen der Allgemeinbildung handelt, bringen Hinweise darauf, in welcher Form das einzelne Schulfach - im Rahmen dieser Arbeit der Sportunterricht - in das Gesamtsystem der Schule einbezogen ist. Bisher wurde lediglich die Frage geklärt, was Schule soll und in welcher Form dies zeitgemäß geschehen kann. Welche Fächer mit welchen fachspezifischen Inhalten hierbei Eingang finden, wurde dabei noch nicht angesprochen. Wenn der Schulsport in einem Konzept, wie es in den ersten beiden Teilen vorgestellt wurde, berücksichtigt ist, so kann bislang lediglich vermutet werden, dass es sich um eine kulturelle Errungenschaft, ein gesellschaftlich relevantes Phänomen und um ein lehrbares Fach handelt. Dabei ist es weder möglich, noch ist es sinnvoll, jede Ausprägung des Phänomens Sport in der Schule zu thematisieren und zu unterrichten. Somit gilt es nun im Folgenden zweierlei zu klären: 1. Welches sind die Eigenschaften des Schulsports, die ihn als Teil des schulischen Allgemeinbildungsanspruches legitimieren? 2. Wie kann daraus eine pädagogisch begründete Auswahl vorgenommen werden? Die Kriterien können hierbei nicht im Fach immanent vorliegen, sie müssen außerhalb zu finden sein. Somit wird deutlich, wieso eine fundierte Begründung für ein Schulfach Sport ohne den ausführlichen Rahmen allgemeinpädagogischer Überlegungen nicht auskommt. Diese dienen dazu, fachspezifisch zu sichten und zu bewerten und bieten Orientierung bei der Auswahl derjenigen sportspezifischen Inhalte, die dem Allgemeinbildungsauftrag der Schule gerecht werden. Ein gesellschaftlich etabliertes, traditionsreiches und im Alltag als wichtig anerkanntes gesellschaftliches Phänomen wie das des Sports und letztlich auch des Sportunterrichtes ruft gegenüber Innovationen teilweise starke Abneigungen hervor. Die gesellschaftli170 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports chen Rahmenbedingungen, unter denen Schule und Sportunterricht stattfinden, lassen sich nicht ohne weiteres ändern. Dabei muss beispielsweise die Lehrerschaft, die zum jetzigen Zeitpunkt in den Schulen unterrichtet, auch Veränderungen wollen und dabei helfen, diese umzusetzen. Der Weg zu einem nach allgemeinbildenden Gesichtspunkten fundierten Sportunterricht kann also nicht von außen an die Menschen herangetragen werden, die für die Umsetzung verantwortlich sind, sondern kann nur einer sein, der auf vielen kleinen Schritten beruht (vgl. Heymann, 1996, S. 131f). Dazu ist es notwendig offenzulegen, in welchen Punkten der Schulsport in das Konzept der Allgemeinbildung passt und an welchen Punkten keine Übereinstimmung festzustellen ist. Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen soll die menschliche Leiblichkeit sein, da sie die Grundlage für ein besseres Verständnis des Menschen bildet. Es soll deutlich werden, dass der Mensch ohne seinen Leib nicht denkbar ist, ebensowenig wie es möglich ist, Sport oder Bewegung ohne den menschlichen Körper zu verstehen. (1) Anthropologische Grundlagen als Ausgangspunkt der Schulsportdiskussion. Das zentrale Anliegen dieser Arbeit liegt, wie bereits in den ersten Kapiteln mehrfach erläutert, darin, den Schulsport in den schulischen Fächerkanon einzugliedern und zu legitimieren. Das geht nur dann, wenn es gelingt, unverwechselbare und ausschließlich durch den Sport zu erreichende Bildungs- und Erziehungsziele zu profilieren, die kein anderes Fach ersetzen kann. Bevor eine Einordnung in die in Teil B erarbeiteten vier Kategorien der zeitgemäßen schulischen Allgemeinbildung vorgenommen werden kann, sollen übergreifende Überlegungen bezüglich menschlicher Leiblichkeit angestellt werden. Dies ist notwendig, um damit das den folgenden Überlegungen zugrunde liegende Menschenbild zu erläutern, welches zwangsläufig die sich ergebende Erziehungspraxis beeinflusst (vgl. Prohl, 1999, S. 18). Unter Anthropologie wird die philosophische Lehre vom Menschen verstanden. Sie bemüht sich um die Selbstdeutung und das Selbstverständnis des Menschen und tut dies, in dem sie die einzelwissenschaftlichen Grenzen von Beginn an übersteigt (vgl. Meinberg, 1987, S. 23). Anthropologische Vorannahmen, wie sie sich in Form von 171 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Menschenbildern zeigen, beeinflussen alle erzieherischen Entscheidungen. Die wissenschaftliche Anthropologie versucht die Natur des Menschen und seine besonderen Merkmale systematisch und mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen, kann allerdings die naiven und oft wertvollen Alltagserkenntnisse über den Menschen nicht ersetzen. Beide anthropologischen Erkenntnisformen (wissenschaftliche & naive) versuchen Grundannahmen über die Freiheit des Menschen, über seine Personalität, über seine Würde und Unverletzlichkeit nachzuweisen. Hier liegt die Begründung für die Bildsamkeit und Erziehbarkeit des Menschen (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 180; Grupe, 1980, S. 89). Grupe nennt die Anthropologie in Bezug auf Bollnow deshalb einen Schlüssel zum Verständnis von pädagogischen Systemen109. Wenn Bollnow der Meinung ist, dass die philosophische Anthropologie unmittelbar auf die Pädagogik zurückwirkt, zeigt sich deutlich die Wichtigkeit, die eine anthropologische Reflexion an den Beginn jeder schulpädagogischen Überlegung stellt. „Was das Wissen vom Menschen angeht, das gilt zugleich auch für die Wesensvermittlung des Menschen und gibt damit zugleich einen Hinweis für die Erziehung. [...] Und so ergibt sich schlechterdings kein anthropologisches Problem, das nicht zugleich und unmittelbar eine pädagogische Bedeutung hat.“ (Bollnow, 1968, S. 48f). Dabei darf aber keineswegs verkannt werden, dass das Ziel der Anthropologie nicht primär die Veränderung von Praxis ist. Vielmehr stellt sie mehr oder weniger gesichertes Wissen über den Menschen bereit, im Falle der Sportpädagogik über den sporttreibenden, sich-bewegenden, spielenden Menschen. Somit nimmt die Sportanthropologie im Rahmen dieser Arbeit eine Sonderstellung ein, da aus ihr nicht nur Begründungen und Rechtfertigungen für einen eigenständigen Sportunterricht formuliert werden können, sondern darüber hinaus auch Orientierungs109 Bollnow zeigt bezüglich der begrifflichen Verhältnisse den doppelten Sinn der pädagogischen Anthropologie auf, je nachdem, ob die Gesamtheit der Einzelwissenschaften vom Menschen oder die philosophische Anthropologie gemeint ist. „Im zweiten Fall müßte man also eigentlich strenger (wie es auch Langeveld gelegentlich getan hat) von einer pädagogischen (philosophischen) Anthropologie oder einer philosophisch-pädagogischen Anthropologie sprechen. Weil aber das zu schwerfällig ist, muss man in jedem Fall genau angeben, welche Art von pädagogischer Anthropologie jeweils gemeint ist. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, würde ich vorschlagen, die Bezeichnung ‘pädagogische Anthropologie’ für die unter pädagogischem Gesichtspunkt gesehene und behandelte integrale und basale empirische Anthropologie (im Sinne von Flitner) vorzubehalten und das, was bei Loch unter diesem Namen genannt wird, unterscheidend als (philosophische) Anthropologie der Erziehung zu bezeichnen“ (Bollnow, 1968, S. 47f). 172 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports vorgaben im Hinblick auf Inhalte und Ziele (vgl. Grupe, 1985, S. 37). Dieses Bemühen um Orientierung, Aufklärung und Beseitigung von Vorurteilen schließt zunächst jede inhaltliche Wertung aus. Das ist nicht die Aufgabe der Anthropologie, wohl aber die der schulsportorientierten Pädagogik. (2) Sportanthropologie. Wie bereits erwähnt, liegt der besondere Schwerpunkt der Sportanthropologie bei der Themenstellung des sporttreibenden, spielenden oder sich-bewegenden Menschen. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Bedeutung des eigenen Körpers für das Individuum. Dass der menschliche Körper nicht nur im Bereich sportpädagogischer Betrachtungen eine zentrale Bedeutung hat, zeigt sich an zahlreichen Stellen der inzwischen umfangreichen Zahl von Veröffentlichungen aus dem Bereich der philosopischpädagogischen Anthropologie110. Stellvertretend soll hier Langeveld genannt werden, der bezugnehmend auf Merleau-Ponty meint: „Wer geringschätzig urteilt über den Körper, urteilt abschätzig über den Menschen. Nicht weil der Körper der Mensch ist, sondern weil der Mensch ohne seinen Körper nicht existiert und dank seinem Körper er selbst sein kann, wenn schon das manchmal zugleich nur trotz seines Körpers gelingt. Merleau-Ponty sagt irgendwo: ‘Der eigene Körper ist in der Welt wie das Herz im Leibe’. Dieser Körper bildet die Grundlage meines Identitätsbewußtseins, und die Einheit der erlebten Welt bezieht sich auf die Einheit meines Körpers, der immer ‘als Ichselbst’ durch die Räume, um die Gegenstände herum zu den entfernten oder nahen Grenzen meines Gehens, Sehens oder Greifens geht“ (Langeveld, 1964, S. 125). Neben den Themen des Körpers und der Bewegung geht es in der anthropologisch motivierten sportpädagogischen Betrachtung zentral darum, Einzelphänomene wie Gesundheit, Spiel, Leistung oder Ästhetik in ihrer Bedeutung für den Menschen zu erörtern, um damit Rückschlüsse für die Sportpädagogik zu gewinnen (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 183; Sportwissenschaftliches Lexikon, 1992, S. 423f). „Spielen, sich bewegen, etwas leisten, mit seinem Körper umgehen und Sporttreiben sind dabei Erscheinungsformen im Leben der Menschen, die 110 Stellvertretend sollen neben Langeveld Autoren wie Bollnow, Flitner, Gehlen und Plessner genannt werden. Aber auch phänomenologisch orientierte Autoren wie Fouccault oder Merleau-Ponty haben die fundierende Rolle des Leibes immer wieder betont. 173 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Hinweise zu seinem Gesamtverständnis geben können“ (Grupe & Krüger, 1997, S. 182). Grupe & Krüger betonen, dass für den Sport zunächst die Tatsache kennzeichnend ist, dass der Mensch in ihm vor allem in seiner Körperlichkeit und in seiner Bewegung angesprochen wird. Sporttreiben ist immer unmittelbar körper- und bewegungsbezogen, wobei Körper und Bewegung deshalb zu den zentralen anthropologischen Bezugspunkten der Sportpädagogik zählen (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 183). Auch Prohl unterscheidet hinsichtlich der Sportpädagogik zunächst zwei anthropologische Grundtatsachen: • Körperlichkeit/ Leiblichkeit und Bewegung • Bildsamkeit und Erziehungsbedürftigkeit (vgl. Prohl, 1999, S. 21). Diese sollen im Rahmen dieser Arbeit zunächst soweit behandelt werden, wie sie für die Einbettung in den Schulsport notwendig sind. Danach werden auch die anderen Themenbereiche - Gesundheit, Spiel, Leistung und Ästhetik -, die als Grundthemen der Sportanthropologie gelten, behandelt. Zusammen bilden sie die Grundlage für die inhaltliche Ausgestaltung der in Teil A angesprochenen und in Teil B ausgearbeiteten Aufgaben der Schule. 174 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports 1. Körper und Bewegung a) Anthropologische Grundannahmen In Anlehnung an Helmuth Plessner und daraus folgend an Ommo Grupe (1982, 1997111) und Robert Prohl (1999) lassen sich verschiedene anthropologische Grundannahmen formulieren, die auch bei der schulsportorientierten Pädagogik eine grundlegende Bedeutung haben: (1) Der Mensch ist ein weltoffenes und handelndes Wesen. Der Mensch als instinktentlastetes, lernfähiges Wesen charakterisiert sich zunächst dadurch, dass er entscheidungsfähig ist. Er kann sich im Rahmen situativer, körperlicher, kultureller und sozialer Bedingungen frei entscheiden und sich - anders als das Tier unterschiedlichen Bedingungen anpassen. Er hat die Fähigkeit, rational handeln zu können. Diese Fähigkeit ist jedoch nicht angeboren; die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung beruht vielmehr auf der Annahme, dass Menschen lernen müssen, sich in ihrem Handeln für etwas oder gegen etwas zu entscheiden. Hier zeigt sich die Weltoffenheit: fast zur gleichen Zeit, in der das Kind Stehen lernt und die ersten Worte nachspricht, beginnt das, was wir einsichtiges Handeln nennen. Der Mensch öffnet sich der Welt (vgl. Plessner, 1976, S. 48f). Dass dieses ‘sich Öffnen’ immer innerhalb eines kulturell ‘geprägten Daseinsrahmens’ (vgl. Plessner, 1976, S. 52) stattfindet, zeigt wiederum zweierlei: die Weltoffenheit des Menschen ist eine beschränkte112 und zeigt auf, dass der Mensch immer ein soziales Wesen ist. Das gilt auch für Erziehung im Rahmen sportpädagogischer Überlegungen. 111 Hier zusammen mit Michael Krüger. Wenn aus diesem Werk zitiert wird, aber Krüger nicht immer explizit auftaucht, so liegt das daran, dass Grupe die Bedeutungsaspekt bereits in seiner Monographie aus dem Jahre 1982 nennt. 112 Plessner führt die These der ‘beschränkten Weltoffenheit’ als Kennzeichen menschlicher Grundverfassung in seinen Überlegungen nach der Conditio Humana (1976) genauer aus. 175 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports (2) Der Mensch ist ein soziales Wesen. „Dass ein jeder ist, aber sich nicht hat; genauer gesagt, sich nur im Umweg über andere und anders als ein Jemand hat, so heißt es, gibt der menschlichen Existenz in Gruppen ihren institutionellen Charakter“ (Plessner, 1976, S. 61). Der Mensch besitzt sowohl die Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit des Individuums, als auch die Merkmale des Sozialen, Kulturellen und Gesellschaftlichen, die ihn unterscheidbar machen (vgl. Prohl, 1999, S. 21f). Plessner spricht in diesem Zusammenhang von Mitverhältnissen, in denen der Mensch lebt und die er - im Unterschied zum Tier - selbst gestalten kann (vgl. Plessner, 1976, S. 60). Diese Mitverhältnisse stellen nicht nur die ‘überkuppelnden Großformen’ des Staates, der Wirtschaft und Gesellschaft dar, sondern bestehen vielmehr überall, privat wie öffentlich. Jeder Mensch ist nicht nur das Ergebnis seiner eigenen Entwicklung und Geschichte, sondern ebenso das der Gruppe, der er angehört. „Erst innerhalb eines kulturell geprägten Daseinsrahmens findet der Mensch sein Zuhause“ (Plessner, 1976, S. 52). Somit sind spielerische und sportliche Aktivitäten, Bewegung und Körperlichkeit, Wahrnehmung und Einschätzung des Körpers immer auch von sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 185). (3) Der Mensch ist ein historisches Wesen. „Er ist zu dem geworden, was er ist; und dieses historische Gewordensein betrifft nicht nur seine individuelle Existenz, sondern auch die Geschichte der sozialen Gruppe, in der er lebt. Selbst der Körper eines Menschen ist weder nur individuell noch nur natürlich, sondern er ist sowohl sozial und kulturell als auch historisch geprägt“ (Grupe & Krüger, 1997, S. 185). Die Annahme des Menschen als historisches Wesen richtet sich gegen die Auffassung, es ließe sich ein absolutes und überzeitliches (damit unhistorisches) Wesen des Menschen bestimmen. Zwar gibt es historisch invariante Faktoren des Menschseins (so hatten Menschen zu allen Zeiten einen Körper und konnten sich bewegen), diese Invarianten haben aber aufgrund historischer, kultureller und biographischer Begebenheiten verschiedene Ausprägungen (vgl. Prohl, 1999, S. 21). 176 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports „Soll die These richtig sein, dass alles was er (der Mensch, Anm. d. Verf.) aus sich macht, geschichtlichem Wandel unterliegt, werden die Dinge, auf die es ihm zu allen Zeiten ankommt und an denen er sich seiner Idee würdig erweist, immer wieder anders aussehen, weil die Idee des Menschen keine fixe Bestimmung enthält, die über gewisse Anforderungen an das Verhalten und die Formen seiner Beurteilung hinausreicht“ (Plessner, 1976, S. 81). Dazu kommt, dass Körper und Körperlichkeit sowie der Umgang und das Verhältnis zum Körper neben den kulturellen Einflüssen auch von dem Faktor des Alters und der damit verbundenen menschlichen Leistungsfähigkeit zusammenhängen113. (4) Körperlichkeit, Geist und Leib. Dadurch, dass die Philosophische Anthropologie versucht, den Menschen philosophisch vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, besonders der Biologie, Zoologie und Ethnologie zu beschreiben, eignet sie sich für eine Standortbestimmung im Bereich der Sportpädagogik. Die zentrale Frage lautet dabei „Was ist der Mensch?“. Neben Scherler und Gehlen gilt Helmuth Plessner als Begründer der Philosophischen Anthropologie, die sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entfaltete. Insbesondere Plessner hat sich mit dem Thema der Körperlichkeit/ Leiblichkeit befasst. Dabei sieht er die Verschränkung von Körper und Geist als Schlüssel zur Philosophischen Anthropologie, womit auch das Interesse der Sportwissenschaft angesprochen ist (vgl. Seewald, 1996, S. 24). Plessner ist dabei der Meinung, dass den Menschen eine Doppelrolle auszeichnet, die eine ständig zu durchlebende und zu vollziehende Verschränkung des Körpers in den Leib bedeutet: „Das Ziel der Beherrschung, entweder im Dienst der Bejahung körperlichen Daseins und dann bald auf Spitzenleistung, bald auf völlige Entspanntheit, d.h. Grazie gerichtet, oder aber im Dienst der Körperverneinung, der Askese und Weltflucht, ist dem Menschen durch seine physische Existenz gestellt: als Leib im Körper. Mit dieser Doppelrolle muß sich jeder vom Tage seiner Geburt an abfinden. Jedes Lernen: zu greifen und die Sehdistanzen den Greifleistungen anzupassen, zu stehen, zu laufen usw. vollzieht sich auf Grund und im Rahmen dieser Doppelrolle. Der Rahmen selbst wird nie gesprengt. Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) - auch wenn er von seiner irgendwie ‘darin’ seienden unsterblichen Seele überzeugt ist - und hat diesen Leib als diesen Körper. Die Möglichkeit, für die physische Existenz derart verschiedene 113 Hier ist die Thematik des Körpers als ein ‘soziales Gebilde’ angesprochen, worauf hierbei vor allem Heinemann (1990) eingeht. 177 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports verbale Wendungen zu gebrauchen, wurzelt in dem doppeldeutigen Charakter dieser Existenz selbst“ (Plessner, 1970, S. 43). In dieser Doppeldeutigkeit liegt der Unterschied zwischen Mensch und Tier, da dem Tier diese Verschränkung zwischen Leib und Körper nicht bewusst wird114. Leibsein und Leibhaben kommt dem Menschen unabhängig von Kultur und Geschichte als Gattungsmerkmal zu (vgl. Seewald, 1996, S. 27). (5) Leibsein - Körperhaben. Um diese Verschränkung zu verdeutlichen, soll zunächst auf die Unterscheidung zwischen dem gelebten und dem erlebten Leib eingegangen werden. Der gelebte Leib besagt, dass uns unser Körper und unsere körperliche Reaktionen, Funktionen, Vollzüge in der Regel nicht bewusst und gegenwärtig sind. „Man weiß, dass man sich bewegt, aber nicht wie. Wenn wir uns wohl fühlen, unsere Absichten mit unserem Können und unseren Möglichkeiten übereinstimmen, bleibt unser Körper in der ‘Anonymität’ des Selbstverständlichen verborgen“ (Grupe & Krüger, 1997, S. 194). Im Handeln und der gekonnten Bewegung unterscheiden wir uns nicht von unserem Leib, uns ist unser Leib in dem beschriebenen Sinne durchweg nicht bewusst, er bleibt unsichtbar. Im Unterschied zum Tier hat der Mensch die Möglichkeit, seinen Leib zu beherrschen. Der Leib ist dem Menschen Instrument, mit dem er sich auseinandersetzen muss, vom ersten Schritt bis zum letzten Atemzug (vgl. Plessner, 1976, S. 140f). „Wir ‘sind’ unser Leib, unsere Arme, unsere Füße als die Möglichkeit zu laufen, zu springen, mit dem Ball zu spielen“ (Grupe, 1980, S. 91). Dieses ‘menschliche’ Vermögen etwas zu tun, wird in der anthropologischen Literatur mit dem Wort des Leibseins bezeichnet. Nun gibt es jedoch genügend Situationen, in denen die menschliche Bewegung durch irgendeine Störung unterbrochen wird. Grupe/ Krüger sprechen davon, dass die Übereinstimmung und Geschlossenheit des Ich-Leib-Welt-Verhältnisses zeitweilig oder ganz verloren geht (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 195). Die Aufmerksamkeit richtet sich zwangsläufig von der Umgebung auf den eigenen Körper. Dazu kommen Situationen, in 178 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports denen wir unsere Aufmerksamkeit bewusst und absichtlich auf den eigenen Körper bzw. körperliche Prozesse richten, wie beispielsweise auf die Spannung oder Entspannung einzelner Muskelgruppen. Ebenso ist der Mensch in der Lage, ohne zu Handeln in der Umgebung aufzugehen, wie zum Beispiel bei der versunkenen Betrachtung einer Landschaft (vgl. Prohl, 1999, S. 224). Es zeigt sich, dass es nicht immer möglich ist, positive und negative Aspekte des Körpererlebens klar zu trennen. Oftmals ist zum Beispiel bei sportlicher Anstrengung die Erschöpfung nach Erreichen des Zieles vergessen. In Abgrenzung von dem Begriff des Leibseins, wird für die bewusste körperliche Wahrnehmung, also für den erlebten Leib, der Ausdruck des Körperhabens benutzt. Plessner spricht davon, dass ich ‘Leib bin’ und ‘Körper habe’ (vgl. Plessner, 1970, S. 43). Leibsein und Körperhaben zeigen die menschliche Doppelnatur, die „eine ständig zu durchlebende und zu vollziehende Verschränkung des Leibes in den Körper bedeutet“ (Plessner, 1976, S. 195). Grupe & Krüger (1997, S. 195) fassen die Unterscheidung zwischen Leibsein und Körperhaben mit Bezug auf Sartre prägnant zusammen: „Leibsein bezeichnet Situationen, in denen im Unterschied zum Körperhaben der Körper nicht bewußt wahrgenommen wird, weil er mit der Person verschmolzen zu sein scheint. Der Begriff des Körperhabens oder Leibhabens bezieht sich in besonderer Weise auf das unmittelbare Erleben und Wahrnehmen des Körpers. Allerdings ist dieser Begriff ungenau, weil die mit dem Wort ‘haben’ nahegelegte Schlußfolgerung, nach der wir unseren Körper als eine Art Besitz ansehen können, der Auffassung widerspricht, wie sie von der neueren Anthropologie vertreten wird: Danach ‘besitzt’ der Mensch seinen Körper nicht eigentlich; denn was er ‘besitzt’, ist er ja auch selbst. ‘Das Werkzeug, das mein Leib ist’, lautet deshalb ein Satz von Sartre, ‘gebrauchen wir nicht. Wir sind es.’115“ 114 Plessner ist also nicht der Ansicht, dass das Tier seinen Leib und der Mensch auch seinen Körper hat, sondern sagt, dass die Unterscheidung in der Bewusstwerdung liegt. 115 Vgl. Sartre (1962). Das Sein und das Nichts (S. 463). Hamburg. 179 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports (6) Die Wandelbarkeit des Leibverhältnisses in der menschlichen Entwicklung. Die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben schließt auch die Wandelbarkeit des Leibverhältnisses mit ein, wobei Prohl (1999, S. 226) in zeitlicher Hinsicht drei Dimensionen unterscheidet: 1. In aktueller Hinsicht kann sich das Leibverhältnis im Handlungsvollzug derart verändern, dass eine ‘automatisierte Bewegungshandlung’ plötzlich misslingt. Wenn ein geübter Tennisspieler beispielsweise den Ball mit dem Rahmen des Tennisschlägers trifft. 2. In überdauernder Hinsicht kann sich das Leibverhältnis im Verlaufe von Bewegungslernen verändern. Zum Beispiel auf dem Weg vom Nicht-Können zum Können. 3. In biographischer Hinsicht verändert sich das Leibverhältnis über die verschiedenen Lebensphasen des Menschen in einschneidender Weise. „So ist zum Beispiel das Kind wesentlich stärker mit seinem Leib identisch als der Erwachsene, es weiß buchstäblich nicht, dass es einen Körper hat. Im Alter hingegen steht das Körper haben gegenüber dem Leib sein eher im Vordergrund“ (Prohl, 1999, S. 234). Dass das Leibliche im Laufe der biographischen Entwicklung immer wieder in neuer Weise erlebt wird, spielt gerade in schulpädagogischen Überlegungen, insbesondere im Bereich der Vorbereitung auf das lebenslange Lernen, eine bedeutende Rolle. Schon Andreas Flitner (1963) weist darauf hin, dass das Kind zum einen stärker mit seiner Leiblichkeit verbunden ist als der Erwachsene, da es in der Regel seinen Leib nicht kennt (vgl. Kap. 2.5 dieses Teiles). „Es hat noch viel von der Fähigkeit, die sich beim Säugling so gut beobachten läßt: sich so zu freuen, zu erschrecken, einem Gegenstand oder einer Person zuzuwenden, dass kein Körperteil davon unaffiziert zu bleiben scheint. Die Distanz wächst erst im Ertasten der Welt und im Ertasten des eigenen Leibes“ (Flitner, 1963, S. 236). Zum anderen erlebt das Kind seinen Leib intensiver als der Erwachsene, denn im Kriechen, Hüpfen, Klettern gewinnt es ihm Erlebnisse und Erfahrungen ab, in denen es sich als Individuum entdeckt und seine Möglichkeiten entwickelt. In diesen leiblichen Entdeckungen findet das Kind nicht nur seinen persönlichen Entdeckungs- und Erfahrungs180 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports spielraum, sondern es erschließt sich dadurch auch seine Welt. Der Leib wird für das Kind zum Medium des Großwerdens (vgl. Grupe, 1980, S. 95ff). „Die frühen Leibeserfahrungen des Kindes sind im Wechsel solche der Abhängigkeit und solche des wachsenden Eigenvermögens. [...] Im Leibe erlebt das Kind seine Grenzen und sein Angewiesensein auf die fortwährende Hilfe und Obhut des Erwachsenen. Aber auch fast alle seine Erfolge tragen ihm sein wachsendes leibliches Vermögen ein: die Bewegung und Fortbewegung, die zunehmende Kraft und Geschicklichkeit, das instrumentelle Vermögen und schließlich das Sprechen als der Schlüssel zur ganzen geistigen und sozialen Welt“ (Flitner, 1963, S. 237)116. Erst mit zunehmender Differenzierung seines Ichs kann der mögliche Abstand von der eigenen Leiblichkeit wachsen und damit auch die mögliche Distanz zur Umwelt117. In der Pubertät tritt dem jungen Menschen das Körperliche besonders deutlich entgegen. Die körperlichen Veränderungen und die damit oftmals verbundenen unkoordinierten und unharmonischen Bewegungen, aber auch die äußerlichen körperlichen Veränderungen lassen das Leibliche in den Vordergrund seines Erlebens treten. Diese Veränderungen verlangen gleichzeitig auch eine neue Bewertung und Sinngebung (vgl. Grupe, 1980, S. 97ff). Neben diesen natürlichen Wachstums- und Reifungsvorgängen ist das Verhältnis zum Leiblichen sowohl auf individuelle Voraussetzungen als auch auf gesellschaftlich bedingte Konventionen, Rollenerwartungen, Werte und Normen bezogen, die historischen Wandlungen unterzogen sind. Mit zunehmendem Alter prägen sich Erfahrungen, Erlebnisse und Einstellungen aus und verändern das leibliche Erleben. „Unser Leib ward uns immer mehr zu eigen und zugleich ward er uns immer weniger ein Eigentum. Es kommt die Zeit, dass er völlig zurückgenommen wird: dann treten wir zurück und sterben. [...] So wird der Erzieher unter die Menschen treten, seinen Kindern Begegnung zu sein, seinen Kindern Bedeutung zu zeigen, seinen Kindern das Werkzeug in die Hand zu legen, seinen Kindern dazu zu helfen, dass sie lernen, wie der Mensch das Glück 116 Andererseits machen Bewegungseinschränkungen es unmöglich, bestimmte altersspezifische Erfahrungen zu machen. Umgekehrt konnte bereits Langeveld (1964) aufzeigen, dass das Erlebnis des körperlichen Gebrechens durch eine Umstimmung der äußeren Bedingungen verändert werden kann. Hier haben bewegungstherapeutische, heil- und sonderpädagogische Maßnahmen ihren Ausgangspunkt. 117 An dieser Stelle soll auf die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse verwiesen werden, die auf die Bedeutung des Leiblichen für das Kind hinweisen (vgl. bspw. Oerter, R. (Hrsg.) (1998). Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. Weinheim: Beltz.). 181 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports erlebt. [...] Es ist der Gott in uns, der den Körper zum Leib machte.“ (Langeveld, 1964, S. 141). Eine schulsportorientierte Pädagogik, die sich als ein zentrales Ziel das lebenslange Lernen vornimmt, muss solche biographischen Entwicklungen in ihrer Konzeption berücksichtigen (vgl. Kapitel 2.5 dieses Teiles). (7) Der Körper als Vermittler und Medium. Es hat sich gezeigt, dass der Leib den Zugang zu unserer Welt bedeutet. Grupe/ Krüger machen deutlich, dass das Person-Leib-Verhältnis somit als Person-Leib-WeltVerhältnis verstanden werden kann. Eine Veränderung des Leibverhältnisses beeinflusst in der Regel auch die Wahrnehmung der Umwelt. „Gesundheit und Wohlbefinden, Reifung, Altwerden und Geschlechtlichkeit bestimmen nicht nur unser unmittelbares Verhältnis zum Körper, sondern auch das zu unserer sozialen und naturhaften Umwelt“ (Grupe & Krüger, 1997, S. 197). Diese Mittlerfunktion des Leibes zwischen Ich und Welt ist für Grupe entscheidend. Da, wie bereits beschrieben, Person und Leib ineinander verschränkt sind und sich in ständiger Spannung zwischen Identität und Lösung befinden, ist das Ich-Leib-Verhältnis ‘vieldeutig’ (vgl. Grupe, 1984, S. 62). Diese Vieldeutigkeit ist jedoch nicht nur auf individuelle Gestaltung hin ausgerichtet, sondern unterliegt gleichzeitig sozio-kultureller Prägung. So verbinden und durchdringen sich Wachstums- und Entfaltungsprozesse mit Lernprozessen, Reifungsprozessen, Alterungsprozessen, sozialen Prägungen und determinierenden Bedingungen, die wiederum von Erziehung und Bildung abhängig sind. Der Leib bildet dabei „den Zugang zu unserer Welt, zu den anderen Menschen und zu den Dingen, und umgekehrt erreichen diese uns ‘über’ unseren Leib. Wie wir auf unseren Leib gerichtet sind, so sind wir auf die Welt gerichtet; dass wir ihr ausgesetzt sind, geschieht über unseren Leib“ (Grupe, 1984, S. 62). Leibsein bedeutet demnach nicht nur Ichsein, sondern auch Welthaben118. Wie bereits angedeutet (vgl. ‘Der Mensch als historisches Wesen’), ist der menschliche Körper nicht nur als individuelles Gebilde zu verstehen, sondern er hat auch immer eine 118 Hier wiederum wird auf Langeveld (1964, S. 130) bezug genommen, der diese Verhältnisse in seinen ‘Studien zur Anthropologie des Kindes’ beschreibt: „Leib-sein heißt Ich-sein und Leib-sein heißt Du-sein. Aber Leibsein bedeutet also auch: Welt haben und für andere in der Welt sein und Leib sein. Leib-Sein bedeutet in der Welt aber auch ein mit der Welt Sein, mit und zu den Dingen Reichen, Sehen, Dienen.“ 182 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports ‘soziale Verwendung’ (vgl. Grupe & Krüger 1997, S. 199). In diesem Zusammenhang wird der Begriff des Körpers dem des Leibes vorgezogen und steht für die kulturelle Bedingtheit und die soziale Beeinflussung, die die Beziehung des Menschen zu seinem Leib in erheblichem Maße mitbestimmen. Der Körper ist Ausdruck ‘gesellschaftlicher Tatbestände’, die festlegen, wie er wahrgenommen und kontrolliert wird, wie er als expressives Ausdrucksmedium Verwendung findet, wie man mit ihm umgeht und zu ihm eingestellt ist (vgl. Heinemann, 1992, S. 254). Er ist ein soziales Gebilde, wenn auch nur eine grobe Formel für unterschiedliche körperliche Phänomene oder unterschiedliche Umgangsformen mit dem Körper. Differenzierter könnte er unter den Gesichtspunkten von Haltung, Bewegung, Gesundheit, Krankheit, Ernährung, Sexualität, Bekleidung, Schmuck, Ausdruck, Gestik, Schönheit, Scham, Alter, Geschlecht und eben auch Sport betrachtet werden. Gerade im Sport prägen sich verschiedene soziale und kulturell bestimmte Formen aus. Körper- und Bewegungstechniken unterliegen historischen Veränderungen und sind von Kultur zu Kultur verschieden. Dazu kommen Unterschiede zwischen sozialen Gruppen und Schichten sowie zwischen der Art und Weise, wie Männer beispielsweise im Unterschied zu Frauen oder Kinder im Vergleich zu Jugendlichen mit ihrem Körper umgehen, ihn erleben und wahrnehmen oder sich bewegen (vgl. Grupe & Krüger 1997, S. 199f). Der Sport stellt unter einer solchen Perspektive eine soziale und kulturelle Objektivation und historische Realisierungsform möglicher Bewegungen dar (vgl. Kap. 2.2 dieses Teiles). Das zeigt sich unter anderem daran, dass der Mensch bestimmte Situationen erst dann als sportliche Situationen und die in ihnen sich ereignenden Handlungen als sportliche Handlungen wahrnimmt, wenn er sie entsprechenden regelgeleiteten sportlichen Kontexten zuordnen kann. 183 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports b) Bedeutungen von Körper und Bewegung im Hinblick auf den Sport In Bezug auf sportliche Bewegung unterscheidet Grupe vier unterschiedliche Bedeutungen des Körpers, die sich aus dem bisher Gesagten ergeben. Diese hängen zusammen und verschmelzen miteinander, können aber durchaus auch unterschiedliche Akzente darstellen (vgl. Grupe, 1982, S. 87ff). (1) Die instrumentelle Bedeutung. Die instrumentelle Bedeutung des Körpers meint, dass der Körper in Bezug auf die Bewegung als eine Art Werkzeug benutzt werden kann: Fahrrad fahren, Tanzen, Rennen, ... . Der instrumentelle Umgang mit dem Körper geschieht in der Regel unauffällig und wird erst dann genauer sichtbar, wenn wegen einer Verletzung oder altersbedingter Beschwerden bestimmte Bewegungen nicht mehr (oder nur eingeschränkt) ausgeführt werden können. Mit dem Körper umgehen zu können, bedeutet die Befreiung von körperlichen Beschränkungen. „Für die Erfahrung der Welt und für die Erfahrung des Unterschieds von Mensch und Welt und zugleich ihre unaufhebbare Verbundenheit ist dies von entscheidender Bedeutung. Die Entdeckung des eigenen Körpers, die Differenzierung der Motorik führt zur Erschließung und Bewältigung der Welt. Die ‘Beherrschung des Leibes’ - so Caruso (1963, 225) - wird zum Modell der ‘Beherrschung des Kosmos’; die ‘Objektivierung des eigenen Körpers’ wird zu jener entscheidenden und größten Entdeckung, die den Menschen als Menschen konstituiert“ (Grupe, 1982, S. 86). Im Gegensatz dazu bedeutet diese Instrumentalität immer auch Abhängigkeit und Begrenzung durch die Differenz zwischen Wollen und Können, die sich durch Gelingen und Misslingen ausdrückt. Diese Gegensätzlichkeit hat eine wichtige Funktion für die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Identität. Die instrumentelle Bedeutung des Körpers kann somit als eine grundlegende angesehen werden; historisch betrachtet hat sie immer eine dominante Rolle gespielt. 184 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports (2) Die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung. Sporttreiben bietet vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten119, wobei Erfahrungen des Körpers und über den Körper dabei eine zentrale Rolle spielen. Grupe unterteilt diesen Bedeutungstyp in dreifacher Hinsicht: 1. In Richtung auf das Körperlich-Leibliche und die Bewegung selbst (leibliche Erfahrungen). 2. In Richtung auf die materiale Umwelt (materiale Erfahrungen). 3. In Richtung auf soziale Beziehungen und Interaktionen (soziale Erfahrungen). Leibliche Erfahrungen richten sich zunächst auf das Leibliche und die Bewegung selbst. Der Mensch erlebt, was sein Körper leisten kann und was nicht. Er kann die Erfahrung machen, was konstantes Üben bewirkt, kann die wohltuende Entspannung nach körperlicher Anstrengung als positiv empfinden. Andererseits bemerkt der Mensch auch, dass es keine Sicherheit für das Gelingen von Bewegungen gibt, denn was heute sicher beherrscht wurde, kann morgen misslingen. „Über solche leiblichen Erfahrungen und Einsichten entwickelt sich ein Bild des eigenen Körpers, so etwas wie Körpergefühl oder auch leibliche Identität. Man befindet sich mit seinem Leib in einer Art Dialog, kann seine ‘Botschaften’ hören und entschlüsseln, auf sie eingehen, ist sensibel für seine Reaktionen und Signale“ (Grupe, 1982, S. 90). Die angemessene Einschätzung eigener Körper- und Bewegungserfahrungen ist von großer Bedeutung für den Aufbau des Körper- und Selbstbildes. Körperidentität wird deshalb auch als eine wichtige Grundlage personaler Identität gesehen. Für die Schulsportpädagogik ist von besondere Bedeutung, dass im Kindes- und Jugendalter personale Erfahrungen, insbesondere Körpererfahrungen, wie sie soeben beschrieben wurden, eine tragende Rolle spielen (vgl. Kap. 2.4 dieses Teiles). Die über sportliche Aktivitäten gewonnenen Erfahrungen des Körpers können jedoch nicht isoliert gesehen werden: „Sie sind zumeist verbunden mit der Erfahrung der Dinge, zwischen denen wir uns bewegen und die wir bewegen, und die wiederum, indem sie bewegt werden, ihre besonderen Eigenschaften aufzeigen“ (Grupe, 1995, S. 23). 119 Zum Erfahrungsbegriff siehe die näheren Ausführungen in Kap. 2.3 dieses Teiles. 185 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Eine Erfahrung der Bewegung ist immer auch mehr als die Erfahrung einer abstrakten Bewegung und einer leiblichen Erfahrung. Sie ist immer eine Erfahrung des Leiblichen im Zusammenhang der Dinge und Situationen, zwischen denen sich der Mensch bewegt und die er bewegt: Erfahrungen von Gegenständen, Dingen und ihrer Beschaffenheit sowie die Erfahrungen von Umwelt und Natur nennt man materiale Erfahrungen. Trampolin, Schaukelringe und Kletterseile können auf je verschiedene Weise erfahren werden; verschiedene Schneearten, Wassertiefen und - temperaturen sowie unterschiedliche Gewichte verschiedenster Materialien beeinflussen das Körperempfinden bei sportlichen Bewegungen. Nach Scherler (1975, S. 153) sind solche Erfahrungen grundlegend für die sensomotorische Entwicklung im Kleinkind- und Kindesalter. Die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung meint somit die Exploration und Erkundung, indem wir durch unsere Körperlichkeit, über die materiale Beschaffenheit der Dinge, über die Natur und über andere Menschen erfahren, wobei wir unsere Bewegung zu diesem Zweck der Erkundung und der Erfahrungsgewinns auch ausdrücklich instrumentell einsetzen können (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 208). Schließlich sind Bewegungserfahrungen immer an Erfahrungen mit der sozialen Wirklichkeit, in der wir leben, geknüpft. In der Auseinandersetzung im Spiel, im Sieg und der Niederlage, in der Rolle, die der einzelne in einer Mannschaft einnimmt, zeigen sich gleichsam soziale Beziehungen. „Ohne Bewegungen würden wir nur wenig von alledem bemerken, und wir erfahren das alles zumeist auch nicht in einer dramatischen Weise, sondern so, wie der ‘Seiltänzer das Gleichgewicht auf einem Seil’ erwirbt, ‘das in der Höhe von einem Meter gespannt ist’ (Musil 1955)“ (Grupe, 1982, S. 91f). (3) Die soziale Bedeutung. Neben den sozialen Erfahrungen, die Bewegung dem Menschen liefert, ist sie das Medium sozialer Beziehungen. Dadurch, dass sie solche Beziehungen vermittelt und sie herstellt, hat sie eine soziale Bedeutung. Soziale Erfahrungen über Körper und Bewegung können im Sport auf unterschiedlichen Ebenen gemacht werden: 186 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports • In Bezug auf andere Menschen (interaktional-kommunikativ); • in Bezug auf die Möglichkeit, sich selbst gegenüber seiner sozialen Umwelt auszudrücken (expressiv-ausdrückend); • in Bezug auf die Verständigung ohne Worte durch Gesten und Symbole (darstellendrituell). Grupe (1982, S. 92f) zeigt am Beispiel des Fußballspiels auf, dass in allen Bewegungshandlungen auch eine soziale Wirklichkeit in Form von verschiedenen Bedeutungszuweisungen hergestellt wird. Denn die soziale gesellschaftliche Realität macht nicht Halt vor ‘sportspezifischen Bewegungen’, sondern „durchdringt sie bis in ihre feinste Verästelungen, wird aber auch selbst von ihr bestimmt“ (Grupe, 1982, S. 95). Fußball, längst eine ‘gesellschaftliche Institution’ geworden, hat seinen Anhängerkreis, seine Einrichtungen, seine Vereine, Organisationen und Plätze. Viele Bedeutungen, die ihm zugesprochen werden, haben mit seinen ursprünglichen Bewegungen längst nichts mehr zu tun und zeigen deutlich die jeweilige gesellschaftliche Realität in der er gespielt wird auf: Leistung, Wettbewerb, Kooperation, Spielsystem und vieles mehr. „Ein Ball, der über die Torlinie gelenkt wird, berührt die einen nicht, weil sie von solchen Bedeutungen nichts wissen, für die anderen ist es gleichsam das ‘Leben’“ (Grupe, 1982, S. 93). Die sozialen menschlichen Beziehungen sind in Formen der Verständigung über Zeichen verbunden, Übereinkünfte, die das Zusammenleben sichern: im Straßenverkehr sollen möglichst alle bei Grün anfahren und zwar in die gleiche Richtung. Auch sportliche Handlungen sind ohne solche gemeinsame Zeichen nicht denkbar. Voraussetzung dafür, dass das Zusammenleben über diese Zeichen funktioniert, ist zum Einen, dass es schon feststehende soziale Verhaltensregeln gibt und zum Anderen das gemeinsame Wissen um Zeichen, Regeln und Bedeutungen, die zuvor gelernt werden müssen120. Besonders deutlich wird hier das gesellschaftliche Phänomen der Institutionalisierung der Bewegung: sie meint sowohl die Schaffung eines sozialen Bezugsrahmens für die Bewegung (die Bedeutung eines Elfmeters beispielsweise kennt man auf allen Kontinenten dieser Erde) als auch eine bessere Lernbarkeit der Bewegung. Viele Bewegungen werden durch eine Institutionalisierung erst sinnvoll. 120 Grupe weist darauf hin, dass soziale Bedeutungen oft auch ambivalent und mehrdeutig sind. Sie können missgedeutet werden und falsche oder unerwartete Reaktionen auslösen je nach Grad des Verstehens oder des gemeinsamen Wissens der Beteiligten. 187 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Wer umgekehrt nicht in die Bedeutungen der stattfindenden Bewegungen eingeweiht ist, wer den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt von Situationen nicht erkennt, dem bleibt nicht nur die Teilnahme an solchen Ereignissen versperrt, sondern kann auch nicht die spezifischen Reaktionen der anderen verstehen121. „Mit dem Sich-Bewegen werden also soziale Bedeutungen vermittelt, die teils selbstgesetzt, teils von der Situation bestimmt, teils von intersubjektiven Bedeutungszuweisungen abhängig sind oder die ihnen aufgrund partieller oder globaler Traditionen, Übereinstimmungen und Regelungen zuteil werden“ (Grupe, 1982, S. 94). Die soziale Bedeutung von Körper und Bewegung zeigt, dass Bewegungen niemals völlig natürlich sein können, denn die Natürlichkeit ist selbst eine soziale und kulturelle Norm. Grupe macht vielmehr deutlich, dass die Bewegung mit ihrer ursprünglichen Natürlichkeit in die soziale Welt des Menschen eingebunden ist. Und dadurch, dass die gesellschaftliche Realität immer einem Wandlungsprozess unterzogen ist, muss berücksichtigt werden, dass sich die soziale Bedeutung von Bewegungen ebenso ändern kann. (4) Die personale Bedeutung. Die personale Bedeutung liegt darin, dass bestimmte Situationen, biologische Begrenzungen, individuelle Erfahrungen und Gewohnheiten, soziale und kulturelle Regeln unserer Bewegung nie vollständig festgelegt werden können, sondern immer mit persönlichen Empfindungen und Entscheidungen verbunden sind. „Jede Bewegungshandlung, auch die automatisierte und ganz und gar selbstverständlich gewordene, beinhaltet in diesem Sinne sozusagen die Entscheidung für diese oder gegen eine andere“ (Grupe, 1982, S. 99). Die Erfahrung der leiblichen Wirklichkeit ist immer verknüpft mit einer Erfahrung des Menschen über sich selbst und der Möglichkeit, Maßstäbe zu gewinnen, um sich realistisch zu beurteilen. Grupe sieht im Sport mit seinen vielfältigen Möglichkeiten und Aufforderungsebenen in diesem Sinne eine große Anregung. Sport ist der Inbegriff von Situationen, die nicht von Natur aus gegeben sind, sondern künstlich geschaffen wurden. Dadurch kann Sport den Menschen immer wieder in die Lage versetzen, seinem Leben Spannung zu geben, sich 121 Hier lässt sich die bewusste Ausgrenzung mit einbeziehen. Gruppen, die sich bewusst abgrenzen wollen, entwickeln oftmals Bewegungsmuster, die als Erkennungszeichen oder auch als Barrieren dienen (zum Beispiel bestimmte Marschformen). 188 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports zu erproben und freiwillig nach seinen Grenzen zu suchen. Wie schon durch die anderen Bedeutungen deutlich geworden ist, steht die persönliche Identität mit unserem Bewegungsempfinden im Zusammenhang. „Bewegung bezieht sich auf die Möglichkeit und Fähigkeit des Menschen, im Rahmen von Begrenzungen und Regelungen biologischer, lebensgeschichtlicher, situativer und sozialer Art steuernd, regulierend, leistend, gestaltend tätig zu werden. Sie wird damit zu einer spezifischen Weise menschlichen Selbstvollzugs angesichts von Gegebenem, Erstrebtem und Gefordertem. Dass dies nicht konfliktfrei, widerspruchslos, glatt vor sich geht, auch nicht vollständig autonom ist, vielmehr eingesponnen in das Netzwerk sozialer Normen, institutioneller Regelungen, frühkindlicher Prägungen, individueller Erfahrungen, momentaner und dauernder Bedürfnisse und Gewohnheiten, aktueller Antriebe und Gefühle, von Reifen und Altwerden, Konstitution und Geschlecht, ist leicht einzusehen. Aber darin besteht die Wirklichkeit unserer Bewegungen“ (Grupe, 1982, S. 102). Es zeigt sich also, dass sich der Mensch durch seine Bewegung seine kulturelle und soziale Welt erschließt. Durch die Bewegung ergreift, erfasst, erfährt er sie, findet Zugang zu ihr. Die menschlichen Bewegungen erhalten ihre Bedeutungen letztlich im Zusammenhang mit dieser Welt. Einerseits sind menschliche Bewegungen ohne das Verständnis für gesellschaftliche Realitäten nicht zu verstehen, andererseits ist die Bedeutung eben jener Bewegung für das Individuum nur von Fall zu Fall beschreibbar. „Wäre unsere Bewegung nicht individuell und gesellschaftlich gleichermaßen bestimmt, hätte sie nicht ihre sozialen Gütemaßstäbe und kulturellen Wertbestimmungen, könnte man nicht wissen, wie und wann und wobei sie ihre Erfüllung und Befriedigung finden kann und darf“ (Grupe, 1982, S. 104). So ist es zu erklären, dass Bewegung letztlich erst im Vollzug ihre endgültige Gestalt gewinnt. Aber auch hier bleibt immer ein Rest von Rätselhaftigkeit in ihr. Wenn Grupe aufzeigt, dass der Mensch alle vier Bedeutungen braucht, um sich selbst in seiner Identität zu finden, so spielt die Thematisierung dieser Bedeutungen in einem Schulsport mit bildendem Anspruch eine erhebliche Rolle. c) Fazit Um eine Einordnung des Schulsports in die Aufgabenbereiche der Schule und insbesondere aus bildungstheoretischen Gesichtspunkten vorzunehmen, müssen zunächst einmal übergreifende Überlegungen bezüglich menschlicher Leiblichkeit vorgenommen wer189 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports den, da diese nicht zuletzt Ausgangspunkt für die sich ergebende Erziehungspraxis ist. Wichtig festzustellen ist dabei, dass anthropologische Vorannahmen, die Aussagen über die Freiheit des Menschen, seine Personalität, seine Würde und Unverwechselbarkeit machen, alle erzieherischen Entscheidungen beeinflussen. Da hier die Begründung für die Bildsamkeit und Erziehbarkeit des Menschen liegt, wird die Anthropologie als Schlüssel zum Verständnis von pädagogischen Systemen bezeichnet. Die Sportanthropologie, deren besonderer Schwerpunkt der sporttreibende, spielende oder auch sich bewegende Mensch ist, beschäftigt sich mit der Körperlichkeit des Menschen. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass der Mensch ohne seinen Körper nicht leben kann und dass er nur dank seines Körpers er selbst sein kann. Somit bildet der menschliche Körper die Grundlage seiner Identität. Für den Sport ist die Tatsache kennzeichnend, dass der Mensch durch ihn vor allem in seiner Körperlichkeit und in seiner Bewegung angesprochen wird, weshalb der Bereich ‘Körper und Bewegung’ zu den zentralen Themen der Sportanthropologie zählt. Zusammen mit den anderen Themen (Gesundheit, Spiel, Leistung und Ästhetik) bildet er die Grundlage einer Schulsporttheorie. In Anlehnung an das Werk Helmuth Plessners haben insbesondere Ommo Grupe (1982, 1997) und in seiner neuesten Monographie Robert Prohl (1999) drei für die Sportanthropologie grundlegende Bedeutungen formuliert: 1. Der Mensch als offenes und handelndes Wesen; 2. der Mensch als soziales Wesen; 3. der Mensch als historisches Wesen. Diese drei Grundannahmen, verbunden mit der Thematik der Körperlichkeit ergeben das Fundament der Sportanthropologie. Besonders Plessner hat immer wieder auf die Verschränkung von Körper und Leib hingewiesen, die dem Menschen, im Unterschied zum Tier, sehr wohl bewusst ist. Diese Verschränkung, verdeutlicht durch die Terminologie des Leibseins und des Körperhabens, weist darauf hin, dass der Leib für den Menschen den Zugang zur Welt bedeutet. Eingeschlossen hierin ist das Verhältnis des Leiblichen in Bezug sowohl auf individuelle als auch gesellschaftliche Faktoren, die historischen Wandlungen unterzogen sind. Somit kann von einem Person-Leib-Welt-Verhältnis gesprochen werden. In Bezug auf den Sport unterscheidet Grupe (1982) nun vier unterschiedliche Bedeutungen der Bewegung, die sich aus dem bisher Gesagten ergeben. Diese Bedeutungen kön190 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports nen zwar von einander abgegrenzt werden, hängen jedoch zusammen und verschmelzen ineinander: 1. Die instrumentelle Bedeutung der Bewegung; 2. die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung; 3. die soziale Bedeutung und die 4. personale Bedeutung. Soll eine schulsportorientierte theoretische Fundierung aufzeigen, in welchen Bereichen der Sport seine unverwechselbaren Aufgaben hat, so müssen die hier genannten Bedeutungen, die sich aus dem vorher Gesagten ergeben, unbedingt mit berücksichtigt werden. Die anthropologischen Grundannahmen in Bezug auf die Themenstellung des Körpers und der Bewegung sind somit umrissen und dienen als Grundpfeiler für die Einbettung in die schulsporttheoretischen Überlegungen, die aus den ersten beiden Teilen abgeleitet werden. 191 instrumentelle Bedeutung sporttreibender, sich-bewegender Mensch Körper als Grundlage menschl. Identität Sportanthropologie Mensch als soziales Wesen wahrnehmenderfahrende Bedeutung Mensch als offenes und handelndes Wesen Schlüssel zum Verständnis pädagogischer Systeme Anthropologische Grundannahmen Mensch als historisches Wesen personale Bedeutung Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Abbildung 3: Körper und Bewegung. 192 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports 2. Gesundheit und Wohlbefinden Der Zusammenhang zwischen Leibes- und Gesundheitserziehung hat eine lange Tradition, die sich in verschiedenen Ausprägungen bis in die Antike zurückverfolgen lässt (vgl. Prohl, 1999, S. 165). So erkannte schon der griechische Schriftsteller Plutarch122 die krankmachende Wirkung von Trägheit und Bewegungslosigkeit. Ein historischer Rückblick macht deutlich, dass Förderung der Gesundheit nicht über alle Epochen in gleicher Weise ein zentrales Legitimationsmuster und Erziehungsziel der Leibesübungen und des Sports gewesen ist. Dennoch wurde die Hoffnung auf gesundheitliche Wirkungen durch Sport als ein Beleg für die individuelle, gesellschaftliche und pädagogische Legitimation des Sports immer wieder als ein wesentliches Argument genannt. Spätestens seit der Einführung des Preußischen Schulturnens im Jahre 1844 gilt die ‘Gesunderhaltung der Jugend’ jedoch als ein wesentliches bildungspolitisches Argument für Leibesübungen und Sportunterricht an Schulen123 (vgl. Balz, 1995, S. 21; Prohl, 1999, S. 165f). Dass in der letzten Zeit das Gesundheitsmotiv eine bisher nicht gekannte Bedeutung erhalten hat und zu einer wesentlichen Leitkategorie der Sportdidaktik geworden ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Gesundheit zu den akuten Problemen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend zählt (vgl. Balz, 1995, S. 7). Ralf Erdmann bemerkt diesbezüglich in seinem Beitrag ‘Wege zur Spitzengesundheit’, dass die Beschäftigung mit der Gesundheit ‘Hochkonjunktur’ hat (vgl. Erdmann, 1991, S. 127). Entsprechend spielt das Gesundheitsmotiv auch in den Bildungsplänen eine bedeutende Rolle. So heißt es in allen Bildungsplänen für das Land Baden-Württemberg, dass sowohl der unterrichtliche, wie auch der außerunterrichtliche Sport zu Gesunderhaltung und Wohlbefinden beizutragen haben. Während in der Grundschule durch eine ‘vielseitige und breitgefächerte Bewegungserziehung umwelt- und gesundheitsbewusste Einstellungen und Gewohnheiten entwickelt’ werden sollen (vgl. Bildungsplan für die Grundschule, 1994, S. 28), spricht der Bildungsplan in den anderen Schulstufen von insgesamt fünf zentralen Aufgaben des Faches, wobei eines davon der Beitrag zur Gesundheitserziehung ist (vgl. Bildungs122 Geboren im Jahre 46 nach Chr. bezeichnet ihn Hans-Erhard Bock (1975, S. 247) als den ersten ‘Präventivmediziner’. 123 Balz (1995) weist darauf hin, dass schulische Leibesübungen, die sich an gesundheitlichen Zielen ausrichten, schon vor diesem Datum verbreitet sind und eine lange Tradition haben. So beinhalten beispielsweise die gymnastischen Übungen im Rahmen einer harmonischen Gesamtausbildung bei den Griechen, die Übungen zur körperlichen ‘Behendigkeit’ aus der ritterlichen Exerzitien-Erziehung im Mittelalter oder auch die Leibesübungen zum Zwecke einer allgemeinen Körper- und Gesundheitspflege im Geiste von Humanismus und Renaissance sowie die Ideen der Philanthropen gegen Ende des 18. Jahrhunderts gesundheitspädagogische Motive (vgl. Balz, 1995, S. 21). 193 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports plan für die Hauptschule, 1994, S. 26; Bildungsplan für die Realschule, 1994, S. 26; Bildungsplan für das Gymnasium 1994, S. 34). Wie bereits angedeutet, spielt der Gesundheitsaspekt besonders in den neueren didaktischen Konzepten eine zentrale Rolle124. Zwar ist er nicht der ursprüngliche und eigentliche Sinn von Spiel und Sport, dennoch wird in den verschiedenen Beiträgen immer wieder von einem gesundheitlich bestimmten Bildungsmotiv ausgegangen. Gemeint sind zunächst die gesundheitlichen Wirkungen therapeutischer, rehabilitativer und prophylaktischer Art. Dieser Gesundheitsboom ist eine Konsequenz aus den gesellschaftlichen Veränderungen. Prävention als Mittel gegen die sogenannten Zivilisationskrankheiten lautet hier das Schlagwort (vgl. Prohl, 1999, S. 166). a) Gesundheit - was ist gemeint? Bevor nun weiter auf die Möglichkeiten einer Gesundheitserziehung im und durch den Schulsport näher eingegangen wird, muss der Gesundheitsbegriff geklärt werden. Nach Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfasst der Begriff neben physischer Gesundheit oder dem Freisein von körperlichen Beschwerden auch psychisches und soziales Wohlbefinden. In der Ottawa-Deklaration von 1986 wurde dieser Passus insofern erweitert, dass nun auch die Eigenverantwortung des Individuums für seine Gesundheit durch eine gesunde Lebensführung und der Einfluss von sozialen und ökologischen Bedingungen berücksichtigt werden. Gesundheit ist demnach auch eine öffentliche Aufgabe. Wie die Kommission Gesundheit im Deutschen Sportbund und des Deutschen Sportärtzebundes [Kommission Gesundheit]125 in diesem Zusammenhang feststellt, werden die Begriffe ‘Gesundheit’ und ‘Wohlbefinden’ zunehmend gleichgesetzt, wobei der Begriff des Wohlbefindens gleichermaßen unscharf definiert wird (vgl. Kommission Gesundheit, 1993, S. 197). Unter Berücksichtigung einer spezifischen Kennzeichnung zwischen 124 Kurz (1990) unterscheidet in seinem Konzept insgesamt sechs Sinnrichtungen, wobei er das vierte mit Fitness und Gesundheit umschreibt. Auch in einem etwas älteren, von Brodtmann, Dietrich, Jost und anderen veröffentlichten Beitrag in der Zeitschrift für Sportpädagogik (1977) sehen die Autoren in der Gesundheitserziehung einen wichtigen Beitrag des Sports. Auch Grössing (1997) sieht in der Gesundheitserziehung das Medium zur Festigung oder Wiederherstellung des Wohlbefindens. Darüber hinaus lässt sich die Liste der Veröffentlichungen zu diesem Thema fast beliebig verlängern: angefangen von der Gesundheitsdiskussion im Bereich der verschiedenen Trainingskonzepte bis hin zu den Körpererfahrungskonzepten nimmt dieser Bereich eine zentrale Stellung ein. 125 Mitglieder dieser Kommission, die in der Juniausgabe 1993 einen Vorschlag zur Definition des Begriff Gesundheitssport vorlegten, waren auf Seiten der Gesundheitskommission Prof. Dr. Kindermann, Prof. Dr. Jüngst, Prof. Dr. Philipp, Prof. Dr. Rosemeyer, Prof. Dr. Rost, Prof. Dr. Schwenkmezger und Prof. Dr. Zimmermann. 194 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Präventionssport, Bewegungstherapie, Sporttherapie und Rehabilitationssport schlägt die Kommission einen übergeordneten Begriff ‘Gesundheitssport’ vor, den sie wie folgt definiert: „Gesundheitssport ist eine aktive, regelmäßige und systematische körperliche Belastung mit der Absicht, Gesundheit in all ihren Aspekten, das heißt somatisch wie psychosozial, zu fördern, zu erhalten oder wiederherzustellen. Gesundheitssport umfasst den Präventivsport, die Bewegungs- und Sporttherapie sowie den Rehabilitationssport. Da Sport auch mit gesundheitsbezogenen Risiken verbunden sein kann, müssen die Inhalte dosiert und in Anlehnung an die individuellen Voraussetzungen ausgewählt werden“ (Kommission Gesundheit, 1993, S. 197). In kontroversen Beiträgen weisen Balz, Beckers & Brux und Tischbier diesen Vorschlag als zu einseitig zurück. Insbesondere Balz mahnt an, dass, wenn die funktionale Auslegung im Schulsport Anwendung fände, dieser eindimensional, langweilig und letztlich auch in gesundheitlicher Hinsicht unfruchtbar wäre (vgl. Balz, 1993, S. 310). Grund dieser Verengung sei die Tatsache, dass die vorgeschlagene Definition den Gesundheitssport als Oberbegriff für die Bereiche Präventions- und Rehabilitations sowie Bewegungs- und Sporttherapie nimmt. Da hier ein ausschließlich naturwissenschaftlicher Zugang gewählt wird - soziologische, historische oder pädagogische Motive werden ganz ausgeblendet -, kann die genannte Definition jedoch keinen, die ganze Sportwissenschaft betreffenden Anspruch haben. Aus pädagogischer Sicht kann das Gesundheitsmotiv nur eingebettet in ein Gesamtkonzept gesehen werden, das andere erzieherische Aufgaben gleichwertig mit einbezieht. „Die pädagogische Kritik am sogenannten Gesundheitsmodell erhärtet sich demnach in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist die stringente Orientierung des Sports an gesundheitlichen Zwecken fragwürdig, da ein solches Gesundheitsprogramm die Sache verbiegen, den mehrperspektivischen Sinn unzulässig reduzieren und die Freude am eigentlichen zweckentlasteten Tun verderben kann, Instrumentalisierung des Sports müßte die Diagnose lauten. Zum anderen sind pädagogisch wünschenswerte Folgen - über die unmittelbaren Programmeffekte hinaus - wenig bedacht, was jedoch im Sinne einer Gesundheitserziehung, die auch eine individuelle Vermittlung der Sorge um gesunde Lebensführung und ihrer Stärkung insgesamt im Blick hat, zu kurz greift; Reduzierung der Ansprüche wäre die unliebsame Konsequenz“ (Balz, 1993, S. 309). 195 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Gesundheitserziehung muss demnach, einem umfassenden pädagogischen Verständnis zufolge, ganzheitlich angelegt sein. Dieser Meinung schließt sich auch Peter Kapustin an, wenn er meint, dass Erziehungserfolge nur dann zu erwarten sind, wenn die zur gesundheitsbewussten Lebensführung notwendigen Kenntnisse und Einsichten durch einen positiven Erlebnisgehalt eines gesundheitsgerechten Handelns zu stabilen Werthaltungen führen (vgl. Kapustin, 1985, S. 102). Kottmann & Küpper126 (1991) legen schließlich einen Gesundheitsbegriff vor, in dem unter Berücksichtigung der Ganzheitlichkeit menschlichen Handelns und Erlebens „die Dynamik in Form wechselseitiger Beeinflussung körperlicher, seelischer und sozialer Prozesse bedeutsam ist (Kottmann & Küpper, 1991, S. 143). Gesundheit ist dann als ein In- und Miteinander physischer, psychischer, sozialer und ökologischer Faktoren zu verstehen. Medizinische Parameter haben dabei zwar auch ihre Bedeutung für das Wohl jedes Menschen, sie bedürfen jedoch der Erweiterung um psychische, soziale und ökologische Aspekte. Aus dieser Sicht formulieren sie insgesamt vier Kennzeichen einer erweiterten Sichtweise von Gesundheit: 1. Gesundheit ist je individuell und subjektiv zu bewerten; damit gewinnen Faktoren wie Wohlbefinden, Spaß und Lustgewinn als individuelle und subjektive Normen zumindest die gleiche Wertigkeit wie medizinische Parameter. 2. Gesundheit ist das Ergebnis aktiven Bemühens; sie stellt sich weder automatisch ein, noch bleibt sie ohne individuelle Beeinflussung in ihrem Status erhalten. Da es keine optimale Gesundheit gibt, die das Individuum eine Weile passiv genießen kann, gilt es, sich kontinuierlich um das notwendige und angemessene Maß an Gesundheit zu bemühen. 3. Gesundheit ist abhängig von der jeweiligen Lebenswelt und dem jeweiligen Lebensstil des Individuums. 4. Gesundheit erweist sich als ein Balancezustand, in dem das Gleichgewicht zwischen subjektiven und sozialen Dimensionen immer aufs neue hergestellt werden muss. Dieser Balancezustand ergibt sich aus dem Prozess der permanenten Auseinanderset- 196 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports zung mit den individuellen Bedürfnissen, wechselnder Befindlichkeit und wechselnden Lebensbedingungen (vgl. Kottmann & Küpper, 1991, S. 142). b) Gesundheit in Abgrenzung zu Wohlbefinden Gesundheit wird also zunächst einmal positiv bestimmt und dabei in der Regel mit Wohlbefinden gleichgesetzt. Das geschieht nicht zuletzt dadurch, dass die Dreiteilung des Wohlbefindens (körperlich, psychisch, sozial) die Mehrdimensionalität betont und damit die einseitige Bindung an körperliche Vorgänge löst (vgl. Schlicht, 1995, S. 24). Grupe (1994, S. 27) bezieht diese Mehrdimensionalität auf drei Ebenen und betont, dass Wohlbefinden „nicht oder nur zum Teil identisch mit Gesundheit“ sei. Auf einer ersten Ebene unterscheidet er körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden. Die zweite Ebene betrifft die zeitliche Erstreckung des Wohlbefindens, bei der zwischen einem aktuellen und einem langfristigen Zustand unterscheidet. Während die ‘neuen Sportmoden’ - sogenannte Fun- oder Spaßsportarten geeignet erscheinen, aktuelles Wohlbefinden auszulösen, bedarf es für das langfristige Wohlbefinden ein intensives Training, verbunden mit der Erfahrung der eigenen Leistungs- und Belastungsfähigkeit sowie der zeitweiligen Toleranz körperlich unangenehmer Zustände. Auf der dritten Ebene schließlich trennt Grupe richtiges und falsches Wohlbefinden. Das falsche Wohlbefinden wird durch gesundheitlich riskantes Verhalten (Doping, Völlerei, ...) erreicht, ist jedoch in der Regel nur von kurzer Dauer. Das pädagogisch richtige Wohlbefinden ist ein aktives Wohlbefinden, das aus einer aktiven Gestaltung des eigenen Körperverhältnisses und der Umwelt besteht (vgl. Grupe, 1994, S. 25). Grupe ist dabei der Überzeugung, dass nur das aktive Wohlbefinden gesundheitlich bedeutsam ist. Schlicht (1995, S. 26) sieht das Wohlbefinden als ein konstitutives Merkmal der psychischen Gesundheit: ein anderes Merkmal ist die Überzeugung, den Alltag nach seinen eigenen Ideen und Wünschen gestalten zu können, von Schlicht als Bewältigungskompetenz bezeichnet. Weitere Bestimmungsstücke sind darüber hinaus die Selbstbejahung 126 Der Beitrag steht am Ende eines Herausgeberbandes mit dem Titel ‘Sport und Gesundheit’. In diesem Band wurde das Thema zuvor unter Berücksichtigung pädagogischer, medizinischer, trainingswissenschaftlicher, soziologischer und psychologischer Sichtweisen diskutiert. 197 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports und die Sinnerfülltheit, wobei das Wohlbefinden und die Bewältigungskompetenz die bestimmenden Merkmale der psychischen Gesundheit sind. Aktives Wohlbefinden hat zu berücksichtigen, dass es im Missbefinden seine Kehrseite hat. Somit muss auch dieses Missbefinden in Kauf genommen werden, um langfristiges Wohlbefinden zu erreichen. „Pädagogisch gesehen ist es wichtig zu lernen, mit Mißbefindenszuständen umgehen zu können, sie zu akzeptieren, statt ihnen in Spaß und Vergnügen auszuweichen. Pädagogisch, das heißt im Bewußtsein für einen verantwortungsbewußten Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit, ist es auch nicht sinnvoll, sich nur am Wohlbefinden zu orientieren, sozusagen, von dem Prinzip des Lustgewinns und der Mißbefindens-Vermeidung auszugehen. Das pädagogische Ziel des Wohlbefindens ist ein Weg, der auch über Hindernisse, die man sich selbst stellt, und letztlich zu keinem Ende führt. Um diesem Weg in befriedigender Weise gehen zu können, müssen auch Zustände des Mißbefindens in Kauf genommen werden, um langfristig Wohlbefinden und Gesundheit erreichbar zu machen“ (Grupe & Krüger, 1997, S. 226). Wie sich gezeigt hat, ist Wohlbefinden ein Merkmal der Gesundheit, wobei es noch nicht gesichert ist, dass die sportliche Aktivität, die Wohlbefinden hervorruft, auch gleichzeitig gesundheitlich wirksam ist. In dem Verständnis der aktiven Auseinandersetzung sieht Beckers die Analogie zwischen Gesundheit und Bildung: „Beide bestehen in einem Prozeß der aktiven Auseinandersetzung, beide ereignen sich in einem dynamischen Wechselverhältnis von Person und Welt“ (Beckers, 1987, S. 29). Beckers ist der Ansicht, dass Sport dann im Bereich der Gesundheit eine wichtige Rolle spielen kann, wenn nicht das Produkt sportlicher Leistung, sondern das Subjekt in den Mittelpunkt gerückt wird. In diesem Sinne stelle Sport kein Mittel zur Vermeidung von Krankheit dar, sondern sei ein eigenständiges Kulturphänomen, das „durch die Betonung von Wahrnehmung, Bewegung und Erfahrung einen Beitrag zur individuellen Sinnfindung leistet“ (Beckers, 1987, S. 33). Auch Kurz (1995) kommt nach seinen umfangreichen Studien zu einem ‘Modell gesunder Lebensführung’, das medizinische und pädagogische Überlegungen zu integrieren versucht. Das von ihm favorisierte Konzept der Diätik beinhaltet als wesentliche Merkmale ‘Selbstbestimmung, Verantwortung, Rhythmisierung, Mäßigung’, wobei er betont, dass aus pädagogischer Sicht diese Merkmale entscheidend dafür sind, „wie die Sorge um unsere Gesundheit - als eine Bedingung der Möglichkeit sinnerfüllten Lebens - und 198 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports die Fähigkeit ihrer Stärkung gedeihen. Dort muss Gesundheitserziehung ansetzen, Voraussetzungen berücksichtigen und notwendige Kompetenzen vermitteln, Bedingungen verbessern und Wege erschließen“ (Kurz, 1995, S. 196f). In Bezug auf den Schulsport ist er der Ansicht, „dass Kinder und Jugendliche einen vielseitigen und freudvollen aber keinen vordergründig gesundheitlich spezialisierten - Sportunterricht brauchen, eher also ein Fach, das Gesundheitserziehung als eine pädagogische Aufgabe neben anderen pflegt und zunächst seinen Ausgleichscharakter betont, [...]“ (Kurz, 1995, S. 197). Zusammenfassend scheint Gesundheit dann als ein wichtiger Teil der sportanthropolgisch motivierten Schulpädagogik zu sein, wenn ein sinn- und lebensweltorientiertes Verständnis von Gesundheit zugrundeliegt. Das bedeutet dann, dass Gesundheit weder herstellbar, noch durch Erziehungsmaßnahmen direkt anzusteuern ist, sondern sich dadurch kennzeichnet, dass es sich bei der Sinnfindung der eigenen Identität um ein aktives Bemühen um körperliches Wohlbefinden handelt. c) Fazit Das Gesundheitsmotiv als Bestandteil sportanthropologischer Überlegungen hat eine lange Tradition. Die Hoffnung auf eine gesundheitliche Wirkung durch Sport war immer wieder ein wesentliches Legitimationsargument, insbesondere in der neueren Schulsportgeschichte, wobei das Gesundheitsmotiv gerade in der letzten Zeit eine bisher nicht gekannte Bedeutung erlangt hat und zu einer wesentlichen Leitkategorie der Sportdidaktik geworden ist. Entsprechend spielt das Thema der Gesundheit in den Bildungsplänen eine bedeutende Rolle. Der Versuch einer näheren Bestimmung des Begriffes zeigt, dass es - je nach Sichtweise und Forschungsgegenstand - große Unterschiede in der Beurteilung dessen gibt, was unter Gesundheit verstanden wird. Aus pädagogischer Sicht muss die Gesundheitserziehung ganzheitlich sein und kann nur eingebettet in einem Gesamtkonzept gesehen werden, das andere erzieherische Aufgaben gleichwertig mit einbezieht. Diesem Verständnis zu folge ist unter Gesundheit ein In- und Miteinander physischer, psychischer, sozialer und ökologischer Faktoren zu verstehen, wobei medizinische Parameter lediglich ein Faktor sind. Hieraus ergeben sich wiederum vier Kennzeichen eines erweiterten Verständnisses von Gesundheit: 199 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports 1. Sie ist individuell und subjektiv, 2. das Ergebnis eines aktiven Bemühens (während eines längeren Zeitraumes), 3. abhängig von der jeweiligen Lebenswelt und dem jeweiligen Lebensstil des Individuums, 4. ein Balanceakt zwischen subjektiven und sozialen Dimensionen, der immer wieder hergestellt werden muss. Diesem Verständnis zufolge wird Gesundheit zunächst einmal positiv bestimmt und mit Wohlbefinden gleichgesetzt, welches durch seine Dreiteilung (körperlich, psychisch, sozial) ebenfalls die Mehrdimensionalität herausstellt. Besonders Grupe (1994) betont jedoch, dass Wohlbefinden allenfalls zum Teil identisch mit Gesundheit sei. Er sieht Wohlbefinden - neben der individuellen Überzeugung, den Alltag nach seinen eigenen Ideen gestalten zu können, der Selbstbejahung und der Sinnerfülltheit - vielmehr als ein konstitutives Merkmal der psychischen und physischen Gesundheit. Gesundheit als Teil des Schulsports kann dann im schulischen Rahmen eine Rolle spielen, wenn nicht das Produkt, sondern das zu bildende Individuum in den Mittelpunkt der didaktischen Überlegungen rückt, eingebettet in ein pädagogisches Gesamtkonzept. Abbildung 4: Gesundheit. Gesundheit ganzheitlich: physisch, psychisch, sozial individuell, subjektiv 3. abhängig von der Lebenswelt Ergebnis eines aktiven Bemühens Balanceakt zwischen subjektiven & sozialen Dimensionen Spiel, Spiele, Spielen Hinter den Worten ‘Spiel’, ‘Spiele’ und ‘Spielen’ steckt ein vielgestaltiges Phänomen menschlichen Lebens. Seit alters gehören sie zu den faszinierenden Erscheinungen unseres Lebens, so dass Wissenschaftler der verschiedensten Fachrichtungen immer wieder 200 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports zu Betrachtungen angeregt werden. Dabei spielen die Menschen127 auf sehr verschiedene Weise, wobei gerade das Kinderspiel auch immer im Zusammenhang mit Bildungsdiskussionen zu finden ist: Frühkindliche Sozialisation und Vorschulerziehung vollziehen sich im Wesentlichen durch das Medium des Spiels (vgl. Scheuerl, 1975, S. 189). Für einen Außenstehenden ist oft nicht zu erkennen, welche Form des Spiels in den vielfältigen Gebrauchsweisen jeweils gespielt wird. Auch oder gerade im Bereich der Sportpädagogik diente und dient das Spiel als eine wichtige und oft benutzte Rechtfertigung. Dabei wird davon ausgegangen, dass beim sportlichen Spiel besondere Erfahrungen verschiedenster Art gemacht werden können, die einen notwendigen Teil der kindlichen und jugendlichen Entwicklung beinhalten (vgl. u. a. Bernett, 1975; Sutton-Smith, 1978; Flitner, 1988; Scheuerl, 1994; Grupe, 1982, 1984, 1992, 1997; u.a.). Bevor jedoch näher auf das sportliche Spiel eingegangen wird, muss geklärt werden was Spiel ist, in welchen Erscheinungsformen es den Menschen begegnet und welche Konsequenzen sich für die Pädagogik ergeben (vgl. Scheuerl, 1994, S. 12). a) Beiträge der Spieltheorien zur Wesensbestimmung des Spiels Wenn von den Spieltheorien die Rede ist, darf nicht übersehen werden, dass die Mehrzahl dieser Theorien zunächst keinen nennenswerten Einfluss auf die praktische Ausgestaltung hat. Dennoch ist es wichtig, der Frage nach dem Wesen des Spiels und den Antworten, die die Spieltheorien darauf geben, nachzugehen. Hans Scheuerl hat in seinen Untersuchungen128 bezüglich der Frage nach dem, was Spiel ist, 6 Wesensmomente herausgearbeitet, die den Kanon dessen bilden, was verschiedene Spieltheoretiker trotz ihrer verschiedensten Standorte und Denkstile eint129 (vgl. Scheuerl, 1975, S. 203ff; 1994, S. 66ff). (1) Das Moment der Freiheit. 127 Dass natürlich auch Tiere spielen, soll hier nur am Rande angemerkt werden. Das Spiel der Tiere ist im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht interessant. 128 Sein grundlegendes Buch ‘Das Spiel - Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen’ wurde erstmals im Jahre 1954 veröffentlicht. Bei dem hier zitierten Werk handelt es sich um die Ausgabe von 1994. 129 Scheuerl bezieht sich in seiner Wesensbestimmung auf ‘klassische Autoren’ wie etwa Kant, Schiller, Hegel, Schleiermacher u.a. bis hin zu jüngeren Autoren wie Plessner oder Buytendijk. Wie sich im Folgenden zeigen wird, sind auch die Ähnlichkeiten zu Huizinga (1987) nicht zu übersehen. 201 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports „Alles Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr. Höchstens kann es aufgetragenes Wiedergeben eines Spiels sein“ (Huizinga, 1987, S. 16). Eines der auffälligsten Merkmale des Spiels bezeichnet Scheuerl als zunächst rein negativer Natur: Spiel verfolgt keinen außerhalb seiner selbst liegenden Zweck (vgl. Scheuerl, 1994, S. 67). Zunächst scheint der Spieler nach außen frei zu sein, innerhalb des Spieles ist er jedoch an bestimmte Regeln gebunden, denen er folgen muss. Das Spiel ist „nicht Ernst im gewöhnlichen Sinne“ (Scheuerl, 1994, S. 69), es ist ohne Verantwortung und ohne Konsequenz und nicht auf irgendeinen Zweck gerichtet. Wobei dies nicht bedeutet, dass das Spiel nicht ernsthaft gespielt werden oder zweckvolle Zusammenhänge130 enthalten kann. Diese Kriterien gelten für alle Formen des Spiels131, besagen jedoch nur, was das Spiel nicht ist. „Sie besagen nicht mehr und nicht weniger, als dass man sich zum Spielen erst frei machen müsse von allen möglichen Behinderungen. Was das Spiel selbst ist, bleibt noch im Dunkeln“ (Scheuerl, 1994, S. 69). (2) Das Moment der inneren Unendlichkeit. Scheuerl konstatiert in seinen Untersuchungen, dass es einerseits zwar einen Zwang zum Spiel gibt, denn Kinder und Tiere müssen in bestimmten Situationen spielen, wenn sie nicht neurotisch werden sollen; andererseits ist im erreichten Zustand des Spiels dieser Zwang nicht mehr zu spüren. Der Mensch, wäre er frei von Bedürfnissen, Nöten, Verpflichtungen jeglicher Art, würde das Spiel nicht mehr beenden. Der Mensch wird zum ‘homo ludens’: „In der Sphäre der inneren Unendlichkeit haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung. Wir ‘sind’ und wir ‘machen’ es ‘anders’. Diese zeitweilige Aufhebung der ‘gewöhnlichen Welt’ ist bereits im Kinderleben völlig ausgebildet, ebenso deutlich sieht man sie aber bei den großen, im Kult verankerten Spielen der Naturvölker“ (Huizinga, 1987, S. 21). 130 Bei der Planung und Durchführung im Rahmen von erzieherischen/ schulischen Zwecken beispielsweise kann das Spiel durchaus zweckorientiert eingesetzt werden, da Lern- und Erziehungsziele zugleich angestrebt werden. Somit kann ein Spiel zweckorientiert und zweckfrei zugleich sein (vgl. Kapustin, 1986, S. 128). Andererseits geht eine solche Auslegung am Phänomen des Spieles vorbei, das in seinem ‘zweckfreien Wesen’ keinen erzieherischen Wert hat. 131 Gemeint sind in diesem Zusammenhang etwa das Kinderspiel, das Gesellschaftsspiel der Erwachsenen, das Tierspiel, wie die verschiedenen Spiele der Kunst. 202 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports In diesem Punkt leitet Scheuerl die negative Bestimmung des Spiels zu einem positiven Gedanken: „Das Spiel kann innerhalb seines Freiraums gekennzeichnet werden als ‘Bewegung von innerer Unendlichkeit’“ (Scheuerl, 1994, S. 73f). (3) Das Moment der Scheinhaftigkeit. Das Moment der Scheinhaftigkeit bezeichnet die eigene Wirklichkeit, der das Spiel unterliegt. „Spiel ist nicht das ‘gewöhnliche’ oder das ‘eigentliche’ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit eigener Tendenz. Schon das Kind weiß genau, dass es ‘bloß so tut’, dass alles ‘bloß zum Spaß’ ist“ (Huizinga, 1987, S. 16). In der Formulierung ‘bloß zum Spaß’ zeigt sich die Bezeichnung des Scheins: das Gespielte wird als Nicht-Wirklich bezeichnet, wobei damit sowohl eine negative Formulierung (im Sinne einer Illusion, Täuschung oder gar minderwertigen Situation) als auch eine positive Aussage (eine die Wirklichkeit bereichernde Situation) verbunden werden kann. (4) Das Moment der Ambivalenz. Die Doppelseitigkeit des Spieles meint, dass Spiele einer maßvollen Spannung bedürfen: „Spannungslosigkeit wäre der Tod für das Spiel. Anderseits würde eine zu hohe Spannung sogleich auf Beendigung der Spannung gerichteten Befriedigungswunsch hervorrufen, der die Ambivalenz überwältigen müßte“ (Scheuerl, 1994, S. 88). Es bedarf also einem mittleren Spannungsniveau, das einen offenen Ausgang garantiert, aber weder zu groß, noch zu langandauernd sein darf, um das Spiel nicht zusammenbrechen zu lassen. Scheuerl spricht davon, dass die Souveränität des Spielers immer wieder auf Schranken stößt, da das Spiel immer zugleich vertraut und fremd, bekannt und unbekannt ist. Das völlig Bekannte ist genauso ungeeignet für das Spiel wie das völlig Unbekannte. Hier zeigt sich das Moment des Abenteuers, das zwar nicht fehlen darf, aber zugleich auch immer den Schwebezustand des Spiels gefährdet. 203 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Auch in der psychischen Haltung des Spielers zeigt sich die Ambivalenz des Spiels: er kann ‘unernst’, also ‘zum Spaß’ oder ‘mit größten Ernst’ spielen. Zusammenfassend spricht Scheuerl davon, dass Spielen immer ein Sich-Halten im Zwischen ist: „Spielen ist immer ein ‘Spielen - zwischen’. Wer von einem Wesen, einem Ding, einem Geschehnis sagt, ‘es spielt’, der sagt formal nichts anderes aus, als dass es nicht entschieden festgelegt sei, - weder auf ein eindeutiges Ziel, noch auf einen eindimensionalen ‘Aktionstunnel’, - sondern dass es sich allen Richtungspolen gegenüber in einem kreisenden, pendelnden, schwebenden Zwischen befinde“ (Scheuerl, 1994, S. 90). (5) Das Moment der Geschlossenheit. Spiele brauchen Regeln, Grenzen, Räume und Plätze, die sie von Nicht-Spielen unterscheiden: „Es spielt sich innerhalb von bestimmter Grenzen von Zeit und Raum ab. Es hat seinen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst“ (Huizinga, 1987, S. 18). So kennzeichnet das Spiel auch, dass es einerseits frei und undeterminiert ist, andererseits jedoch nur innerhalb eines bestimmten Rahmens gespielt werden kann. Ein Minimum von Gesetzlichkeiten gehört zu jedem Spiel132. Nur weil das Spiel geschlossen ist, kann es Formen annehmen, die sich über die Köpfe der „tragenden Subjektivitäten hinweg erhalten“ (Scheuerl, 1994, S. 94): Wenn es einmal gespielt worden ist, bleibt es als geistige Schöpfung in der Erinnerung haften und kann jederzeit wiederholt werden. In dieser Geschlossenheit zeigen sich noch zwei weitere Merkmale: zum Einen nimmt das Spiel eine feste Gestalt als Kulturform an, es wird zum Kulturgut133, zum Anderen zeigt sich in der Wiederholbarkeit eines der wesentlichsten Merkmale des Spiels (vgl. Huizinga, 1987, S. 18). (6) Das Moment der Gegenwärtigkeit. 132 Scheuerl lässt dabei nicht außer Acht, dass es in diesem Punkt sehr wohl unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Geschlossenheit gibt. So führt er beispielsweise Georg Kerschensteiner an, der das ‘hemmungslose Moment’ des Spiel betont, zeigt hierbei jedoch auf, dass es sich bei der Gegensätzlichkeit um verschiedene Phänomene der Betrachtung handelt: während Regeln, und Gesetze als umgrenzende Normen in der scheinhaften Ebene der Spielphänomene selbst angetroffen werden, lassen sich hemmungslose Prozesse nur von außen betrachten und sind somit auf einer anderen Ebene angesiedelt, da sie das Verhältnis des Spielers zum Spiel, nicht aber das Wesen des Spiels thematisieren (vgl. Scheuerl, 1994, S. 93). 133 Da das Spiel zum Kulturgut wird, weil es eine objektive Form hat, kann die Geschichte des Spiels ebenso sinnvoll geschrieben werden, wie die Geschichte anderer Brauchtümer, letztlich der Kultur überhaupt. 204 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Spiele sind unmittelbar auf die Gegenwart bezogen, sind aber über den Augenblick hinaus offen, so dass der Ausgang des Spiels nicht vorherzusagen ist. Das Spiel ist nicht zukunftsbezogen, sondern läuft in sich selbst zurück. „Die Bewegung des Spiels fällt damit gleichsam aus der geradlinigen Zeitreihe des Alltags heraus und will nichts erreichen. Keine ihrer Phasen determiniert die folgende schon eindeutig, wie es bei gradlinig fortschreitenden Bewegungsverläufen der Fall wäre. Sondern jede Ablaufphase, jeder Moment birgt seine eigenen Überraschungen und überläßt den folgenden die ihre“ (Scheuerl, 1975, S. 205). Im Rahmen dieser Arbeit, die die anthropologischen Überlegungen, wie sie im Bereich der Sportpädagogik beschrieben werden, als Grundlagen für die weitere theoretische Fundierung des Schulsports nimmt, eignen sich die von Scheuerl zusammengetragenen Merkmale deshalb besonders gut, weil sie zum Einen eine Synopse vieler Spieltheorien darstellen und somit zum anderen auch Ausgangspunkt fachspezifischer Überlegungen sind, wie sie etwa Kapustin (1986), Grupe & Krüger (1997) oder andere, nicht weniger wichtige, Autoren134 anstellen. b) Die Bedeutung des Spiels und der Spiele Wie schon anfangs erwähnt, gehören Spiele, Spiel und Spielen zu den primären menschlichen Eigenschaften. Wurden bisher die übergreifenden Merkmale dieses vielgestaltigen Phänomens erfasst, so bedarf es nun jedoch einer Klärung der Bedeutung des Spiels für die Menschen. Dabei steht in dieser Arbeit die sich hieraus ergebende Frage der pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen bezüglich der Spieleerziehung im Mittelpunkt, so dass nicht auf Erscheinungen wie die Olympischen Spiele (mit ihren Berufsspielern) eingegangen wird, da sie nicht zu den Spielen in obengenanntem Sinne zu zählen sind (vgl. Huizinga, 1987, S. 213ff). Unter der Berücksichtigung der oben genannten sechs Merkmale kommt man bei der Frage nach dem Spiel als menschliches Grundverhalten allenfalls zu dem Schluss, dass 134 Insbesondere Sutton-Smith, der mit seiner dialektischen Darstellung des Spiels zu etwas anderen Merkmalsbeschreibungen gekommen ist, wird hier nicht näher beschrieben. Andererseits zeigt die von ihm vorgeschlagene Definition, resultierend aus seinem theoretischen Ansatz, dass sich auch hier viele Punkte erkennen lassen: „Spiel ist diejenige freiwillige Aktion, die eine dialektische Struktur hat und reversible Handlungen ermöglicht“ (Sutton-Smith, 1978, S. 98). In der näheren Erklärung dieser Definition werden die Parallelen zu der Darstellung Scheuerls deutlich, so dass sich auch hier sein Anspruch bestätigt, mit den sechs vorgeschlagenen Merkmalen des Spiels eine Bewegungsgestalt zu charakterisieren, die dem Menschen in allen möglichen Erfahrungsbereichen als Spiel begegnen kann und in dieser bezeichnenden Konfiguration ein Ganzes bildet (vgl. Scheuerl, 1975, S. 206). 205 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports die Motive und Einstellungen nicht einheitlich benennbar oder gar umfassend erklärbar sind. Geklärt werden kann auch nicht die Frage, warum der Mensch spielt. „Dass es eine erhebliche Bedeutung hat, dass es eine notwendige, zumindest nützliche Aufgabe erfüllt, wird allgemein ohne Widerspruch als Ausgangspunkt für jede wissenschaftliche Untersuchung und Betrachtung angenommen. Die zahlreichen biologischen Versuche, diese biologische Funktion des Spiels zu bestimmen, gehen jedoch sehr weit auseinander“ (Huizinga, 1987, S. 10). Gemeinsam haben die Erklärungsversuche jedoch, dass sie die primäre Qualität in der Regel nicht beschreiben. Huizinga mahnt in diesem Zusammenhang an, dass der ‘eigentliche Witz des Spiels’ nicht biologisch erklärt werden kann: „Die Intensität des Spiels wird durch keine biologische Analyse erklärt, und gerade in dieser Intensität, in diesem Vermögen, toll zu machen, liegt sein Wesen, steckt das, was ihm ureigen ist. Die Natur, so scheint der logische Verstand zu sagen, hätte doch alle die nützlichen Funktionen wie Entladung überschüssiger Energie, Entspannung nach Kraftanstrengung, Vorbereitung für Forderungen des Lebens und Ausgleich für Nichtverwirklichtes ihren Kindern auch in der Form rein mechanischer Übungen und Reaktionen mit auf den Weg geben können. Aber sie gab uns gerade eben das Spiel mit seiner Spannung, seiner Freude, seinem Spaß“ (Huizinga, 1987, S. 10f). Gerade dieser ‘Witz des Spiels’ bestimmt das Wesen des Spiels; es wird von Huizinga als die primäre Lebenskategorie bezeichnet, die es in seiner Ganzheit zu betrachten gilt. Das Spiel ist an keine Kulturstufe gebunden und auf keinen rationalen Zusammenhang zurückzuführen. Mit ihm erkennt man „den überlogischen Charakter unserer Situation im Kosmos. Die Tiere können spielen, also sind sie bereits mehr als mechanische Dinge. Wir spielen und wissen, dass wir spielen, also sind wir mehr als bloß vernünftige Wesen, denn das Spiel ist unvernünftig“ (Huizinga, 1987, S. 11f). So ist es auch zu erklären, dass die ursprünglichen Betätigungen des menschlichen Zusammenlebens alle vom Spiel beeinflusst sind: am Beispiel der Sprache - das Kommunikationsmittel zwischen den Menschen überhaupt -, zeigt sich, wie der sprachschöpfende Mensch immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten springt, wie er für viele Ausdrücke auch eine Metapher finden kann und wie hinter jeder Metapher ein Wortspiel steckt. Aus diesen Überlegungen könnte man nun ableiten, dass Spielen eine (Vor)Form des Lernens sei. Scheuerl zeigt hingegen, dass dies nicht so ist, sondern, im Ge206 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports genteil, das Spiel selbst ein Lernen voraussetzt: das Spielen-Lernen. Spieltätigkeiten bedürfen, da sie zielgerichtete, sinnvoll koordinierte Handlungen sind, immer auch minimaler Kenntnisse und Fertigkeiten, die außerhalb des Spiels erlernt oder in früheren, einfacheren Spielen bereits erworben sein müssen. In der Spieltätigkeit selbst werden diese Kenntnisse und Fertigkeiten nur rekapituliert und verfügbar gemacht. Das Spiel ist in diesem Sinne mehr Nachübung als Vorübung135 (vgl. Scheuerl, 1994, S. 180). c) Erscheinungsformen des Spiels Trotz der gemeinsamen Wesensmerkmale des Spiels als der ‘primären Lebenskategorie’ zeigt sich, dass die Art des jeweiligen Spiels immer von individuellen, kulturellen und sozialen Einflüssen abhängt. Roger Caillois (1960) hat angesichts der Menge und der Verschiedenheit der Spiele ein Ordnungsprinzip entwickelt, mit dessen Hilfe man vier Grundtypen von Spielen unterscheiden kann, je nachdem, ob innerhalb des jeweiligen Spiels das Moment des Wettstreits136 (agon), des Zufalls137 (alea), der Maskierung138 (mimicry) oder des Rausches139 (ilinx) vorherrscht (vgl. Caillois, 1960, S. 18f). Dazu kommt, dass sich alle vier Grundtypen wiederum zwischen der Improvisation (paida) und der Regelhaftigkeit, dem Hang zur Meisterung künstlicher Schwierigkeiten (ludus) befinden. In vielen Fällen erscheint dabei ‘ludus’ als Weiterentwicklung der ‘paida’, die sie diszipliniert und bereichert (vgl. Caillois, 1960, S. 39). 135 Es kann diese Nachübung dann aber auch eine notwendige und unentbehrliche Vorübung für gesteigerte, schwierigere Handlungen sein. 136 Hierbei handelt es sich um Spiele, die als Wettkampf erscheinen und bei denen einer künstliche Gleichheit der Chancen geschaffen wird, damit sich die Wettkämpfer unter idealen Bedingungen miteinander messen können. Kennzeichnend für dieses Moment sind die gleichen Anfangschancen und die Rivalität, sowie der Wunsch, den Mitspieler in den vorher festgelegten Grenzen zu überbieten (vgl. Caillois, 1960, S. 21 - 24). 137 Abgeleitet vom lateinischen Wort für Würfel, handelt es sich hierbei um Spiele, bei denen der Spieler nicht den geringsten Einfluss auf den Ausgang des Spieles hat. Somit geht es bei diesem Moment weniger darum, den Mitspieler zu besiegen, als vielmehr das eigene Schicksal zu bezwingen. Da der eigentliche Antrieb des Spieles die Willkür des Zufalls ist, setzt der Spieler weder sein Können noch seine Talente ein, bedient sich weder seiner Geschicklichkeit noch seiner Muskelkraft oder Intelligenz. Manche Spiele verbinden agon und alea miteinander (wie zum Beispiel die meisten Kartenspiele): der Zufall leitet das Spielgeschehen, die Spieler versuchen dann, dieses Schicksal positiv für sich zu wenden. Glücksspiele gehören zu den nur vom Menschen betriebenen Spielen, Tiere kennen nur Kampfspiele, Maskierung und Rausch (vgl. Caillois, 1960, S. 24 - 27). 138 Bei diesem Moment besteht das Spiel nicht darin, eine Tätigkeit zu entfalten oder in einem imaginären Milieu ein Schicksal über sich ergehen zu lassen, sondern darin, selbst zu einer illusionären Figur zu werden und sich dementsprechend zu verhalten. Mimik und Travestie sind die auslösenden Antriebe für diese Art von Spielen und das Vergnügen besteht darin, dass man ein anderer ist oder dass man für einen anderen gehalten wird (vgl. Caillios, 1960, S. 27 - 32). 139 Schließlich fasst die letzte Kategorie alle jene Spiele zusammen, „die auf dem Begehren nach Rausch beruhen und deren Reiz darin besteht, für einen Augenblick die Stabilität der Wahrnehmung zu stören und dem klaren Bewusstsein eine Art wollüstiger Panik einzuflößen“ (Caillios, 1960, S. 32). Dieser Rausch wird in der Regel lediglich um seiner selbst Willen gesucht. 207 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports (1) Verteilung der Spiele (vgl. Caillois, 1960, S. 46). In jeder senkrechten Rubrik sind die Spiele annähernd so in einer Ordnung klassifiziert, dass das Element ‘paida’ ständig abnimmt, während das Element ‘ludus’ ständig wächst. PAIDA (Improvisation) Lärm Agon Alea Mimicry Ilinx (Wettkampf) (Chance) (Verkleidung) (Rausch) Nichtgeregelter Wettlauf, Kampf usw. Auszählspiele ‘Zahl oder Adler’ Kindliche Nachahmung, kindliche Drehspiele, Zirkus, Schaukel, Walzer Illusionsspiele, Puppe, Rüstung, Maske, Travestie Bewegung Gelächter Athletik Drachen, Patiencen Boxen, Billard, Fechten, Damespiel, Fußball, Schach Wette, Roulette Kreuzworträtsel Sportwettkämpfe im Allgemeinen Lotterien LUDUS (Regelhaftigkeit) Jahrmarktattraktionen Theater Ski Schaukünste im Allgemeinen Kunstsprünge Alpinismus 208 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports (2) Regeln. Für das Zustandekommen von Spielen sind Regeln konstitutiv, jede Spielgemeinschaft hat ihre Regeln. Die Regeln, die bestimmen, was innerhalb der zeitweiligen Spielwelt gelten soll, sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel. „Sobald die Regeln übertreten werden, stürzt die Spielwelt zusammen“ (Huizinga, 1987, S. 20). Der Spieler, der sich den Regeln entzieht oder sich ihnen widersetzt, nimmt dem Spiel die ‘Illusion’, zerbricht die ‘Zauberwelt’ und gilt als Spielverderber. Dennoch scheint es, wie oben auch in der Darstellung von ‘paida’ und ‘ludus’ deutlich wird, dass viele Spiele keiner Regeln bedürfen. Hier ersetzen sie dann die Fiktion, die besondere Situation, die der Spieler akzeptiert und erfüllen genau die gleiche Rolle. So erschafft sich die Regel eine Fiktion und die Fiktion wird zur Regel (vgl. Caillois, 1960, S. 14f). d) Pädagogische Konsequenzen Ausgehend vom Wesen und von den Merkmalen des Spiels, erscheint es zunächst fragwürdig, ob normative Forderungen im Bereich der Spielpädagogik sinnvoll erscheinen. Zunächst einmal gehört Freiheit zu den konstitutiven Wesensmerkmalen des Spiels. So kann das freie Spiel auch ein Spielen-Lassen bedeuten. Der Erzieher beschränkt sich zunächst darauf, das Spiel der Kinder zu beobachten. Ob innerhalb eines solchen Spielraumes gespielt wird oder nicht, sei dahin gestellt. „In diesem Sinne ist auch die oft vertretene Auffassung berechtigt, daß das freie Spiel der Mutterschoß aller künftigen Betätigungsweisen des Kindes sei: Nicht das Spiel-Betreiben als zielgerichtetes Handeln ist dieser Mutterschoß, sondern das ‘anome’ Umherspielen, aus dem sich jede gerichtete Handlung erst herausentwickeln muß“ (Scheuerl, 1994, S. 182). Alles Handeln muss sich aus diesem anomen Umherspielen entwickeln, so dass Scheuerl das Gewähren dieses Spielraums als einen Akt bezeichnet, der Erziehung erst möglich macht (vgl. Scheuerl, 1994, S. 183). In dieser Ermöglichung bleibt die Pädagogik notwendigerweise negativ, wobei sie durch das Schaffen der Atmosphäre einer solchen Spielkultur nicht ohne das positive Moment des Eingriffs bleibt140. Wesentlich ist, dass 140 Diese Negativität erzieherischen Handelns (Rousseau) darf also nicht so verstanden werden, als solle der Erzieher gänzlich darauf verzichten, auf die Schüler pädagogisch einzuwirken. Es geht nicht darum, 209 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports dieser freie Spielraum in die Schule mit hineingenommen wird141 (vgl. Kap. 2.4 dieses Teiles). Erziehung ist jedoch mehr als die bloße Befreiung. Dies muss auch die Spielpädagogik berücksichtigen. In dieser Hinsicht muss die Spielpädagogik dem Kind die Möglichkeiten eines ‘gebundenen Spieles’ geben, möglichst im fließenden Übergang ausgehend vom freien Spiel. Sport bietet hierbei eine besondere Chance, wenn man beispielsweise nur einmal an die Möglichkeiten der Bewegungslandschaften denkt. Aber auch allgemein sind Regel-, Wettkampf- und Sportspiele soziale, interaktive und kommunikative Ereignisse, die sich durch mehr oder weniger verbindliche, entweder kurzfristig vereinbarte oder meistens relativ überdauernde Regeln auszeichnen (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 240). „Es ist ein Vorurteil zu meinen, Spieltätigkeiten müßten immer spontan entstehen, und ein aufgegebenes Spiel sei schon kein Spiel mehr. Dieses Vorurteil resultiert aus einem zu engen und einseitigen Spielbegriff. Die Freiheit des Spiels ist nicht eine Freiheit der Spieltätigkeit, sondern eine Freiheit des Spielgeschehens“ (Scheuerl, 1994, S. 191). In enger Nähe zum Spiel (und zum Lernen) und doch als eigenes Phänomen sieht Scheuerl das Experiment. Im Gegensatz zum Spiel wird das Experiment jedoch nicht um seiner selbst, sondern um des Lernens willen angestellt. Kinder experimentieren und vermehren dadurch zielgerichtet ihren Planungsschatz. Dennoch bleibt die tendenzielle Nähe erhalten, da jedes Experiment als Phänomen gewisse Ähnlichkeiten zum Spiel hat: zwar ist es durch seine Anfangs vorhandene Fragestellung auf ein Ergebnis gerichtet, das Ziel selbst ist jedoch ungewiß. Besonders für das sportliche Experiment ist wichtig, dass es selbst ein Spiel sein kann. Konkret meint dies, dass Kinder mit Spielmöglichkeiten experimentieren können, beispielsweise dann, wenn Kinder Spielregeln so lange verändern, bis das ‘eigene Spiel’ erfunden ist (vgl. Scheuerl, 1994, S. 197). Schließlich bleibt das Lern-Spiel zu erwähnen, das aber in vielen Fällen die Tendenz hat, zu formalen Abkürzungen und Mechanisierungen des Wissens zu tendieren. Natürlich muss das Lernspiel nicht nur negativ sein, seine eng begrenzten Möglichkeiten set- jegliche Erziehung abzulehnen oder gar den Erzieher/ Lehrer überflüssig zu machen. Vielmehr sollen so die Anlagen des Kindes zu ihrem Recht kommen (vgl. Prohl, 1999, S. 17). 141 In der Arbeitsschule Hugo Gaudigs oder in der ‘offenen Werkstatt’ der Jena-Plan-Schule ist das Moment des freien Spiels berücksichtigt. 210 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports zen jedoch eine Fülle von Stoffkenntnissen voraus, die es selbst nicht vermitteln kann (vgl. Scheuerl, 1994, S. 201 - 204). e) Leibeserziehung als Spiel Das Spiel ist ein fester Bestandteil im Schulsport: angefangen über spielerische Erfahrungen, etwa in einer Bewegungslandschaft über die Vermittlung von kleinen Spielen bis hin zu den großen Spielen wird in den Schulen im (Sport)Unterricht in vielfältigen Variationen gespielt. Andererseits darf die Gefahr nicht übersehen werden, dass die in der Schule ausgeübten Spiele nicht einem planmäßigen Lernen so sehr untergeordnet werden, dass sie um ihre Möglichkeiten gebracht werden. Hans Schöneberg (1975) kritisiert eben diese Unterordnung, wenn er bemerkt, dass das Spiel in den Dienst des Lernens und Übens gestellt und somit zur ‘Magd der Wissensvermittlung’ oder aber der ‘Muskel- bzw. Sozialertüchtigung’ degradiert wird (Schöneberg, 1975, S. 181). Seiner Ansicht nach gehört das Spiel jedoch unbedingt in die Schule: „Muskelkräftigung, Bewegungsschulung, Leibeserziehung sind mit einem so wesentlichen menschlichen Phänomen wie dem Spiel überhaupt nicht vergleichbar: Sie sind ihm geradezu belanglos“ (Schöneberg, 1975, S. 182). Gemeint ist jedoch das Spiel, das frei von fremden Absichten ist: „Der Wettlauf, das Springen und Ballwerfen: Alle diese Tätigkeiten sind nur aus dem Spielerischen zu erklären und ursprünglich durchaus nicht als eine Muskelübung oder dergleichen gemeint. Und es kommt darauf an, sie in diesem Sinne wieder sehen zu lernen und in Gang zu setzen. [...] Der Ruf nach dem Spiel ist immer ein Ruf nach vorn, nach dem jeweils Menschlicheren des Menschen“ (Schöneberg, 1975, S. 182). Auch Huizinga (1987) mahnt an, dass das sportliche Spiel durch die immer ernsthaftere Regelhaftigkeit zunehmend an reinem Spielgehalt verliert. „Der Sport ist vollkommen weihelos geworden und hat keine organische Verbindung mehr mit der Struktur der Gemeinschaft, auch nicht, wenn eine Regierungsgewalt seine Ausübung vorschreibt“ (Huizinga, 1987, S. 213). Somit bleibt der Sport, wie bedeutsam er für die Sportler und Zuschauer auch immer ist, eine „unfruchtbare Funktion, in der der alte Spielfaktor zum großen Teil abgestorben ist“ (Huizinga, 1987, S. 213f). f) Fazit 211 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Das Spiel, ‘primäre Lebenskategorie’ des Menschen, ist ein vielgestaltiges Phänomen, das immer von individuellen, kulturellen und sozialen Einflüssen abhängt. Da es in der menschlichen Entwicklung immer eine bedeutende Rolle gespielt hat, war es zeitlebens Gegenstand vielfältiger wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Ergebnisse der verschiedensten Spieltheorien hat Scheuerl (1994) in sechs Wesensmerkmale zusammengefasst, die ihre Gemeinsamkeiten beinhalten: 1. Das Spiel ist frei von äußeren Ziel- und Zwecksetzungen; es genügt sich selbst. Immer dann, wenn diese Freiheit missbraucht wird, geht ein wichtiges spielerisches Element verloren. Das beinhaltet auch die Freiheit der Spieler, was bedeutet, dass niemand zum Spiel gezwungen werden kann. 2. Die innere Unendlichkeit meint, dass das Spiel im Unterschied zu Zweckhandlungen seine eigenen Gesetze und Gebräuche hat. Die ‘gewöhnliche Welt’ wird im Spiel zeitweise aufgehoben, es richtet sich nicht nach einem ‘von außen’ vorgegebenen Zeitplan, sondern nach seiner eigenen ‘inneren Uhr’. 3. Das Moment der Scheinhaftigkeit meint, dass Spiele ihre eigene Wirklichkeit erzeugen. 4. Das Moment der Ambivalenz bedeutet, dass Spiel einer maßvollen Spannung bedürfen: sowohl Spannungslosigkeit als auch ein zu großes Erregungsniveau lassen das Spiel zusammenbrechen. 5. Durch das Moment der Geschlossenheit wird ausgedrückt, dass Spiele ihre eigenen Regeln, Grenzen, Räume und Plätze brauchen, durch die sie sich von Nicht-Spielen unterscheiden können. 6. Das Moment der Gegenwärtigkeit bedeutet schließlich, dass das Spiel über den Augenblick hinaus offen und im Ausgang nicht vorherzusagen ist. Trotz dieser Wesensmerkmale ist es zunächst nicht geklärt, warum gespielt wird. Huizinga kommt zu dem Schluss, dass Spiele den überlogischen Charakter im Kosmos aufzeigen, weshalb er auch von einer ‘primären Lebenskategorie’ spricht. Dazu gibt es eine Fülle verschiedenster Spiele, die Caillois (1960) in ein Ordnungsschema bringt, das vier Grundtypen von Spielen unterscheidet: das Moment des Wettstreits (agon), das des Zufalls (alea), der Maskierung (mimicry) und des Rausches (ilinx). Diese befinden sich wiederum in ihrer Ausgestaltung zwischen der Improvisation (paida) und der Regelhaftigkeit (ludus), wobei das Spiel ohne konstitutive Regeln nicht denkbar ist. 212 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Abbildung 5: Das Spiel. Das Spiel 6 Wesensmerkmale Scheinhaftigkeit Freiheit innere Unendlichkeit Geschlossenheit Ambivalenz Gegenwärtigkeit Ordnungsschema nach Caillois Auch in der pädagogischen Konsequenz sollten die Wesenszüge und die sich aus der Vielzahl der verschiedenen Spiele ergebenden Möglichkeiten bedacht werden. Der Ursprung liegt im bloßen anomen Umherspielen, aus dem sich Regelhaftigkeiten mehr und mehr entwickeln können. In diesem Punkt liegen auch die Möglichkeiten der Sportspiele, die soziale, interaktive und kommunikative Ereignisse sein können. Verbunden mit dem Experiment, bietet das Spiel eine Fülle von Möglichkeiten, die es in den Bildungsprozess hervorragend einbinden. Dennoch darf - gerade im Sport - nicht übersehen werden, dass die modernen Spielerscheinungen nicht viel mehr als den Namen mit seinem ursprünglichen Wesen gemein haben. Dass Sportspiele ‘weihelos’ (Huizinga, 1987, S. 213) geworden sind und kaum noch Verbindung mit der Struktur der Gemeinschaft haben, muss in der Schule aufgezeigt und kritisch betrachtet werden. Auch dies ist ein wesentlicher Bestandteil eines zeitgemäßen Bildungsprozesses. 4. Leistung Die menschliche Fähigkeit, sich selbst Handlungsziele zu setzen, um sich dann um die Erreichung dieses Zieles zu bemühen, wird mit ‘Leistung’ umschrieben. Dies gilt be213 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports sonders dann, wenn das Handeln mit Anstrengung verbunden ist und dem Handelnden nicht klar ist, ob er sein Ziel erreicht (vgl. Hecker, 1985, S. 133). Heckhausen (1974, S. 11ff) verbindet den Leistungsbegriff aus der Sicht der Psychologie mit fünf Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit der Mensch Leistung bei sich oder anderen erfahren, begreifen und beobachten kann: 1. Leistungen müssen Handlungen sein, die ein erzieltes oder erzielbares Resultat haben. 2. Die Aufgabentätigkeit muss auf eine Schwierigkeitsskala beziehbar sein. Man muss das Ergebnis mit einem Maßstab beziehungsweise mit einer Bezugsnorm beurteilen können. 3. Die Leistung muss gelingen oder misslingen können: was entweder zu leicht oder zu schwer ist, ist keine Leistung142. 4. Die Schwierigkeitsskala der Aufgabe muss mit dem Gütemaßstab korrespondieren, der für den Handelnden selbst verbindlich ist, die Aufgabe muss also selbstwertrelevant sein und der vorhandenen Tüchtigkeit entsprechen. 5. Das Handlungsergebnis muss vom Handelnden selbst verursacht sein, es muss beabsichtigt und darf nicht durch Zufall zustandegekommen sein. Es darf nicht von äußerer Hilfe oder äußerer Behinderung abhängig sein. Wenn alle genannten fünf Bedingungen vorliegen, spricht der Psychologe von ‘leistungsthematischen Grundsituationen’143, die von anderen Grundsituationen abgegrenzt werden können und eine menschliche Grundbefindlichkeit darstellen, die zur Daseinsfindung der Lebensbedingungen notwendig sind. Hier wird die Überschneidung mit der philosophischen Anthropologie deutlich, denn die menschliche Fähigkeit, etwas leisten zu können, selbst das Maß der Leistung festzulegen und dabei das Wofür zu berücksichtigen, wird als ursprünglich anthropologisches Merkmal des Menschen angesehen: „Man wird nun mit Recht bemerken, dass es keine einzige menschliche Handlung gibt, die nicht zugleich Leistung wäre“ (Hecker, 1985, S. 134, zitiert nach Buytendijk). 142 Heckhausen unterscheidet hier noch einmal zwischen einem fähigkeits- und einem anstrengungszentrierten Leistungsbegriff. Es gibt Leistungen, die wir weitgehend kausal auf ein bestimmtes Fähigkeitsniveau des Handelnden zurückführen, sei es, dass es vorhanden ist oder fehlt. Andererseits gibt es Tätigkeiten, wo es lediglich auf Anstrengung, Energie und Kraftaufwand ankommt. Die Regel ist eine Mischung zwischen beiden Zentrierungen, denn häufig kann man mangelnde Fähigkeiten durch erhöhte Anstrengung ausgleichen oder umgekehrt mangelnde Energie durch größere Fähigkeiten (vgl. Heckhausen, 1974, S. 12). 143 Andere Grundsituationen sind beispielsweise der soziale Anschluss, die Macht oder die Aggression. 214 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Anknüpfend an die Bemerkung Buytendijks wird diese neutrale Formulierung jedoch pädagogisch erst interessant, wenn es gelingt, die subjektive Bedeutung der Leistung herauszuarbeiten: „Der Begriff der Leistung wird erst dadurch zu einer Kategorie, die uns pädagogische Zusammenhänge aufzuschließen vermag und uns gültiges Richtmaß pädagogischen Handelns - auch und gerade in der Leibeserziehung - zu werden vermag, dass wir ihn als Inbegriff individuellen Könnens interpretieren“ (Klafki, 1975a, S. 137). Andererseits kann die subjektive Leistung erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn sie im Bezug zu von außen herangetragenen Leistungsanforderungen gesehen wird. Das heißt, dass sich die individuelle Leistungsfähigkeit und der Leistungswille eines Menschen erst angesichts objektiv vorgegebener Leistungsforderungen und -erwartungen entwickelt144. Die individuelle Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft ist also immer ein gesellschaftlich vermitteltes Phänomen, wobei dies nicht bedeutet, dass individuelle Leistung nichts anderes als ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Dennoch bestimmt das, was in unserer Gesellschaft als Leistung höherer oder niederer Qualität Anerkennung findet, den sozialen Rang, die soziale Geltung und damit auch das individuelle Selbstbewusstsein jedes Menschen. „Einerseits kann sich der Einzelne durch Leistung eine Position in der Gesellschaft schaffen, die es ihm ermöglicht, in kleinerem oder größerem Maße nach eigenen Vorstellungen und im Zusammenwirken mit gleichgesinnten Menschen verändernd auf die gegebene Gesellschaft einzuwirken; andererseits kann sich der Einzelne durch seine Leistungen in der Gesellschaft und für sie jenen Raum schaffen, in dem er relativ frei von und gegenüber der Gesellschaft, in der er sein eigener Herr ist oder sein könnte“ (Klafki, 1975a, S. 140f). Wenn Leistung in diesem Sinne aufgefasst und gefordert wird, dann kann sie dem Individuum in Form einer Herausforderung und Bestätigung helfen, Selbstbefangenheit und Subjektivität zu überwinden und wird somit zu einem wichtigen Teil erzieherischer Überlegungen145. Klafki (1975a, S. 138) führt dazu aus, dass das Leistungspotential, mit dem jeder Mensch ausgestattet ist, individuell verschieden und nicht unbegrenzt bildbar ist. Dennoch schließt er aus zahlreichen Untersuchungen pädagogischer, soziologischer und psychologischer Art, dass das Ausmaß der menschlichen Leistungsfähigkeit viel größer ist, als das gewöhnlich angenommen wird. 145 Eine solche Auffassung von Leistung scheint nach Ansicht Krockows zunächst jedoch unüblich, da sie nicht konkurrenzorientiert auf das ‘Überbieten’ angelegt sind (vgl. Krockow, 1972, S. 16; 1974, S. 12). 144 215 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Auch Haag (1995, S. 83 - 111) zeichnet aus sportphilosophischer Sicht einen Leistungsbegriff, der die besagte Zweiseitigkeit aufgreift, wenn er durch seine verschiedenen Momente die Spannung zwischen individueller und gesellschaftlicher Relevanz deutlich macht. Güldenpfennig (1996), der durch ein Resumée verschiedener Beiträge der letzten 25 Jahre die gleiche Zweiseitigkeit des Leistungsbegriffs herausarbeitet, stellt sich die Frage nach dem primären Motiv der sportlichen Leistung, das entweder eine ‘Erscheinung sui generis’ oder ein ‘Ausdruck gesellschaftlicher Erscheinungen’ sein kann (vgl. Güldenpfennig, 1996, S. 192)146. Dabei sieht er seinen Beitrag als eindeutiges Plädoyer für die erste Variante, die sich zwangsläufig einstellt, wenn der wissenschaftliche und philosophische Diskurs sich der ‘legitimen Autonomie’ des Sports zuwendet, statt auf die ‘strukturellen Analogien des Sports zu anderen gesellschaftlichen Erscheinungen’ zu verweisen (vgl. Güldenpfennig, 1996, S. 195). An dieser Stelle soll noch einmal auf die Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie zurückgegriffen werden. Der Mensch als weltoffenes und auf Lernen hin angelegtes Wesen muss sich seine Möglichkeiten der Leiblichkeit erarbeiten: Laufen, Werfen, Klettern, Fangen usw. müssen gelernt, also geleistet oder erleistet werden. Diese Leistungen werden von den jungen Menschen jedoch nicht als Last oder bittere Notwendigkeit erfahren, sondern im Gegenteil als sinnvolle Erfüllung, freudvolles Tun und Erprobung des eigenen Könnens, der eigenen Leistung (vgl. Klafki, 1975a, S. 143f). Unter diesem Gesichtspunkt - nämlich, dass das Leisten ein konstitutives Moment allen menschlichen Lernens ist - liegt der Sinn der Leistung darin, dass sie als der Weg zum Können und das Medium des ‘freudigen Könnensbewußtseins’ ist. „Allen skeptischen Deutungen des modernen Sports gegenüber, soviel Richtiges sie im einzelnen treffen mögen, behaupte ich, dass diese Freude an der eigenen Leistung, am eigenen Können oder am Können einer Gruppe immer noch das zentrale Motiv des Sports ist“ (Klafki, 1975a, S. 144). Bezogen auf Sport ist es nicht sinnvoll, Leistung allein als Kriterium derjenigen Vollzüge zu betrachten, deren Ergebnisse sich punktuell objektivieren und durch Längen-, Gewichts- und Zeitmaße oder durch Punktwertungen fixieren lassen. Leistung bedeutet 146 Hier erkennt man den Rückgriff Rousseaus Emile, wenn dieser sagt: „Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem natürlichen Menschen, der im Naturzustande lebt, und dem natürlichen Menschen, der in der Gesellschaft lebt. ... Man darf nicht verwechseln, was im Naturzustande natürlich ist und was im Gesellschaftszustand natürlich ist.“ (Rousseau (1991). Emile oder Über die Erziehung. Paderborn, S. 205). 216 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports zunächst einmal die Überwindung von Schwierigkeiten, die Bewältigung eines selbstgesetzten Bewegungszieles und kann als das objektive Maß eines individuellen Könnens verstanden werden. „Das Leistungsmoment ist in sich selbst sinnvoll, weil und soweit es ein Element freudigen Könnensbewußtseins des Heranwachsenden bzw. des Erwachsenen darstellt“ (Klafki, 1975a, S. 148). Dieses ‘freudige Könnensbewußtsein’ bedeutet, dass die sportliche Leistung um ihrer selbst willen betrieben werden soll, aus Freude an den zahlreichen Möglichkeiten des Sich-Bewegens. Ein konstitutives Moment solcher Freude ist das Leisten-Können, ohne Leisten zu müssen (vgl. Klafki, 1975b). Leistung hat somit einen festen Platz bezüglich des sportlichen Tuns. Insofern ist die häufig anzutreffende Klage über die Entseelung des Sports durch das Leistungsstreben irreführend. Auch die Warnung vor der sogenannten Rekordsucht, vor dem Streben nach Höchstleistung - dies kann sich durchaus auch auf den Klassenverband beziehen - ist nicht gerechtfertigt. Denn nicht im Leistungswillen oder im Rekordeifer liegt die Gefahr, sondern darin, dass sich der Wille zur hohen Leistung mit problematischen Motiven ganz anderer Herkunft verbindet. Dies betont auch Güldenpfennig, wenn er anmerkt, dass die spezifische Struktur des sportlichen Leistungshandeln in seinem reflexiven, nach innen gerichteten Charakter liegt: „Sportliches Handeln folgt primär gar nicht der Intention der Überbietung eines außerhalb des sporttreibenden Individuums ansässigen Gegners. Es folgt primär vielmehr der Intention der Selbst-Überbietung, der Steigerung, zumindest der Ausschöpfung, Ausreizung der eigenen sportlichen Leistungsmöglichkeiten -bzw. noch genauer, da die letztlichen Grenzen der eigenen individuellen Möglichkeiten nicht überboten, überschritten, sondern nur asymptotisch schrittweise angenähert und erreicht werden können: der Selbst-Vervollkommnung“ (Güldenpfennig, 1996, S. 197). Andersherum ist es das verfehlte Resultat einer sportlichen Leistung (oder der Darstellung einer sportlichen Leistung), wenn sie dazu führt, dass Niederlagen nicht ertragen werden, Anerkennung anderer Leistungen versagt bleiben oder die Mitarbeit im sportlichen Spiel verweigert wird. „Die wahre Freude an der eigenen sportlichen Leistung 217 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports schließt immer die Freude über die Leistung des anderen mit ein“ (Klafki, 1975a, S. 158). In diesen Überlegungen zeigen sich jedoch auch gewisse Widersprüche bezüglich der Ermittlung verschiedener Motive, die den Einzelnen anregen, Leistung zu erbringen. Grupe & Krüger (1997, S. 257ff) unterscheiden zunächst einmal zwischen normiertem disziplin- und wettkampforientiertem Sport und solchem, der diese Merkmale nicht hat. • In Bezug auf einen sportlichen Wettkampf ist es das Ziel, die Leistungen der verschiedenen Sportler miteinander zu vergleichen. Durch die Herstellung der formalen Chancengleichheit zu Beginn des Wettkampfes sollen gleiche Bedingungen für die Wettkämpfer geschaffen werden. Damit soll auch erreicht werden, dass die vom Wettkampf erhoffte Spannung und Dramatik im Verlauf des Wettkampfes erhalten bleibt oder gesteigert werden kann. Die Spannung eines Wettkampfes löst sich erst, wenn der Sieger ermittelt ist. Die Motive, die dieser Form des Sporttreibens zu Grunde liegen, sind ‘äußere Beweggründe’, nämlich eine bessere Leistung zu erbringen, als die ‘sportlichen Gegner’. • Im Bereich des weniger normierten Sports steht die Ermittlung eines Siegers und seiner Leistung nicht im Vordergrund. Ob eine solche Unterscheidung aus pädagogischen Gesichtspunkten sinnvoll ist, scheint fraglich. Zumindest dann, wenn die Grundlage der Überlegungen die hier thematisierten anthropologischen Gesichtspunkte des weltoffenen und auf Lernen hin angelegten Menschen sind. Das wettkampfbezogene Leistungsmotiv führt direkt auf das Problem der Leistungsbewertung hin, das im Rahmen dieser Arbeit im schulischen Kontext von besonderer Bedeutung ist. Die Lehrenden haben die Aufgabe, die individuellen Leistungen der Schüler zu bewerten. Hierbei sollten sie nicht nur die messbaren Ergebnisse der sportlichen Leistungen, sondern auch pädagogische und psychologische Aspekte der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen147 (vgl. Teil B, Kap. 2) a) Fazit Aus psychologischer Sicht ist Leistung eine von verschiedenen menschlichen Grundbefindlichkeiten, die zur ‘Daseinsfindung der Lebensbedingungen’ (Heckhausen, 1974, S. 218 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports 12) notwendig ist. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zur philosophischen Anthropologie, die ihrerseits die menschliche Fähigkeit, etwas leisten zu können, selbst das Maß der Leistung festzulegen und dabei das Wofür zu berücksichtigen, als ursprünglich anthropologisches Merkmal des Menschen ansieht. Andererseits kann die subjektive Leistung erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn sie im Bezug zu von außen herangetragenen - also gesellschaftlich bedingten - Leistungsanforderungen gesehen wird. In diesem doppelten Bezug wird Leistung pädagogisch interessant, da sie als Mittel dienen kann, freudiges Könnensbewußtsein (Klafki, 1975a, S. 144) zu vermitteln. Ein solches Können hilft dem Individuum, gesellschaftliche Herausforderungen leichter zu meistern. Da Sport vielfältige Möglichkeiten bietet, Leistung zu erbringen, ist er ein geeignetes Feld, sie für pädagogische Zwecke fruchtbar zu machen. Dabei ist es aus Sicht der philosophischen Anthropologie notwendig, den sportlichen Wetteifer so zu gestalten, dass nicht das Motiv der Fremd-Überbietung im Vordergrund steht, sondern die Aspekte des Selbstbezuges. In diesem Falle wird der Leistungsbegriff als eine Erscheinung ‘sui generis’ interpretiert und ist ein weiterer Baustein im Kontext einer bildungstheoretischen Schulsporttheorie. 147 An dieser Stelle möchte ich jedoch auf den Beitrag von Meinhard Volkamer (1978) hinweisen, der anschaulich auf das Problem der Leistungsbewertung im Sportunterricht eingeht. 219 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Abbildung 6: Die Leistung. 5. Ästhetik und Gestaltung Die Begriffe der Ästhetik und Gestaltung beinhalten musische, künstlerische und emotive Komponenten der menschlichen Bewegung. Besonders die ästhetische Dimension spiegelt den Teil des Allgemeinbildungskonzeptes wieder, der als Kernbegriffe die Bildung der Empfindsamkeit des menschlichen Ausdrucks, die Entwicklung der Einbildungskraft oder Phantasie, die Entwicklung der Genussfähigkeit und der ästhetischen Urteilskraft sowie die Befähigung zum Spiel und zur Geselligkeit hat (vgl. Teil B, Kap. 1.1.). Diese Bedürfnisse des Menschen, von Röthig148 als Form, Ordnungs- und Schönheitsempfinden charakterisiert, müssen in eine ganzheitliche menschliche Betrachtung gleichrangig mit den anderen anthropologischen Grundthemen mit einbezogen werden (vgl. Röthig, 1990, S. 85). Borgeest unterstreicht diese Annahme, wenn er in seiner ‘Theorie des Schönen’ davon spricht, dass der menschliche Schönheitssinn alle seine Handlungen und Entscheidungen beeinflusst: „Alle Entscheidungen sind unter anderem auch ästhetische Entscheidungen“ (Borgeest, 1977, S. 33). Hinsichtlich der Frage, was die verschiedenen Ästhetikphänomene mit sport- und bewegungspädagogischen Themen zu tun haben, kann aufgezeigt werden, dass der Anspruch, 148 Röthig bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Maslow (1943) (A Theory of Human Motivation, in: Psychological Review 50, 370 -396). 220 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports über eine Bewegungserziehung auch eine ästhetische Erziehung zu realisieren, keineswegs neu ist. „Er ist bereits in der antiken Gymnastik - und dort wohl am eindeutigsten entwickelt worden, er taucht in fast allen ernstzunehmenden Entwürfen der Körpererziehung und Leibeserziehung auf, er hat in den musischen und rhythmischen Erziehungsrichtungen seit jeher eine zentrale Bedeutung gehabt. Die sog. musische Erziehung, die am Beginn des Jahrhunderts eine Renaissance erfuhr und die die Leibeserziehung stark beeinflusste, hat Perspektiven einer ästhetischen Erziehung herausgestellt“ (Röthig, 1993, S. 15). Kossolapow sieht solche Perspektiven vor allen Dingen in der Selbstverwirklichung, das heißt in der Entfaltung aller schöpferischen Kräfte und im Sichfreimachen gegenüber den Verführungen der Gesellschaft. Dabei steht an erster Stelle die Forderung an den Menschen, „sein Wesen schöpferisch zu gestalten“ (Kossolapow, 1975, S. 122). Eine solche Befreiung enthält auch das Element der ‘körperlichen Zucht’. Dazu zählt er „Atmen, Schweigen, Fasten, Enthaltsamkeit und tägliche Gymnastik. [...] Körperliche Zucht ist aber nur die eine Seite, eng damit zusammen hängt die ‘geistige Zucht’“ (ebd.). Und an anderer Stelle geht er näher auf den Stellenwert der individuellen Sinngebung von Bewegungsvollzügen ein, wobei er am Beispiel des Rhythmus zeigt, dass die ‘Individualbewegung’ (Kossolapow, 1975, S. 98) eine weitere Komponente dieser Befreiung ist. „Das Leben ist Bewegung, und nur an der Bewegung erkennen wir das Leben. Die künstlerische Bewegung heißt Rhythmus“ (Kossolapow, 1975, S. 95 zitiert nach Walden, 1921). Wie sich bereits in Teil B gezeigt hat, sind die hier angesprochenen Perspektiven ein unverzichtbarerer Beitrag zur Identitätsbildung und müssen somit unbedingt in einem zeitgemäßen Allgemeinbildungskonzept mitgedacht werden. Dabei ist dieser musisch-ästhetische Anspruch in der Sporterziehung keineswegs neu und bis heute nicht abgelöst oder aufgegeben (vgl. Röthig, 1993, S. 15). Wenn er dennoch in heutigen Schulsportüberlegungen oder im Schulalltag kaum aufzufinden ist, liegt das vielmehr daran, dass die sportbezogenen Ansprüche so dominant sind, dass ästhetische Momente keine Berücksichtigung finden. „Wer auf der Jagd nach Punkten, Toren, Metern, Sekunden, Gewichtseinheiten, nach Siegen und Rekorden ist, der wird durch die in Gang gesetzten Vollzüge im Sport so auf diese Leistungsnormen hin orientiert, dass nahezu ausschließlich Effizienz- und Optimierungsprobleme im Vordergrund 221 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports stehen“ (Röthig, 1993, S. 15). Dazu kommt, dass in der Schule eine solche Auslegung viel besser geeignet ist, um nach den derzeitigen Maßstäben der Selektion eine Beurteilung für die Schüler zu finden (vgl. Teil B, Kap. 2). Wendet man sich dem Begriff der Ästhetik jedoch genauer zu, wird deutlich, dass die Aussagen über das, was gemeint ist, keineswegs einheitlich sind149 (vgl. Röthig, 1993, S. 13). Im Rahmen der Ästhetikdiskussion in der Sportpädagogik zeigt sich eine Dichotomie zwischen • einem auf motorische Sporttechniken angewandtes Ästhetikverständnisses, das mehr einer Normorientierung folgt, welches ein bestimmtes, sich wandelndes Verständnis von Körperbildern und Bewegungsstilen als Maßstab ästhetischer Anschauung heranzieht und • einer mehr anthropologisch-pädagogisch motivierten Betrachtungsweise, welche das Ästhetische im Körper- und Bewegungshandeln als einen spezifischen vom Individuum gestalteten, geprägten und hervorgebrachten Ausdruck betrachtet (vgl. Röthig, 1990, S. 86). Bezüglich der ersten Betrachtungsweise haben verschiedene Körper- und Bewegungstheorien die Merkmale, die für die ästhetische (hier: schöne) Gestalt oder Bewegung maßgeblich sind, sehr differenziert herausgearbeitet. „Für das, was im Sport als schön gilt, besteht eigentlich kein großer Mangel an eindeutiger Attribuierung. Wo gepunktet und gewertet wird, ist auch das ästhetisch Vollkommene, das was als Schön gilt, bis in Zehntelpunkte hinein codiert“ (Röthig, 1993, S. 14). Wendet man sich der zweiten Betrachtungsweise zu, zeigt sich, dass eine ästhetische Theorie darauf angewiesen ist, „ihre Begriffe im Medium der Erfahrung150 zu bilden“ (Röthig, 1990, S. 88 zitiert nach Nibbrig 1978). Es muss betont werden, dass ästhetische Erfahrungen sehr wichtig bezüglich des individuellen menschlichen Bewegungshandelns sind. Als Zusammenschau verschiedener Beiträge, die sich mit ästhetischen Phänomenen befasst haben, lassen sich hierbei drei wesentliche Merkmale herausfiltern, die das Phänomen der Körper- und Bewegungsästhetik kennzeichnen und insbesondere für das hier vorgestellte Allgemeinbildungskonzept von Bedeutung sind: 149 Röthig zeigt an dieser Stelle auf, dass sich ästhetisches Empfinden und Denken beispielsweise in der Antike auf das Nützliche, im Mittelalter auf das Gute, in der Spätrenaissance auf das Individualistische, in der Aufklärung auf das Wahre, in der Gründerzeit auf das Erotische und Mächtige bezogen hat. 222 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports a) Die Schönheit b) Die Mimesis c) Die Gestaltung a) Die Schönheit Die Erfahrung von Schönem in der Körperlichkeit und der Bewegung hat den Menschen zu allen Zeiten bewegt. „Im Schönen auch das Edle, Reine, Echte, Wertvolle und das ewig Wahre zu erblicken, ist seit der griechischen Antike eine Vorstellung, die sich besonders in Körper- und Bewegungsideologien beharrlich festmachte. Nicht nur in der Wohlgestaltetheit des Körpers und der Harmonisierung der Bewegungen begrenzen sich die Schönheitsideale, sondern in einer Art von Vollkommmenheitsdenken, durch das die bloße materiale Schönheit überstrahlt wird. So verbindet man mit der Schönheit auch Vorstellungen über Gesundheit, Frische, Leistungsfähigkeit, über das Gute, die reine Seele, die Gewandtheit, Ausdauer, Kraft und Gestaltetheit“ (Röthig, 1990, S. 89). Dass diese Auffassung bis heute einen beträchtlichen Stellenwert besitzt, sieht man schon allein daran, dass der ständig expandierende Markt der Fitness-, Body- und Gesundheitsstudios mit einem vermeintlichen Schönheitsbild wirbt, das durch das Medium eines ‘schönen Körpers’ unzählige soziale und individuelle Glückseeligkeitsversprechungen bereithält. Demgegenüber steht ein Schönheitsideal, das aus der sinnlichen Erkenntnis hergeleitet werden kann: „Jene zweite Schönheit ermöglicht, dass auch häßliche Dinge schön gedacht werden können und vice versa“ (Röthig, 1990, S. 89). Hier zeigt sich die mehr gestalterische Komponente, beispielsweise im tänzerischen Ausdruck, wobei deutlich wird, dass schön ist, was in der subjektiven, sinnlichen Erkenntnis als solches empfunden wird. Auch bei Grupe findet sich diese Auffassung, wenn er davon spricht, dass Bewegungen auf eine eindrucksvolle Weise ästhetisch sein können, „wie sich in den Tänzen und Vorführungen der großen Turnfeste, in den Übungen des Turnens und der Gymnastik, in den langen Bällen, die Fußballspieler spielen, in der Harmonie der Bewegungen bei den Eisläufern, in den ausgreifenden Bewegungen der Skilangläufer, dem bunten Bild der Segelboote auf dem Wasser, der scheinbaren Mühelosigkeit, mit der 150 Der Begriff der Erfahrung wird in Kapitel 2.3dieses Teiles näher erläutert. 223 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Bergsteiger Wände durchklettern, den farbigen Drachenfliegern über den Tälern zeigt“ (Grupe, 1987, S. 73). Das Empfinden der Schönheit wird demnach von unterschiedlichen Prämissen bestimmt, wobei Borgeest zwischen dem attributiven Schönen151 (das Erscheinungsbild des Körpers in einem gesellschaftlichen Zusammenhang), dem metaphysisch Schönen152 (der sinnlichen Erkenntnis) und dem subjektiv Schönen153 (die individuelle Empfindung) unterscheidet. Dabei kommt für ihn besonders der letzten Komponente eine große Bedeutung zu, denn aus dieser Perspektive heraus ist Ästhetik nicht eine bestimmte, sozial vereinbarte Merkmalskonstellation (wie die Betrachtung eines Bewegungsablaufes hinsichtlich Dynamik, Rhythmus, Fluss, Harmonie, usf.), sondern eine subjektive Gefühlsqualität, die sich mit Begriffen wie Genuss, Hingabe, Entzückung, Beseelung, Ver- und Bezauberung, Entrücktheit, Taumel, Passion u.a.m. beschreiben lassen (vgl. Borgeest, 1977, S. 37ff; Röthig, 1993, S. 14). „Der als schön empfundene Körper oder die schöne Bewegung ist nicht das Ergebnis der Zuordnung von mehr oder weniger objektiven Merkmalen oder Merkmalkonstellationen wie Harmonie, Wohlgestaltetheit, Dynamik, Rhythmus u.a.m., sondern eine höchst subjektive Affektion positiver Gefühle“ (Röthig, 1990, S. 91). Es handelt sich auch nicht um bloßen Lustgewinn, der keine zusammenhängende Erfahrungen ermöglicht, sondern um die Ausbildung eines sinnlichen Empfindungsvermögens, das die Basis für ein freudvolles und lustvolles Erleben von Körper und Bewegung ist. „Als schön erscheint, was dem Menschen in seiner soziohistorischen und individuellen Situation jeweils zuträglich ist. [...] Die Tatsache labyrinthischer Unbestimmbarkeit des Schönen ist das Ergebnis menschlichen Nichtfestgestelltseins. Und es ist nicht einmal möglich, das ästhetische Empfinden und Denken auch nur historisch eindeutig 151 Der attributive Charakter verweist auf objektive Eigenschaften, die das Schöne kennzeichnen. Boorgest versucht an dieser Stelle das Wesen des Schönen genau zu bestimmen und zeigt an Hand verschiedener Epochen auf, das gerade eine solche objektive Zuordnung nicht möglich ist (vgl. Borgeest, 1977, S. 37ff). 152 Gemeint ist damit, dass das Schöne in der Vorstellung des Betrachters ruht: „Ein Wesen oder Ding ist dann schön, wenn es unserer Vorstellung von ihm entspricht“ (Borgeest, 1977, S. 40). Nach Baumgarten ist Schönheit die Vollkommenheit des sinnlichen Erkennens (vgl. Assunto, 1996, S. 65 zitiert nach Baumgarten). 153 Borgeest entwickelt das subjektiv Schöne aus der Überlegung heraus, dass, wenn das Schöne attributiv oder metaphysisch festlegbar ist, Urteilsdifferenzen nicht zu erwarten sind. Aus der Tatsache heraus, dass es sie trotzdem gibt, kommt er zu folgendem Schluss: „Schönheit ist also keine den Dingen (und Wesen) eigene Qualität; sie existiert nur im Gemüt, im Bewußtsein, in der Vorstellung dessen, der sie betrachtet, und jeder nimmt eine andere Schönheit wahr. [...] Das heißt, das Schöne oder Häßliche ist nicht - wie es 224 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports und ausschließlich festzulegen, [...]“ (Borgeest, 1977, S. 100ff). Damit wird eine individuelle Verfaßtheit beschrieben, die solche Erfahrungen ermöglicht, die einen weiteren Teil zur Identitätsentwicklung beitragen. Schön in diesem Sinne meint: angenehm, zuträglich, gut für mich (vgl. Borgeest, 1977, S. 204). Dennoch zeigt das Merkmal des attributiven Schönen auch, dass der Mensch sein Schönheitsideal in den Dienst seines gesellschaftlichen Ansehens stellt. Es wird deutlich, dass es in jeder Gesellschaft Schönheitsideale gibt, die es zu erreichen gilt, unabhängig von der individuellen Zuordnung; das Schöne wird somit zu einem sozialen Unterscheidungsinstrument: „Ein Schönes, das infolge wohlgemeinter, dem humanitären Solidaritätsprinzip dienender pädagogischer Einwirkung von den nachdrängenden Schichten erreicht wurde (als Besitzanspruch oder Geschmacksrichtung), ist im gleichen Augenblick schon überwunden, wird fallengelassen oder verliert die Anerkennung der Geschmackselite. [...] Wenn man also das Schöne nicht länger als nur schön ansehen kann, wenn es sich statt dessen als ein gesellschaftliches Absonderungsinstrument erweist, das wir selbst handhaben zu dem einzigen Zweck, uns von anderen zu unterscheiden um des Unterscheidens willen, so bleiben dem gewissenhaften Menschen [...] zwei mögliche Einstellungen: Entweder er weigert sich soziale Unterschiede anzuerkennen, [...] oder aber er bejaht soziale Unterschiede mit Berufung auf menschliche Ungleichheit und hält das Bedürfnis nach sozialem Wettbewerb für ein auch dem Menschen eigentümliches Naturbedürfnis“ (Borgeest, 1977, S. 206ff). Neben dem individuellen Schönheitsempfinden kann sich der Mensch seiner gesellschaftlichen Umgebung und den damit verbundenen Wertvorstellung nicht verschließen. Somit ist Schönheit in dem hier behandelten Sinne auch immer doppelt zu betrachten: einmal in Hinsicht auf die individuelle, unverwechselbare Identität jedes Individuums und auf der anderen Seite als Ausdruck gesellschaftlicher Realität. Gerade im erzieherischen und insbesondere im schulischen Kontext muss diese Doppelseitigkeit berücksichtigt werden (vgl. Teil B, Kap. 1.2 & Kap. 2 dieses Teils). „Nicht ernstzunehmen wäre eine Haltung, die sich zum humanitären Solidaritätsprinzip bekennt und es gleichzeitig durch eine ästhetisch betonte Lebensform hintergeht in der gedankenlosen Annahme, das Schöne sei nur schön und die Befriedigung eines sogenannten ästhetischen Bedürfnisses sei ein politisch und ethisch unschuldiges Recht des einzelnen. Die Behauptung, über Geschmack lasse sich nicht streiten, weil das Schöne grundsätzlich im scheint - dem Ding oder Wesen eigen, sondern abhängig vom Bewußtsein des Wahrnehmenden“ (Borgeest, 1977, S. 48). 225 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Ermessen einer subjektiven Urteilskraft stehe und politisch, gesellschaftlich und ethisch neutral sei, ist nichts als der Versuch, sich der Kritik - auch der Selbstkritik - zu entziehen“ (Borgeest, 1977, S. 208). b) Die Mimesis Unter der mimetischer Fähigkeit wird die sinnlich-ästhetische Entschlüsselung von Bedeutungszusammenhängen verstanden. Im Gegensatz zu technischen Orientierungen beim Sporttreiben, die sich auf die bloße Reproduktion von vorgegebenen Bewegungsabläufen beziehen, hat diese Form ästhetischer Ausbildung den Anspruch, die je individuellen motorischen Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen in einen Bedeutungsund Verständnisrahmen zu bringen, der den eigenen Körper und die damit verbundenen subjektiven Bedeutungszuweisungen in das Bewegungsempfinden integriert. Die Bedeutung des Wortes Mimesis macht deutlich, dass es sich um eine nachahmende Darstellung von etwas Erlebtem handelt (vgl. Cassirer, 1953, S. 139) 154. Dabei geht es nicht um den reproduktiven Nachvollzug, sondern um die Gabe, eine „innere Verwandtschaft zwischen Wahrnehmung und Welt herzustellen, gewissermaßen Ähnlichkeiten hervorzubringen, nicht als bloße Imitation, sondern im Sinne von wesenhaften Verdeutlichungen“ (Röthig, 1993, S. 16). Besonders im Kinderspiel und im Tanz können dabei Ausdrucksformen entstehen, die nicht banale Nachahmungen und Imitation sind, sondern der Wiedergabe von Beziehungen dienen. Solche Kindheitspotentiale sind für die Ausbildung der eigenen Identität fundamental wichtig (vgl. Kap. 2.3 dieses Teiles), da sie den jungen Menschen dabei helfen können, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Bedingungen der heutigen Lebenswelt (vgl. Kap. 2.1 dieses Teiles) und die vorherrschende unterrichtliche Realität in den Schulen (vgl. Kap. 2.2 dieses Teiles) gestatten es Kindern und Jugendlichen jedoch oft nicht mehr, die Fähigkeit zu solchen sinnlichästhetischen Entschlüsselungen zu entwickeln (vgl. Röhtig, 1993, S. 16f). c) Die Gestaltung Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass das menschliche Schönheitsempfinden durch zwei Komponenten gekennzeichnet ist: zum Einen handelt es sich um eine höchst subjektive Affektion von bestimmten Gefühlen, zum Anderen ist es abhängig von gesell154 Das Duden-Fremdwörterbuch nennt insbesondere 1. die nachahmende Darstellungen der Natur im Bereich der Kunst und 2. in der antiken Rhetorik die spottende Wiederholung oder die treffende Kennzeichnung eines anderen Menschen (vgl. Duden, 1982, S. 494). 226 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports schaftlichen Attribuierungen. Beide Zuordnungen sind für die Ausbildung einer unverwechselbaren Identität von großer Bedeutung. Bezüglich der subjektiven Sinnfindung ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche das eigene Schönheitsempfinden entwikkeln: „Zur Merkmalsbeschreibung ästhetischer Phänomene gehört jene gedankliche Figuration, die sich auf die eigentümliche Art des Hervorbringens oder Mitvollziehens ästhetischer Anmutungen oder Wahrnehmungen bezieht. Dabei handelt es sich um jenes energetische Potential, wodurch Menschen imstande sind, Empfundenes oder Wahrgenommenes gleichsam bildhaft zu übertragen und in Handlungen auszudrücken (Röthig, 1990, S. 91). Gemeint sind Kompetenzen, die über die technisch-funktionale Reproduktion der Bewegung hinausgehen. Das Technische einer Bewegung tritt hier zurück und weicht einem andern Sinn. Vielmehr soll die Einbildungskraft handlungsgestaltend wirken, wobei damit nicht die Flucht in die Passivität der Illusionen gemeint ist. Vielmehr können über diese ästhetischen Phänomene der Phantasie entsprungenen Bewegungsinhalte ausgedrückt werden, die ihr (der Bewegung) eine spezielle individuelle Formgebung und einen Ausdruck verleihen und somit einen weiteren wesentlichen Beitrag zur körperlichen Identitätsbildung darstellen. Damit steht eine solche Bewegungsdarstellung im deutlichen Gegensatz zu jenen Bewegungen, die durch die geregelten sportmotorischen Abläufe eingeschränkt, wenn nicht sogar unterbunden werden. „In den meisten Fällen verbleibt der Versuch, sportliche Bewegungsabläufe zu realisieren, in der Reproduktion des Musters stecken; die Auseinandersetzung mit den technischen Schwierigkeiten bestimmt also die Szene. [...] Wissenschaft und Erziehungspraxis im Sport müssen jedoch mehr einfordern, das heißt, sie müssen durch die Formulierung sportlicher Zielperspektiven dazu beitragen, dass es dem einzelnen potentiell gelingen kann, sich von der äußeren Verzweckung seines motorischen Handelns unabhängig zu machen“ (Röthig, 1990, S. 92). Durch die Einbeziehung der Erlebniskraft kann es gelingen, den Erlebnisumfang und die Erlebnistiefe von sportlichen Handlungen erheblich zu erweitern. Auch in dieser Hinsicht kommt der die subjektiven Ausgestaltung einen besonderen Stellenwert. 227 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Für die konkrete Umsetzung in die je individuelle Bewegungshandlung schlägt Röthig den Terminus der Gestaltung155 vor, die er als subjektive Gefühlsqualität umschreibt. Auch Größing wählt hierfür den gleichen Ausdruck und sieht in ihr die Möglichkeit, dem musisch-ästhetischen Anspruch eines allgemeinbildenden Sportunterrichtes gerecht zu werden: „Durch die Auslösung und Entfaltung der Bewegungsphantasie wird die Bewegungsgestaltung zu einem schöpferischen Akt“ (Größing, 1997, S. 146). Die Gestaltung kennzeichnet sich dadurch, dass es bei der Bewegungshandlung mehr auf die subjektive Stimmigkeit ankommt, als auf eine objektive Richtigkeit der Bewegungsausführung. Dabei warnt er vor der zu frühen Festlegung auf normierte Bewegungen, da so der Gestaltungsdrang rasch versiegen und unter Umständen verkümmern kann (vgl. Größing, 1997, S. 146). Erst wenn sich die Fähigkeit zum individuellen Gestalten ausgebildet hat, kann auch die gesellschaftliche Komponente des Schönheitsempfindens thematisiert werden. Wie bereits in Teil B, Kap. 1.2 deutlich wurde, ist diese Herangehensweise unter allgemeinbildenden Gesichtspunkt erst dann sinnvoll, wenn sich die jungen Menschen mit ihrer gesellschaftlichen Realität kritisch auseinandersetzen können (vgl. auch Kap. 2 dieses Teiles). d) Fazit Kernbegriffe der ästhetischen Dimension sind die Empfindsamkeit des menschlichen Ausdrucks, die Entwicklung der Einbildungskraft, Genussfähigkeit und ästhetischen Urteilskraft. Ein Allgemeinbildungskonzept, das die ganzheitliche Ausbildung des Menschen zum Ziel hat, darf diese Komponente nicht vernachlässigen, da die Entfaltung der schöpferischen Kräfte immer auch Selbstverwirklichung bedeutet (Kossolapow, 1975). Dadurch dass die ‘Individualbewegung’ des Menschen Ausdruck dieser Selbstverwirklichung ist, können Forderungen an den Schulsport insofern herangetragen werden, dass er dabei helfen kann, ästhtetische Empfindungen zu wecken und auszubilden. Zunächst einmal zeigen sich in der sportpädagogischen Ästhetikdiskussion zwei unterschiedliche Verständnisse, wobei zwischen einer motorischen und einer pädagogischanthropologischen Betrachtungsweise unterschieden werden kann. Insbesondere die zweite Betrachtung fordert die Thematisierung der ästhetischen Erfahrung, die sich auf verschiedene menschliche Bewegungshandlungen bezieht. Dabei kann das menschliche 155 Den erkenntnistheoretischen Ursprung dessen, was gestaltet werden soll, sieht er in den kunsttheoretischen Diskussion sowie in den philosophischen Beiträgen der griechischen Antike (Aristoteles, Platon, 228 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Bewegungshandeln unter dem ästhetischen Aspekt durch drei Merkmale kennzeichnet werden. Es ist 1. Ausdruck des zu Grunde liegenden Schönheitsempfindens, wobei 2. die Mimesis die sinnlich-ästhetische Entschlüsselung von zuvor Erlebtem darstellt und 3. die Gestaltung den subjektiven Ausdruck kennzeichnet, der die Bewegungshandlung zu einem schöpferischen Akt macht (vgl. Größing, 1997). Entscheidend für das Schönheitsempfinden ist die Doppelseitigkeit, die hinter diesem Ausdruck steckt: zum einen ist es eine subjektive Gefühlsqualität, die abhängig vom Bewusstsein des Wahrnehmenden ist, zum anderen jedoch auch untrennbar verbunden mit gesellschaftlichen Attributierungen, denen sich der Mensch nicht verschließen kann. Ein Schulsport, der den Anspruch der ganzheitlichen Bildung verfolgt, muss diese Doppeldeutigkeit thematisieren, wobei insbesondere bei der Thematisierung dessen, was als gesellschaftlich schön gilt, eine kritische Hinterfragung nicht fehlen darf. Plotin) und ihren Fortführungen der europäischen Philosophie, wie etwa bei Giordano Bruno, Kant oder Hegel. 229 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Abbildung 7: Ästhetik und Gestaltung. Ästhetik und Gestaltung ‘alle Entscheidungen sind ästhetischer Art’ Gestaltung Mimesis Schönheit Umwandlung in individuelle Bewegungshandlungen sinnlich-ästhetische Entscheidungen attributiv, metaphysisch, subjektiv Doppeltes Ästhetikempfinden subjektiv ‘Erfahrung’ 6. gesellschaftlich kritische Reproduktion Zusammenfassung und Fazit Um sich der Frage zu nähern, wie eine Einbindung des Schulsports in den schulischen Kontext so geschehen kann, dass dieser bildend ist, sollten zunächst anthropologische Voraussetzungen erläutert werden. Anthropologische Erkenntnisse, die Aussagen über das Selbstverständnis des Menschen zulassen, beeinflussen in erheblichem Maße alle erzieherischen Entscheidungen. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis von pädagogischen Systemen und stellen - im Bereich der Sportpädagogik - mehr oder weniger gesichertes Wissen über den ‘sporttreibenden’, ‘sich bewegenden’ Menschen bereit. Damit gelingt es, einen Orientierungsrahmen im Hinblick auf Inhalte und Ziele eines ‘bildenden’ Sportunterrichtes zu schaffen, zunächst jedoch noch ohne jede Wertung. Im Bereich der Sportanthropologie steht die Betrachtung des menschlichen Körpers im Mittelpunkt, wobei zwischen den Einzelphänomenen Körper und Bewegung, Gesundheit, Spiel und Leistung unterschieden werden kann. 230 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Als übergreifende Grundannahmen stehen zu Beginn die im Wesentlichen von Helmuth Plessner formulierten Thesen des Menschen als weltoffenes, handelndes, soziales und historisches Wesen. Neben diesen Annahmen ist es von Bedeutung, dass den Menschen eine Doppelrolle auszeichnet, die in der Verschränkung von Körper und Geist liegt und mit Leibsein beziehungsweise Körperhaben umschrieben wird. Hierin ist auch die Wandelbarkeit des menschlichen Leibverhältnisses mitgedacht, welche in Bezug auf Prohl (1999) in drei Dimensionen unterschieden werden kann: aktuell, überdauernd und biographisch. Diese Dimensionen spielen im Schulsport insofern eine gewichtige Rolle, dass sie den jungen Menschen helfen, ihren eigenen Leib kennenzulernen und lernen, mit ihm in verantwortlicher Weise umzugehen. Das menschliche Verhältnis zum eigenen Leib bestimmt jedoch nicht nur das unmittelbare eigene Körperverhältnis, sondern auch das zu der sozialen und naturhaften Umwelt. Der Leib hat somit eine Mittlerfunktion zwischen Ich und Welt. Dabei verbinden sich Wachstums- und Entfaltungsprozesse mit Lern-, Reifungs- und Alterungsprozessen, sozialen Prägungen und deterministischen Bedingungen: eine Veränderung des Leibverhältnisses beeinflusst auch die Wahrnehmung der Umwelt. Wie der einzelne Mensch jedoch seine Umwelt wahrnimmt, hängt wiederum maßgeblich von Erziehung und Bildung ab. Aus diesen Überlegungen heraus unterscheidet Grupe (1982) vier unterschiedliche Bedeutungen des Körpers, die miteinander verschmolzen sind und dennoch verschiedene Akzente hervorheben: die instrumentelle Bedeutung, die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung, die soziale Bedeutung und die personale Bedeutung. Das Wesen des Menschen, die Verschränkung von Körper und Geist, die Wandelbarkeit des menschlichen Leibverhältnisses, die Mittlerfunktion des Leibes zwischen Ich und Welt und die sich aus diesen Überlegungen abzuleiteten Bedeutungen des Körpers umschreiben das menschliche Phänomen des Körpers und der Bewegung. Die Bewegung ist auch der Ausgangspunkt für den Zusammenhang zwischen der Leibes- und der Gesundheitserziehung. Immer wieder wurde die Hoffnung auf die gesundheitliche Wirkung als ein zentrales Argument des Schulsports genannt, weshalb es auch nicht verwunderlich ist, dass das Gesundheitsmotiv in den Bildungsplänen eine bedeutende Rolle spielt. Bei der näheren Bestimmung dessen, was Gesundheit meint, kristallisiert sich aus pädagogischer Sicht ein ganzheitliches Gesundheitsmodell heraus, das in ein Gesamtkon231 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports zept eingebettet ist, das andere erzieherische Aufgaben gleichwertig miteinbezieht. Somit ist Gesundheit als ein In- und Miteinander physischer, psychischer, sozialer und ökologischer Faktoren zu verstehen, in denen auch die medizinischen Parameter ihren festen Platz haben. Kottmann & Küpper (1991) formulieren aus dieser Sicht heraus vier Kennzeichen eines erweiterten Gesundheitsbegriffes: Danach ist Gesundheit individuell und subjektiv, als Ergebnis eines aktiven Bemühens zu bewerten, abhängig von der jeweiligen Lebenswelt und dem Lebensstil des Individuums und erweist sich schließlich als Balancezustand, in dem das Gleichgewicht zwischen subjektiven und sozialen Dimensionen immer wieder hergestellt werden muss. In der Unterscheidung zur Gesundheit zeichnet sich Wohlbefinden durch seine Dreiteilung (körperlich, psychisch, sozial) aus und löst sich somit von körperlichen Vorgängen. Grupe (1994) bezieht diese Dreiteilung auf mehrere Ebenen, wobei nur die Ebene des ‘pädagogisch richtigen Wohlbefindens’, das ‘aktive Wohlbefinden’ gesundheitlich bedeutsam ist. In dieser aktiven Auseinandersetzung liegt das bedeutende Moment der Gesundheit, denn hier wird nicht das Produkt der sportlichen Leistung in den Mittelpunkt gerückt, sondern das handelnde Subjekt. Damit liegt dem anthropologisch motivierten Bild der Gesundheit ein sinn- und lebensweltorientiertes Verständnis von Gesundheit zu Grunde, das sich dadurch auszeichnet, dass diese weder herstellbar noch durch Erziehungsmaßnahmen zu erreichen ist, sondern dass es sich um ein aktives Bemühen bezüglich der Sinnfindung der eigenen Identität und des körperlichen Wohlbefindens handelt. Ähnlich wie die Gesundheitsthematik gehört die Erscheinung des menschlichen Spiels schon immer zu den zentralen Motiven der Schulsportpädagogik. Bei der Frage nach dem Wesen des Spiels nennt Scheuerl (1975; 1994) sechs Wesensmomente, die den Kanon dessen bilden, was verschiedene Spieltheoretiker der unterschiedlichsten Standorte und Denkstile eint. Neben dem Moment der Freiheit stehen die Momente der inneren Unendlichkeit, der Scheinhaftigkeit, der Ambivalenz, der Geschlossenheit und der Gegenwärtigkeit. Zwar umschreiben diese Momente das Wesen des Spiels, lassen jedoch keinerlei Rückbezüge auf die Bedeutung für den Menschen zu. Huizinga (1987) spricht von einer ‘primären Lebenskategorie’, die an keine Kulturstufe gebunden und auf keinen rationalen Zusammenhang zurückzuführen ist. Die Art des Spieles hängt jedoch immer von individuellen, kulturellen und sozialen Einflüssen ab, die wiederum eine Vielzahl verschiedener Erscheinungsformen hervorbringt. Nach Caillois (1960) lässt sich aus dieser 232 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Vielfalt ein Ordnungsschema entwickeln, das einerseits zwischen verschiedenen Grundtypen, andererseits nach Art der Regelhaftigkeit unterscheidet. Aus diesem Schema lassen sich nun pädagogische Konsequenzen ableiten, die das Spiel in den Bildungsprozess des Menschen als unverzichtbaren Bestandteil einbinden. Als viertes Grundphänomen ist das der Leistung zu nennen, anthropologisch gesehen ein weiteres ursprüngliches Phänomen menschlichen Daseins, die sich durch einen doppelten Bezug auszeichnet: einerseits ist die Fähigkeit gemeint, selbst etwas leisten zu können, selbst das Maß dabei festzulegen und das ‘Wofür’ zu berücksichtigen, andererseits kann diese individuelle, subjektive Leistung erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn sie im Bezug gesellschaftlich bedingter Leistungsanforderungen gesehen wird. Durch diese Zweiseitigkeit kann Leistung zu einem Mittel werden, ‘freudiges Könnensbewußtsein’ zu erfahren, um damit gesellschaftliche Herausforderungen leichter meistern zu können. Im sportlichen Kontext kann sie dann sinnvoll zu einer Bereicherung werden, wenn es gelingt, das Motiv der Selbst-Überbietung vor das der FremdÜberbietung zu setzen. Ästhetische Empfindsamkeit, als letztes Phänomen, schließt die Entwicklung der menschlichen Einbildungskraft, Genussfähigkeit und ästhetischen Urteilskraft ein und geht davon aus, dass alles menschliche Handeln gleichzeitig auch ästhetisches Handeln ist. Im Zentrum der ästhetischen Empfindsamkeit steht dabei die Wahrnehmung des Schönen, die sowohl individuell als auch gesellschaftlich bestimmt ist. Pädagogisch bedeutsam sind dabei auch die Mimesis, die die sinnlich-ästhetische Entschlüsselung von zuvor Erlebten bedeutet und die Gestaltung, die die Umwandlung des ästhetischen Empfindens in die konkrete Bewegungshandlung meint. Mit diesen fünf Grundphänomenen sind nun Aussagen möglich, die die Einbindung des Sports in die Schule so rechtfertigen, dass er einen wichtigen bildenden Beitrag leistet: „Die Einbindung der besonderen Bildungsmöglichkeiten des Sports und die Beurteilung seiner Bedeutung für die Gesamterziehung ist - neben anderen - immer auch von anthropologischen Voraussetzungen abhängig“ (Grupe, 1980, S. 89). Zusammen bilden die Einzelphänomene einen Komplex, der tiefere Einsichten über den Menschen als körperliches und sich bewegendes Wesen ermöglicht. Der Bereich, der den Körper und die Bewegung thematisiert, hilft bei der Wahrnehmung des menschlichen Wesens in seiner doppelten Verschränkung der Leiblichkeit. Er lässt Aussagen zu über die Funkti233 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports on und Bedeutung des Körpers. Gesundheit als umfassend zu erreichendes Ziel dient als Grundlage für die weitere Bildsamkeit. Das Spiel als Ausdruck einer primären Lebenskategorie ist eine Grundlegung für ein gelingendes Leben, die Leistung, verstanden als ‘freudiges Könnensbewußtsein’, dient dafür, ‘gesellschaftliche Herausforderungen’ besser meistern zu können und die Ästhetik schließlich beinhaltet die Empfindsamkeit des menschlichen Ausdrucks. Wenn es nun gelingt, diese Einzelphänomene mit dem Konzept der zeitgemäßen schulischen Allgemeinbildung so zu verbinden, dass sie in den einzelnen Aspekten wiederzuerkennen sind, dann hat man den bildenden, unverwechselbaren Beitrag des Schulsports herausgestellt und kann einzelne Inhalte immer wieder an dem Anspruch der ‘Allgemeinbildung’ überprüfen. Es deutet sich jedoch schon an dieser Stelle an, dass Sport nur in seiner Ganzheitlichkeit bildend wirken kann, und dass ein bloßes ‘Nachahmen’ des gesellschaftlich relevanten ‘großen Sports’ nichts mit dem gemein hat, was unter der Formel einer Bildung verstanden wird, die sich als oberstes Ziel setzen, die nachfolgende Generation zu einem verantwortbaren Umgang im Gesamtzusammenhang der Umwelt zu erziehen. Bedenkenswert ist allerdings, wenn Zitaten eine große Aktualität beschieden werden muss, die schon vor mehr als 35 Jahren Gültigkeit besaßen: „Es kann nicht bezweifelt werden, dass sich mit Hilfe von Gymnastik und Turnen das Verhältnis zum Leib ändern und gerade ein spannungsreiches Verhältnis bessern oder umstimmen läßt. Die Heilgymnastik macht davon schon lange Gebrauch, und gute Ansätze zu einer allgemeinen, die Kindesentwicklung begleitenden gymnastisch-rythmischen Förderung sind seit den Zwanzigerjahren entwickelt worden. Aber unsere Schulen sind, belastet durch den Drillsport der Vergangenheit, den Leistungssport der gegenwärtig herrschenden Turnrichtung und die dadurch erzeugten Aversionen gegen das Turnen im ganzen, leider meist entfernt von einer körperlich-geistigen Gesamterziehung, wie sie den Einsichten der heutigen Anthropologie in die leibseelische Ganzheit und Interdependenz entspräche“ (Flitner, 1963, S. 238). 234 Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung Gesellschaftlicher Aspekt von Bildung Körper und Bewegung Gesundheit Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen Spiel Leistung Lebenslanges Lernen Ästhetik und Gestaltung Abbildung 8: Die Darstellung macht die vielfältigen Beziehungen zwischen den Momenten der Allgemeinbildung und den sportanthropologischen Merkmalen deutlich. 235 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung 2. SCHULSPORT UNTER DER PRÄMISSE DER ALLGEMEINBILDUNG Wenn im Folgenden Kapitel der Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung behandelt werden soll, steht ausschließlich die Zielebene im Mittelpunkt des Interesses. Es ist nicht die Absicht der Arbeit, ein didaktisches Konzept vorzustellen, das die drei von Größing (1997, S. 29f) erarbeiteten didaktischen Ebenen durchleuchtet. Vielmehr sollen Grundlagen für sich anschließende inhaltliche Entscheidungen geschaffen werden, um zu prüfen, in wieweit der Schulsport einen bildenden Anteil im Gesamtsystem der Schule übernehmen kann. Das kann nur dadurch geschehen, dass schulische Ziele formuliert werden. Ob und wie diese dann umgesetzt und evaluiert werden, wäre die Aufgabe einer Folgearbeit, die dann das Allgemeinbildungskonzept als Ausgangspunkt nimmt und kritisch fortführt. In einer solchen Arbeit darf die genaue Prüfung aller drei Ebenen nicht mehr fehlen, hat aber im Bereich der Zielebene, die Ausgangspunkt aller didaktischen Überlegungen sein muss, schon eine Antwort gefunden. Damit schließe ich mich der Ansicht Wolfgang Klafkis (vgl. 1996, S. 88, 135) an, der das Primat der Lernziele betont, wobei er jedoch davor warnt, vorher festgelegte Lernziele bis ins Detail zu verplanen, um sie danach strikt zu verfolgen. Vielmehr sollen die Schüler dazu befähigt werden, kritisch nach dem Sinn des Unterrichts und der Unterrichtsziele zu fragen, Themen des Unterrichts auf ihre außerschulischen Erfahrungen, Interessen und Probleme beziehen zu können und eigene Fragen und Vorschläge in den Unterricht einzubringen. Ein solches Vorgehen wird nicht immer angestrebt. Stefan Größing (1997, S. 33) lehnt sich in seiner Einschätzung an Blankertz (1975) an und betont die Interdependenz zwischen Unterrichtswirklichkeit und Unterrichtstheorie, die in einer Wechselwirkung stehen156. 156 Größing ist dabei der Ansicht, dass eine Theorie des Sportunterrichts, die Praxis so vollständig als möglich erfassen will, ihre (die der Praxis) wichtigen Elemente und deren Relationen zueinander sowie das Interaktionsgeschehen und die Rahmenbedingungen analysieren, systematisieren und beschreiben muss. Nur so kann sie ein hochkomplexes Wirklichkeitsfeld strukturieren und es für den Praktiker überschaubar machen (vgl. Größing, 1997, S. 33f). 236 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Wenn in diesen Überlegungen das Primat der Lernziele betont wird, so bedeutet das jedoch nicht, dass zwischen Sportpädagogik und Sportdidaktik ein hierarchisches Ableitungsverhältnis angenommen wird. Wie bereits bei Prohl deutlich wird, entwickeln sich sportdidaktische Handlungsmodelle in der Praxis und dazugehörige sportpädagogische Reflexionen in einer eng verflochtenen Wechselwirkung, die nur zu analytischen Zwecken aufzutrennen sind (vgl. Prohl, 1999, S. 19). Die Aufgabe der Sportpädagogik als eine Begründungs-, Orientierungs-, Tatsachen- und Beratungswissenschaft ist es, Fragen nach dem Sinn und der Wirklichkeit des Handelns im Rahmen der Bewegungskultur unter Berücksichtigung der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen zu stellen (vgl. Prohl, 1999, S. 19). Die Fragestellung dieser Arbeit ist insofern sehr stark eingegrenzt, da sie sich auf den Problembereich der Schule beschränkt. Dennoch bleibt das Vorhaben gleich: um eine orientierende, beratende und begründete Hilfe für den Schulsport zu geben, mussten in einem ersten Teil die grundlegenden Aufgaben der Schule geklärt und abgegrenzt werden. Diese wurden in einem zweiten Schritt inhaltlich näher ausgeführt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Bildungsaufgabe den zentralen Bezugspunkt bildet, wobei sich die anderen Aufgaben darin wiederfinden. Eine Ausnahme stellt die Selektionsfunktion dar, jedoch liegt dies in erster Linie daran, dass die heutige Form der Zensurengebung nichts mit einer im Sinne der Allgemeinbildung gemeinten Selektion gemeinsam hat. Auf der Grundlage der schulischen Aufgaben ist es schließlich möglich, pädagogische Ziele für einen Schulsport zu formulieren, der im Rahmen der Schulfächer einen eigenen, von keinem anderen Fach zu leistenden Beitrag zu einer zeitgemäßen Allgemeinbildung leistet. Ausgangspunkt sind hierin anthropologische Überlegungen, die zum Einen aufzeigen, dass der Mensch ohne Körper und Bewegung nur unzureichend erfasst wird, zum Anderen gleichzeitig das den hier gemachten Aussagen zu Grunde liegende Menschenbild deutlich machen. Somit bleibt die Aufgabe, die anthropologischen Grundannahmen mit den Momenten einer zeitgemäßen schulischen Allgemeinbildung zu verbinden und festzustellen, an welchen Stellen der Schulsport wie verwirklicht werden muss, damit er allgemeinbildend im Sinne der hier dargestellten Ansprüche wirken kann. 237 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Im Folgenden werden die vier Momente der Allgemeinbildung beschrieben und daraufhin geprüft, inwieweit sich der Bewegungsaspekt in seinen Ausprägungen in dem vorgestellten Allgemeinbildungskonzept wiederfindet. Um auch hier den Anspruch des Realitätsbezuges zu unterstreichen, beginnt das Kapitel mit einem Exkurs, der die heutigen Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen beschreibt und auf den dann immer wieder Bezug genommen wird. Die ersten beiden Momente (Kap. 2.2 & 2.3) umschreiben in erster Linie mögliche Ziele, die ein solches Konzept verfolgt, das dritte Moment (Kap. 2.4) ist vor allen Dingen inhaltlicher und organisatorischer Art. Das vierte schließlich (Kap. 2.5) soll aufzeigen, dass ein Allgemeinbildungskonzept weit über die Schulzeit hinaus angelegt sein muss, um wirksam zu sein. Auch wenn die einzelnen Momente nacheinander behandelt werden, sind die für die Bewegung maßgeblichen Bedeutungen als übergreifend zu verstehen und können sich dabei auch wiederholen. Eine Zusammenführung und abschließende Bewertung soll dann am Schluss dieser Betrachtungen dazu führen, dass die Verschränkungen deutlich werden. 1. Exkurs: Zur Lebenssituation heutiger Kinder Ein Exkurs, der die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in wenigen Sätzen zu umschreiben versucht, kann nur unvollständig sein. Thiele spricht in Bezug auf Luhmann (1992) von Schlagworten (statt von Begriffen), die jeweils bestimmte und in der jeweiligen Perspektive dominante Merkmale der Gesellschaft herausheben (vgl. Thiele, 1996, S. 218). „Man mag diesen Zustand mit Luhmann kritisieren und bedauern, die Pädagogik bleibt, will sie nicht losgelöst von gesellschaftlichen Möglichkeiten agieren, auf solche Beschreibungen angewiesen“ (Thiele, 1996, S. 218). Für die Pädagogik ist es zwar wichtig, sich an den Zustandsbeschreibungen der Gesellschaft zu orientieren, offen bleibt, wie sie mit solchen Zustandsbeschreibungen umgeht. Denn den Gesellschaftsdiagnosen schließen sich ganze Bündel von Fragen an, denen 238 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung sich die Pädagogik einerseits kaum entziehen kann, die andererseits nur schwer zu beantworten sind: • Treffen die soziologischen Beschreibungen die gesellschaftliche Realität? • Beschreiben sie diese vollständig oder zumindest in wesentlichen Teilen? • Beschreiben sie die Wirklichkeit nur oder fließen bereits Wertungen mit ein? usf. (vgl. Thiele, 1996, S. 220f). Die Konsequenzen, die sich aus diesen Fragen für die Einbettung gesellschaftlicher Realität in ein Allgemeinbildungskonzept ergeben, liegen darin, dass ein solches Konzept sich auf möglichst allgemeingültige Aussagen beschränkt, die einen Konsens verschiedener Untersuchungen darstellen und versucht die zuvor gemachten Thesen mit der gegenwärtigen Realität in Einklang zu bringen. Neuere sozial- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungen gelangen in bemerkenswerter Übereinstimmung zu der Auffassung, dass sich die Bedingungen der kindlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten beträchtlich geändert haben. An den folgenden, in der Literatur immer wieder genannten Schlagworten, soll kurz aufgezeigt werden, wie sich die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen verändert und welche Auswirkungen dies auf einen allgemeinbildenden Schulsport hat. (1) Veränderte Familienformen. Erfahrungen im familialen Kontext sind ein wichtiger Baustein in der Lebens- und Erfahrungswelt von Kindern. Einerseits ist die Familie der Ort, an dem Kinder Liebe, Geborgenheit und Zuwendung erfahren, andererseits ist sie ein bedeutender Lernort, somit also auch grundlegend für eine erfolgreiche Bildungskarriere (vgl. Scheid & Seibel, 1999, S. 34). Gerade im familialen Kontext haben sich in den letzten Jahrzehnten Veränderungen ergeben, die sich auch auf den schulischen Bereich auswirken und somit im Bereich der Schulpädagogik beachtet werden müssen. • Ein Großteil der Familien hat nur noch ein Kind157. Durch den hohen Anteil an EinKind-Familien gibt es heute wesentlich mehr Einzelkinder als noch vor 25 Jahren. Eine Folge davon ist, daß immer weniger Kinder Erfahrungen mit Geschwistern im familiären Kontext machen können. Geschwister, wertvolle Spielpartner, mit denen man sich nicht extra verabreden muss, sind immer weniger vorhanden, so dass sich 157 1992 hatten 10,4% der Zwei-Eltern-Familien mehr als zwei Kinder, 39,7% dieser Familien hatten nur ein Kind (vgl. Hurrelmann, 1996, S. 6). 239 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung eine steigende Zahl von Einzelkindern aktiv um Partner bemühen muss. Eine Folge davon ist, dass Attraktivität und Aktivität zu gefragten Komponenten im Verhaltensrepertoire von Kindern werden. Dazu kommt, dass durch diese fehlenden Spielpartner auch Erfahrungen im Umgang mit Kindern unterschiedlichen Alters fehlen (vgl. Scheid & Seibel, 1999, S. 35). • In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mehr als verdoppelt158. • In der Bundesrepublik wird heute beinahe jede dritte Ehe geschieden159. Als Folge dieser Entwicklung erleben heute immer mehr Kinder die Trennung eigener Elternteile oder die der Eltern guter Freunde. Solche Trennungserfahrungen können die Ursache für die reale Angst vieler Kinder sein, geliebte Erwachsenen zu verlieren und bedeuten in der Regel Bedrohung oder eine tiefgreifende Unsicherheit. „Ihre Sehnsucht ist die Sehnsucht nach Verläßlichkeit, stabiler Liebe, Vertrauen, zugleich auch der Wunsch nach Akzeptanz ihrer Zuwendungswünsche, ihrer Angst, ihres Leidens“ (Hentig, 1975, S. 35). (2) Funktionalisisierung und Terminierung. Kinder leben heute in einer zunehmend funktionsgebundenen und spezialisierten räumlichen Umwelt. Große Teile ihres Lebensraumes sind Erwachsenenwelten, Kinder finden immer weniger freie Räume, die im nahen Wohnumfeld vielfältige Nutzungsformen zulassen160. Mit diesen räumlichen Veränderungen wurden die Grundsteine für die ‘Inselstruktur’ der räumlichen Umwelt gelegt, die den heutigen Kinderalltag entscheidend prägt. Die Lebensräume heutiger Kinder bestehen größtenteils aus differenten Funktionsräumen, die wie Inseln in der gesamten Wohnumgebung verstreut liegen (z.B. 158 1985 existierten nach Schätzungen im früheren Bundesgebiet 686.000 dieser Lebensgemeinschaften, 1995 waren es bereits 1.741.000. Im Jahr 1995 registrierte das Statistische Bundesamt 475.000 nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern (vgl. Statistisches Bundesamt, 1997). 159 1995 wurden im gesamten Bundesgebiet insgesamt 169.425 Anträge auf Scheidung der Ehe gestellt. 10.000 Eheschließungen stehen 3.066 geschiedene Ehen gegenüber, die eine Ehedauer bis zu 25 Jahren verzeichnen. Somit wird heute beinahe jede dritte Ehe geschieden. Unter allen geschiedenen Ehen waren 59.664 Ehegemeinschaften mit mindestens einem Kind (vgl. Statistisches Bundesamt, 1997). 160 Die Gründe hierfür sind vielfältig: Der wachsende Autoverkehr und die damit verbundene Gefährdung der Kinder hatten zur Folge, dass der Spielplatz ‘Straße’ immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Statt dessen wurden mehr öffentliche Kinder- und Abenteuerspielplätze sowie Sportanlagen eröffnet, die Außenbereiche erhielten spezielle Funktionen. An den Rändern der Städte entstanden Wohnsiedlungen verschiedenster Art. Durch diese Bauweise bildete sich eine ausgeprägte Monofunktionalität der Wohngegenden heraus: Das Wohnen wurde nahezu vollständig von Orten der Freizeit und des Konsums oder vom Arbeitsplatz isoliert, solche Siedlungen sind für viele Kinder anregungsarm. Zwar lassen sich seit den frühen achtziger Jahren gegenläufige Prozesse feststellen (verkehrsberuhigte Straßen, Renaturierungs- 240 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Schule, Sportverein, Musikschule). Die Zwischenräume gehören zum Lebensbereich der Erwachsenen und müssen durchquert werden, um von einer Insel zur nächsten zu gelangen. Eltern werden in ihrer Transportfunktion wichtig für das Inszenieren und Organisieren von sozialen Erfahrungsfeldern für ihre Kinder (vgl. Zeiher & Zeiher, 1994, S. 26ff). Der verinselte Lebensraum bringt auch ein neues Zeitraster moderner Kindheit hervor. Termine sind zu einem wichtigen Bestandteil des Kinderalltages geworden (vgl. Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 25ff). Solche Veränderungen in der Umwelt der Kinder führen dazu, dass Kindheit heute zunehmend in Binnenräume verdrängt wird. Familiale Veränderungsprozesse und die Tendenz der Institutionalisierung forcieren diese Entwicklung. Zinnecker (1990, S. 144) bezeichnet den Kinderalltag heute allgemein als ‘verhäuslicht’. (3) Mediatisierung der Kindheit. Kinder sind in ihrem Alltag auf vielfältige Weise mit Medien konfrontiert und in der Freizeitgestaltung haben Medien einen beachtlichen Stellenwert erlangt. Von den unterschiedlichen Medienformen greift das Fernsehen am massivsten in den kindlichen Alltag ein, es ist mittlerweile zu einem zentralen Bezugspunkt im kindlichen Alltag geworden. Hurrelmann (1996, S. 6) spricht dabei vom ‘Familienmitglied Fernsehen’, da es an zentralen Sozialisationsaufgaben der Familie beteiligt ist: Fernsehen bestimmt die Alltagsorganisation der Kinder, beeinflusst die Gestaltung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und vermittelt Informationen über die außerfamiliale gesellschaftliche Umwelt161. Ebenfalls einen hohen Stellenwert unter den technischen Geräten hat der Kassettenrecorder, der in vielen Familien an die Stelle des Vorlesens und Erzählens getreten ist. Dazu kommt, dass Kassettenhören gekoppelt ist mit weiteren Tätigkeiten und als vertraute Stimme im Hintergrund dient (vgl. Diskowski, Preissing & Prott 1990, S. 101f). Insgesamt betrachtet, zeigen Kinder im Alltag ein vielfältiges und differenziertes Me- maßnahmen, Rasenflächen, die betreten werden dürfen, usw.), dennoch sind die Veränderungsbedingungen kindlichen Aufwachsens deutlich erkennbar (vgl. Zeiher & Zeiher, 1994, S. 19ff). 161 Hurrelmann (1996, S. 6) betont jedoch auch, dass der Stellenwert des Fernsehens und die Art des Medienkonsums in einem Zusammenhang mit der Familienform steht und unterscheidet dabei zwischen Familien, in denen das Fernsehen problemlos in den Alltag integriert wird und solchen, in denen auf Fernsehregeln verzichtet wird. 241 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung dienverhalten, das geprägt ist von Abwechslung, Vielfalt der Aktivitäten und Tätigkeitswechseln162. Generell ist die Mediatisierung der Kindheit kritisch zu betrachten, denn in das Netz der Entwicklungs- und Lebensbedingungen schieben sich die Medien und der Kinderkonsummarkt als einflussreiche anonyme Instanzen. Aus deren Sicht werden Kinder als Konsumenten betrachtet, bewusste erzieherische Motive fehlen. Eng verbunden mit den hier beschriebenen Veränderungen in den Lebensbedingungen junger Menschen deuten Rolff & Zimmermann (1985, S. 135f) zusammenfassend den Wandel bezüglich der Aneignung von symbolischer und materieller Kultur anhand dreier Entwicklungslinien: 1. Reduktion der Eigentätigkeit, 2. Mediatisierung der Erfahrungen und 3. Expertisierung der Erziehung. Diese Entwicklungstendenzen haben auch unmittelbare Folgen bezüglich der Bewegungssozialisation. Prohl bemerkt diesbezüglich, dass - auch wenn man solche Untersuchungen kritisch betrachten muss - die Tendenz eindeutig ist: „Die Möglichkeiten primärer Bewegungssozialisation in der Kindheit, die Grundlage für alle darauf aufbauenden (z. B. sportiven) Bewegungsformen, werden ständig geringer“ (Prohl, 1999, S. 178). Durch die sich verändernden Sozialisationsbedigungen und den damit verbundenen Verlust traditioneller Sinngebungsinstanzen (dazu gehören unter anderem auch Familie und Schule) sieht Prohl auch Probleme in der Identitätsentwicklung junger Menschen: „Gerade junge Menschen stehen heute vor der existentiellen Notwendigkeit, eigene Identität zu entwickeln und zu stabilisieren, ohne in dem Maße auf vordefinierte soziale Sinnmuster zurückgreifen zu können, wie die Generationen vor ihnen. Diese gesellschaftliche Entwicklung ist deshalb ambivalent, weil dem damit verbundenen individuellen Freiheitsgewinn gravierende Orientierungsprobleme gegenüberstehen“ (Prohl, 1999, S. 178f). Seine zusammenfassenden Bemerkungen spiegeln bezüglich des Bewegungslebens jene hier bereits genannten Entwicklungstendenzen wieder: 162 Dennoch ist zu betonen, dass andere Aktivitäten wie Basteln, Malen, Freunde treffen etc. keineswegs von moderner Technik verdrängt werden (vgl. Diskowski, Preissing & Prott, 1990, S. 108). 242 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung • Reduzierung des Bewegungslebens und der Möglichkeiten des Erwerbs primärer Erfahrungen in der Kindheit, wodurch negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit entstehen. • Steigerung der Komplexität und Ausdifferenzierung der Gesellschaft, woraus eine zunehmende Umwertung und Individualisierung des Sports resultiert (vgl. Prohl, 1999, S. 179). (4) Die Wertigkeit von Sport in der heutigen Kindheit und Jugend. Wenn Kinder und Jugendliche über sich und ihr Verhalten Aussagen machen, dann zeigt sich zunächst, dass gerade der Sport eine nicht unerhebliche Rolle im Leben der Jugendlichen spielt. Brettschneider (1990, S. 13) kommt zu dem Schluss, dass sich kaum ein Jugendlicher der reichen Palette von sportiven Angeboten entziehen kann, weshalb er diesen als eine ‘jugendspezifische Altersnorm’ bezeichnet. Noch wichtiger scheint Sport im Leben der Präadoleszenten zu sein. Zusammenfassend sprechen Zinnecker & Silbereisen (1996) von einer ‘Versportung der Kindheit’: „Die Präadoleszenten unterscheiden sich von den Jugendlichen bzw. von jungen Erwachsenen durch die größere Verbreitung sportiver Praxen ebenso wie durch die von ihnen favorisierten Sportarten. Wir sind demzufolge berechtigt, von einer ’Versportung’ der Kindheit - als Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses dieser Altersphase - zu sprechen, die die ‘Versportung’ der Jugendphase deutlich übersteigt163“ (Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 107). Brinkhoff spricht diesbezüglich von einem steigenden Sportinteresse bei Kindern bis zum 14. Lebensjahr, danach verliert es an Bedeutung (vgl. Brinkhoff, 1990, S. 64). Insbesondere das Kinderspiel scheint sich im Zuge versporteter Kindheit zu wandeln, wobei Mädchen in gleicher Weise wie Jungen am Kindersport teilnehmen164 (vgl. Büchner, 1994; Zinnecker & Silbereisen, 1996). Für den in dieser Arbeit betrachteten Zusammenhang des Schulsports ist von Bedeutung, dass Sport als Hobby offensichtlich die schulische und außerschulische Handlungsebene verbindet. Ein wichtiger Bezugspunkt im Bereich des außerschulischen 163 Die Untersuchung von Zinnecker/ Silbereisen zeigt, dass bei den 10-13jährigen 80% sportbezogene Hobbys angeben. Dies sind deutlich mehr als bei Jugendlichen (48%) und Erwachsenen (40%) der Jugendstudie ’91. 164 Es muss bemerkt werden, dass es immer noch geschlechtsspezifische Sportarten gibt. 243 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Sports ist immer noch der Verein (vgl. Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 113). Andererseits scheinen neben der sozial-integrativen Komponente der Mannschaftssportarten, die besonders in Vereinen zum Tragen kommen, den ‘individualisierten und ästhetisierten Körpermodellierungen’, wie sie in Fitnesstudios vermittelt werden, eine besondere Rolle zuzukommen: „Individualität und Kollektivität sind sozusagen die Pole einer breiten Palette sozialer Modelle, die über den Sport vermittelt werden können“ (Zinnekker & Silbereisen, 1996, S. 137). Diesbezüglich zeigt jedoch die Shell-Jugendstudie 1997165 deutliche Abgrenzungsversuche von Jugendlichen gegenüber gesellschaftlichen Strukturen, die sich unter anderem an der Absage gegenüber längerfristigen Verbindlichkeiten zeigen. Explizit wird in diesem Zusammenhang auch die formelle Vereinsmitgliedschaft genannt (vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell, 1997, S. 20), die sich einer immer geringeren Beliebtheit erfreut: „Die jungen Leute bevorzugen Gruppenstile, die Spaß machen, Zerstreuung und Unterhaltung bieten, die unkomplizierten Umgang mit Gleichgesinnten ermöglichen, ohne dass man dabei längerfristige Verpflichtungen eingehen muß. [...] Die bereits in den 80er Jahren konstatierte abnehmende Kontrollfunktion tradierter sozialer Milieus zugunsten der ‘Szene’ geht mit den sinkenden Mitgliederzahlen in den traditionellen Vereinen und anderer Organisationen einher. [...] Dabei spielen noch immer Sportvereine die wichtigste Rolle“ (Jugendwerk der Deutschen Shell, 1997, S. 21f). In Bezug auf Sport als Schulfach kristallisiert sich deutlich heraus, dass es das mit Abstand am meisten genannte Lieblingsfach ist. Dabei ist es auch das einzige Schulfach, über das sich die Mehrheit der Schüler einig ist, wobei die Sympathie für Sport als Schulfach offensichtlich eng verzahnt ist mit der Sportnote166 (vgl. Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 124). b) Fazit Neben schulischen Erfahrungen sind solche im familialen Kontext von großer Bedeutung für die Entwicklung von Kindern. Die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogenen 165 Auch die Shellstudie bestätigt, dass die Freizeit für Jugendliche (untersucht wurden hier Personen im Alter zwischen 13 und 29 Jahren) nach wie vor eine große Rolle spielt. 166 Nach Zinnecker & Silbereisen (1996, S. 124ff) zählen etwa 2/3 der Schüler Sport zu ihrem Lieblingsfach. Es zeigt sich jedoch auch, dass das Schulfach Sport um so beliebter ist, je besser die Sportnote ausfällt. Im Vergleich zu den anderen Schulfächern liegt die Sportnote um ½ Note höher. 244 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Veränderungen im familiären Kontext haben insofern Auswirkungen auf den schulischen Bereich, als dass die Kinder mit anderen Vorerfahrungen in die Schule kommen. So kommen immer mehr Einzelkinder in die Schule, denen bisher wichtige Spielpartner gefehlt haben. Um diese zu finden, sind zunehmend ein aktives Aufeinanderzugehen und eine gewisse Attraktivität gefragt. Bezüglich der Freizeitgestaltung sind viele Kinder immer mehr in einen festen, terminierten Alltag eingebunden. Wichtige Freiräume für ungeplante Tätigkeiten werden immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Schließlich wachsen junge Menschen in einer Medienlandschaft auf, die zu einem nicht zu unterschätzenden Sozialisationsfaktor geworden ist. Der erhöhte Medienkonsum in Verbindung mit den immer geringer werdenden persönlichen Freiräumen bewirkt eine Reduktion der Eigentätigkeit und lässt immer weniger Primärerfahrungen zu. Diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen, die gerade für den Bereich der Schulpädagogik von Bedeutung sind. Bezüglich des Bewegungsverhaltens kann festgestellt werden, dass Sport in der heutigen Kindheit und Jugend eine wichtige Rolle spielt. Dies gilt vor allen Dingen für die Altersgruppe der 10 - 13-Jährigen, wobei auch danach der Einfluss nicht unterschätzt werden darf. Das hat Auswirkungen für den Schulsport, da das Schulfach ‘Sport’ allgemein als Lieblingsfach gilt. Außerschulisch gesehen ist der Sportverein immer noch der größte Bezugspunkt für die Kinder und Jugendlichen. Dabei darf jedoch die steigende Beliebtheit von ‘individualisierten und ästhetisierten Körpermodellierungen’, die nicht in Vereinen vermittelt werden, und die gleichzeitig zunehmende Ablehnung gegenüber formellen Vereinsmitgliedschaften nicht übersehen werden. Insgesamt scheint Sport und seine verschiedenen Ausprägungen ein nicht unerheblicher Einflussfaktor für die Entwicklung von Kindern und Jugendliche zu sein, der dann auch für bildende und somit erzieherische Zwecke genutzt werden kann. 245 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung 2. Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung a) Fachliche Fundierung und kritische Aufnahme gesellschaftlicher Realität „Die Aufgabe der Schule in einer Demokratie ist aus Kinder und Jugendlichen politikfähige, politikbereite und verantwortungsbewußte Menschen zu machen und die Kultur weiterzugeben - zusammen: der nächsten Generation zu helfen, in der Welt, in der sie leben, erwachsen zu werden“ (Hentig, 1993, S. 17). Noch einmal soll diese Aufgabenbestimmung Hartmut von Hentigs dazu dienen, in einem ersten Gedanken zu umreißen, was Schule leisten muss, um als zeitgemäß gelten zu können. Politikfähig, politikbereit und verantwortungsbewusst zu sein, bedeutet in erster Linie, die Gesellschaft, in der wir leben, zu verstehen. Das gilt auch für den Sport. Betrachtet man die Entwicklung des Sports im Allgemeinen, so kann man feststellen, dass er heute „mehr ist als eine frivole, belanglose Aktivität“ (Weiß, 1990, S. 9). Vielmehr, so führt Weiß weiterhin aus, ist er zu einem umfassenden Wert- und Sachvermittler mit ‘quasireligiöser Bedeutung’ (Weiß, 1990, S. 9) geworden. Dies gilt besonders in einer Gesellschaft, die sich durch Orientierungslosigkeit, Disparitäten und Leistungsorientierung kennzeichnet (vgl. Teil B, Kap. 1.2; Bönsch, 1994, S. 21). Wie sich gezeigt hat, ist der Mensch ein soziales Wesen und hierin das Ergebnis der Gruppe, der er angehört, womit sportliche Bewegungen im weitesten Sinn von sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst werden (vgl. Teil B, Kap. 1.2; vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 185). Ein Nachdenken über den Sport muss diese gesellschaftlichen Aspekte in Betracht ziehen, nicht zuletzt deshalb, weil die verschiedenen Ausprägungen des Sports und der Bewegung nicht außerhalb der Gesellschaft entstehen, sondern sich immer im Kontext jeweiliger sozialer Systeme entwickeln. Weiß bezeichnet ihn als einen Mikrokosmos der Gesellschaft, der im Rahmen des kulturellen Wertsystems und der sozialkulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft seine Ausprägungen erfährt (vgl. Weiß, 1990, S. 45). Gerade weil der Sport Bedingungen, 246 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Formen und Prozesse in sich vereint, die das soziale Leben in der modernen Gesellschaft prägen, dient er der Identitätsbildung: „Verlieren und Gewinnen, Aufstehen und Liegenbleiben, Konkurrenz und Kooperation, Miteinander und Gegeneinander, Leiden und Glücklichsein, Können und Nichtkönnen, Siegen und Verlieren, Erniedrigung und Erhöhung, Hochmut und Fall, Alte mit Jungen, alle gegen einen und einer gegen alle, Gemeinschaft und Individualismus, Masse und Vereinzelung, Dramatik und Ästhetik, Heroisches und Gemeines, Großzügigkeit und Egoismus, Betrug und Fairness, Kampf zwischen der Regel der Ritterlichkeit und dem Streben nach Leistung und Erfolg. Dies alles und vieles mehr gilt für den kleinen wie den großen Sport, für Beteiligte und Zuschauer“ (Weiß, 1990, S. 100 zitiert nach Grupe 1987). Weiß räumt dem Sport in diesem Punkt eine sehr große Bedeutung ein, wenn er sagt, dass die Werte und Verhaltensmuster, die im Sport angestrebt werden, dem gesellschaftlichen Handlungspotential nicht nur entsprechen, sondern darüber hinaus deutlicher als sonstwo sichtbar und erlebbar sind (vgl. Weiß, 1990, S. 100). Auch Krockow macht in Rückbezug auf Thomas Hobbes und Karl Marx167 deutlich, dass die Prinzipien der Industriegesellschaft durch den Sport weit besser zum Ausdruck gebracht werden können, als durch diese selbst (Krockow, 1972, S. 96). Solche Punkte sind für schulpädagogische Überlegungen relevant, denn eine Schule, die sich zum Ziel gesetzt hat, die gesellschaftliche Realität aufzunehmen und zu thematisieren, wird sich den Phänomenen des ‘modernen Sports’ nicht entziehen können. Dies gilt besonders dann, wenn, wie beispielsweise Zinnecker & Silbereisen feststellen, die Schule in den Augen der jungen Menschen zunehmend an Sinn verliert: „Der Bedarf an der Sinnwelt Freizeit ist deshalb so groß, weil die für die Kindheit zuständige Institution Schule seit längerem an Sinnverlust leidet und eine entsprechende Funktion nur noch für relativ wenige Kindergruppen auszufüllen vermag. Hinzu kommt eine Abschwächung der statusverleihenden Bedeutung des Schulbesuchs im Rahmen der Bildungsexpansion“ (Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 42). Hier trifft man nun auf die Argumente, die Anfang der 70er Jahre zur sogenannten ‘realistischen Wende’ in der Sportpädagogik (Heinrich Roth) geführt haben: Der Schulsport orientierte sich damals zunehmend am außerschulischen Sport, insbesondere an seiner 247 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung leistungs- und freizeitorientierten Ausprägung. In der Begründung trat dabei das pädagogische Argument zurück und der Sport als gesellschaftliches Phänomen hervor. Bis heute sind die in jenen Jahren vorgenommenen Veränderungen im Alltag des Schulsports deutlich sichtbar: Die eigentlichen Inhalte sind die klassischen Sportarten, ausgedrückt durch den Kanon der Schulsportarten. Dem angepasst wurde die Ausstattung der Sporthallen. Dazu kommt schließlich die immer noch anhaltende, einseitig auf sportartenspezifische Fertigkeitsausbildung ausgerichtete Sportlehrerausbildung, besonders deutlich erkennbar bei den Studieninhalten bezüglich der Sekundarstufe 2. Es zeigt sich also, dass diese Überlegungen in seiner einfachsten Maxime darauf beruhten, dass der Schulsport ausschließlich der Qualifikation der Schüler für den gesellschaftlichen Sport zu dienen habe. Seinen prominentesten Vertreter findet heute dieser Zugang in Wolfgang Söll, der die Begründung für den Sportunterricht auf das Fundament des Gesellschaftsbezuges aufbaut. Da der Sport einen wesentlichen Teil unseres gesellschaftlichen und kulturellen Teil repräsentiere, sollten sich die pädagogischen Ziele des Sportunterrichts nicht durch ‘vorgegebene gesellschaftspolitische oder pädagogische Positionen’, wie zum Beispiel Gesundheit oder soziales Lernen, ablenken lassen, sondern an der Eigenstruktur, der ‘Sache’ des Sports orientiert sein. Weiterhin kommt Söll auf sein Sportverständnis zu sprechen, wenn er sagt, dass Sport - verstanden als ein recht abstrakter Begriff, der sich nur schwer definieren lässt - allenfalls ein Phänomen ist, das sich selbst genügt und folgenlos ist. In seinen Augen ist er motorische, ganzkörperliche Aktivität, auf Optimierung angelegt und somit zur Offenlegung der Leistungskomponenten verpflichtet. „Sport ist nicht das Ganze der Bewegungskultur168, aber ein umfangreicher, bedeutender und für unser Gesellschaftssystem kennzeichnender Ausschnitt daraus“ (Söll, 1996, S. 35). Söll verwehrt sich jedoch gegenüber der Annahme, dass der in diesem Sinne durchgeführte Sportunterricht einseitig auf das Wettkampfrepertoire der Sportfachverbände reduziert wird. Vielmehr sollen auch die Ansprüche des Schülers auf Entwicklung und 167 Zwar sieht Hobbes zweihundert Jahre vor Marx hier ein primär politisches und dieser ein ökonomisches Problem, in beiden Fällen geht jedoch es um die Macht, ausgedrückt durch Konkurrenz, Kampf und Überbietung. 168 Auf den Terminus der Bewegungskultur geht er nicht näher ein; eine begriffliche Klärung findet jedoch noch in diesem Kapitel statt. 248 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Förderung seiner körperlichen Fähigkeiten berücksichtigt werden. Somit ergeben sich zwei Richtziele: 1. Dem Ziel der Bewegungsbildung, das die Einführung der Schüler in die Bewegungskultur der Gesellschaft anstrebt. 2. Die Körperbildung, verstanden als Gewährleistung einer allgemeinen körperlichsportlichen Ausbildung (vgl. Söll, 1996, S. 38). Das hier beschriebene Verständnis von Bildung zeigt den Aspekt des fachlichen Könnens auf, der in dem in Teil B, Kap. 1.2 beschriebenen Allgemeinbildungskonzept einen festen Platz einnimmt. Fachliches Können meint die Befähigung der Schüler, sich bewegen und die verschiedensten Aspekte von Sport und Bewegung selbst nachvollziehen zu können. Dabei handelt es sich zunächst um das Erlernen objektivierter Techniken (wie zum Beispiel das Kraulschwimmen) und Handlungssysteme (wie zum Beispiel das Volleyballspiel). „Da die Annäherung an die Techniken und Handlungssysteme des Sports vorwiegend durch motorisches Lernen und Training erfolgt, sind Bewegungsund Trainingswissenschaft verständlicherweise die wichtigsten Grundlagendisziplinen, [...]“ Bielefelder Sportpädagogen, 1993, S. 16). Besonders im Bereich der Handlungssysteme sind neben dem motorischen Lernen noch weitere Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Spielfähigkeit, notwendig, um sie funktionieren zu lassen. Gleichwohl wird deutlich, dass eine solche Auffassung von einem komplexen, hier favorisierten Bildungsbegriff noch sehr weit entfernt ist. Söll verwehrt sich ausdrücklich gegen eine Überfrachtung des Schulsports und minimiert seine Ansprüche darauf, dass „Schüler irgendwann, und zwar möglichst bald, auch ‘richtig’ Sport treiben, beispielsweise Handball spielen, wie sie es vom Verein oder Fernsehen her kennen“ (Söll, 1996, S. 39)169. Selbst wenn der Ausgangspunkt seiner Überlegungen in den Mittelpunkt des Interesses rückt, nämlich dass die Schüler in die Bewegungskultur der Gesellschaft eingeführt werden sollen, sind hier vielfältige Ausdifferenzierungen nicht enthalten, die jedoch wie bereits erläutert - einen immer bedeutenderen Teil des gesellschaftlichen Lebens darstellen: 169 Söll steht natürlich mit dieser Auffassung nicht alleine da. Im Bereich der allgemeinen Pädagogik vertritt Hermann Giesecke eine ähnliche Haltung, wenn er sagt, dass die Schule ihrer eigentlichen Aufgabe 249 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung „Es wäre unrealistisch zu glauben, dass der Bereich der Bewegungskultur außerhalb dieser gesellschaftlichen Entwicklung stehen würde. Auch er unterliegt dem Prozeß der Multiplikation von Möglichkeiten. Allerdings liegt der organisierte Sport hierbei schon lange nicht mehr an der ‘LeadingEdge’ dieser Entwicklung. Viel dynamischer und rascher als im organisierten Sport entwickeln sich Körper- und Bewegungspraktiken außerhalb der Vereine“ (Becker & Fritsch, 1998, S. 24). Becker & Fritsch kennzeichnen diese Entwicklung als die ‘neue Unübersichtlichkeit’ gepaart mit dem Bedürfnis der ‘Fitness ohne Ende’ (vgl. Becker & Fritsch, 1998, S. 25). Weiterhin bezeichnen sie den Sport als Markt und vergleichen ihn mit anderen Märkten, auf denen heute Waren beschleunigt umgeschlagen werden: „So ist das Fitneßstudio zu einem Markt und Umschlagsort von immer neuen und doch ewig gleichen Körperstilen und Körperaktivitäten geworden. Die Rationalität des Marktes verlangt die unermüdliche Herstellung von Angeboten, die einerseits die Nachfrage nach den Körpererlebnissen befriedigen und andererseits die Bedürfnisse für neue zukünftige Angebote offen halten“ (Becker & Fritsch, 1998, S. 28). Schulpädagogisch entscheidend sind hierbei nicht die einzelnen Ausprägungen, in denen sich eine solche Bewegungskultur zeigt, sondern das Netz von Wertgefühlen und Motiven, die zur Teilnahme daran führen: Körperliche Attraktivität, Jugendlichkeit, Schönheit, Selbstdarstellung usw. sind die Ideale, die den Fitness- und Gesundheitssuchern einen Teil des Lebensgefühls und des aufregenden und schnellen Lebensstils suggerieren. Aus diesem Grunde ist die Thematisierung neuer, alternativer Formen der Bewegung auch für die Schule relevant. Im Rückbezug auf die in diesem Teil (Kap. 1) thematisierten anthropologischen Grundannahmen zeigen sich neben dem zugrunde liegenden Körper- und Bewegungsbild auch die anderen Einzelphänomene deutlich: im Bereich der Gesundheitsdiskussion ist es vor allen Dingen das aktuelle Wohlbefinden, das sich hier als Motiv zeigt (vgl. Schlicht, 1995, S. 25), im Bereich der Spiele sind dies hierbei solche, die am ehesten der Kategorie ‘Illinx/ Ludus’ zuzuordnen sind (vgl. Kap. 1.1.3 dieses Teiles; Deutsche Sportjugend, 1995, S. 34; Becker & Fritsch, 1998, S. 35) und auch der Leistungsaspekt beraubt wird, wenn sie auch ‘erzieherische Aufgaben’ übernehmen müsse, die aus dem ‘sozialpädagogi- 250 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung wird deutlich, wenn in den Fitnessstudios mit Simulationen gearbeitet wird, die den Sportler beispielsweise bei Wettkämpfen ‘großer Sportereignisse’, wie den Giro d`Italia partizipieren lassen (vgl. Becker & Fritsch, 1998, S. 30). Wenn also der Anspruch eines zeitgemäßen Allgemeinbildungskonzept lautet, dass die gesellschaftliche Realität ihren Platz finden muss, so können diese Erscheinungen der Bewegungskultur nicht von der Schule ignoriert werden, wie dies beispielsweise Größing (1997, S. 42f) vorschlägt. Denn wenn er meint, dass sein Konzept der Bewegungskultur nicht nach jenen ‘spaßmachenden und anstrengungsarmen Spiel- und Tanzformen einer alternativen Sportkultur’ strebt, sondern die Motive Ausdruck und Körpersprache in durchaus traditionellen Bewegungshandlungen findet (vgl. Größing, 1997, S. 43), dann werden hier Motive ausgeblendet, die bei heutigen Jugendlichen offensichtlich sehr hohe Bedeutung finden (vgl. Kap. 2.1 dieses Teiles) und einen festen Teil ihres Lebens ausmachen. Schule wird dagegen nur dann als Teil der Lebenswelt170 von Kindern und Jugendlichen akzeptiert werden, wenn sie auch versucht, ernsthaft auf diese einzugehen. Entscheidend ist dabei, dass eine solche Aufnahme gesellschaftlicher kritisch geschieht, wie dies Wolfgang Klafki fordert: „Die Formel ‘Bildungsfragen sind Gesellschaftsfragen’ besagt dann: der Bildungstheorie und der Bildungspraxis werden die Möglichkeit und die Aufgabe zugesprochen, auf gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen nicht zu reagieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten jedes jungen Menschen der nachwachsenden Generation, ..., zu beurteilen und mitzugestalten“ (Klafki, 1996, S. 51). Dabei warnt er jedoch davor, die Einflussmöglichkeiten der Erziehung hierbei zu überschätzen und macht deutlich, dass eine solche Thematisierung kritisch erfolgen muss, „da wir die Weiterentwicklung dieser industriellen Gesellschaft nicht im Sinne eines unkritischen, technisch-ökonomisch bestimmten Fortschrittsoptimismus betreiben können“ (Klafki, 1996, S. 51). schen Bereich’ stammen (vgl. Giesecke, 1996, S. 319ff). 170 Wie die Denkschrift der Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’ deutlich macht, wird Lernen zukünftig auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen bezogen werden müssen, damit diese ‘intelligentes Wissen’ erwerben können, was wiederum der Ausgangspunkt der Identitätsbildung ist (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. 107ff; Teil A, Kap. 5). 251 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Eine solche kritische Beurteilung gilt nicht nur für alternative Bewegungskulturen, sie gilt auch für den traditionellen Sportartenkanon. Um so mehr, da in der Öffentlichkeit Sport mit Sportart und Wettkampf gleichgesetzt wird. Entscheidender Faktor sind hierfür die Medien, die gerade dieses Sportbild vermitteln: „Im öffentlichen Sprachgebrauch ist Sport mit Sportart und Wettkampf gleichgesetzt, die Informations- und Unterhaltungsmedien vermitteln dieses und kein anderes Sportbild, und die Sportlehrer in den Schulen verwenden oder verschwenden keine Zeit, über den Sportbegriff nachzulesen oder nachzudenken, sondern greifen auf die ihnen vertrauten oder vom Lehrplan nahegelegten Sportarten zurück“ (Größing, 1997, S. 41f). Hieran zeigt sich auch, was Huizinga meint, wenn er davon spricht, dass das sportliche Spiel zunehmend an reinem Spielgehalt verliert (vgl. Kap. 1.3 dieses Teiles; Huizinga, 1987, S. 213). Um dies zu vermeiden, muss eine Thematisierung des Schulsports, ebenso wie dies bei den alternativen Bewegungskulturen gilt, mit Hilfe der anthropologischen Grundannahmen geschehen: • Welches Körper- und Bewegungsbild vermittelt ein solches Sportverständnis? • Welches Gesundheitsbild liegt ihm zugrunde? • Wie werden Spiel und Leistung beurteilt? • An welchen Stellen finden ästhetische und gestalterische Momente Berücksichtigung? Voraussetzung einer kritischen Beurteilung ist jedoch, dass die Schüler über das notwendige Fachwissen verfügen. Der Erwerb der fachlichen Qualifikation als eine wesentliche Säule des schulischen Auftrages wird in der Schultheorie nicht angezweifelt (vgl. Teil A). Im Bereich des Sports ist unter dem notwendigen Fachwissen zu verstehen, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie kritisch über die verschiedenen Erscheinungsformen der modernen Sportund Bewegungskultur (alternative oder wettkampfbetonte Erscheinungen) urteilen sollen, diese auch selbst kennenlernen. Grundlagen sind die hierbei immer auch objektivierte Techniken und Handlungssysteme. Dies entspricht den Forderungen von Dietrich Kurz, wie er sie in seinem ‘pragmatischen Konzept der Sportdidaktik’ formuliert hat (1990, 1995). Zunächst einmal geht er bei 252 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung seinen Elementen des Schulsports auch davon aus, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen, unter denen der Sport stattfindet, unbedingt berücksichtigt werden müssen: „Für die heutige Praxis des Faches in der Schule ist die enge Bindung an das gesellschaftliche und kulturelle Phänomen Sport als entscheidende Gegebenheit anzusehen, die sich offensichtlich auch gegen andersgerichtete Theorien durchgesetzt hat. [...] Sport in der Schule wird also mit dem Blick auf den Sport außerhalb von ihr konzipiert; er gewinnt seine Elemente aus ihm und bereitet auf ihn vor. [...] Schulsport soll also zunächst und vor allem die Fähigkeit der Schüler entwickeln helfen, im Feld des Sports zu handeln“ (Kurz, 1990, S. 58f & 61). Wenn Kurz von einer pragmatischen Didaktik spricht, meint er, „dass sie die in Schule und Unterricht für unser Fach gegebenen Bedingungen ernst nimmt. Und unter diesen Bedingungen ist eine sehr mächtige, dass es Sportarten gibt. Es gibt sie in den Köpfen der Schüler - zumindest durch die Medien - es gibt sie in den Köpfen der Lehrer durch ihre eigene Erfahrungen und die Organisation ihrer Ausbildung, es gibt sie auch durch die Ausstattung unserer Fachräume in den Schulen“ (Kurz, 1995, S. 43). An dieser Stelle macht Kurz deutlich, dass Handlungsfähigkeit auch Fähigkeit zum Handeln in relevanten Lebensbereichen bedeutet. Dabei geht es ihm in erster Linie jedoch nicht darum, das Gemeinsame des Sports, also sein Wesen exemplarisch herauszuarbeiten, sondern er versucht, die Vielfalt und die Verschiedenartigkeit des Sports in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Auf dieser Grundlage soll dann das didaktische Problem der Auswahl von Unterrichtsinhalten angegangen werden: Welche sind die sportlichen und sportbezogenen Qualifikationen, die der Schulsport ausbilden soll (vgl. Prohl, 1999, S. 110; Kurz, 1990, S. 62; Kurz, 1995, S. 45)? In Beantwortung dieser Frage unterscheidet Kurz drei Situationsspezifika des Sports, die er mit ‘Bewegung’, ‘Interaktion’ und ‘Sinn’ umschreibt. Bezüglich des Sinnaspektes unterscheidet Kurz insgesamt sechs Sinnrichtungen, die den Befunden empirischer Motivationsuntersuchungen zum Sporttreiben entstammen: Leistung, Spannung (im Spiel, aber auch im Wagnis), Soziales Miteinander, Fitness und Gesundheit, Besondere Erfahrungen mit dem Körper, Ausdrucksqualität von Bewegungen171. 171 Ausführlich werden diese Sinnrichtungen beschrieben in: Kurz (1990): Elemente des Schulsports (S. 85 -104). Schorndorf: Hofmann. 253 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Prohl (1999, S. 113) fasst die pragmatische Sportdidaktik, wie sie Kurz vertritt, dahingehend zusammen, dass sie die Schüler befähigen will, die vorgefundenen und angebotenen Formen des Sports auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen und in ein individuelles Lebenskonzept einzuordnen. Sportunterricht hat die Aufgabe, den Schülern solche Sinnperspektiven des Sports erfahrbar zu machen, die für ihr Leben bedeutsam sein könnten. Dabei sollen sie lernen, aus der Vielfalt sportlicher Sinnbezüge einige ihnen angemessene Formen zu finden und diese im eigenen Handeln befriedigend und lebensbereichernd zu verwirklichen. Der Aspekt der inhaltlichen Auswahl beinhaltet für individuelles Sporttreiben auch die kritische Auseinandersetzung mit den einzelnen Sinnbezügen. Dadurch, dass es Kurz jedoch mehr auf die Vielfalt, statt auf die exemplarisches Herausarbeitung von immanenten Wesensbezügen ankommt, kommt der kritischen Aufnahme gesellschaftlicher Realität nur eine untergeordnete Rolle zu. b) Die Problematik der inhaltlichen Überfrachtung Dazu kommt, dass die von Kurz geforderte Vielfalt Anforderungen an den Schulsport stellt, die dieser niemals wird erfüllen können. Dieser Eindruck wird im Folgenden verstärkt werden, wenn sich das Konzept der schulischen Allgemeinbildung weiter ausdifferenziert. Um dieser Gefahr der inhaltlichen Überfrachtung vorzubeugen, fordert Wolfgang Klafki eine Konzentration auf epochaltypische Themen (vgl. Klafki, 1996, S. 56ff; Teil B, Kap. 2.1). Die Argumentation für die Aufnahme solcher Themen in die Schule wurde bereits in Teil B ausführlich dargestellt und soll zum besseren Verständnis an dieser Stelle nur noch einmal skizzenhaft wiederholt werden. Zunächst einmal hilft die Beschäftigung mit solchen Schlüsselproblemen, ein differenziertes Problembewusstsein zu entwickeln, um daraus erste Handlungserfahrungen zu gewinnen. Dabei geht es nicht um die Festlegung auf eine einzige Sichtweise, sondern darum, Phänomene unserer Zeit diskutieren zu können. Ein Anspruch auf Vollständigkeit ist dabei nicht unbedingt notwendig, da die Thematisierung einzelner Schlüsselprobleme exemplarischen Charakter haben soll (vgl. Kap. 2.4 dieses Teiles). Es geht also darum, den Blick für gegenwärtige gesellschaftliche Erscheinungsformen zu schärfen und Möglichkeiten zu entwickeln, diesen zu begegnen. Die Beschäftigung mit epochal254 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung typischen Schlüsselpoblemen soll helfen, folgende Fähigkeiten bei den Schülern zu entwickeln und zu schulen: 1. Kritikbereitschaft und -fähigkeit einschließlich der Selbstkritik. 2. Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit. 3. Empathie. 4. Vernetztes Denken. Wenn dies mit exemplarischen Beispielen tatsächlich gelingt, dann ist nicht nur der Forderung des ersten Motivs des dargestellten Allgemeinbildungkonzeptes (kritische Aufnahme der Realität und Fachwissen) genüge getan, sondern es werden auch Forderungen in das Konzept aufgenommen, wie sie bei den Vertretern derjenigen didaktischen Konzepte gestellt werden, die die ‘pädagogische Umwandlung gesellschaftlicher Anforderungen’ (vgl. Prohl, 1999, S. 140) in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen. c) Fazit Soll sich eine zeitgemäße Bildungspraxis an den Grundstrukturen der Gesellschaft orientieren, so ist zunächst einmal festzuhalten, dass der Sport im Leben der Kinder und Jugendlichen eine wesentliche Rolle spielt. Insbesondere bei den 10 - 13-Jährigen sprechen Zinnecker & Silbereisen (1996) von einer ‘Versportung der Kindheit’, wobei auch danach dieser Einfluss nicht unerheblich ist. Im außerschulischen Sport bilden einerseits die Vereinsmitgliedschaft, andererseits eine individualisierte Sportpraxis ohne feste Verpflichtungen die Pole der Sportpraxen Jugendlicher. Dabei muss jedoch betont werden, dass gerade die Vereinsmitgliedschaft in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung verliert. Für die schulische Bildungspraxis ist die Erkenntnis relevant, dass durch den Sport Werte und Verhaltensmuster deutlich werden, die dem ‘gesellschaftlichen Handlungspotential’ entsprechen. Weiß spricht in diesem Zusammenhang von einem Mikrokosmos der Gesellschaft (vgl. Weiß, 1990, S. 100). Richtziele für die Aufnahme des gesellschaftlichen Aspektes in ein Konzept der schulischen Allgemeinbildung sind zum Einen die Thematisierung der in der außerschulischen Sportpraxis existenten Sportarten - vertreten durch den traditionellen Sportartenkanon, aber auch durch alternative Bewegungsformen - zum Anderen ihre kritische Reflexion. 255 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Um dem Vorwurf der inhaltlichen Überfrachtung zu entgehen, ist es wichtig, geeignete Inhalte auszuwählen, die exemplarischen Charakter haben. Durch diese Inhalte soll der Blick für gesellschaftliche Erscheinungsformen geschärft und den Schülern Möglichkeiten aufgezeigt werden, diesen zu begegnen. Dabei sind einerseits die 5 anthropologischen Grundannahmen zu beachten, andererseits die beiden Pole, die Zinnecker & Silbereisen (1996, S. 137) mit ‘Individualität und Kollektivität’ umschreiben. 256 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Abbildung 9: Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung. 257 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung 3. Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen a) Die Einordnung der verschiedenen Kompetenzen in das Konzept schulischer Allgemeinbildung (1) Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Gemeinschaftlichkeit. Es wird immer deutlicher, dass schulische Allgemeinbildung die Identitätsentwicklung der Schüler mehr und mehr berücksichtigen muss, wenn sie die jungen Menschen auf ihre Aufgabe als kritische Staatsbürger vorbereiten will. Die bereits angesprochene Doppelfunktion der Schule mit ihren beiden Polen kristallisiert sich auch auf der Ebene des Schulsports immer stärker heraus: auf der einen Seite steht die Ausrichtung an gesellschaftlichen Bedürfnissen, auf der anderen Seite die Ausrichtung an den jeweils zu unterrichtenden Individuen (vgl. Prohl, 1999, S. 87f). Helmut Fend nennt diese Pole einerseits die schulische Aufgabe der gesellschaftlichen Reproduktion und andererseits die der Konzentration auf die Persönlichkeitsbildung (vgl. Fend, 1980, S. 7; Teil A, Kap. 5). Hier setzt seine Kritik ein, wenn er davon spricht, dass in dem gegenwärtigen Bildungssystem wichtige ethische Traditionen institutionell nicht verankert sind (vgl. Fend, 1980, S. 161). Hierunter fällt auch das ‘Humanprinzip’, nachdem der Selbstwert der Person, der Selbstwert seines intellektuellen Strebens und die Unverletzbarkeit der Person im Mittelpunkt stehen. Gegen Ende seiner Ausführungen fordert er schließlich, dass es in Bildungsinstitutionen im besonderen Maße darum gehen muss, „Heranwachsende zu befähigen, ein selbstverantwortliches und glückliches Leben zu führen und ihre Einsicht und Handlungsfähigkeit zu stärken, um an der Erhaltung jener sozialen und politischen Bedingungen mitzuarbeiten, die ein selbstverantwortetes und glückliches Leben aller garantieren“ (Fend, 1980, S. 383). Diese Forderung muss von jedem Schulfach, also auch vom Sportunterricht, als ein zentraler Punkt aufgegriffen werden. Auch Wolfgang Klafki ist dieser Ansicht, wenn er sagt, dass Sport in der Schule primär als Hilfe zur Selbstbildung und Selbstfindung des jungen Menschen im Medium der Bewegung verstanden werden sollte. Damit meint er die Ermöglichung individueller Entwicklungsprozesse sowie die Ermöglichung der Fähigkeit, schrittweise Interessensschwerpunkte auszubilden und reflektierte Entscheidungen zu treffen. Voraussetzung für eine solche Schwerpunktlegung im Sportunterricht ist die vorangegangene sportliche Grundbildung mit vielfältigen An258 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung geboten und Aufgabenstellungen, die die Interessenbildung bei den Schülern erst ermöglichen (vgl. Klafki, 1992, S. 12). „Meine Überlegungen laufen darauf hinaus, den Sportunterricht in dem Sinne zu reformieren, dass er einen Beitrag zur Humanisierung der Schule bilden kann. [...] Zu den Bedingungsfaktoren für die Entwicklung eines solchen Schulklimas gehört es, dass man sich bis zu einem erheblichen Grade von falschen, unpädagogischen Leistungsmaßstäben befreit hat. [...] Ich halte eine Schule für wünschenswert und im Prinzip für möglich, in der Schüler in erheblichem Umfang selbst darüber entscheiden können, ob sie sich mit ihren ‘Leistungen’ an den üblichen, objektivierenden Maßstäben messen lassen wollen oder nicht, auch im Sportunterricht“ (Klafki, 1992, S. 12f). Wenn sich Wolfgang Klafki an dieser Stelle gegen den Leistungsbegriff ausspricht, dann geschieht das deshalb, weil seiner Ansicht nach der Leistungsbegriff im Sportunterricht, wie in anderen Fächern auch, dominant konkurrenzorientiert verstanden wird. „Dagegen taucht der Gedanke, es als ‘Leistung’ zu betrachten, wenn Schüler die Fähigkeit entwickeln, kommunikative Beziehungen im Sport zu praktizieren, sich partnerschaftlich zu verhalten, sich auf Mitspieler einzustellen, mannschaftsdienlich zu spielen u.ä. selten oder gar nicht auf. Entsprechend gerät bei der üblichen Leistungsbeurteilung auch der ganzheitlich-ästhetische Aspekt aus dem Blickfeld“ (Klafki, 1992, S. 13). Es geht ihm hierbei ausdrücklich nicht um die Abschaffung der ‘Leistungssportarten’ zugunsten spielerisch-tänzerischer Ausrichtung, sondern eher um die Erweiterung des Spektrums. Wenn ein Schüler den Wettkampf ablehnt und statt dessen individuellere Möglichkeiten sucht, ist das noch kein Ausdruck völliger ‘Unverbindlichkeit’. Es wird lediglich ein individueller Orientierungs- und Leistungsmaßstab angesprochen und akzeptiert. Diese Auffassung entspricht einerseits dem von Hecker geprägten Begriff der individuellen Bezugsnormorientierung (vgl. Hecker, 1996, S. 141; 1997, S. 116f), andererseits auch den gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen (vgl. Kap. 2.1 dieses Teiles). Klafki wehrt sich in diesem Zusammenhang gegen eine Überfrachtung des Sports mit Inhalten, die ihm nicht entsprechen: „Deshalb habe ich mich schon früher dagegen gewendet, Sport zum Beispiel primär als Mittel zur moralischen oder politischen Erziehung oder der Gesundheitserziehung zu benutzen“ (Klafki, 1992, S. 18). Zwar hat Sportunterricht auch immer etwas mit Gesundheitserziehung zu tun, der ei259 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung gentliche Sinn im Sport liegt seiner Ansicht nach jedoch darin, dass man seinen eigenen Körper lustvoll, freudvoll erfahren und erproben kann, nach dem Motto des ‘Leisten können, ohne leisten zu müssen’172. In diesem Sinne sieht Klafki die sport-, bewegungsoder körperspezifische Auslegung des Selbstbestimmungsprinzips. Der hier zu Grunde liegende Leistungsbegriff zielt darauf ab, dass der junge Mensch im Schulsport lernt, selbst zu bestimmen, an welchen Kriterien er sein sportliches Handeln orientieren will. Auch Prohl votiert für eine Gleichgewichtung der beiden Aspekte von Bildung (Individualität und Gesellschaftlichkeit), wenn er von der fruchtbaren Perspektive der Verknüpfung von prozessualen und strukturellen Merkmalen spricht173 (vgl. Prohl, 1999, S. 179f). In Bezug auf den prozessualen Aspekt der Bildung, der bei der Erlangung verschiedener Kompetenzen wie Selbstbestimmung, Mitbestimmung oder Gemeinschaftlichkeit im Zentrum der Überlegungen steht, sieht Prohl die Kategorie der Erfahrung als entscheidend. (2) Erfahrung als Ausgangspunkt der selbstbestimmten Identitätsbildung. Zunächst einmal unterscheidet sich Erfahrung von kognitivem Wissen vor allen Dingen dadurch, dass sie nicht weitergegeben oder gelehrt werden kann. „Jeder Mensch muß seine Erfahrungen selbst, am eigenen Leibe, machen. Ausgangspunkt der Erfahrung ist zumeist das Wahrnehmen eines herausfordernden, auffälligen oder auch störenden Tatbestandes, der das bekannte und gewohnte Verhältnis zur Umwelt in Frage stellt. In der Wahrnehmung von etwas Ungewohntem unterscheidet sich Erfahren und Erleben“ (Prohl, 1999, S. 180). 172 Siehe hierzu die Ausführungen in Kap. 1.4 dieses Teiles. Hier bezieht er sich auf die Instrumentalisierungs-Kontroverse, insbesondere auf die Beiträge von Bekkers (1987; 1993) und Schaller (1992). Ausgangspunkt ist die Kritik Beckers, dass sich die Sportdidaktik zu sehr an dem gesellschaftlich-kulturellen System Sport mit seinem Norm- und Wertsystem, wie es durch Institutionen repräsentiert wird, orientiert (vgl. Beckers, 1993, S. 254). Dadurch entzieht sich die Sportdidaktik seiner Ansicht nach jedoch der erzieherischen Verantwortung (vgl. Beckers, 1993, S. 255). Diese besitzt unter dem Ziel ‘Förderung des Menschlichen’ eine ‘Subjekt-Perspektive’ (im Gegensatz zu einer ‘Sach-Perspektive’), was bedeutet, dass im Mittelpunkt der Überlegungen der Mensch steht. Stellenwert und Sinn von Sport oder Bewegung ergeben sich aus den Sozialisations- und Lebensbedingungen der ‘Rezipienten’. „Unterstützt werden soll die Suche nach Sinnfindungen für das individuelle Leben“ (Bekkers, 1993, S. 255). Im Gegensatz hierzu steht die Auffassung Schallers, der die sportlichen Inhalte als Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt. Er wendet sich gegen eine ‘persönliche Primärmotivation’ (vgl. Schaller, 1992, S. 20) mit der ‘Sache Sport’ und ist der Ansicht, dass der - sehr wohl erwünschte persönlichkeitsfördernde, formale Aspekt der Bildung sich indirekt durch den Nachvollzug beim Sporttreiben ergebe. Während Beckers insbesondere den Bildungsprozess hervorhebt, sind für Schaller strukturelle Merkmale Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen. 173 260 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Prohl kennzeichnet den von Wissen und Erlebnis abgegrenzten Erfahrungsbegriff in Bezug auf Grupe (1995) und Thiele (1996) durch vier Punkte (vgl. Prohl, 1999, S. 180f): 1. Es gibt unterschiedliche Dimensionen der Erfahrung: • Bewegungs- und Körpererfahrungen beruhen auf den Wahrnehmungen und Empfindungen, die unmittelbar mit der Bewegung einhergehen. Diese Erfahrungen sind unerläßlich für den Aufbau körperlicher Identität und damit auch Selbsterfahrungen. • Materiale Erfahrungen können in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen der Umwelt gemacht werden. • Soziale Erfahrungen werden im Umgang mit anderen Menschen und in Gruppen erworben. 2. In Bezug auf Thiele unterscheidet er zwischen Erfahrungen der Breite, die den Horizont erweitern und Erfahrungen der Tiefe, die spezifische Erfahrungsinhalte intensivieren und nur nach längeren Zeitphasen gemacht werden können. 3. Dazu kommen die zeitlichen Merkmale der Kontinuität und der Diskontinuität. „Einzelerfahrungen sind in die Kontinuität von Vor-Erfahrungen zwar eingebettet, müssen jedoch die aus den Vor-Erfahrungen abgeleiteten Erwartungen enttäuschen, um den Status einer Erfahrung zu erlangen. Erst der Bruch mit dem Erwarteten, das Eintreten des Unerwarteten, ermöglicht Erfahrung als Widerfahrnis“ (Prohl, 1999, S. 181 zitiert nach Thiele 1996). Hier zeigt sich die Diskontinuität der Einzelerfahrung, die mit der Kontinuität des Erfahrungszusammenhangs eng verbunden ist. 4. Aus dieser Diskontinuität ergibt sich schließlich das Merkmal der Negativität der Erfahrung, wobei die Negation hier eine bestimmte Funktion und nicht eine Bewertung der Erfahrungsinhalte meint. „Der Erwerb neuer Erfahrungen setzt voraus, dass sich der selbstverständliche, alltägliche Umgang in einer neuen Situation als nicht mehr tragfähig erweist, dass Vorwissen und Vorerfahrung ihre Gültigkeit verlieren. Solche Erfahrungssituationen rufen Betroffenheit hervor, die in ihren Erscheinungsformen von Staunen und Verwunderung, über Widerstand- und Distanzerlebnisse bis hin zu Verunsicherung und Krise reichen können. Abhängig vom Grad der Störung des Selbstverständlichen wird das Subjekt herausgefordert, mit neuen Aktivitäten zu antworten“ (Prohl, 1999, S. 181). 261 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Erfahrungen sind somit immer unmittelbare Erfahrungen, das heißt an eigentätige Bewegungen gebunden. Prohl betont, dass diese Erfahrungen in allen Phasen menschlicher Entwicklung von Bedeutung sind, der Kindheit jedoch eine besondere Bedeutung zukommt: „Für das Kind, auch noch im Grundschulalter, bedeuten Bewegungsaktivitäten mehr als die reizvolle Zerstreuung, die Erwachsene nachvollziehen können. Es sind immer auch Welterfahrungen in einer unersetzlichen, unmittelbaren Weise und damit auch Welterschließung. Bewegungserfahrungen eröffnen die Umwelt, erschließen sie räumlich wie zeitlich, und die Gegenstände der Umwelt erhalten für das Kind durch sein Bewegungskönnen überhaupt erst den Charakter der Verfügbarkeit. In diesem Sinne ist Bewegung das primäre Vermittlungsorgan zu seiner Umwelt“ (Prohl, 1999, S. 182). Hier zeigt sich nun auch deutlich, wie sehr Prohl die gemachten Erfahrungen mit der Identitätsentwicklung verknüpft sieht. Dadurch, dass Kinder noch ganz und gar in ihrer Leiblichkeit befangen sind (vgl. Kap. 1.1 dieses Teiles), leiden sie ohne entsprechende Bewegungserfahrungen nicht nur körperlich, sondern haben es auch schwerer in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen, zu ihrer Umwelt und schließlich zu sich selbst. „Die Entwicklung personaler und sozialer Identität ist unauflöslich an Erfahrungen mit und über körperliche Bewegungen verbunden“ (Prohl, 1999, S. 182). Somit wird im Rückbezug auf die Vorstellungen Hartmut von Hentigs deutlich (vgl. Teil A, Kap. 5), welche Ansprüche an eine ‘Schule als Erfahrungsraum’ gestellt und insbesondere, welche Anforderungen an den Schulsport gestellt werden, wobei sich diese aus Sicht des prozessualen Aspektes der Bildung deutlich abzeichnen: Zunächst scheint es die Aufgabe der Schule zu sein, den Kindern primäre Bewegungserfahrungen zu ermöglichen. In Bezug auf die dargestellten Aufwachsbedingungen (vgl. Kap. 2.1 dieses Teiles) schließt das die Bereitstellung von Freiräumen ein, die sich Kinder ohne unmittelbare Aufsicht eines Erwachsenen schaffen können. Die schulische Notwendigkeit einer solchen Maßnahme ergibt sich daraus, dass solche Freiräume in der außerschulischen Umgebung immer weniger zu finden sind, Kinder aber dennoch lernen müssen, sich mit anderen auseinanderzusetzen, ohne durch Erwachsene gelenkt zu werden. Da der päd262 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung agogische Sinn diesbezüglich im Ausgleich der genannten Entwicklungsdefizite liegt, ist die Schule gefordert, ihr Bewegungskonzept auf die Lebenswelt der Kinder abzustimmen. „Sportunterricht ist dabei eher als Bewegungsunterricht aufzufassen, in dem es gilt, Differenzerfahrungen zu ermöglichen, die Kindern einen Vergleich gegenüber ihrer alltäglichen, häufig bewegungsarmen Lebenswelt überhaupt erst zu ermöglichen“ (Prohl, 1999, S. 182). Prohl geht noch einen Schritt weiter und betont, dass Primärerfahrungen nur durch ein hohes Maß an Selbsttätigkeit gemacht werden können. Diese wiederum wird dadurch geschult, dass Kinder in der Schule Bewegungsangebote mit einem hohen Herausforderungs- und Aufforderungscharakter vorfinden, die zunächst nicht auf das Ergebnis, wie zum Beispiel das Erlernen einer sportlichen Fertigkeit abzielen (vgl. Prohl, 1999, S. 183). Die langfristige Auseinandersetzung mit Bewegungsproblemen hilft den jungen Menschen bei der Identitätsfindung, da sie die Grundlage für jedes weitere Sporttreiben ist. Bildung ist hier als Prozess zu verstehen, in dem der Schulsport in sofern seinen Beitrag dazu leisten kann, dass er zunächst vielfältige mögliche Bewegungserfahrungen bietet. Wesentlich ist nicht die inhaltliche Auswahl einer bestimmten Sportart, sondern die Erfahrungen, die die Schüler machen können. „Bildung vollzieht sich in der subjektiv sinnvollen Auseinandersetzung mit spezifischen Bewegungsproblemen, wobei das Ziel darin besteht, das Bewegungsproblem zu lösen. Weniger das ‘Was?’, also die Inhalte oder der Lehrstoff, als vielmehr das ‘Wie?’, also die Weise der Vermittlung und die Qualität des Erwerbs von Bewegungskönnen, sind dabei entscheidend“ (Prohl, 1999, S. 184). An dieser Stelle kommt auch Prohl auf den Leistungsaspekt zu sprechen. Wenn er diesen keinesfalls zurückweist, sondern betont, dass ein „Erfahrungsgewinn ohne ein auf ‘Können’ gerichtetes Streben kaum zu erreichen ist“ (Prohl, 1999, S. 185) und erstes Ziel es zunächst sein müsse, den Schülern zu vermitteln, „dass im Üben, im vertieften Sich-Bemühen ein spezifischer Genuß liegt, der die Erfahrung der Freude in spürbarer Weise vom Erlebnis des Spaßes unterscheidet“ (Prohl, 1999, S. 186), dann zeigen sich hier Parallelen zu einem Leistungsbegriff, wie ihn Wolfgang Klafki schon mit Leisten können, ohne leisten zu müssen umschrieben hat. 263 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Dieser Leistungsbegriff geht jedoch über den individuellen Selbstbezug hinaus, wenn Prohl in Bezug auf Klafki betont, dass Können - eingebettet in einem sozialen Verantwortungsrahmen - weit über den unmittelbaren Bewegungsaspekt hinausweist und auf die allgemeinbildenden Erziehungsziele der Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit hindeutet. b) Kooperation, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit - Sport als Mittel der Sozialerziehung. Erziehungsziele wie Solidaritätsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit oder Gemeinschaftlichkeit weisen auf das Feld des ‘sozialen Lernens’ hin, wobei Pühse feststellt, dass dieses Begriffsfeld174 in der Fachdiskussion terminologisch uneinheitlich verwendet wird (vgl. Pühse, 1994, S. 10). Während Sozialisation solche Prozesse meint, die den Menschen in seine soziale Umwelt eingliedern und somit zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen, bezieht sich das ‘soziale Lernen’ auf spezifische Situationen, die jedoch nicht, wie das Alltagsverständnis impliziert, automatisch eine positive Wertung haben müssen: „Implizit wird hierunter das Lernen, also der Erwerb prosozialer Verhaltensweisen verstanden; Verhaltensweisen also, die zu einem positiven, verständnisvollen usw. Umgang mit anderen Menschen befähigen. Diese positive Wertung im Alltagsverständnis wird von der Psychologie nicht geteilt, vielmehr bedeutet hier ‘sozial’ zunächst eher die Tatsache, dass etwas im Umgang mit anderen, durch Beeinflussung anderer, durch Nachahmung anderer usw. geschieht. ‘Sozial’ heißt hier also im wesentlichen ‘im Umgang mit anderen Menschen’; in dem Sinne kann soziales Lernen sowohl pro- wie antisoziale Verhaltensweisen beinhalten“ (Bierhoff-Alfermann, 1981, S. 145f). Der im Kontext des Schulsports wichtige Begriff der Sozialerziehung wiederum bezeichnet intentionale Maßnahmen, die ergriffen werden, um ein bestimmtes erzieherisches Ziel zu erreichen und ist somit normativ belegt. Gerade in Bezug auf den Schulsport muss geklärt werden, ob er den Ansprüchen der Sozialerziehung genügt oder ob es angesichts heutiger Sportrealitäten nicht naiv ist, auf 174 Er merkt dabei an, dass wie soziales Lehren und Lernen, soziales Handeln, soziales Verhalten, soziales Wohlbefinden, Sozialisation, Sozialerziehung oder soziale Kompetenz in unterschiedlichen Beiträgen für die gleiche oder ähnliche Thematik benutzt werden und schlägt deshalb den Oberbegriff des sozialen Handelns vor. 264 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung die ‘Integrationspotenz’ des Sports zu setzen, da er, wie Meinberg feststellt, ganz im Gegenteil auch ein sehr beliebtes Unterscheidungsmerkmal ist, „mit dem die feinen Unterschiede zur Schau getragen werden“ (Meinberg, 1994, S. 61). Diese Skepsis teilen auch Ungerer-Röhrich u.a., die vorschlagen, dass die Schüler lernen, die Wünsche und Erwartungen der Mitschüler ausgewogen zu berücksichtigen (vgl. Ungerer-Röhrich u.a., 1990, S. 26). Damit dies gelingt, bedarf es vier Grundqualifikationen, die zunächst einmal auf eine bestimmte Unterrichtsorganisation hindeuten: 1. Die Fähigkeit der Rollen- und Perspektivenübernahme: Schüler lernen, sich in andere hineinversetzen. 2. Die Fähigkeit der Rollendistanz: Schüler lernen, sich mit anderen kritisch auseinandersetzen, um eventuell geeignete Kompromisslösungen zu finden. 3. Die Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz: Schüler lernen, teilweise auf die Befriedigung eigener Wünsche verzichten zu können. 4. Die Fähigkeit der Identitätsdarstellung: Schüler lernen, eigene Wünsche und Erwartungen anderen mitteilen zu können. Nach Ungerer-Röhrich sollte Sozialerziehung durch Sportunterricht in erster Linie die genannten vier Grundqualifikationen des Rollenhandelns zu fördern versuchen, wobei das pädagogische Problem darin besteht, dass diese Fähigkeiten nicht direkt vermittelt werden können. Hierfür bedarf es vielmehr einer geeigneten Lernatmosphäre im Sportunterricht, in der die jungen Menschen lernen, sich untereinander zu verständigen (vgl. Ungerer-Röhrich u.a., 1990, S. 26f). Angesprochen werden hier nicht allein die unterrichtlichen Effekte im Sinne optimaler qualifikatorischer Schulleistungen, sondern es müssen darüber hinaus auch Kriterien herangezogen werden, welche die soziale und emotionale Seite des Menschen betreffen. Gemeint ist die Schaffung eines Schulumfeldes, in dem sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen und mit dem sie sich identifizieren können (vgl. Prohl, 1999, S. 279). Ein positives Schulklima ist jedoch nur ein Faktor sozialen Lernens und geht weit über die Möglichkeiten des Schulsports hinaus. Zudem trägt die Schaffung eines solchen Klimas nichts zur Klärung der Frage bei, ob Bewegung und Sport aufgrund ihrer immanenten Möglichkeiten sozialerziehende Potenz haben. Diesen fehlenden Sachbezug stellen Funke-Wienecke (1997) und Prohl (1999) her. 265 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Funke-Wienecke betont, dass Menschen - dadurch dass sie sich gemeinsam bewegen eine von Fall zu Fall und Aufgabe zu Aufgabe verschiedene Bewegungsbeziehung eingehen. „Sie stiften einen je spezifischen, für das Thema charakteristischen Zusammenhang koordinierter Bewegungen. Diesen erzeugen sie, indem sie sich individuell wirkend mit ihrem Bewegungsbeitrag in die gemeinsame Aufgabe einbringen. Aber das, was sie damit bewirken, übersteigt diesen individuellen Beitrag hin zu einer überindividuellen Gemeinsamkeit. Die geläufige Rede vom ‘Spiel, das gut läuft’, von der ‘gelungenen Abstimmung in einem Team’ drückt ein entsprechendes Erleben des überindividuellen Bewegungszusammenhanges aus“ (Funke-Wienecke, 1997, S. 34). Hier unterscheidet Funke-Wienecke zwischen Verstehen und Verständigung. „Üblicherweise wird für das Lernen im Sportunterricht gefordert, dass die Beteiligten einander verstehen lernen müssen und dass darin das Soziale bestehe. Sie sollen sich [...] mitfühlend und einfühlend auf die Innerlichkeit des Anderen beziehen können“ (FunkeWienecke, 1997, S. 34). Auch an diesem Punkt steht nicht der sachbezogene (bewegungs- oder sportimmanente) Bezug im Vordergrund. Werden jedoch Probleme wie die Einfühlung in den Hintergrund gedrängt und statt dessen gefragt ‘Welches ist die Aufgabe, die wir hier und jetzt in unserer Welt zu erfüllen haben?’, kommt zunächst die gemeinsame Praxis und erst danach die Entdeckung, dass „wir in diesem Tun auch einander näher gekommen sind“ (Funke-Wienecke, 1997, S. 35). Anstatt von Verstehen spricht Funke-Wienecke nun von Verständigung. Entscheidend ist, dass Schüler lernen, mehr oder weniger anspruchsvolle, thematisch vielfältige Bewegungsbeziehungen zu realisieren und sich dabei nicht zu allererst verbal, sondern in Aktion zu verständigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um kooperative oder konkurrenzbezogene Aufgaben handelt. Hier liegen seiner Ansicht nach die immanenten Möglichkeiten der Sport- bzw. Bewegungserziehung: „Eine Trennung des sozial Anspruchsvollen vom sachlich Anspruchsvollen ist somit nicht gerechtfertigt. Sie führt jedenfalls vom Fach weg“ (Funke-Wienecke, 1997, S. 35). Prohl sieht diese Einheit in vielen Interaktionssituationen im Schulsport. Schüler müssen beispielsweise lernen, Mannschaften zu bilden, Geräte zu teilen, in Gruppen zu spielen oder einander Hilfestellung zu geben. 266 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung „Gemäß der pädagogischen Leitvorstellung der ‘Fremdaufforderung zur Selbstbestimmung’ sollen die Schüler diese sozialen Situationen zunehmend selbständig zu bewältigen lernen. Dies ist keineswegs einfach oder selbstverständlich. Beobachtet man in nicht-organisierten Spiel- und Bewegungssituationen oder im Sportunterricht, wie Kinder ihre sozialen Beziehungen regeln, so stellt man fest, dass meist nur einige Kinder das Geschehen bestimmen, die Wünsche und Erwartungen anderer Kinder jedoch häufig auf der Strecke bleiben“ (Prohl, 1999, S. 276). Verständigung schließt auch das Gespräch im Sportunterricht mit ein, denn Bewegungserziehung beschränkt sich nicht darauf, auf Bewegungsbeziehungen einzugehen und zu vollziehen, sondern hat ebenso zum Ziel, sich gedanklich mit den Inhalten auseinanderzusetzen und dies ggf. sprachlich auszudrücken. (1) Soziales Lernen als Verbindung zwischen intentionaler und funktionaler Erziehung. Es wird also deutlich, dass die Vermittlung der hier angesprochenen Kompetenzen wie Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Verständigungsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit usf. nur durch eine Verbindung zwischen geplanten und ungeplanten Erziehungsmaßnahmen erreicht werden kann. Zunächst erscheint es paradox, dass ungeplante und somit nicht vorhersehbare Erziehung in ein Konzept der Allgemeinbildung mit eingebunden ist. Dennoch kann eine solche Erziehung entscheidend durch das Schulklima beeinflusst werden. Dabei spielt der Lehrer im Unterricht eine tragende Rolle. Pühse ist der Ansicht, dass er sich der bewussten Berücksichtigung sozialerzieherischer Möglichkeiten und der damit verbundenen inhaltlichen und methodischen Konsequenzen nicht länger entziehen kann. Dabei sollte er jedoch andere Ziele nicht aus den Augen verlieren (vgl. Pühse, 1990, S. 298). Es bestätigt sich, dass es weniger um Inhalte und spezifischen Lehrstoff geht, sondern die Weise der Vermittlung maßgeblich ist, um Erfahrungslernen bei den Schülern zu ermöglichen. In Bezug auf Grupe sieht Prohl in diesem ‘Wie’, das sich an der Idee schulischer Bildung ausrichtet, den besonderen schulpädagogischen Wert des Sports (vgl. Prohl, 1999, S. 280). Wenn er den Schulsport dabei auf die Prinzipien der Vielfalt und des Könnens verpflichtet, wird dabei auch die Verschränkung zwischen den beiden Prinzipien ‘gesellschaftlicher Aspekt der Bildung’ und ‘Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen’ des hier zu Grunde gelegten Allgemeinbildungskonzeptes 267 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung deutlich. Gemeint sind hier die Vielfalt des Angebotes und der Erwerb von sportlichem Können. • Die Vielfalt des Angebotes und der Auswahl soll möglichst vielen Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu den Sinndimensionen der Bewegungskultur eröffnen. Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass Vielfalt nicht im Sinne von möglichst vielen verschiedenen Sportarten verstanden wird, sondern die Vielfalt meint, die die verschiedenen Kategorien der Erfahrung mit einschließt. • Dennoch soll auch der Erwerb von sportlichem Können berücksichtigt werden, der sich an den leistungsbezogenen und wettbewerblichen Prinzipien des Sports orientiert. Das Streben nach Können ist ein unverzichtbares Element des Sports und seiner Bildungsmöglichkeiten, ebenso wie seiner Tradition als Kulturgut, aber nur dann, wenn sich das Leistungsstreben von einer fairen und sozialen Einstellung bestimmen lasse. „Faires und den Regeln entsprechendes Handeln, so Grupe, sei über den Sport hinaus Modell für freiwilliges und soziales Handeln überhaupt. Ein fairer und sozial geregelter Sport könne insofern Vorbild für das Zusammenleben insgesamt sein. Um dies zu erreichen, sei der Sport in der Schule nicht nur als Fach, sondern wieder - wie schon von der Reformpädagogik gefordert - als Kultur und Kultivierung von Körper und Bewegung zu begreifen, für welche die Schule Mitverantwortung trage. Damit ist nicht eine intentionale Sozialerziehung gemeint, die in Form von sozialen Lernzielbereichen angesteuert wird. Vielmehr sollen durch eine Sportkultur indirekte sozialerzieherische Wirkungen erzielt werden“ (Prohl, 1999, S. 280). Dennoch zeigt sich in diesen Worten auch eine eindeutige Wertung für das konkrete Vorgehen an der Schule, wenn Prohl fordert, dass das Leistungsstreben sich von den Regeln der sozialen Einstellung bestimmen lassen soll. Bevor die Schüler sich mit den konkurrenzorientierten Inhalten des Sportes auseinandersetzen, müssen sie die Kompetenzen für ein angemessenes Miteinander erlangen. c) Fazit Den Forderungen eines zeitgemäßen Allgemeinbildungskonzeptes kann nur entsprochen werden, wenn die Schule ihre Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung gleichberechtigt 268 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung zu derjenigen der Qualifikation in den Mittelpunkt der Überlegungen rückt. Gemeint sind hier zwei wesentliche Komponenten: die des Selbstbezuges und die des Einbeziehens der anderen Mitschüler. Im Bezug auf die individuellen Entwicklungsprozesse soll die Schule helfen, Interessenschwerpunkte auszurichten, die zunächst durch eine Vielfalt an Angeboten erreicht werden können. Dabei geht es jedoch nicht nur um die Auswahl persönlich favorisierter Inhalte, sondern auch um die Art wie Schüler mit ihren sportlichen Leistungen umgehen. Ein in diesem Sinne individuellerer Orientierungs- und Leistungsmaßstab ist jedoch keinerlei Ausdruck von Unverbindlichkeit, sondern lediglich eine Verschiebung pädagogisch gewollter Zielsetzung: die Schüler sollen selbst bestimmen, an welchen Kriterien sie ihr sportliches Handeln orientieren möchten. Ausgangspunkt für eine solche selbstbestimmte Identitätsbildung ist, dass Schule einen großen Schatz an unmittelbaren Erfahrungen ermöglicht. Dies ist besonders bei den jüngeren Schülern von elementarer Bedeutung, da die Identitätsfindung eine wichtige Voraussetzung für weiteres Sporttreiben ist. Dabei rückt weniger das ‘Was?’ als vielmehr das ‘Wie?’ in den Mittelpunkt der Überlegungen. Neben dem individuellen Selbstbezug soll der Sportunterricht einen sozialen Verantwortungsrahmen bieten, der auf allgemeine Erziehungsziele, wie Kooperation, Solidarität oder Gemeinschaftlichkeit hin ausgelegt ist. Solche Erziehungsziele können allgemein mit dem Begriff des ‘sozialen Lernens’ umschrieben werden, wobei einerseits zwischen intentionalen und funktionalen, andererseits zwischen allgemeinen und sportimmanenten Maßnahmen unterschieden werden muss, um die gewünschten Kompetenzen zu schulen. In der Unterscheidung zwischen intentionalen und funktionalen Maßnahmen zeigt sich, dass intentionale Ziele durch Aufgaben erreicht werden können, die Verständigung bei den Schülern fordern. Funke-Wienecke (1997) sieht hierbei vor allen Dingen Möglichkeiten in der gemeinsamen Lösung vielfältiger Bewegungsaufgaben, wobei die Lösungsversuche durch gemeinsames Handeln angestrebt werden. Hier zeigt sich neben der Intentionalität auch die sportimmanente Potenz. Prohl (1999) umschreibt diese spezifischen Situationen mit ‘Fremdaufforderung zur Selbstbestimmung’. Eine wesentliche Voraussetzung für das Erreichen solcher Ziele ist das entsprechende Unterrichtsklima, wobei dies nicht nur für den Sportunterricht, sondern für den gesamten Bereich der Schule gelten muss. In dieser Verbindung, nämlich durch organisatori269 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung sche Maßnahmen möglichst funktionale Ziele beeinflussen zu können, zeigt sich der zweite Strang. Auch hier zeigen sich Bildungsziele, die weniger durch das ‘Was?’ als vielmehr durch das ‘Wie?’ erreicht werden können. Besonders gefordert ist hierbei die Persönlichkeit des Lehrers, der sich über die sozialerzieherischen Möglichkeiten seines Unterrichts bewusst sein sollte und neben der Schaffung eines entsprechenden Klimas auch die inhaltlichen und organisatorischen Maßnahmen treffen muss, damit der Sportunterricht den hohen Ansprüchen der Allgemeinbildung gerecht werden kann. An dieser Stelle wird die Einbindung der in Kapitel 1 dieses Teiles formulierten Einzelphänomene in diesen Bereich deutlich: • Durch das Prinzip des Leisten können, ohne leisten zu müssen ist das freudige Könnensbewußtsein gemeint, wie es bereits ausführlich erläutert wurde (vgl. Kap. 1.4). • Die verschiedenen Spiele haben einen großen Anteil an der Schulung sozialer Kompetenzen, wobei eine gezielte Auswahl notwendig ist. Wenn es gilt, Kindern über das Spiel primäre Bewegungserfahrungen zu ermöglichen, die ihnen zum Aufbau einer eigenen Identität verhelfen, dann sind in erster Linie solche Spiele geeignet, die Caillois mit dem Begriff ‘paida’ umschrieben hat (vgl. Kap. 1.3). Erst wenn die Schüler über eine eigene Bewegungsidentität und sie über die notwendige Toleranz und Gemeinschaftlichkeit verfügen, sind konkurrenzorientierte Spiele sinnvoll, wie sie beispielsweise heute dem ‘großen Sport’ entlehnt sind (agon/ludus). Denn nur dann kann es auch gelingen, diese gesellschaftliche Realität kritisch zu reflektieren und in das jeweils eigene Bewegungsverständnis einzugliedern. • Bezüglich der Gesundheit ist in der Bemühung, verschiedene soziale Kompetenzen aufzubauen, genau das ganzheitliche Gesundheitsmotiv gemeint, wie es in Kap. 1 ausführlich dargestellt wurde und damit umschrieben war, dass es sich um ein Inund Miteinander physischer, psychischer, sozialer und ökologischer Faktoren handelt (vgl. Kap. 1.2) Denn nur durch den Aufbau einer selbstbestimmten Identität, in der die Faktoren der Gemeinschaftlichkeit entsprechend berücksichtigt sind, kann der ganzheitliche Gesundheitsbegriff zum Tragen kommen. • Ebenso verhält es sich mit den unterschiedlichen Bedeutungen des Körpers (vgl. Kap. 1.1). Nur durch eine entsprechend ausgeprägte Identität kann der Schüler die Bedeutung von Bewegung für sich selbst erkennen und auf sein eigenes Leben hin bereichernd übertragen. 270 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung • In der Gestaltung schließlich zeigt sich eine Vielzahl von individuellen Bewegungsvollzügen, die den Beitrag des Sports und Bewegung zur Identitätsbildung erst vervollständigen (vgl. Kap. 1.5). Der Aufbau einer eigenen unverwechselbaren Identität, zu der die Bewegungserziehung einen erheblichen Beitrag leisten kann, ist die Grundlage für weiteres Sporttreiben innerhalb und außerhalb der Schule. Auch hier zeigt sich die enge Verzahnung der einzelnen Faktoren, die den zeitgemäßen Allgemeinbildungsbegriff kennzeichnen. 271 Ziel: Grundqualifikationen nach Ungerer-Röhrich (1990) Ausgangspunkt: Positives Schulklima & Verständigung - ermöglicht Primärerfahrungen durch ein hohes Maß an Selbsttätigkeit - läßt individuelle Freiräume Schule als Erfahrungsraum Ziel: Leisten können, ohne leisten zu müssen Ausgangspunkte:Kategorien der Erfahrung Mediatisierung Kooperation, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit Fazit: - Reduktion des Bewegungslebens - Reduktion des Erwerbs primärer Erfahrungen - unzureichende Möglichkeiten für die Identitätsentwicklung Terminierung & Funktionalisierung des Alltags Ermöglichung individueller Entwicklungsprozesse veränderte Familienformen Ausgangspunkt: Zustandsbeschreiburng der Gesellschaft Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Abbildung 10: Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen. 272 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung 4. Die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung Es hat sich nun gezeigt, wie die beiden wesentlichen Bezugssäulen des Allgemeinbildungskonzeptes - die Qualifikation und die Persönlichkeitsbildung - im Schulsport berücksichtigt sein müssen, um den zuvor formulierten Ansprüchen zu genügen. Wie das inhaltlich und organisatorisch geschehen kann, ist dabei noch nicht ausgeführt worden. Beide Aspekte sind jedoch für den Fachunterricht von großer Bedeutung, denn sie sind letztlich auch Ausdruck des Selbstverständnisses, mit dem der Lehrende unterrichtet. a) Allgemeinbildung als Bildung für alle - die organisatorischen und inhaltlichen Momente (1) Das organisatorische Moment. Es ist nicht die Aufgabe eines Allgemeinbildungskonzeptes, ein bündiges didaktisches Konzept zu entwerfen, schon allein deshalb nicht, weil ein solches Konzept nicht der Offenheit entspricht, die die Berücksichtigung einer gesellschaftlichen Realität erfordert, die insbesondere in den letzten Jahrzehnten einem schnellen Wandel unterliegt. Andererseits lassen sich aus den bisher genannten Forderungen nach der Vermittlung sozialer Kompetenzen einerseits und der kritischen Aufnahme gesellschaftlicher Realitäten andererseits Eckpunkte festlegen, die durch den Bildungsaspekt vorgegeben sind. Gemeint sind hier - wie schon ausführlich behandelt - die Beachtung gesellschaftlicher Tatbestände, das notwendige Fachwissen und die sozialen Komponenten der Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Gemeinschaftlichkeit, Verständigung und Kooperation, deren Ausgangspunkt die persönlichen Erfahrungen jedes einzelnen Individuums ist. Wie sich herausgestellt hat, sind die geforderten Kompetenzen durch ein möglichst hohes Maß an Eigenerfahrung zu erreichen. Es hat sich auch gezeigt, dass Erfahrungen nicht lehrbar sind. Somit stellt sich die Aufgabe, nach Lösungen zu suchen, die es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, individuelle Primärerfahrungen zu machen. Die zentrale Frage lautet deshalb, inwieweit eine pädagogische Inszenierung von Erfahrung möglich ist. Dass eine solche notwendig ist, lässt sich schon allein daraus erklären, dass Tätig-Sein allein noch keine Erfahrung ist. „Bestritten wird nicht, dass so etwas wie Erfahrungsorientierung prinzipiell möglich ist, bestritten wird auch nicht, dass erfahrungsorientierter Unterricht in vielfältigen Kontexten stattfindet, in Frage gestellt wird aber, inwiefern 273 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung solche Aktivitäten sich Rechenschaft über ihr eigenes Tun abliefern bzw. inwiefern sie ihre Tätigkeiten pädagogisch legitimieren“ (Thiele, 1996, S. 217f). Ausgangspunkt einer solchen Legitimation ist die bereits mehrfach angesprochene These vom Erfahrungsverlust. Dieser betrifft nicht nur die Lebenswelten der Kinder, sondern auch in besonderem Maße die Auswirkungen, die sich für die Schule ergeben. Eine mögliche Antwort auf diesen Verlust sind die verschiedenen erfahrungsorientierten Konzepte, dessen gemeinsamer Nenner in dem Begriff des ‘erfahrungsoffenen Lernens’175 liegt. Thiele weist daraufhin, dass es zwar kaum möglich ist, die verschiedenen Vertreter ‘unterschiedslos einzugemeinden’, dennoch lassen sich inhaltliche Gemeinsamkeiten ausmachen, die sich um das Grundanliegen eines erfahrungsorientierten Unterrichtes herauskristallisieren lassen (vgl. Thiele, 1996, S. 237ff). „Erfahrungsorientierter Unterricht sollte die Interessenlage der Schüler einbeziehen, um auf diese Weise von Beginn an eine hohe Lernmotivation voraussetzen zu können. Die Unterrichtsgegenstände sollten in ihren Zusammenhängen und lebensweltlichen Bezügen erfahren und vermittelt werden, Selbsttätigkeit und Selbstorganisation sollten dabei im Mittelpunkt stehen. Der Unterricht sollte individualisierend und differenzierend auf die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Schüler eingehen und gleichzeitig auf sozialer Ebene Kooperation und Miteinander der Schüler durch entsprechende Organisationsformen fördern helfen. Ließe sich ein solches idealtypisches Konstrukt erfahrungsorientierten Unterrichtes in der Praxis verwirklichen, dann, so die zugrundeligende Vision, könnte Schule zu einer Stätte des ‘Erfahrungen-Machens’ im positiven Sinne werden“ (Thiele, 1996, S. 239). Unter diesem Gesichtspunkt wird Schule zu einem Erfahrungsraum im Sinne Hartmut von Hentigs und greift beispielsweise auch die Forderungen Ballauffs, Fends und der Bildungskommission aus Nordrhein-Westfalen auf (vgl. Teil A). Natürlich spricht die derzeitige Organisationsstruktur der Schule mit ihrer strikten Fächertrennung, ihren festen Zeittakten und Verwaltungsvorschriften gegen die Einbindung des erfahrungsoffenen Lernens. Dennoch schließt sich die Frage an, ob denn die Didaktisierung von Erfahrung unter anderen (idealen) institutionellen Voraussetzungen überhaupt möglich ist. Thiele verneint dies ausgehend von dem Argument, dass jeder Mensch seine Erfahrungen selbst machen muss und dadurch der Lehrbarkeit und Her175 Eine Ausnahme bildet dabei die Position der ‘Entschulung’, die, wie sich bereits gezeigt hat, auch vom erfahrungsoffenen Lernen abhebt (vgl. Teil A, Kap. 5). 274 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung stellbarkeit von Erfahrung enge Grenzen gesetzt sind. Dennoch plädiert er dafür, dass sich die pädagogischen Überlegungen auf das ‘Machbare’ konzentrieren sollen, denn „durch diese Relativierung wird der Prozeß der Erfahrung pädagogisch erst disponibel und die ‘Didaktisierung der Erfahrung’ allererst sinnvoll“ (Thiele, 1996, S. 241). Probleme bezüglich einer umfassenden Vermittlung von Erfahrungen zeigen sich beispielsweise bereits in den Bereichen der Aktivität und Selbsttätigkeit. Denn die aktive Selbstaneignung beinhaltet auch, dass das Individuum nicht alles wichtige, sondern nur einen Teilaspekt einer Thematik erfährt, wohingegen eine durch den Lehrer vermittelnde Methode die wichtigsten Inhalte im Vorfeld auswählt und somit eher dem Anspruch der Vollständigkeit genügen kann. „Nicht jeder macht eben alle denkmöglichen Erfahrungen und jene Erfahrung, die einer macht, oder das, was er selbst unter diesem Namen führt, macht er möglicherweise - bei identischer Situation und noch unwahrscheinlicher, unter gleichen Umständen - anders als andere. Die diversen Ebenen der situativen Regulierung des Erfahrens, [...], lassen sich ob ihrer Mannigfaltigkeit, auch ihrer tatsächlichen Widersprüchlichkeit wegen nicht operationalisieren“ (Dieckmann, 1994, S. 13). Um dieser Beliebigkeit zu entgehen, fordert Thiele, dass erfahrungsorientierte Pädagogik darauf bedacht sein muss, den Strom der Erfahrungen in didaktisch vorstrukturierte Bahnen zu lenken. Das kann aber nicht bedeuten, dass nur solche Erfahrungen zugelassen werden, die sich in ein vorher bestimmtes theoretisches Konzept einbinden lassen. Dies wäre der Weg der Verwissenschaftlichung der Erfahrung, der zwar herstellbar wäre, aber letztlich nichts mehr mit dem Ausgangsprodukt gemeinsam hätte. Das Dilemma besteht also darin, dass der Prozess der Erfahrung einerseits eines didaktischen Rahmens bedarf, andererseits jedoch auf ein eindeutiges theoretisches Fundament verzichten muss, um der individuellen Erfahrung genügend Raum geben zu können. Um dem zu entgehen, plädiert Thiele für den Ansatz der Situationsgestaltung176, wobei die Situation so gestaltet sein muss, dass einerseits die Struktur des Unterrichts erhalten, also die Zielperspektive erkennbar bleibt, andererseits Erfahrung nicht gegen Wissensvermittlung ausgetauscht wird (vgl. Thiele, 1996, S. 242f). „Doch dürfen auch diese Überlegungen, [...], nicht darüber hinwegtäuschen, dass das prinzipielle Dilemma eines 176 Wobei er hier die Schwierigkeit erkennt, dass die Situation schon allein deshalb unbestimmt bleibt, weil sie auf die spontane Deutung des Erfahrenden angewiesen bleibt. 275 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung allenfalls in Teilen steuerbaren Erfahrungsprozesses didaktisch nicht aufzulösen ist“ (Thiele, 1996, S. 244). Daraus ergeben sich seiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten: 1. einmal diese Grenze solange zu überarbeiten, bis sie ihre Mängel eingebüßt hat, dadurch aber auch entsprechend wichtige Inhalte einbüßt 2. oder aber diese Grenzen hinzunehmen und zu akzeptieren. (2) Sorgsame Auswahl der möglichen Unterrichtsorganisation. Eine dritte Möglichkeit ist es, sich je nach Lerninhalt für die Methode des erfahrungsoffenen Unterricht zu entscheiden oder geschlossenere Methoden zu wählen. Denn der konstatierte Verlust der Erfahrung darf andererseits nicht zur ‘Totalisierung der Erfahrung’ führen, da damit andere Lerninhalte verloren gehen, die in einem umfassenden Konzept der Allgemeinbildung ebenso ihren Platz finden. Gemeint sind beispielsweise die Lernfelder, die die Aneignung von notwendigem Fachwissen zum Ziel haben: • Geschlossene Fertigkeiten, die den Schülern bestimmte Techniken abverlangen, sind durch methodische Reihungen sinnvoller zu vermitteln als durch erfahrungsoffene Situationen. Das gilt insbesondere dann, wenn der Akzent auf dem Neuerwerb von Techniken liegt (vgl. Roth, 1993, S. 27ff). • Aber auch für offene Fertigkeiten, die das Lösen ‘situationsgemäßer Aufgaben’ durch vorgegebene Koordinationsmuster zum Ziel haben177, bilden vom Lehrer vorgegebene Aufgaben und Lösungshilfen den Rahmen schulischen Lernens (vgl. Brehm, 1993, S. 49ff). Es wird deutlich, dass die Wahl der Unterrichtsorganisation und der Methoden immer auch von jeweils verfolgten Zielen abhängt. Eine Polarisierung verschiedener ‘allgemeiner Unterrichtskonzepte’ (Bielefelder Sportpädagogen, 1993, S. 18), wie sie immer wieder diskutiert wird178, erscheint unter den vielfältigen Gesichtspunkten eines Allgemeinbildungskonzeptes, wie es hier beschrieben ist, nicht sinnvoll. Statt dessen erweist es sich als notwendig, für die jeweils verschiedenen Zielsetzungen verschiedene Zugangsweisen zu wählen, die sich dann wiederum ergänzen. 177 Gemeint sind hier Fertigkeiten, die unter variierenden situativen Umfeldbedingungen realisiert werden oder denen selbst die Idee der Variation zugrunde liegt. Brehm nennt als Beispiele Schwungverbindungen im freien Gelände beim Skifahren oder polyzentrische Isolation im Jazz- bzw. im Afrotanz (vgl. Brehm, 1993, S. 49). 276 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung b) Inhaltliche Auswahl der Unterrichtsgegenstände Neben der Frage nach organisatorischen Maßnahmen, die das Konzept der Allgemeinbildung nach sich zieht, stellt sich die der möglichen Inhalte. Einerseits scheint es angebracht, vielfältige Lerninhalte anzuerkennen, um somit auch dem Anspruch der thematischen Fülle, wie sie bereits dargelegt wurde, gerecht zu werden. Andererseits ist zu verhindern, „dass Vielfalt ohne sinnhafte Ordnung zur Oberflächlichkeit und didaktischen Unverbindlichkeit wird“ (Größing, 1997, S. 39). Ein schulisches Allgemeinbildungskonzept hat somit die Verpflichtung zur begründeten Auswahl der Lerninhalte ebenso ernst zu nehmen, wie die Bestimmung der Lernziele oder die Frage nach geeigneten Methoden. Gerade aber weil die Vielfalt die Gefahr der Unverbindlichkeit in sich birgt, stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller ist, dem Prinzip des Exemplarischen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. „Der Grundgedanke des exemplarischen Lehrens und Lernens, [...], kann folgendermaßen formuliert werden: Bildendes Lernen, das die Selbständigkeit des Lernenden fördert, also zu weiterwirkenden Erkenntnissen, Fähigkeiten, Einstellungen (zu ‘arbeitendem Wissen’ im Sinne Hugo Gaudigs) führt, wird nicht durch reproduktive Übernahme möglichst vieler Einzelkenntnisse, -fähigkeiten und -fertigkeiten gewonnen, sondern dadurch, dass sich der Lernende an einer begrenzten Zahl von ausgewählten Beispielen (Exempeln) aktiv allgemeine, genauer: mehr oder minder weitreichend verallgemeinerbare Kenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen erarbeitet, mit anderen Worten: Wesentliches, Strukturelles, Prinzipielles, Typisches, Gesetzmäßigkeiten, übergreifende Zusammenhänge. Mit Hilfe solcher allgemeinen Einsichten, Fähigkeiten, Einstellungen können jeweils mehr oder minder große Gruppen strukturgleicher oder ähnlich strukturierter Einzelphänomene und -probleme zugänglich bzw. lösbar werden. Man kann die Wirkungsweise der jeweils an einem Beispiel gewonnenen allgemeinen Erkenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen ‘kategorial’ nennen.“ (Klafki, 1996, S. 144). Der Begriff des Kategorialen enthält zwei konstitutive Merkmale: Zum einen gewinnen die Schüler anhand einer kleinen Zahl ausgewählter Inhalte Einsichten in den Gesamt- 178 Als Beispiel kann die Instrumentalisierungsdebatte genannt werden, deren einzelne Positionen immer auch bestimmte Konzepte zur Grundlage haben. 277 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung zusammenhang und zum anderen soll jeder Einzelne für sich selbst klären, wie er mit dieser gewonnenen Wirklichkeit verfährt179. Im Bereich der großen Sportspiele würde das bedeuten, dass der Lehrende anhand einer Sportart aufzeigt, wie sich die Schüler Grundlagen erarbeiten, die dazu führen, Spielfähigkeit zu erlangen, alternative Spielformen zu erkennen usf. Kurz, der Lehrer soll das Exempel soweit ausführen, dass die Kinder und Jugendlichen in der Lage sind, diese Sportart selbst auszuführen, sie aber auch kritisch auf ihr eigenes Sporttreiben hin zu überprüfen. Obwohl Wolfgang Klafki den Begriff des Kategorialen schon 1959 vorgeschlagen hat, zeigt sich, dass er bis heute Gültigkeit besitzt180. Deutlich wird diese (erstaunliche) Aktualität durch die Folgerungen, die er am Schluss seiner Überlegungen zieht und die den Rückbezug auf den Bildungsbegriff herstellen, wie er in Teil B dargelegt wurde: „Einzig und allein jene Inhalte, die den im Begriff der kategorialen Bildung geeinten Kriterien entsprechen, dürfen im Raum der Bildung einen zentralen Platz beanspruchen. Alles was nicht repräsentativ für grundlegende Sachverhalte und Probleme ist, sondern nur Einzelwissen oder Einzelkönnen, das nicht kategoriale-erschließend zu wirken vermag; alles, was nur ‘auf Vorrat’, auf eine Zukunft hin Bedeutung hat, die der junge Mensch nicht bereits in seiner Gegenwart als seine Zukunft zu erfahren vermag; alles was nur tradierte Vergangenheit ist, ohne dass es dem Schüler im Bildungsvorgang selbst als seine Vergangenheit transparent würde; alles, was für den Schüler nicht auf seine Wirklichkeit bezogen ist, also nicht in den Horizont seiner lebendigen Fragen und Aufgaben hineingeführt werden und deshalb auch nicht Kategorie des eigenen geistigen Lebens werden kann; alles endlich, was dem Schüler nicht wenigstens der Möglichkeit nach den Durchstoß zum Fundamentalen, zu den tragenden Kräften der Grundbereiche unseres geistigen Lebens erlaubt - alles das sollte in unserem Bildungswesen keinen Ort - jedenfalls keinen zentralen Ort - mehr haben. Das bedeutet die Forderung nach radikalen stofflichen Kürzungen der hergebrachten Bildungspläne und nach einem Neudurchdenken der pädagogischen Methoden im Dienste einer Vertiefung, die die unabdingbare Voraussetzung echter Bildung ist“ (Klafki, 1959, S. 411f). Im Unterricht behandelte Themen müssen sich schließlich gegenüber der Frage legitimieren können, welche allgemeinen Zusammenhänge, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten 179 Klafki drückt den Zusammenhang folgendermaßen aus: „Bildung ist kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, dass sich dem Menschen eine Wirklichkeit ‘kategorial’ erschlossen hat und dass eben damit er selbst - dank der selbstvollzogenen ‘kategorialen’ Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse - für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist“. Diese formelhafte Bezeichnung dieses Sachverhaltes kann mit dem ‘Begriff des Kategorialen’ umschrieben werden (Klafki, 1959, S. 410). 180 Das betont er in seinen aktuellsten Studien, die in der 5. Auflage im Jahre 1996 erschienen sind. 278 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung und Strukturen sich in ihnen aufzeigen und erarbeiten lassen (vgl. Gudjons, 1994, S. 21). Die Selbständigkeit, die durch das exemplarische Lernen gefordert ist, ist jedoch nur möglich, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: 1. Der Unterricht muss an dem jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen anknüpfen181. 2. Der Unterricht darf die Gesetzmäßigkeiten, die sich die Schüler selbst aneignen sollen, nicht vorwegnehmen. Statt dessen soll er dabei helfen, „die ‘sachlogischen’ Stufen der Entwicklung solcher Gesetzmäßigkeiten, Strukturen, Zusammenhänge entweder schrittweise aufbauend nachzuvollziehen bzw. zu entdecken oder aber analytisch, vom ‘fertigen’ Ergebnis aus rückschreitend, zu rekonstruieren“ (Klafki, 1996, S. 146f). Das Prinzip des exemplarischen Lehrens und Lernen geht auf Martin Wagenschein zurück, der sich gegen eine Wissenschaft wehrt, die durch ihre eigene Vermehrung, Spezialisierung und Abstraktion unbrauchbar und unlehrbar wird und somit ihren schulischen Aufgaben nicht mehr gerecht wird (vgl. Hentig, 1997, S. 10f). Wagenschein, dessen eigentlicher Unterrichtsgegenstand die Naturwissenschaften waren, ging es um den ‘Vorrang des Verstehens’: „Das exemplarische Betrachten ist das Gegenteil des Spezialistentums. Es will nicht vereinzeln; es sucht im Einzelnen das Ganze“ (Wagenschein, 1956, S. 8). Er bezieht sein Suchen und Fragen auf die Art und Weise des Lehrens, die Kinder und Jugendlichen hilft, sich jene Sachverhalte und das Wissen darüber, das unsere Kultur aufgebaut hat, in konstruktiver Auseinandersetzung nicht nur anzueignen, sondern auch zu verstehen (vgl. Köhnlein, 1998, S. 9). Wagenschein versuchte dabei, Lernen und Verstehen zusammenzubringen, wobei dies nur gelingen kann, wenn das erzieherische Moment in der Schule berücksichtigt wird: „Wir müssen also Kind und Sache gleichermaßen im Blick haben, das heißt: [...] Die Spiegelung182 muß nicht nur das Ganze des Faches - im günstigsten Fall das Ganze der geistigen Welt -, sie muß auch das Ganze des Lernenden (nicht nur zum Beispiel sein Intelligenz) erhellen“ (Wa181 Gemeint ist hier ein Entwicklungsstand, der die psychomotorischen, kognitiven, ästhetischen, sozialen, moralischen Voraussetzungen der Schüler ebenso berücksichtigt wie die Interessen und die Umgangsformen. Um diese Voraussetzungen entsprechend berücksichtigen zu können, rückt der Begriff des Lebensweltbezuges in den Mittelpunkt des Interesses. 182 Wagenschein plädiert dafür, Beispiele für den Unterricht auszuwählen, die exemplarisch für ganze Zusammenhänge stehen: „Das Einzelne, in das man sich hier versenkt, ist nicht Stufe, es ist Spiegel des Ganzen“ (Wagenschein, 1956, S. 7). 279 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung genschein, 1956, S. 9). Es ist nicht sinnvoll, mit dem Anspruch der Vollständigkeit zu unterrichten, denn dieser führt „zur Hast und also zur Ungründlichkeit. So baut er einen imposanten Schotterhaufen. [...] Bildung ist kein addierender Prozeß. [...] Der Stoff wird dann fadenscheinig und substanzlos“ (Wagenschein, 1956, S. 5). Obwohl Wagenschein seine Methode des exemplarischen Lernens vor nunmehr über vierzig Jahren entwickelt hat, ist sie aktueller denn je. Solange Schule den Anspruch hat, zahllose Inhalte nebeneinander zu behandeln (das gilt auch für den Schulsport), wird sie in der besagten Unverbindlichkeit enden. Martin Wagenschein spricht dagegen vom ‘Mut zur Lücke’, der aufgebracht werden muss, wobei dies bei ihm gleichbedeutend mit dem Mut zur Gründlichkeit ist und dem Mut dazu, bei begrenzten Ausschnitten intensiv zu verweilen (vgl. Wagenschein, 1956, S. 5). Im Hinblick auf diese Themenstellung führen die Überlegungen wiederum zu der Konsequenz, dass Schule in erheblichem Maße auf die Thematisierung ‘epochaler Schlüsselprobleme’ zurückgreifen muss, um den formulierten Ansprüchen gerecht zu werden (vgl. dieses Kapitel, Teil B; Klafki, 1996, S. 154ff). 280 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Abbildung 11: Die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung. c) Allgemeinbildung als kosmische Verantwortung und als ‘Wissen als Ganzes’ Qualifikation und Persönlichkeitsbildung können am ehesten durch (je nach Inhalt) erfahrungsoffene oder geschlossene Methoden vermittelt werden, wobei das Prinzip des exemplarischen Unterrichtes handlungsleitendes Moment für die Auswahl geeigneter Inhalte ist. Dennoch ist den Ansprüchen des in Teil B dargelegten Allgemeinbildungskonzeptes noch nicht genüge getan, solange die Kinder und Jugendlichen zwar auf die Momente der Gemeinschaftlichkeit hin unterrichtet, aber darüber hinaus nicht sensibilisiert werden. Rückblickend auf diese Ausführungen spricht insbesondere Ballauff (1989) von einer kosmischen Verantwortung, von welcher der Mensch in Anspruch genommen werden sollte. Dabei geht es ihm darum, dass der Mensch nicht nur sich selbst und die Gesellschaft ins Auge fasst, sondern ebenso der ‘Kosmos’ Berücksichtigung finden muss. In Rückbesinnung auf Kant würde das bedeuten, dass jeder Mensch sein Handeln darauf- 281 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung hin überprüft, dass er nicht nur sich selbst und seine Mitmenschen, sondern ebenso seine Um- oder Mitwelt183 in seinem Tun berücksichtigt. Schulisch bedeutsam ist dieser Punkt in all jenen Feldern, die über das bisher Gesagte hinausgehen. Dass sich dabei auch der Sport dieser Verantwortung nicht entziehen kann, soll am Beispiel der Umweltthematik aufgezeigt werden. Geeignet ist diese Thematik zum einen deshalb, weil die ökologische Krise wohl unbestritten zu den derzeit dringendsten ‘epochalen Schlüsselproblemen’ gehört, die es zu lösen gilt184. Zum anderen ist die ‘ökologische Krise’ weder als unabwendbares Geschick über die Menschheit hereingebrochen, noch ist sie Zeichen eines blindwütigen Naturgeschehens, sondern ein Ergebnis menschlicher Taten (vgl. Meinberg, 1995, S. VII). Will man diesen Taten innerhalb eines Konzeptes schulischer Allgemeinbildung begegnen, so wird deutlich, dass Lösungen bezüglich der Erlangung einer umfassenderen Verantwortung nicht in den bisher behandelten Momenten mitgedacht sind. Es scheint demnach notwendig, das Konzept dahingehend zu erweitern. Auch der Sport steht heute vielfach im Spannungsfeld zwischen Naturnutzung und dem Schaden, der sich daraus ergibt. Als Ausgangspunkt für die sportpädagogische Diskussion, die sich diesem Spannungsfeld anschließen sollte, schlagen Seewald, Kronbichler & Größing in Anlehnung an Capra (1988, 1996) die These der ‘falschen Weltwahrnehmung’ vor, die dieser als eigentlichen Grund für die Umweltkrisen der Neuzeit sieht. Im Überblick gesehen kennzeichnen sie diese falsche Weltwahrnehmung durch sechs Punkte (vgl. Seewald, Kronbichler & Größing, 1998, S. 22): 1. Statt einem vernetzt-systematischem Denken herrscht derzeit immer noch ein einfaches Ursache-Wirkungs-Denken vor. 2. Statt emotional-intuitive Verfahren bei der Suche nach Lösungen zu berücksichtigen, werden kausal-analytische Methoden bevorzugt. 183 Es soll an dieser Stelle nur insofern auf die Begrifflichkeit hingewiesen werden, dass insbesondere der Begriff ‘Umwelt’ auf vielfältige und oft diffuse Weise benutzt wird und daher umstritten ist. Generell kann unter dem Begriff die Gesamtheit aller Faktoren verstanden werden, die auf einen Organismus einwirken und ihn in seiner Existenz bestimmen und beeinflussen (vgl. Tischler, 1994, S. 8). Andererseits stößt man sich beispielsweise an der anthropozentrischen Grundeinstellung, die sich hinter diesem Begriff verbirgt und den Menschen selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt (Döring, 1989, S. 433). In der neueren Diskussion wird deshalb vermehrt vom Begriff der ‘Mitwelt’ gesprochen, der betont, dass das Existenzrecht aller Lebewesen nur in einem Miteinander Bestand haben kann. Dem vom Meyer-Abich eingeführten Begriff liegt ein Weltbild zu Grunde, in dem der Mensch ein Teil seiner Mitwelt ist (vgl. Meyer-Abich, 1984). 184 Stellvertretend für die zahlreichen Veröffentlichungen soll an dieser Stelle die Studie des WuppertalInstitut für Klima, Umwelt, Energie in Zusammenarbeit des BUND genannt werden, die die Thematik eindrücklich behandelt und auf weitere wesentliche Veröffentlichungen zu diesem Thema aufmerksam macht. 282 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung 3. Die Menschen streben Lösungen für die Zukunft mit Strategien aus der Vergangenheit an. 4. Es wird versucht, der Umweltproblematik mit Symptomkuren zu begegnen, anstatt die Ursachen nachhaltig zu bekämpfen. 5. Es herrscht immer noch eine ungebremste Wissenschaftsgläubigkeit im Hinblick auf die Lösungen der Probleme. 6. Statt Bescheidenheit, Beschränkung und Mäßigung sind im menschlichen Handeln weiterhin das Machbarkeitsdenken und das Expansionsstreben dominant. Der Autorenschaft geht es bei ihren Überlegungen um eine Umorientierung, die sich weg vom Machbarkeitsdenken der modernen Trainingswissenschaft hin zu einer sensibleren Wahrnehmung ganzer Zusammenhänge entwickeln muss. Die Gründe für ein notwendiges Umdenken im Sport liegen ihrer Ansicht nach zum Einen darin, dass das Machbarkeitsdenken vom Körper Besitz ergreift und somit Körper und Geist entzweit. Zum Anderen lenkt die instrumentelle Konzentration auf den Körper von der Natur ab und degradieren diese zu einem Gebrauchsgegenstand. Die ‘eigentlichen’ Sinnperspektiven wie Gesundheit, Leistung und Spiel werden durch eine solche Sichtweise nicht mehr thematisiert, was zur Folge hat, dass die - sowohl dem Sport als auch der Natur - innewohnenden Möglichkeiten und Potentiale statt dessen zu einer sekundären Angelegenheit mit „Gebrauchswert für Geschäfts- und Tourismusinteressen“ (Seewald, Kronbichler & Größing, 1998, S. 22) werden. Die Forderung der Autoren lautet, dass die Kombination Körpererfahrung und Naturerleben zukünftig stärker beachtet werden muss: „Beide bilden so eine Grundlage für eine umfassende und notwendige Umweltbildung und Werteerziehung (ethische Erziehung) im Sport“ (Seewald, Kronbichler & Größing, 1998, S. 23). Für ein Allgemeinbildungskonzept zeigen sich hier deutlich die Anknüpfungspunkte. Es geht um die Abkehr vom linearen Denken hin zu der Fähigkeit, verschiedene Themenbereiche reflektiv zu verknüpfen: „Ökologisches Bewußtsein wird also nur entstehen, wenn wir unser rationales Wissen mit Intuition für das nichtlineare Wesen unserer Umwelt verbinden“ (Capra, 1988, S. 29). Wenn dies gelingt, dann wird deutlich, dass ökologisch verantwortliches Denken nur zum Teil mit dem Thema der Umweltverschmutzung zu tun hat. Daneben werden grundsätzlichere Fragen angesprochen, die versuchen, komplexe Zusammenhänge miteinander zu verbinden und aufzudecken. Angesprochen 283 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung sind neben dem Fachwissen solche Werte, die den Zusammenhang von Wissen und Gewissen wiederfinden: „Das mit den Gebieten verbundene Fachwissen ist erlernbar. Seine Bedeutung wird überschätzt. Außerdem macht zuviel Fachwissen unkreativ, ist also schädlich. Mit dem Know-how Kreativität und der Kenntnis, wie Fachwissen effektiv aufgenommen werden kann, ist man viel flexibler als mit Fachwissen allein. [...] Unkreatives Denken verlangt nach Fragen, die zu beantworten sind, nach Arbeitsaufträgen, die zu erfüllen sind. Kreatives Denken stellt die Fragen, sucht selbst die Arbeitsaufträge“ (Seewald, Kronbichler & Größing, 1998, S. 62 zitiert nach Binnig185). Der eigentliche Kern der Problematik liegt somit in der Unfähigkeit des Menschen, die Zusammenhänge zu erkennen und zu ergründen, welches die ‘wahren Ursachen’ einer Krise sind. Capra spricht diesbezüglich von der Unfähigkeit, sich von dem mechanistischen Vorstellungswert eines Descartes oder Newton zu lösen, um zu einer ganzheitlichen und ökologischen Sicht zu gelangen (vgl. Capra, 1988, S. VIII). Auch Meinberg (1995) sieht in diesem Mangel an ganzheitlichem Denken den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Es ist für ihn klar, dass die Probleme nur unter Zuhilfenahme verschiedenster Sichtweisen zu lösen sind. Dabei müssen drei ‘Welten’ des Menschen miteinander verbunden werden, die er als ‘Außenwelt’, ‘Innenwelt’ und ‘Mitwelt’ bezeichnet, wobei der Homo Oecologicus Leitbild und Modellfall für das angestrebte Verhalten ist: „Die ökologische Krise ist eine solche des Verhältnisses von Mensch und Umwelt, und der Homo Oecologicus symbolisiert diese Relation in einer speziellen Form. Das Eigentümliche an ihm ist unter anderem [...], dass seine Existenz maßgeblich durch die Welten des Außen, des Innen und des Miteinander geprägt ist, zu denen er sich in besonderer Weise verhält. Die Außenwelt, die ihm gegenübersteht und deren Teil er zugleich als leibgebundene Kreatur ist, wird ihm problematisch als Naturwesen, die Mitwelt als Wesen der Co-Existenz sowie die Innenwelt als das Innere der Natur, das als Subjektivität und Personalität erfahren wird. Dieser dreichfachen Weltverschränkung zufolge ist Homo Oecologicus auf die Natur, die Gesellschaft und sich selbst verwiesen“ (Meinberg, 1995, S. 18f). „Dabei betont die Innenwelt die singuläre psychische Subjektivität. Die zweite ist diejenige, die um dieses Subjekt herum gelagert ist, ist das ‘Draußen’, welches das ‘Drinnen’ umgibt und auch als ‘äußere’ Natur, Um- 185 Gerd Binnig ist Experimentalphysiker, Erfinder des Raster-Tunnel-Mikroskops und Physiknobelpreisträger des Jahres 1986. 284 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Welt, im weiteren Sinne bezeichnet wird. Und die dritte unterstreicht die Sozialität und Kulturrealität“ (Meinberg, 1995, S. 33). Das gegenwärtige Weltproblem sieht Meinberg in der Schieflage dieser Welten zueinander, die der Mensch nicht miteinander verbindet oder verbinden kann. „Folglich ist die Ökokrise keine rein naturwüchsige, sondern in erster Linie eine kulturell-soziale“ (Meinberg, 1995, S. 33). In Abgrenzung zu dem vom Meinberg als Idealtyp vorgestellten Homo Oecologicus stehen andere Menschenbilder, wie der Homo Faber186, der Homo Technicus187 und der Homo Oeconomicus188. Diese können vor allen Dingen durch ihre Zweidimensionalität (Ichbezug - Gesellschaftsbezug) charakterisiert werden. In einem solchen zweidimensionalen Menschenbild stehen die Entwürfe eines guten Lebens im Mittelpunkt. Dabei geht es um Formen des Zusammenlebens und um das, was als sozial richtig angesehen wird. Das dreidimensionale Menschenbild hingegen sucht nach Handlungsorientierung in der Beziehung des Menschen zur Natur. Diese meint die Wahrnehmung der Natur mit ihren Strukturen und ihrer Vielfalt ohne das beständige Reduzieren auf die Zweidimensionalität: „Dieser dreifachen Weltverschränkung zufolge ist Homo Oecologicus auf die Natur, die Gesellschaft und sich selbst verwiesen“ (Meinberg, 1995, S. 19). Schulpädagogisch interessant sind die fünf Prämissen, die das moralische Verhalten des Homo Oecologicus in dieser Dreidimensionalität kennzeichnen und letztlich auf das Menschsein bezogen sind. Dabei begründet Meinberg aus Sicht der Anthropologie (vgl. Meinberg, 1995, S. 69ff): 1. Der Mensch ist ambivalent angelegt. Das heißt, dass er um das Richtige wissen und doch konträr handeln kann. Der Homo Oecologicus lebt im Wissen um diese Ambivalenz und versucht dennoch, die angesprochene Dreidimensionalität in seinem Denken und Handeln zu erreichen. 186 Der Homo Faber ist der Macher, der seine Befriedigung im ständigen Machen sucht. Dieser Menschentyp konstruiert die Natur als ein zu verwandelndes Material, mit dem er seine Bedürfnisse stillen kann. Er nutzt die Außenwelt für sich und außermenschliche Ansprüche haben in seinem Denken und Handeln keinen Raum (vgl. Meinberg, 1995, S. 21). 187 Dem Homo Technicus wird seine tiefe Gläubigkeit an die Wissenschaft, insbesondere an die Naturwissenschaft, angelastet. Dieser Menschentyp, von der Unfehlbarkeit der naturwissenschaftlichen Kenntnisse mehr als überzeugt, wird beschuldigt, Mensch und Natur entfremdet zu haben (vgl. Meinberg, 1995, S. 23). 188 Der Homo Oeconomicus ist schließlich darauf aus, die Natur seinen ureigenen Bedürfnissen anzupassen. Er folgt dem Trieb, Naturmaterialien, aber auch künstlich geschaffene Produkte zu verbrauchen. Sein Verhältnis zur Natur, zur Gesellschaft und zu den Mitmenschen wird wirtschaftlich definiert (vgl. Meinberg, 1995, S. 24). 285 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung 2. Der Homo Oecologicus ist sich seiner Lebensführung bewusst, das heißt, dass er einen ganz entschiedenen Standpunkt dem Leben gegenüber einnimmt. Er will nicht bloß überleben, sondern er ist bemüht, gut zu leben. Meinberg bezeichnet ihn als einen biophilen Menschen, gekennzeichnet durch seine Co-Existenz: „Dies schließt wiederum ein Zweifaches ein: Für Homo Oecologicus gibt es generell keine unwerten Lebensformen. Das Leben an sich scheint ihm als werthaftes, dem Achtung entgegengebracht werden muß. Homo Oecologicus weiß sich unaufhebbar in ein Naturgeschehen verworben, er teilt die ‘Natürlichkeit’ mit anderen nichtmenschlichen Lebewesen, die er ebenfalls achtet, weil sie, wie er, Kreaturen sind“ (Meinberg, 1995, S. 71). 3. Das Wort der Co-Existenz bedeutet aber auch Mit-Leben in Gemeinschaften, Sozietäten, Verbänden, Völkern und Nationen. So definiert sich das Ich aus der Beziehung zu anderen. Der Mensch verdankt sein Leben anderem Leben, wird von anderem während seines Lebens begleitet, das heißt unterstützt oder beschränkt und steht so zwischen seinen eigenen Interessen und seinem sozialen Umfeld. 4. Dadurch rücken wiederum Phänomene in den Mittelpunkt wie Solidarität, Mitverantwortung, Kooperation, Toleranz oder Rücksichtnahme. 5. Schließlich soll und kann ein solches Verhalten auf konkrete Traditionen zurückgreifen, die als gelebte Vorbilder dienen können. Meinberg nennt in diesem Zusammenhang den Schweizer Theologen, Arzt und Philosophen Albert Schweitzer. In diesen fünf Punkten schließt sich der Kreis, denn sie enthalten die Eckpunkte des Allgemeinbildungskonzeptes, wie es bisher dargelegt wurde: der gebildete Mensch kann sich in seiner Co-Existenz so einordnen, dass er Leben ist, das leben will, inmitten Leben, das leben will (vgl. Schweitzer, 1990, S. 330). In diese Idee der Co-Existenz gehört auch die Verbindung mit der Ästhetik im Sinne des Bestrebens, Leitlinien für die Gestaltung des Daseins zu entwickeln (vgl. Meinberg, 1995, S. 95). „Dabei hat es die Ästhetik mit der Sinnlichkeit, mit Wahrnehmungen, mit dem Schönen, mit Genuß, Gefallen, Erleben und ähnlichem zu tun“ (Meinberg, 1995, S. 96). Im Bereich des Schulsports bedeutet dies, dass die Schüler in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit soweit unterrichtet werden, dass sie Erscheinungen außerhalb ihres Sporttreibens erkennen. 286 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung In diesem Punkt wird die Zweidimensionalität ebenso überschritten, wie auch deutlich wird, dass die in Teil B, Kapitel 2 beschriebenen Aspekte dessen, was das Wissen als Ganzes einschließt, hierin enthalten sind. Denn nur, wenn es gelingt, die Schüler in ihrem Umgang mit sich, der Gesellschaft und der Natur hin so zu erziehen, dass sie alle Komponenten als gleichwertig erachten, haben sie auch das erreicht, was Wolfgang Klafki mit dem Terminus Wissen als Ganzes umschrieben hat. Dieses gilt auch in einem bildenden Schulsport, der in seinen Grundanlagen an der beschrieben Zweidimensionalität angelegt ist. Nur wenn jedoch die anthropologischen Grundphänomene der Leiblichkeit, der Gesundheit, des Spiels, der Leistung und der Ästhetik auf die hier beschriebenen zu unterrichtenden Kompetenzen hin geprüft sind und der Schulsport sich danach ausrichtet, kann Bewegung oder Sport auch dem Anspruch der Bildsamkeit genügen. Dann ist es möglich, dass die Schüler offen für neue Erfahrungen sind, dass sie das bisherige Wissen erweitern und in Frage stellen möchten, dass sie Grundkategorien gewonnen haben, in deren Spur neue an Erfahrungen angelehnte Fragen gestellt werden können (Wie kommt das? Wie wird das begründet?) und dass sie schließlich die Bereitschaft haben, neue Informationen einzuholen und zu verarbeiten (vgl. Klafki, 1996, S. 72; Teil B, Kap. 2). Zusammengenommen bedeutet das, dass sie über die Fähigkeit der Aspektverknüpfung verfügen. d) Fazit Nachdem die wesentlichen Bezugspunkte der Allgemeinbildung - die qualifikatorische und die persönlichkeitsbildende Komponente - umrissen sind, stellte sich im Folgenden die Frage nach der inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung des allgemeinbildenden Schulsports. Dabei zeigt sich, dass vor allen Dingen die geforderten sozialen Komponenten durch ein hohes Maß an Eigenerfahrungen zu erreichen sind, woraus sich wiederum die Frage ergibt, wie Kindern und Jugendlichen Primärerfahrungen ermöglicht werden können, die möglichst individuell ausfallen. Bei der pädagogischen Inszenierung von Erfahrungen, deren konkrete Umsetzung im Bereich des ‘erfahrungsoffenen Unterrichtes’ liegt, kommt es darauf an, dass sich der Lehrer auf das ‘Machbare’ konzentriert, da die Lehr- und Herstellbarkeit solcher Erfahrungen engen Grenzen unterliegt. Diese Grenzen bergen das Dilemma in sich, dass der 287 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Prozess der Erfahrung einerseits eines didaktischen Rahmens bedarf, andererseits jedoch auf ein theoretisches Fundament verzichten muss, um individuellen Erfahrungen genügend Raum zu geben. Als Lösung sieht Thiele den Ansatz der Situationsgestaltung, wobei auch hier die Grenzen der Methode hinzunehmen und zu akzeptieren sind. Der erfahrungsoffene Unterricht eignet sich besonders dann, wenn es darum geht, soziale Kompetenzen zu schulen. Sollen den Schülern jedoch bestimmte Techniken oder die Lösung von Aufgaben mit dem Charakter vorgegebener Koordinationsmuster vermittelt werden, sind geschlossenere Methoden sinnvoller. Bezüglich der Unterrichtsorganisation erscheint somit eine Polarisierung verschiedener Konzeptionen nicht geeignet, da dem Konzept schulischer Allgemeinbildung nur dann Rechnung getragen werden kann, wenn es gelingt, für verschiedene Zielsetzungen verschiedene Zugangsweisen zu wählen, die sich ergänzen. Neben der Frage nach organisatorischen Möglichkeiten stellt sich auch die der Inhalte. Um sich nicht den Vorwurf der ‘vielfältigen Oberflächlichkeit oder der ‘didaktischen Unverbindlichkeit’ gefallen lassen zu müssen, hat ein schulisches Konzept der Allgemeinbildung die begründete Auswahl nach Lerninhalten ebenso ernst zu nehmen, wie die Lernzielbestimmung oder die Frage nach den Methoden. Da bildendes Lernen, das die Selbständigkeit des Lernenden fördert und ihn zu weiterwirkenden Erkenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen führt, nicht durch die reproduktive Übernahme möglichst vieler Einzelerkenntnisse zu gewährleisten ist, bietet es sich an, dass sich der Lernende an einer begrenzten Zahl von ausgewählten Beispielen mehr oder minder verallgemeinerbare Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen erarbeitet. Hierin liegt der Kern des exemplarischen Unterrichtes, der das Ziel hat, verallgemeinerbare Zusammenhänge, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten und Strukturen aufzuzeigen und zu erarbeiten. Somit ist das exemplarische Betrachten das Gegenteil des Spezialistentums, da es nicht vereinzeln will, sondern das Einzelne im Ganzen sucht (vgl. Wagenschein, 1956, S. 8). Wenn somit der organisatorische und inhaltliche Rahmen des Allgemeinbildungskonzeptes umschrieben ist, bleibt die Aufgabe, die Zweidimensionalität der bisherigen Betrachtungsweise aufzulösen und zu einer Dreidimensionalität überzugehen. Was damit gemeint ist, wurde am Beispiel der Umweltthematik aufgezeigt. Als Ausgangspunkt der Überlegungen über die Ursachen der Umweltkrise steht die These der falschen Welt288 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung wahrnehmung, die sich an sechs Punkten aufzeigen lässt, die dahingehend zusammenzufassen sind, dass das Machbarkeitsdenken des Menschen die sowohl dem Sport als auch der Natur innewohnenden Möglichkeiten auf einen Gebrauchswert reduziert. Dieses Machbarkeitsdenken zeichnet sich jedoch durch eine Linearität aus, die die Fähigkeit vermissen lässt, verschiedene Themenbereiche reflektiv zu verknüpfen. Nichtlineares Denken hingegen versucht, komplexe Zusammenhänge so zu verbinden, dass es neben dem Fachwissen auch solche Werte gleichrangig aufnimmt, die den Zusammenhang von Wissen und Gewissen thematisieren. In Anlehnung an Binnig nennen Seewald, Kronbichler & Größing (1998, S. 62) diese Fähigkeit ‘kreatives Denken’. Dieses jedoch hilft den Menschen dabei, die ‘wahren Ursachen’ einer Krise zu erkennen. Dadurch wird die Zweidimensionalität, die nur den Menschen (seine Individualität und seine gesellschaftlichen Bedingungen) thematisiert, überschritten und durch die Frage nach der Handlungsorientierung in der Beziehung des Menschen zur Natur erweitert. Schulpädagogisch ergeben sich aus diesen Überlegungen fünf Zielperspektiven, die die Dreidimensionalität kennzeichnen und dadurch umschrieben werden können, dass dem Menschen seine Co-Existenz, in der er lebt, bewusst wird und dass er diese nicht ausschließlich auf seine eigene Spezies bezieht. Durch den Begriff der Co-Existenz vereint sich letztlich der Kreis des Allgemeinbildungskonzeptes, denn er enthält alle Eckpunkte der zuvor aufgeführten Bedingungen, die einen allgemeinbildenden Unterricht kennzeichnen. 289 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Abbildung 12: Kosmische Verantwortung und Wissen als Ganzes. Allgemeinbildung als ‘kosmische Verantwortung’ & ‘Wissen als Ganzes’ Ermöglichung individueller Entwicklungsprozesse Erlangung umfassender Verantwortung Kooperation, Solidarität, Gemeinschfaftlichkeit Ausgangspunkt: falsche Weltwahrnehmung Co-Existenz 5. Lebenslanges Sporttreiben Wenn Schule auf lebenslanges Lernen, in Falle des Schulsports also auf lebenslanges Sporttreiben vorbereiten soll, dann, so hat sich bereits gezeigt, muss sie Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung aufzeigen und die selbstverantwortete Lebensgestaltung in den Mittelpunkt der Überlegungen stellen. Dabei geht es nicht mehr um die Übermittlung tradierter Erfahrungs- und Wissensbestände, sondern um die Befähigung zur Bewältigung beschleunigter Wandlungsprozesse und der ständig neu an die Menschen herangetragenen Anforderungen. Thiele bezeichnet diese Anforderungen mit dem Begriff des ‘Lernen lernens’ und betont dabei insbesondere die Fähigkeit der Um- bzw. Neustrukturierung der vorhandenen Horizonte: „Es geht also nicht im Sinne der Addition um das bloße Einfügen oder Hinzufügen bestimmter Erfahrungen in existierende Erfahrungshorizonte, sondern es geht um die Veränderung der Strukturen selbst“ (Thiele, 1996, S. 246). Auch hier steht wiederum die Frage im Mittelpunkt der Überlegungen, wie es gelingen kann, Erfahrungen zu ermöglichen. „Solch reflektiertes Erfahrungslernen steht natürlich nicht am Anfang des individuellen Lernprozesses und es ist alles andere als leicht zu vermitteln. 290 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung Die Aufgaben der Didaktik werden mithin nicht leichter, wie es der Gedanke der Nicht-Planbarkeit vorgaukeln könnte, sondern komplexer“ (Thiele, 1996, S. 246f). Thiele sieht in der Gestaltung ausgewählter Erfahrungssituationen die Chance, reflektierte Erfahrungen zu ermöglichen. Dies kann dann geschehen, wenn die Schüler zwischen Vertrautheit und Fremdheit hin- und hergerissen sind. Durch diesen Modus der latenten Verunsicherung kann es gelingen, den jeweils individuellen Erfahrungszusammenhang punktuell aufzubrechen, zu enttäuschen und gleichzeitig konstruktiv eine Anpassung des Erfahrungshorizontes zuzulassen. Dabei betont er das Problem der richtigen Dosierung: „Fehlt das ‘Befremdende’, gerät der Erfahrende nicht ins Staunen und die Situation wird gemäß existenten Ordnungsmuster eingeordnet. Ist der Grad der Fremdheit zu hoch, bestehen zum einen keine Anschlußmöglichkeiten, das völlig Unbekannte ist das nicht Erfahrbare, und zum anderen entsteht Angst. Der Ängstliche indes macht keine Erfahrungen und Mut will ‘gelernt’ sein“ (Thiele, 1996, S. 247). Diese Dosierung führt die Schüler auf den richtigen Weg: einerseits können sie sich auf das Bekannte zurückziehen und dieses als Ausgangspunkt weiterer Erfahrungen nehmen, andererseits müssen sie sich mit neuen Inhalten auseinandersetzen und lernen dabei, dass das Unbekannte auch viele Möglichkeiten der Weiterentwicklung eröffnet. Hier wird nun deutlich, wie sich der Schulsport dem Problem des sich verändernden Leibverhältnisses annehmen kann, wie es in Kapitel 1.1 dieses Teiles angesprochen wurde. Konkret geht es hierbei um die Frage, wie Kindern und Jugendlichen die Wandelbarkeit des Leibverhältnisses so näher gebracht werden kann, dass sie lernen, die Zustände des leiblichen Widerstandes, wie er sich im körperlichen Schmerz und Gebrechen mit zunehmenden Alter immer stärker zeigen wird, zu akzeptieren. Die Schule kann natürlich nicht das Gefühl der körperlichen Begrenztheit simulieren, sie kann aber die Fähigkeit schulen, Veränderungen zu akzeptieren und neu zu bewerten. Wenn es schon den jungen Menschen gelingt, neue Situationen immer wieder neu zu erkennen und entsprechend zu bewerten, dann liegt genau hierin der Ausgangspunkt für lebenslanges Sporttreiben. Denn dann wird es auch dem älteren Menschen gelingen, seinen Könnens- und Leistungsstand entsprechend seinen gegenwärtigen Fähigkeiten 291 Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung einzuschätzen. Dieser jeweils aktuelle Stand bildet dann die Basis für das weitere Sporttreiben und nicht der Vergleich mit Leistungen anderer Menschen oder früherer Tage. In einer solchen Auslegung zeigen sich wiederum die Möglichkeiten, die die anthropologischen Grundthemen ‘Körper und Bewegung’, ‘Gesundheit’, ‘Spiel’, ‘Leistung’ und ‘Ästhetik’ im Bildungsprozess bieten. Denn wie sich gezeigt hat, verändert sich der Mensch in seiner Entwicklung ebenso wie seine Sensibilität für gesundheitliche Fragen oder auch seine Einstellung zu Spiel und Leistung sowie sein ästhetische Empfinden. Gerade der Sport bietet hierzu ideale Möglichkeiten, da alle fünf Aspekte als Grundlegung für die Selbstdeutung so vielschichtig und veränderbar sind, dass sie den Ausgangspunkt für eine sich ständig ändernde Selbstdeutung in biographischer Hinsicht bilden. Der bildende Schulsport muss sich dieser Aufgaben annehmen, das heißt, er muss Situationen schaffen, durch die es den Schülern gelingt, sich mit veränderten Situationen reflektiv und konstruktiv auseinanderzusetzen. Ausgangspunkt und Weg dahin ist die Allgemeinbildung mit der gleichwertigen Einbindung aller genannten Aspekte. Eine einseitige Fokussierung auf den gesellschaftlichen Aspekt oder auf die Ausbildung anderer, eher sozialer Kompetenzen, würde allenfalls dazu führen, dass Bildung durch ein lineares Denken ersetzt wird, das den Menschen die Souveränität vorenthält, die letztlich auch das lebenslange Sporttreiben verlangt. 292 Teil C: Zusammenfassung und Fazit Abbildung 13: Lebenslanges Sporttreiben. 3. ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT Nachdem in den Teilen A und B sowohl die Aufgaben der Schule und ihre inhaltliche Ausgestaltung als auch die anthropologischen Grundlagen für einen bildenden Schulsport aufgearbeitet wurden, sollten nun diese Grundlagen mit den Momenten der schulischen Allgemeinbildung verbunden werden. Dabei zeigen die ersten beiden Momente (Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung; Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen) die zu erreichenden Ziele an, wobei das dritte zunächst inhaltliche und organisatorische Bedingungen klärt und im Folgenden die Zielperspektive erweitert. Das vierte Moment - lebenslanges Lernen schließlich macht deutlich, dass ein Allgemeinbildungskonzept nicht mit der Schulzeit beendet ist. Zusammenfassend lässt sich die Zielperspektive des Allgemeinbildungskonzeptes bildlich durch zwei Säulen darstellen: auf der einen Seite sollen die Schüler lernen, sich mit der gesellschaftlichen Realität auseinanderzusetzen, auf der anderen Seite gilt es, den jungen Menschen soziale Kompetenzen an die Hand zu geben, durch die sie befähigt werden, in einer Gemeinschaft zu leben: 1. Die Aufnahme der gesellschaftlichen Realität beinhaltet zum einen die Thematisierung des ‘großen Sports’, wie er in den verschiedenen Wettkampfformen existiert und zum anderen die Darstellung der individuellen Erscheinungsformen, wie sie ins293 Teil C: Zusammenfassung und Fazit besondere in vielen ‘Neuen Sportarten’ zu beobachten sind. Neben der inhaltlichen Aufarbeitung dieser Themenstellungen gilt es, das kritische Reflexionsvermögen der Schüler zu stärken, damit diese befähigt werden, ihren eigenen Standpunkt im breiten Feld der sportlichen Möglichkeiten zu finden. Dabei geht es nicht nur um die Auswahl einer oder mehrerer favorisierter Sportarten oder Bewegungsfelder, sondern auch um die Art der Ausübung. 2. Das individuelle Einordnen in das Themenfeld des Sports leitet über zu dem zweiten Schwerpunkt des Allgemeinbildungskonzeptes, der allgemeine Erziehungsziele wie Kooperation, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit beinhaltet. Im Zentrum der Bemühungen steht dabei die Aufgabe, den Schülern Wege zur ‘Verständigung’ zu eröffnen. Insgesamt weisen beide Säulen auf die Erkenntnis hin, dass die Ziele des hier vorgestellten Allgemeinbildungskonzeptes mehr durch das ‘Wie?’ als durch das ‘Was?’ zu erreichen sind. In Bezug auf das organisatorische Moment bedeutet dies, dass der Lehrende je nach Ziel auf verschiedene (offene oder geschlossene) Maßnahmen zurückgreifen muss. Um dem hier vorgestellten Konzept gerecht zu werden, ist es nicht sinnvoll, verschiedene Zugangsweisen weiterhin unter dem Gesichtspunkt der Polarisierung zu diskutieren. Bei der Auswahl der Inhalte ist zu beachten, dass die Vielfalt der Ansprüche nicht in einer unverbindlichen Pluralität münden. Eine begründete Auswahl richtet sich zunächst vielmehr nach zwei Merkmalen: zum Einen sollen die Schüler Einsichten in den Gesamtzusammenhang des behandelten Themas gewinnen, zum Anderen sollen sie dazu befähigt werden, selbst zu klären, wie sie mit dieser gewonnenen Einsicht jeweils verfahren. Es wird deutlich, dass sich die geforderte Vielfalt nicht auf die Anzahl der zu behandelten Themen bezieht, sondern auf die verschiedenen Perspektiven, die an einem Beispiel aufgezeigt werden können. Grundlage für die inhaltliche Auswahl sind Themen, die ‘kategorialen Charakter’ (vgl. Klafki, 1959, S. 411f) besitzen. Die Inhalte können exemplarisch ausgewählt werden. Die ersten drei Momente des Allgemeinbildungskonzeptes sind somit hinreichend geklärt und zeigen auch deutlich die Möglich- und Notwendigkeit auf, die der Beitrag von Bewegung und Sport im Kanon der Schulfächer leistet. Dennoch zeigt sich immer wieder, dass der Rückbezug auf das Individuum und die Gemeinschaftlichkeit für einen 294 Teil C: Zusammenfassung und Fazit umfassenden Allgemeinbildungsgedanken noch nicht ausreichend sind. Der Kern der Problematik liegt in dem Mangel an ganzheitlichem Denken (Meinberg, 1995, S. 18f), der den Aspekt der Mitwelt nicht genügend berücksichtigt. Diese ungenügende Berücksichtigung lässt sich aus einem bisher vorherrschenden zweidimensionalen Menschenbild erklären, das auf die Aspekte Individuum und Gemeinschaftlichkeit, nicht jedoch auf die Beziehung ‘Mensch - Natur’ bezogen war. Diese Erweiterung auf die Dreidimensionalität betrifft auch den Aspekt des Schulsports, insbesondere die Bereiche, die die Natursportarten zum Inhalt haben. Ausgedrückt durch den Begriff der Co-Existenz schließt sich damit der Kreis, der den Anspruch der Allgemeinbildung umreißt. Denn die Co-Existenz bedeutet sowohl das Mit-Leben in Gemeinschaften, als auch das Wissen um die unauflösbare Verwobenheit mit der Natur. Dieses Wissen wiederum kann nur der Mensch erlangen, der über eine unverwechselbare Identität verfügt, womit die drei behandelten Säulen als gleichberechtigt nebeneinander stehen. Bleibt schließlich noch der Anspruch der Allgemeinbildung, dass Lernen nicht auf die Schulzeit beschränkt bleibt. Dies ist insofern ein immer wichtiger werdender Bestandteil des Konzeptes, da sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer schneller ändern. Dabei kann die Übermittlung tradierter Erfahrungs- und Wissensbestände nur noch zum Teil helfen, sich den ständig wechselnden Anforderungen zu stellen. Vielmehr wird eine Kompetenz benötigt, die es ermöglicht, vorhandene Fähigkeiten Neuoder umzustrukturieren, in diesem Zusammenhang als ‘Lernen lernen’ zu bezeichnen (vgl. Thiele, 1996, S. 246). Die Schule und in ihr der Schulsport kann durch den Modus der ‘latenten Verunsicherung’ den individuellen Erfahrungszusammenhang der Schüler aufbrechen, enttäuschen und dabei versuchen, gleichzeitig konstruktiv neue Erfahrungshorizonte zu ermöglichen. Durch die richtige Dosierung zwischen Bekanntem und neuen Inhalten können die Schüler ermuntert werden, sich so mit neuen Inhalten auseinanderzusetzen, dass das Unbekannte seinen Schrecken verliert und statt dessen als Chance gesehen wird, Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu entdecken. Im Bereich der Sport- und Bewegungserziehung betrifft dies nicht nur die sich ändernde Sportpraxis (sowohl in traditionellen als auch in neuen Sportarten), sondern auch den Umgang mit dem sich im Laufe des Lebens ändernden Leibverhältnis, das den Ausgangspunkt für lebenslanges Sporttreiben bildet. 295 Teil C: Zusammenfassung und Fazit An dieser Stelle soll noch einmal auf den Überblick (Abb. 8) am Ende des 1. Kapitels in diesem Teil hingewiesen werden, der die vielschichtige Verschränkung zwischen den Momenten der Allgemeinbildung und den anthropologischen Grundthemen schematisch deutlich macht. TEIL D: AUSBLICK Die hier vorgestellte Arbeit hatte sich zum Ziel gesetzt, zu prüfen, ob der Sport eine wichtige Erziehungs- und Bildungsaufgabe hat und somit einen berechtigten Platz im Kanon der Schulfächer einnimmt. Um sich der Antwort zu nähern, bedurfte es mehrerer Schritte: In einem ersten Schritt (Teil A) sollte zunächst geprüft werden, welches die Aufgaben der gesellschaftlichen Institution Schule sind, denn nur aus diesem Wissen heraus ist es möglich, den Fächerkanon zu legitimieren. Teil B leistet die inhaltliche Ausgestaltung der schulischen Aufgaben. Der dritte Abschnitt (Teil C) behandelte die anthropologischen Voraussetzungen der menschlichen Bewegung, die den Ausgangspunkt des Schulsports bilden, bevor diese in einem letzten Schritt mit den Merkmalen des Allgemeinbildungskonzeptes in Einklang gebracht wurden. Diese Übereinstimmung macht schließlich einen Schulsport deutlich, der einen allgemeinbildenden Anspruch hat und sich somit als eigenständiges Fach im Kanon der Schule legitimieren lässt. Zunächst stand in Teil A die Frage der ‘Idee von Schule’ im Mittelpunkt der Überlegungen, also der Frage, was Schule sein soll. Um sich den schulischen Aufgaben zu nähern, wurde ein historischer Querschnitt jener Autoren gewählt, die sich zum einen theoretisch mit Fragen zur Schule auseinandergesetzt haben, andererseits jedoch auch mit praktischen Umsetzungsproblemen konfrontiert wurden. Der geschichtliche Rückgriff macht deutlich, dass sich die Aufgaben der Schule einerseits theoretisch eindeutig bestimmen lassen. Andererseits wurde die praktische Umsetzung im Laufe der Jahrhunderte jedoch nie vollzogen. Um dieses Dilemma zu beheben, ist es notwendig, von den eindeutig bestimmbaren Aufgaben zu ihren inhaltlichen Ausgestaltungen zu kommen, die dann eine fundierte Grundlage für weitere Schulentwicklungsfragen sein können. 296 Teil D: Ausblick Im Einzelnen handelt es sich um vier Aufgaben, die allesamt eng miteinander verwoben sind und nur zur theoretischen Klärung des Sachverhaltes analytisch getrennt werden: 1. Im Zentrum steht dabei die Aufgabe der Bildung junger Menschen, wobei sowohl die Mittler- als auch die Orientierungsfunktion in ihr enthalten sind und zusammen den Rahmen für ein Allgemeinbildungskonzept vorgeben: 2. Die Mittlerfunktion markiert den Ausgangspunkt der schulischen Bildung und legt den Endpunkt fest, 3. die Orientierungsfunktion hingegen dient insofern als Prüffunktion, da sie den schulischen Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz immer wieder anmahnt. 4. Die Selektionsfunktion lässt sich auf den ersten Blick nicht in den Kanon der schulischen Aufgaben einbinden, da ihre Ausgestaltung durch Ziffern dahin geführt hat, dass die vielschichtigen Anforderungen einer schulischen Selektion durch die Eindimensionalität von vergleichenden Ziffern verdrängt wurde. Soll der Auftrag der Selektion jedoch ernst genommen werden, so wird eine zeitgemäße Schule Möglichkeiten finden müssen, wie sie differenziert und nachprüfbar die erbrachten Leistungen der Schüler unter pädagogischen Gesichtspunkten so benennt, dass alle am Prozess der schulischen Bildung Interessierten eine entsprechende Rückmeldung erhalten. Ein solches Beurteilungsverfahren scheint derzeit durch ‘Berichte zum Lernvorgang’ am besten gewährleistet. Die Bildungsfunktion schließlich zeigt die konzeptionelle Fülle und inhaltliche Ausdifferenziertheit dessen an, was Schule leisten soll. In einer synoptischen Zusammenführung von klassischen und neuen Bildungstheorien ergeben sich vier Merkmale, die zusammen den Rahmen allgemeinbildender Aufgaben ergeben: 1. Der gesellschaftliche Aspekt macht deutlich, dass Bildungsfragen nicht an der gesellschaftlichen Realität vorbeikommen, diese also immer berücksichtigt werden muss. 2. Bildung bedeutet auch, dass sich Menschen in konstruktivem Sinne mit der Welt, in der sie leben, auseinandersetzen müssen. Dazu bedarf es dreier Kompetenzen, die ein Bündel weiterer Kompetenzen in sich vereinigen: Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit. 3. Der dritte Aspekt eines zeitgemäßen Allgemeinbildungsbegriffes schließlich beinhaltet neben organisatorischen und inhaltlichen Überlegungen auch eine Erweiterung der bisherigen Zweidimensionalität von Selbstbezug und Gemeinschaftlichkeit 297 Teil D: Ausblick auf die Dreidimensionalität, die die Beziehung des Menschen zur Natur miteinbezieht, wobei der Begriff der Co-Existenz eine zentrale Bedeutung erhält. 4. Das letzte Merkmal schulischer Allgemeinbildung schließt die Forderung mit ein, dass die zu erlangenden Kompetenzen so ausgebildet werden müssen, dass der Mensch befähigt wird, sich über die Schulzeit hinaus weiterzubilden. Gerade in einer Zeit, die sich durch schnelle Umbrüche auszeichnet, wird die Kompetenz des lebenslangen Lernens immer wichtiger. Mit der Klärung der Frage, welche Aufgaben die Schule zu erfüllen hat und wie diese zum Einen inhaltlich ausgestaltet, zum Anderen miteinander verwoben sind, ist nun der Grundstein für die Frage gelegt, ob Sport eine eigenständige Berechtigung im Rahmen der schulischen Bildung erhält. Damit richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die Frage, welchen Stellenwert Bewegung im Leben des Menschen aus anthropologischer Sicht einnimmt, da insbesondere die Anthropologie ein Schlüssel zum Verständnis von pädagogischen Systemen ist (vgl. Bollnow, 1968, S. 47f). Der besondere Schwerpunkt der Sportanthropologie liegt dabei beim sporttreibenden, spielenden und sichbewegenden Menschen und kann insofern einen Rahmen für inhaltliche Entscheidung bezüglich des Schulsports vorgeben, da die Themenstellungen des Körpers und der Bewegung, der Gesundheit, des Spiels, der Leistung und der Ästhetik einen wesentlichen Beitrag zum Identitätsbewusstsein des Menschen leisten können (vgl. Langeveld, 1964, S. 125). Zusammen bilden diese Einzelphänomene einen Komplex, der tiefere Einsichten über den Menschen als körperliches und sich bewegendes Wesen ermöglicht: der Bereich des Körpers und der Bewegung lässt Aussagen über die Funktion und die Bedeutung des Körpers zu (vgl. Teil C, Kap. 1.1), Gesundheit als umfassend zu erreichendes Ziel bildet die Grundlage für weitere bildsame Prozesse (vgl. Teil C, Kap. 1.2), das Spiel, Ausdruck einer ‘primären Lebenskategorie’, ist Grundlage für ein gelingendes Leben (vgl. Teil C, Kap. 1.3), die Leistung, verstanden als ‘freudiges Könnensbewußtsein’, kann zur besseren Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen dienen (vgl. Teil C, Kap. 1.4) und die Ästhetik schließlich zeigt die Vielfältigkeit der schöpferischen Freiheit auf (vgl. Teil C, Kap. 1.5). Somit bleibt die Aufgabe, diese Einzelphänomene mit den Merkmalen des Allgemeinbildungskonzeptes zu verbinden, um abschließend den Beitrag des Schulsports genau 298 Teil D: Ausblick bestimmen zu können. Dabei lassen sich die vier Merkmale zunächst einmal so aufteilen, dass die ersten beiden Zielperspektiven darstellen, das dritte Moment zunächst die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung erläutert und die Zielperspektive schließlich erweitert und das letzte Merkmal die Möglichkeiten hinsichtlich der schulischen Vorbereitung auf das ‘lebenslange Sporttreiben’ erläutert. Wichtig dabei ist, dass sowohl die kritische Aufnahme der gesellschaftlichen Realität als auch die Befähigung zu sozialen Kompetenzen in ihrer Dreidimensionalität ihren gleichberechtigten Platz finden. Das hierbei immer wieder betonte Primat des ‘Wie?’ vor dem ‘Was?’ zeigt an, dass neben der sorgsamen Auswahl geeigneter Inhalte auch der Methodenwahl eine zentrale Stellung zukommt. Sicherlich muss sich das vorgestellte Konzept den Vorwürfen stellen, es überfrachte die Schule und insbesondere den Schulsport mit Aufgaben, die dieser nicht mehr leisten kann (vgl. Giesecke, 1996, S. 319f). Schließlich handelt es sich um ein Fach, das in der Regel während zwei, maximal jedoch drei Stunden pro Woche unterrichtet wird. Dennoch kann gerade im Bereich des Schulsports diesen Vorwürfen nur bedingt stattgegeben werden, da es - wie besonders die Diskussion der Bewegten Schule deutlich macht - eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, sportlich relevante Themenstellungen in den Schulalltag einzubinden: Arbeitsgemeinschaften, außerunterrichtliche Aktivitäten, Schulfeste, Schulfahrten (Landschulheime, ...), etc. Wichtig bei der Einbindung dieser Möglichkeiten ist eine systematische Verknüpfung der in dem Konzept dargestellten Forderungen an einen bildenden Sportunterricht. Dabei spielt die konzeptionelle Arbeit an der Einzelschule eine entscheidende Rolle. Es gilt zu prüfen, in welchen Klassenstufen welche Inhalte thematisiert werden, mit welchen anderen Fächern fächerverbindende Arbeit geleistet werden kann, welche Inhalte in Landschulheimen besonders geeignet sind, usf. Nur durch eine solche Systematisierung kann es gelingen, den Schulsport so zu gestalten, dass er im Sinne eines hier dargestellten Allgemeinbildungskonzept durchgeführt werden kann. An diesem Punkt wird (wieder) der doppelte Anspruch des vorgestellten Konzeptes deutlich: einerseits ‘überzeitliche’ Kompetenzen zu vermitteln, die jedoch andererseits auf die jeweilige gesellschaftliche Realität Bezug nehmen. 299 Teil D: Ausblick Für die Einzelschule bedeutet dies zunächst eine genaue Prüfung der Lebenswelt der Kinder, die ihre Schule besuchen: die Familiensituation, die häusliche Umgebung, bereits gemachte Vorerfahrungen im Bereich von Sport und Bewegung. Da diese von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängen, kann ein allgemeingültiges Konzept mit dem Anspruch der Allgemeinbildung allenfalls als Orientierungshilfe dienen und Zielvorgaben formulieren, die es unter den jeweils spezifischen Umständen der Einzelschule zu erreichen gilt. Bevor der Vorwurf der Überbeanspruchung des Schulsportes an ein Konzept der Allgemeinbildung herangetragen wird, müssen genau die vielfältigen Möglichkeiten geprüft werden, die eine auf die Lebenswelt der Kinder eingestellte Schule hat (vgl. Teil C, Kap. 2.1 und 2.2). Dass ein allgemeingültiger, für alle Schulen eines Bundeslandes, ohne Rücksicht auf die jeweils unterschiedlichen regionalen Bedingungen zugeschnittener Lehrplan dies nur schwer leisten kann, scheint offensichtlich. Ebenso kann nur die Einzelschule ihre gesamten Möglichkeiten einschätzen, die sie den einzelnen Kindern im Laufe der Schulzeit bieten kann. Gemeint sind beispielsweise die Anzahl der Wochenstunden im Pflichtunterricht, außerunterrichtliche Angebote, Anzahl und Umfang von mehrtägigen Klassenfahrten und die gezielte Einbindung von bewegungsbezogenen oder sportlichen Inhalten. Aber auch die Ausstattungen von Sporthallen, Freianlagen, die Möglichkeiten in der Umgebung, die sich jeweils bieten, sind von Schule zu Schule verschieden. Schließlich sollte jede Schule die Menschen, die mit ihr in Berührung kommen, in ihre Konzeption einbinden: Der Einzelschule wird es eher gelingen, auf die Stärken jedes Lehrers eingehen zu können, als dies ein allgemeingültiger Bildungsplan jemals können wird. Jeder Schule bieten sich Möglichkeiten der Kooperation anderer Art, die Formen der Einbindung von Eltern und anderer Kooperationspartner sind unterschiedlich ausgeprägt. Nur wenn es der Einzelschule gelingt, diese vielfältigen Möglichkeiten auszunutzen und in einem umfassenden, auf mehrere Jahre hin orientierten Konzept einzubinden, indem sie die Voraussetzungen der Kinder und die Motivation der Lehrer entsprechend berücksichtigt, wird es möglich sein, den Ansprüchen eines Allgemeinbildungskonzeptes zu genügen. Unter diesen Bedingungen kann es jedoch auch gelingen, dass Schule ihren 300 Teil D: Ausblick Aufgaben gerecht wird und sie sich von den Vorwürfen befreit, denen sie sich derzeit ausgeliefert sieht (vgl. Einleitung). Solche Forderungen sind keineswegs neu und werden auch in jüngster Zeit immer wieder laut, wie beispielsweise die Rede von Bundespräsident Roman Herzog auf dem Deutschen Bildungskongreß in Bonn am 13. April 1999 deutlich machte. Herzog plädiert in seinen Ausführungen unter anderem für mehr Freiräume im deutschen Schulwesen, wenn er fordert, dass Schulen und Hochschulen mehr Autonomie gegeben und mehr Eigenverantwortung abverlangt werden müsse. Dazu ist es notwendig, dass Schulen ihre eigenen Wege und Lösungsmodelle finden und ausprobieren, ihre Lehrer selbst aussuchen können und mehr Freiräume bei der Verwendung staatlicher Mittel bekommen (vgl. Herzog, 1999). Um eine solche umfassende Konzeption für den einzelnen Unterricht zu erstellen, sind zunächst Fragen der unterschiedlichsten Art zu stellen, deren Antworten so miteinander zu verbinden sind, dass Schule am Ende der Schulzeit jedes Schülers ihren Aufgaben gerecht wurde189. Diese Fragen setzen nicht nur an den Erziehungszielen an, die in dieser Arbeit aufgegriffen und beantwortet werden sollten. Dennoch ist die Antwort auf die Frage, welche Ziele die ‘Institution Schule’ mit dem Anspruch der Allgemeinbildung verfolgt, Ausgangspunkt für jede weitere konzeptionelle Arbeit. Eine solche Zielformulierung wiederum ist allgemeingültig und nicht von 189 Konkret betreffen diese Fragen die unterschiedlichsten Bereiche, die eine Schule prüfen kann, um sie in einer Gesamtkonzeption zu integrieren, wie beispielsweise: 1. Welche Kinder/ Jugendliche werden die Schule besuchen? Welche spezifischen Probleme ergeben sich daraus? Gemeint sind hier unterschiedliche geographische und soziale Voraussetzungen, wie zum Beispiel die Frage des Standortes (Stadt/ Land) oder der familiäre Hintergrund der Schüler. 2. Über welche Ausstattung verfügt die Schule (allgemeine Räumlichkeiten, Turnhalle, Freigelände, Sportplatz, Anbindung an Vereine, ...)? 3. Über welche finanziellen Ressourcen verfügt die Schule (Förderverein, Sponsoren, ...)? 4. Welche außerunterrichtlichen Möglichkeiten jeder Art ergeben sich im Laufe der Schulzeit und wie können diese gezielt genutzt werden: wann finden Landschulheimaufenthalte statt (wohin können diese gehen)?, welche Arbeitsgemeinschaften gibt es für welche Klassenstufe?, sind Projekttage geplant?, gibt es regelmäßige Sportfeste (mit welchen Inhalten)?, gibt es Schulfeste (wie werden diese vorbereitet? Welches Mitspracherecht haben Schüler bei der inhaltlichen Gestaltung?, Gibt es Kooperationen zu Vereinen (in welcher Art)? 5. Welche didaktisch/methodischen Schwerpunkte hat die Schule (verfolgt sie ein bestimmtes Ziel?, kann jeder Lehrer unterrichten, wie er will (mit oder ohne Legitimationsdruck)? Gibt es regelmäßige, für jeden Lehrenden verpflichtende Fortbildungsveranstaltungen (innerhalb und außerhalb der Schule) auch über das vorgeschriebene Maß hinaus? 301 Teil D: Ausblick jeder Schule von neuem zu beantworten. Sie stellt somit den gemeinsamen Ausgangspunkt für die Einzelschulentwicklung und gleichzeitig den gemeinsamen Endpunkt dar. Innerhalb dieser Grenzen muss jedoch jede Schule individuell prüfen, wie sie das Ziel erreicht. Dabei wird deutlich, dass eine gezielte Einbindung des einzelnen Schulfaches nur über den Weg einer Gesamtkonzeption führt. Dies gilt auch für den Schulsport. „Die Einordnung der Leibeserziehung in die Gesamterziehung darf also nicht ein Thema der pädagogischen Theorie oder ein bloßer Rechtfertigungsversuch des praktischen Leibeserziehers bleiben; wir müssen dem jungen Menschen helfen und ihn dazu anregen, die Einordnung der Leibesübungen und des Sports in seinen eigenen Bildungsgang selbst bewußt zu vollziehen; das aber ist, so behaupte ich, nicht anders als mit Reflexion möglich. Die Verwirklichung dieser Forderung ist einerseits ein Auftrag an die Leibeserzieher, nicht minder aber an die Vertreter anderer Fächer“ (Klafki, 1975a, S. 150). Die hier vorgelegte Arbeit stellt einen Versuch dar, den Ausgangspunkt für eine Schulentwicklung zu markieren, die sich den Vorwürfen stellt und versucht, diese gezielt zu beheben. Dabei konnte der Verdacht Hermann Gieseckes, der den Beginn der Arbeit darstellt, nämlich dass das pädagogische Selbstverständnis der ‘Institution Schule’ überprüft und korrigiert gehört, bestätigt werden. Eine Änderung des pädagogischen Selbstverständnisses muss an vielen Stellen ansetzen. Der Ausgangspunkt ist jedoch immer derselbe: erst wenn Klarheit darüber besteht, wohin der Weg gehen soll und welches Ziel zu erreichen ist, können andere Maßnahmen dazu dienen, die notwendigen Schritte einzuleiten. Das betrifft neben dem ‘schulischen Alltag’ wie er derzeit stattfindet auch alle Arten von Reformen, wie sie beispielsweise im Rahmen einer Schullebendiskussion oder bei der Frage der ‘Bewegten Schule’ diskutiert werden. Erst wenn es gelingt, alle durchgeführten Einzelmaßnahmen in eine umfassende Konzeption einzubinden und Auskunft darüber zu geben, an welcher Stelle diese Einzelmaßnahme aus welchem 6. In welcher Form werden Entscheidungen gefällt (Werden die Lehrenden berücksichtigt? In welcher Form?, Wie hierarchisch ist das Personal strukturiert? Sind die Schüler in Entscheidungsfindungen mit einbezogen? Sind die Eltern beteiligt? 302 Teil D: Ausblick Grund sinnvoll ist, wird sich das pädagogische Selbstverständnis im Bereich der Schule dahingehend ändern, dass sich diese Institution ihren eigentlichen Aufgaben zuwendet. 303 Literatur LITERATUR Adorno, T. W. (1971). Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp. Apel, H. J. (1995). Theorie der Schule. Donauwörth: Auer. Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (1994). Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. Assunto, R. (1996). Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln: DuMont. Ballauff T. (1989). Pädagogik als Bildungslehre. Frankfurt: Haag & Herchen. Ballauff T. (1982). Funktionen der Schule. Historisch-systematische Analysen zur Scolarisation. Weinheim & Basel: Beltz. Balz, E. u.a. (1997). Schulsport - wohin? 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