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DIE AUFGABEN DER SCHULE UND DES SCHULSPORTS
AUS BILDUNGSTHEORETISCHER SICHT
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde der
Albert-Ludwigs-Universität
zu Freiburg i. Br.
vorgelegt von
Frank Brückel
aus Freiburg
SS 1999
Gutachter:
Prof. Dr. Volker Scheid
Prof. Dr. Robert Prohl
Sprecher des Gemeinsamen Ausschusses der Philosophischen Fakultäten:
Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Brüggemeier
Freiburg, den 17.01.2000
2
Inhalt
Einleitung __________________________________________________ 5
Teil A: die Aufgaben der Schule im historischen Überblick__________ 16
1. Der Aufbruch zur Moderne__________________________________________ 16
2. Die klassisch-idealistische Epoche ____________________________________ 19
3. Das Zeitalter der Industrialisierung ___________________________________ 40
4. Die Zeit der Reformpädagogik _______________________________________ 49
5. Die Zeit nach 1945 ________________________________________________ 56
6. Zusammenfassung und Fazit_________________________________________ 87
Teil B: Die Aufgaben der Schule in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung__ 92
1. Die Aufgabe der Bildung ___________________________________________ 92
1.
Klassische Allgemeinbildungskonzepte als Ausgangspunkt bildungstheoretischer
Überlegungen in der heutigen Zeit _______________________________________ 92
2.
Bildung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend __________________________ 115
2. Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion __________________ 159
1.
Die Mittler- und Orientierungsfunkion___________________________________ 159
2.
Die Selektionsfunktion_______________________________________________ 160
3. Zusammenfassung und Fazit________________________________________ 167
Teil C: Die Aufgaben des Schulsports __________________________ 170
1. Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des
Schulsports _____________________________________________________ 170
1.
Körper und Bewegung _______________________________________________ 175
2.
Gesundheit und Wohlbefinden_________________________________________ 193
3.
Spiel, Spiele, Spielen ________________________________________________ 200
4.
Leistung __________________________________________________________ 213
5.
Ästhetik und Gestaltung ______________________________________________ 220
6.
Zusammenfassung und Fazit __________________________________________ 230
2. Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung ____________________ 236
1.
Exkurs: Zur Lebenssituation heutiger Kinder______________________________ 238
3
2.
Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung ________________________________ 246
3.
Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen ____________________ 258
4.
Die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung ___________________________ 273
5.
Lebenslanges Sporttreiben ____________________________________________ 290
3. Zusammenfassung und Fazit________________________________________ 293
Teil D: Ausblick ___________________________________________ 296
Literatur _________________________________________________ 304
4
Einleitung
EINLEITUNG
a)
Vorwort
In fast allen Ländern dieser Erde wird Sport an allgemeinbildenden Schulen als Pflichtfach unterrichtet. International und kulturübergreifend, unabhängig vom politischen
System, herrscht anscheinend Übereinstimmung darüber, dass Bewegung ein fester Bestandteil staatlicher Erziehungspraxis sein sollte.
Die Entscheidung, alle Kinder und Jugendliche von Staats wegen während ihrer gesamten Schulzeit zum Sporttreiben zu nötigen, bedarf jedoch einer fundierten Begründung.
Diese hat die Aufgabe, die Notwendigkeit eines für alle Schüler verbindlichen Sportunterrichtes herauszustellen und klar von den Möglichkeiten abzugrenzen, die den Kindern
und Jugendliche durch andere Sportanbieter (z. B. Vereine) geboten werden.
Dazu kommt, dass jedes einzelne Schulfach in das Gesamtsystem Schule eingebunden
werden muss, zu dem es seinen eigenen unverwechselbaren Beitrag zu leisten hat. Hier
bedarf es eines gut begründeten Standpunktes außerhalb des Faches: denn weder aus der
Sportwissenschaft noch aus einer Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Sportpraxis lassen sich Maßstäbe gewinnen, die bezüglich der Frage, wieviel und welchen
Sport alle Heranwachsenden in unserer Gesellschaft auf welche Weise praktizieren sollen, ein fundiertes Urteil erlauben.
In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch einer solchen Klärung unternommen. Der
‘außerfachliche’ Bezugspunkt ist die Frage nach den Aufgaben der Schule, in die sich
die Inhalte des Schulsports einzugliedern haben. Mit der Aufgabenbestimmung und
ihrer inhaltlichen Ausgestaltung steht dann ein ‘Maßstab’ zur Verfügung, der für eine
Beurteilung des Schulsports herangezogen werden kann. Anhand dieses Maßstabes lassen sich systematische Merkmale erkennen, die jedes Fach aufweisen sollte und die somit auch eine Abgrenzung zwischen den einzelnen Fächern zulassen.
In dieser Vorgehensweise ist die feste Überzeugung enthalten, dass es fächerübergreifende Vorstellungen davon gibt, was die Institution Schule bewirken soll und von denen
sich weder der Schulsport noch andere Schulfächer freimachen können.
5
Einleitung
Das Hauptziel der Arbeit ist es, von einer allgemeinen Aufgabenbestimmung der Schule
zu einem besseren Verständnis der Aufgaben des Schulsports zu stoßen. Diese sollen so
formuliert werden, dass sie einerseits einen klaren Rahmen vorgeben, der verbindlich
aufzeigt, über welche Inhalte ein fundierter Schulsport verfügen muss, andererseits jedoch so viel Flexibilität in sich zeigen, dass jede Schule auf die spezifischen Lebensbedingungen ihrer Kinder und Jugendlichen eingehen kann.
Immer wieder besteht die Neigung, das Nachdenken über den Schulsport weitgehend
unabhängig vom Nachdenken über Schule in ihren gesellschaftlichen und fächerübergreifenden Bezügen zu sehen (vgl. Heymann, 1996, S. 11). Die hier vorliegende Arbeit
soll die Einbindung in diese Bezüge aufzeigen und dazu beitragen, dass sich der Schulsport weiterhin als curriculumrelevant legitimiert. Sie versucht eine Brücke zu schlagen
zwischen erziehungswissenschaftlichen Überlegungen, die sich auf den gesamten Bereich der Schule beziehen und sportpädagogischen Ausführungen, die sich auf das
Schulfach beschränken. Dieser Brückenschlag bietet eine doppelte Chance:
• Zum Einen birgt er die Möglichkeit, globalere Überlegungen auf fachspezifische Besonderheiten hin zu untersuchen und zu prüfen, ob eine solche Umsetzung überhaupt
möglich ist.
• Zum Anderen kann er helfen, fachspezifische Ausführungen in einen größeren Rahmen einzubinden, um dem Vorwurf der Blindheit gegenüber allen Überlegungen, die
über das Fach hinausweisen, zu entgehen.
Das Anliegen dieser Arbeit ist es, auf die vielfältigen Verbindungen zwischen den allgemeingültigen Aufgaben der Schule und den Möglichkeiten des Schulsports hinzuweisen. Dabei geht es nicht um eine grundsätzliche Revolutionierung des Faches, sondern
darum, Argumente aufzuzeigen, die deutlich machen, dass Sport nicht einfach aus den
Schulen ausgelagert werden kann, um die Verantwortung der Bewegungserziehung anderen Institutionen (wie etwa den Vereinen) zu übertragen.
Eine letzte Anmerkung ist an dieser Stelle noch wichtig: anfangs habe ich den Versuch
unternommen, im Text sowohl die maskuline als auch die feminine Form zu benutzen.
Es hat sich jedoch gezeigt, dass bei der Berücksichtigung beider Geschlechter stilistische Schwierigkeiten auftreten, die mich dazu bewogen haben, nur die maskuline Form
6
Einleitung
zu verwenden. Selbstverständlich sind bei diesen Formulierungen alle Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, gemeint.
b)
Zum Aufbau der Arbeit
„Irgend etwas muß faul sein an unseren Schulen, und was ihnen fehlt, ist
wohl nicht nur durch mehr Personal und mehr Geld zu kompensieren, es
muß vielmehr an der Substanz, also an ihrem pädagogischen
Selbstverständnis liegen“ (Giesecke, 1996b, S. 7).
Das Buch ‘Wozu ist die Schule da?’ und der gleichnamige Beitrag von Hermann Giesecke aus dem Jahr 1996 haben in der Erziehungswissenschaft starke Resonanz gefunden und heftigen Widerspruch ausgelöst. Eine ähnliche Entwicklung kann auch in der
Sportwissenschaft verfolgt werden.
Dabei geht es um die Debatte der Instrumentalisierung des Sports1 und um Begründungs- und Legitimationsbeiträge des Schulsports. Und immer wieder bleibt offen, welche Aufgaben die Schule oder der Schulsport zu erfüllen hat: „Darf unter Sport jeder
verstehen, was er will?“2 oder „Pädagogische Schulreform - Hoffnungsträger oder
Schreckensvision des Schulsports?“3 oder „Schulsport - wohin?“4 sind die zentralen
Fragestellungen. Offen bleibt zunächst, ob Sport oder Gymnastik, Turnen, Leibesübungen, Körpererfahrung, Bewegungserziehung überhaupt Bildungs- und Erziehungspotenz
haben (vgl. Hecker, 1997, S. 115).
„Für die Verneiner dieser Frage ist der Sport nichts anderes als Muskelkult
oder
aber
eine
Möglichkeit,
in
einem
Wettkampfsystem
Konkurrenzsituationen zu suchen, um Selbstbestätigung zu bekommen, die
Sportlerinnen und Sportlern in anderen Lebensbereichen (Schule, Beruf)
verschlossen bleibt“ (Hecker, 1997, S. 115).
1
Vgl. unter anderem die Beiträge von Schaller, 1992; Beckers, 1993; Bernett, 1993; Kurz, 1993; Volkamer, 1993; Scherler, 1997; Sportpädagogik 1997, (1).
2
Diesen Titel wählt Hansjörg Kofing für seinen Beitrag in der Ausgabe der Zeitschrift ‘sportunterricht’
vom Mai 1997.
3
So betitelt Matthias Schierz seine Überlegungen hinsichtlich der Schulsportentwicklung in der Zeitschrift
‘Körpererziehung’ vom Mai 1997.
4
So lautet der Titel der sportpädagogischen Grundfragen einer Autorenschaft von 8 Personen im Heft
01/1997 der Zeitschrift ‘Sportpädagogik’.
7
Einleitung
Für viele Kritiker hat Sport keinerlei Berechtigung, in den Kanon der Schulfächer aufgenommen zu werden; Huizinga (1987, S. 213) meint dazu: „Der Sport [...] hat keine
organische Verbindung mehr mit der Struktur der Gemeinschaft, auch nicht, wenn eine
Regierungsgewalt seine Ausübung vorschreibt“.
„Auf der anderen Seite stehen die, für die der Sport eine wichtige
Erziehungs- und Bildungsaufgabe hat. Für sie leistet Sport einen
unverzichtbaren Beitrag zur Gesamterziehung, wobei neben der Körper- und
Bildungserziehung besonders die Persönlichkeitserziehung und die
Gesundheitserziehung genannt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass
über den Sport der richtige Umgang mit Erfolg und Mißerfolg gelernt wird,
dass die Entwicklung eines gesunden Selbstbewußtseins und ein positives
Selbstbild gefördert werden, dass Fairneß in Konkurrenzsituationen
selbstverständlich und daß natürlich die Gesundheit gefördert und
Krankheiten vorgebeugt wird“ (Hecker, 1997, S. 115).
Diese Legitimationsfrage des Schulsports ist nicht neu, ebensowenig wie es ausbleibt,
dass eine solche Debatte frei ist von persönlichen Ressentiments5.
Hinzu kommt, dass Schule als gesellschaftliche Einrichtung, wieder einmal (oder immer
noch) stark in der Kritik steht: Der ‘Neue Bildungsnotstand’6 - wenn es ihn tatsächlich
gibt - zeigt, dass in den bisher gemachten schultheoretischen Überlegungen die Schwierigkeit der praktischen Umsetzung implizit vorhanden ist: denn wären die bereits versuchten Reformen nicht nur in sich schlüssig, sondern auch nach außen zu tragen, wäre
die Diskussion um den ‘Bildungsnotstand’ gegenstandslos.
Das alles lässt den Schluss zu, dass kaum etwas „so viel und so Unterschiedliches sein
und bedeuten kann wie die Schule“ (Winkel, 1997, S. 25). Mit diesen Worten beginnt
Rainer Winkel sein Kapitel über die verschiedenen Theorien von Schule und schließt
sich am Ende dem Urteil von Ernst Matthes an, dass es bisher keine wissenschaftlich
gesicherte pädagogische Theorie gibt, die eine pädagogische Konzeption legitimieren
kann (vgl. Winkel, 1997, S. 58 zitiert nach Matthes 1978).
Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gemacht, einen Beitrag zu dieser Thematik zu
leisten. Sie ist dabei in 4 thematische Arbeitsschritte gegliedert:
5
Hartmut von Hentig spricht bei seiner Antwort auf Hermann Giesecke von einem ‘Traktat’, von Anne
Frommann wird er als ‘Gekränkter’ bezeichnet, die Entgegnungen auf den Beitrag Edgar Beckers waren
eine Mischung aus Betroffenheit und persönlicher Rechtfertigung.
8
Einleitung
•
In einem ersten Schritt (Teil A) bedarf es einer grundlegenden Klärung der Aufgaben der heutigen Schule. Denn bevor nicht geklärt ist, wozu Schüler unterrichtet
werden sollen, fällt es schwer, konkrete Aussagen über mögliche Inhalte zu machen.
Dies gilt sowohl für eine allgemeine schulische Zielsetzung als auch für fachspezifi-
•
sche Diskussionen.
In einem zweiten Schritt (Teil B) werden diese schulischen Aufgaben inhaltlich ausdifferenziert. Denn wenn beispielsweise eingangs der Bildungsauftrag thematisiert
wird, so ist nicht geklärt, was Bildung konkret bedeutet. Diese inhaltliche Ausgestaltung muss jedoch vor dem Einstieg in die Fachdiskussion folgen.
•
Teil C beschäftigt sich mit der Frage, in welcher Weise der Schulsport einen Beitrag
zur Bewältigung der schulischen Aufgaben leisten kann, wie sie bis dahin entwickelt
wurden. Dabei werden in Kapitel 1 zunächst übergreifende Überlegungen bezüglich
der menschlichen Leiblichkeit angestellt, also anthropologische Fragen erörtert, die
sich dann zwangsläufig auf die sich ergebende Erziehungskonzeption auswirken.
Kapitel 2 schließlich verbindet die bis hierher einzeln nebeneinander stehenden Erkenntnisse so miteinander, dass danach Aussagen über den Beitrag des Schulsports
im Gesamtkonzept der Schule möglich sind.
•
Ein zusammenführender Ausblick (Teil D) schließt die Arbeit ab.
Zusammenfassend soll die Arbeit Aussagen über die schulischen Aufgaben und deren
inhaltliche Ausgestaltung im Allgemeinen und über die Einordnung des Schulsportes in
dieses Gesamtsystem machen. Eingeschlossen in diese Überlegungen sind dabei sowohl
unterrichtliche als auch außerunterrichtliche Fragestellungen.
c)
Einleitende Bemerkungen
Zentraler Gegenstand vor allem soziologisch inspirierter schultheoretischer Ansätze sind
die unterschiedlichen Funktionen der Schule innerhalb der Gesellschaft, wobei Schule
hier vor allen Dingen als gesellschaftliches Subsystem beschrieben wird (vgl. Heymann,
1996, S. 48ff). Spätestens seit der Veröffentlichung Fends im Jahre 1980 sind Begriffe
wie Reproduktionsfunktion oder auch Selektionsfunktion pädagogisches Allgemeingut
geworden. Dabei besteht die Gefahr, dass die schulische Vermittlung von Wissen unter
6
Dieser Titel wurde in einer Sondersendung des ZDF am 05.12.1996 gewählt. Es könnten natürlich auch
die Reden von Roman Herzog im Herbst 1997 und Frühjahr 1999, der Streik an über 100 deutschen
9
Einleitung
einer solchen ‘funktionalen’ Sichtweise zu einer Subfunktion wird, die möglicherweise
nicht einmal zu den bedeutendsten gehört. Wie sich in Teil A noch zeigen wird, zählt
beispielsweise Theodor Ballauff (1982) 31 Funktionen auf, von denen er lediglich sechs
zu den im engeren Sinne bildenden zählt. Nun haben diese Arbeiten auf der einen Seite
sicherlich das Bewusstsein für die Gefahr verschärft, Schulen Aufgaben zuzuschreiben,
die weder von ihr geleistet werden können, noch zu ihren eigentlichen Angelegenheiten
zählen. Andererseits fordert das vermehrte Wissen um die gesellschaftlichen Funktionen
der Schule gerade dann die pädagogische Reflexion heraus, wenn es einerseits zu befürchten ist, dass sie diesen ureigensten Aufgaben nicht mehr gerecht wird, andererseits
offenbar erheblicher Dissens darüber besteht, welches diese eigentlich sind.
„Nicht intendierten Nebenwirkungen schulischen Unterrichts und
gesellschaftlichen Zwängen, die Schule qua Institution ausübt, kann nur
durch Aufgabenbestimmungen begegnet werden, die in Kenntnis solcher
einschränkender Bedingungen erfolgen. Die Berücksichtigung des
systematischen Charakters von Schule und ihres Eingebundenseins in
übergreifende gesellschaftliche Prozesse und Strukturen bewahrt
bildungstheoretische Reflexionen vor idealistischer Abgehobenheit“
(Heymann, 1996, S. 49).
Natürlich ist die Spannung zwischen der ‘Idee einer Schule’ und dem, was sie als ‘empirische’ und ‘politisch gestaltbare’ Institution darstellt, nicht aufzulösen. Diese Spannung
kennzeichnet - wenn auch auf einer anderen Ebene - das Verhältnis von ‘Aufgaben’ und
‘Funktionen’ der Schule7: „Die Unterscheidung von Funktionen stellt ein theoretisches
Mittel zur Beschreibung von Schule dar, wie sie ist; die Unterscheidung von Aufgaben
dient der gesellschaftlichen Verständigung über das, was Schule sein soll“ (Heymann,
1996, S. 49).
Es macht in vielen Zusammenhängen Sinn, Schule daraufhin zu untersuchen, was sie
effektiv leistet. Beschränkt man sich in diesem strengen Sinne auf die Produktauffassung, so kann man versuchen, sie zu operationalisieren und mit empirischen Methoden
zu bestimmen. Die Konsequenz daraus ist eine vollständige Abkoppelung einer solchen
Aufgabenbestimmung der Schule von den regulativen Ideen dieser Institution.
Hochschulen - ebenfalls im Herbst 1997 oder viele andere Beispiele genannt werden.
7
Das Herkunftswörterbuch des Duden verweist dabei auf die Synonymität beider Worte, deren (beider)
Ursprung im 17 Jahrhundert liegt.
10
Einleitung
Dabei bleibt jedoch die Frage der theoretischen Grundlegung solcher empirischer Untersuchungen bestehen, ohne die die ‘wichtige Spannung zwischen Ist und Soll’ nur unzureichend aufgegriffen und behandelt wird.
Die folgende Arbeit konzentriert sich dabei auf die Frage der ‘Aufgaben der Schule’,
wohl wissend, dass eine Institution weit mehr ausmacht als nur die Aufgaben: ihre
Struktur, ihre Funktionsweise, die Art und Weise, wie sie sich selbst präsentiert, welche
Symbole sie verwendet. Dazu gehören darüber hinaus die handelnden Personen, Beteiligte und Betroffene, erstere als die Akteure in Institutionen, letztere als die Adressaten
von Institutionen (vgl. Göhler 1997, S. 25). Dennoch ist eine Sollbestimmung, zunächst
ohne die Berücksichtigung des ‘Ist-Zustandes’ deshalb notwendig, da sie Ausgangspunkt für jede weitere institutionelle Ausgestaltung ist. Das gilt in der Schule für jedes
Schulfach, das - wenn es tatsächlich eine Berechtigung als Bestandteil dieser Institution
haben sollte - einen eigenen, unverwechselbaren Beitrag zu den Grundaufgaben der
Schule leisten muss.
Im Bereich der Mathematik stellt Hans Werner Heymann eben diese Überlegungen in
den Mittelpunkt seiner Habilitationsschrift ‘Allgemeinbildung und Mathematik’:
„Die folgende Überlegung gilt auch für andere Schulfächer und
Lernbereiche: Wenn es in unserer Gesellschaft explizierbare und
konsensfähige Vorstellungen davon gibt, was mit der Institution Schule bei
der nachwachsenden Generation bewirkt werden soll, so wäre es
unvernünftig, den Teilbereich mathematischen Lernens nach gänzlich
anderen Kriterien zu gestalten und von den allgemeinen, im großen und
ganzen für richtig gehaltenen Zielen abzuspalten“ (Heymann, 1996, S. 11).
Folgerichtig kann sich der Sport dieser Diskussion nicht entziehen, ebenso wie es sich
aufdrängt, dass bei einer Aufklärung der fachspezifischen Aufgaben des Schulfaches der
Begründungsweg über die allgemein anerkannten Grundaufgaben der Schule führen
muss. Hier aber scheint eben der Dissens bei den Diskussionen - sowohl der Allgemeinpädagogen als auch der Sportpädagogen - zu bestehen.
„Das ‘Institutionelle’ an Institutionen betrifft immer Stabilität, und zwar in
einem doppelten Sinn: Zum einen sind sie selbst stabil, nämlich
Strukturierungen, die auf eine bestimmte Dauer gestellt sind - zum anderen
11
Einleitung
haben sie eine stabilisierende Wirkung, weil sie dem menschlichen
Zusammenleben über die Situationsbedingtheit hinaus eine Form geben, die
die Handlungen der anderen zu einem gewissen Grade erwartbar und in den
Gemeinsamkeiten erkennbar macht. Entscheidend ist, dass diese
Strukturierungen von den Individuen verinnerlicht sind. Ist dies der Fall, so
sind Institutionen nicht nur äußere Ordnungselemente der Gesellschaft,
sondern sie strukturieren durch den Sinn, den sie für die Individuen
objektivieren und ihnen gegenüber zum Ausdruck bringen“ (Göhler, 1997,
S. 28).
Hier liegt auch die Begründung für die Klärung der Aufgaben der Schule: in einer Institution, die auf das menschliche Zusammenleben eine stabilisierende Wirkung ausüben soll, ist es unabdingbar, sich über die Grundaufgaben dieser Institutionen zu verständigen. Wenn in der vorliegenden Arbeit zwischen Aufgaben und Funktionen nicht
mehr explizit unterschieden wird, so sind immer Aufgaben gemeint. Die synonyme
Verwendung geschieht hier lediglich aus sprachlichen Gründen.
d)
Historische Bestimmung der Aufgaben der Schule
Die historische Betrachtung leistet in der Beantwortung der Frage, was Schule zugemutet werden kann und soll, wertvolle Dienste. Ihr kommt, sofern sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden vermag - eine Art ‘Brückenfunktion’ zu (vgl. Hamann, 1993, S. 5).
Am Anfang einer Arbeit, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Grundaufgaben der Schule
zu bestimmen, um sich somit der fachimmanenten Diskussion um Inhalte anzunähern,
bietet es sich zunächst an, mittels eines historischen Überblicks Auskunft darüber zu
bekommen, welches die im Laufe der Jahrhunderte gewachsenen und der Schule zugewiesenen Aufgaben sind. Solche ‘überzeitliche Aufgaben’, wenn sie in einem begründeten Zusammenhang stehen, können die Schule als Institution auch dann legitimieren,
wenn gesellschaftliche Rahmenbedingungen Veränderungen unterworfen sind.
Ausgangspunkt der historischen Betrachtung soll dabei jene Epoche sein, „in (der) der
Bildungsbegriff und mit ihm seine Auslegung als ‘allgemeine Bildung’ erstmalig in der
Theorie- und Realgeschichte der Pädagogik zu einem Zentralbegriff pädagogischer Reflexion wurde. Es ist der Zeitraum zwischen etwa 1770 und 1830, ...“ (Klafki, 1996, S.
15). Diese Epoche hatte nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf die Entfaltung eines ‘aspektreichen Bildungsbegriffes’, der, wie sich noch zeigen wird, bis heute immer
wieder kritisch reflektiert und diskutiert wird, sondern auch auf die Entwicklung des
12
Einleitung
modernen Schulwesens. Beispielsweise hatten die konkreten Reformen Wilhelm von
Humboldts in den Jahren 1809 - 1819 nicht nur eine grundlegende Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens durch eine Erneuerung des Staatswesens zum Ziel, sondern haben auch Maßstäbe gesetzt, die weit über diese eigentliche Reformphase hinausreichten.
So waren seine Leitgedanken auch Diskussionsgegenstand der Nachkriegsreform (vgl.
Hamann, 1993, S. 112). Humboldts Vorstellungen, die immer wieder bis in die Gegenwart hineinfließen, sollten demnach bei einer historischen Beurteilung nicht fehlen.
Die Auswahl der anderen hier berücksichtigten ‘klassischen’ Autoren ergibt sich aus der
Tatsache, dass sie im Gegensatz zu den anderen in Frage kommenden Autoren (etwa
Herder) sich nicht nur theoretisch mit den Fragen zur öffentlichen Erziehung beschäftigt
haben, sondern darüber hinaus mit praktischen Umsetzungsproblemen konfrontiert wurden. Humboldt und Schleiermacher waren direkt am Aufbau des preußischen Staates
beteiligt, Hegel am Aufbau des Nürnberger Gymnasiums, so dass die von ihnen formulierten Einsichten auch den praktischen Schwierigkeiten der Durchsetzung und Realisierung der jeweiligen bildungspolitischen Überzeugung Rechnung tragen (vgl. Krautkrämer, 1979, S. 12). Johann Heinrich Pestalozzi findet deshalb in Teil A keine eigenständige Berücksichtigung, weil er in Wilhelm von Humboldts Ausführungen explizite Berücksichtigung findet und diese in dem hier behandelten Zusammenhang somit in ausreichender Form berücksichtigt werden.
Auch Wilhelm Dilthey war, wenn auch nur ein Jahr, als Lehrer tätig. Darüber hinaus
war er der herausragende Pädagoge seiner Zeit, seine pädagogischen Erkenntnisse finden bis in die Gegenwart große Beachtung und dienen als Ausgangspunkt weiterer
Überlegungen.
Aus der Zeit der Reformpädagogik soll Peter Petersen deshalb besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, weil er mit seinem Schulkonzept der Jena-Plan-Schule ebenso
wie Humboldt, Schleiermacher und Hegel einer der wenigen war, der theoretische Einsichten in der praktischen Schulwirklichkeit überprüfen und modifizieren konnte.
Die in der Nachkriegszeit berücksichtigten Kommissionen und Autoren, die sich auf den
ersten Blick nicht einer gemeinsamen Denkrichtung zuordnen lassen, finden ebenfalls
deshalb Berücksichtigung, da sie mit der Schulpraxis auf das Engste verbunden sind:
zum einen steht der Deutsche Bildungsrat für den Optimismus, der sich Mitte der sechziger Jahre in allen Bereichen der Gesellschaft, so auch in der Schullandschaft zeigte.
Der Deutsche Bildungsrat und seine für die damalige Zeit sehr innovativen Forderungen
13
Einleitung
sind auch bis heute Gegenstand vieler schulpädagogischer Diskussionen. Dagegen steht
Ivan Illich, der mit seiner radikalen Schulkritik zu seiner Zeit Selbstverständliches in
Frage stellte und eben durch diese Radikalität einen nicht unerheblichen Einfluss auf das
schultheoretische Denken Anfang der 70er Jahre ausübte.
Mit Zusammenbruch des Bildungsbegriffs als pädagogisches Leitprinzip Mitte der 60er
Jahre des 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen Zuwendung zu soziologischen
Fragestellungen, wuchs etwa fünfzehn Jahre später auch die Einsicht, dass bildungstheoretische Überlegungen - sollten sie sich wieder in der schultheoretischen Diskussion
etablieren - die sozialwissenschaftlichen Leitformeln berücksichtigen müssen. In diese
Zeit fällt das bis heute wohl am meisten beachtete Werk aus der soziologischen
Schultheorie. An Helmut Fends ‘Theorie der Schule’ aus dem Jahre 1980 kommen bis
heute auch neuere pädagogische Schultheorien kaum vorbei.
Theodor Ballauff und Hartmut von Hentig stehen für zwei Pädagogen der neuesten Zeit,
die mit ihren Überlegungen immer wieder für Aufsehen gesorgt haben und auch in der
pädagogischen Praxis von Bedeutung sind. Besonders Hartmut von Hentig steht bis
heute mit dem Aufbau der Bielefelder Laborschule stellvertretend für die progressive
Arbeit im Bereich der Schulpädagogik. Schließlich werden zum Schluss die Empfehlungen der Bildungskommission aus Nordrhein-Westfalen mit einer Reihe von prominenten Mitgliedern (nicht zuletzt unter der Mitarbeit von Wolfgang Klafki) angesprochen, die durch ihre Denkschrift einen großen Beitrag zur Schulentwicklung in den 90er
Jahren geleistet haben.
Wie bereits angedeutet, eint die Autoren nicht das Merkmal einer einheitlichen Forschungsrichtung, sondern das Auswahlkriterium ist explizit die enge Verknüpfung und
somit auch der große Einfluss zwischen schultheoretischen Überlegungen und dem Praxisbezug. Diese Mischung ist auch deshalb beabsichtigt, weil damit aufgezeigt werden
soll, dass die Grundaufgaben der Schule unabhängig von der didaktischen und methodischen Diskussion offensichtlich immer die gleichen bleiben.
Wie sich im Folgenden zeigen wird, handelt es sich bei den in diesem Zusammenhang
wesentlichen Beiträgen oft nur um fragmentarische Theorieansätze. So darf die Rede
14
Einleitung
von Theorien nur im Sinne einer sprachlichen Verkürzung akzeptiert werden; entsprechendes gilt dann auch, wenn die Rede von Epochen ist8.
Bei der hier dargestellten Aufarbeitung der Vergangenheit soll es nicht darum gehen,
bequeme Lösungen für gegenwärtige Probleme zu finden. „Es gilt vielmehr, zeitbedingte Lösungsversuche zur Kenntnis zu nehmen, die auf konkreten gesellschaftlichen
und ideellen Voraussetzungen beruhen. Die Analyse eben dieser Voraussetzungen läßt
die Entstehung aktueller Problemlagen überhaupt erst verstehen und bietet einen Einblick in den Begründungszusammenhang von Problemlösungen“ (Prohl, 1999, S. 23).
Damit ist der Übergang zu Teil B beschrieben, in dem die Aufgaben inhaltlich soweit
ausgeführt werden, dass sie einen Rahmen für die fachspezifische Ausgestaltung bilden.
Denn wenn nach dem ersten Teil von vier schulischen Grundaufgaben gesprochen wird,
die sich in die Einzelbereiche ‘Bildung’, ‘(Ver)Mittlung’, ‘Orientierung’ und ‘Selektion’
aufgliedern, ist noch nicht ausgesagt, was sie im Einzelnen, in Bezug auf die gegenwärtige Schule, bedeuten.
Teil C soll schließlich die Brücke zu dem Schulfach Sport schlagen und aufzeigen, wie
das Schulfach unter dem Aspekt der schulischen Grundaufgaben ausgestaltet werden
kann.
8
Wie zum Beispiel der ‘klassischen Phase’.
15
Teil A: Der Aufbruch zur Moderne
TEIL A: DIE AUFGABEN DER SCHULE IM
HISTORISCHEN ÜBERBLICK
1.
DER AUFBRUCH ZUR MODERNE
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes
ohne die Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe den Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu bedienen ist also der Wahlspruch der
Aufklärung“ (Kant, 1970, S. 53)9.
Der Optimismus, der in den Worten Kants zum Ausdruck kommt, wurzelte im Vertrauen in die menschliche Vernunft und im Glauben an die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur.
In dieser Zeit zielte man auf den Fortschritt des Menschengeschlechts insgesamt10. Da
solcher sich jedoch nur durch Mehrung des Wissens, durch Förderung von Erziehung
und Bildung garantieren lässt, zeigte sich die Aufklärung auch von einem gewaltigen
pädagogischen Enthusiasmus beseelt (vgl. Hamann ,1993, S. 72).
Die Idee einer allgemeinen Volksbildung setzte sich immer mehr durch, eine alle
Schichten erfassende Bildung sollte weithin aufklären, den Menschen besser und geistig
mündig zu machen. Ein Aufblühen der Erziehungskunst zu jener Zeit kann nicht bestritten werden: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheinen in Deutschland
mehr Schriften und Aufsätze über Erziehung und Unterricht als in den dreihundert Jahren zuvor und es werden mehr Erziehungsinstitutionen gegründet als je zuvor.
„Die Erkenntnis, daß die Erziehung eine eigene, selbständige Macht wird,
die die Weichen für die Zukunft stellt, verbindet sich mit dem Glauben an
die Allmacht der Erziehung, die den Menschen klug oder dumm,
gesellschaftlich nützlich oder unbrauchbar machen könne“ (Menze, 1975a,
S. 11).
9
Im Dezemberheft der ‘Berlinischen Monatsschrift’ formuliert Kant im Jahre 1784 seine bekannte Aufklärungsproklamation vom ‘Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit’.
10
Aufklärung bezeichnet einen zeitlich weitgespannten, regional und thematisch vielfältig ausgeprägten
Abschnitt der europäischen Geschichte. Ausgehend von Niederlanden und England (Ende des 17. Jahrhunderts), dann auch auf Frankreich und Deutschland übergreifend, repräsentiert sie eine Epoche, die oft
als ‘Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte’
bezeichnet wird. (vgl. Tenorth 1988).
16
Teil A: Der Aufbruch zur Moderne
Auf politischem Gebiet bedeutete dies, dass sich der Charakter des Staates änderte. Der
Staatszweck wurde noch mehr verweltlicht und die Verknüpfung mit dem religiösen
Bereich, die sich bereits im 16. und 17. Jahrhundert gelockert hatte, löste sich weiter
(vgl. Reble, 1969, S. 124). Aus diesem Grunde nennt man das Staatsgefüge des Ancien
Régime im späten 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch ‘Policeystaat’. Gemeint
ist damit die allumfassende Breite der Staatsaktivitäten, die von der Heeres- und Verwaltungsorganisation über die Regulierung der wirtschaftlichen Verhältnisse bis hin zur
Einmischung in das Bildungswesen reicht (vgl. Lundgreen, 1980, S. 28).
Auf das Ende dieser Zeit fiel auch das Preußische General-Land-Schul-Reglement
(1763), entworfen von Julius Hecker. Das Reglement war die bedeutendste Schulordnung der Zeit und regelte für alle preußischen Provinzen das bis dahin uneinheitliche
Schulwesen durch Festlegung äußerer wie innerer Angelegenheiten. Darüber hinaus
bestimmte es das preußische Schulwesen der folgenden Periode und war Vorbild für
zahlreiche andere Schulordnungen. Beispielsweise wurde in §1 die allgemeine Schulpflicht für Kinder vom vollendeten 5. bis zum 13./14. Lebensjahr verfügt. Daneben legten die §§4-5 den täglichen Schulbesuch fest, es wurden Anforderungen an den Schulmeister genannt (§§12-14) und die Methode des Schulehaltens angesprochen (§14) (vgl.
Dietrich, 1975, S. 69ff).
Im Jahre 1787 folgte die Einrichtung einer eigenen oberen Landesbehörde für das Schulund Unterrichtswesen in Preußen (das sogenannte Oberschulkollegium). Diese legte den
ersten ‘Gesamtplan für ein künftig vom Staat zu verantwortendes Unterrichtswesen’ mit
dem Vorschlag einer dreigliedrigen Schulorganisation vor, welche den verschiedenen
gesellschaftlichen Schichten entsprechen sollte. Hieraus ergaben sich drei Staatsschultypen: die Bauernschulen, die Bürgerschulen und die Gelehrtenschulen (vgl. Heinemann,
1974, S. 47; Lundgreen, 1980, S. 31).
In etwa der gleichen Zeit breitete sich in Deutschland eine mächtige pädagogische Bewegung aus: der Philanthropismus, dessen Anhänger sich Philanthropen (Menschenfreunde) nannten.
Ihre Ziele in den theoretischen und praktischen Bemühungen waren ‘für die Weiterentwicklung des pädagogischen Denkens, der Schule und des Unterrichts wegweisend’11
(Dietrich 1975, S. 41).
11
Insgesamt sind die Beurteilungen über den Philanthropismus jedoch nicht einheitlich positiv. Reble
kommt zu dem Schluss, dass sie „trotz ihres Schlachtrufes wenig Geduld (haben), die natürliche Ent-
17
Teil A: Der Aufbruch zur Moderne
„In den Schulen, ihr Fürsten, in den Schulen, ihr Väter des Staates, in den
Schulen und nirgends sonst muß man die Werkstatt anlegen, wenn man
Menschen veredeln, Gewerbe, Künste und Wissenschaften befördern und
Nahrung und öffentlichen Wohlstand des Landes erhöhen will“ (Tenorth,
1988, S. 86 zitiert nach Campe 1786).
Die Philanthropen hatten eine ‘vernünftig-natürliche’ Erziehung zum Ziel. An der intellektuellen Bildung war ihnen ebenso gelegen wie an der Naturnähe und der Einfachheit der Lebensverhältnisse. Sie betonten die Notwendigkeit der freien Entfaltung der
kindlichen Wachstums- und Lernbedürfnisse und maßen dem Spiel sowie der Leibesund der Sexualerziehung große Bedeutung bei. Hier finden sich die Wurzeln des
Turnunterrichtes.
Ein auf praktische Weltorientierung und gemeinnützige ‘Lebenstüchtigkeit’ ausgerichteter Unterricht sollte den Erwerbssinn wecken und die ‘Berufstüchtigkeit’ fördern.
Das Ziel der Philanthropen war eine Humanisierung des Gesamtlebens zum Nutzen für
die gesamte Gesellschaft. Dabei war eine - das subjektive Interesse respektierende - Erziehung um sozialer gesellschaftlicher Willen unbedingt notwendig. Der erzieherischen
Komponente im Unterricht wurde gegenüber der Wissensvermittlung Vorrang eingeräumt, auf moralische Unterweisung großen Wert gelegt. Die Schule sollte Stätte der
Freude, des Frohsinns und des Spiels werden, die Strafe als pädagogisches Mittel war
verpönt. Die Unterrichtsprinzipien waren Anschauung, Lebensnähe und Selbsttätigkeit.
Ihre Ideen suchten die Menschenfreunde in den von ihnen gegründeten Philantropinen
(Anstalten der Menschenfreunde) zu verwirklichen.
Insgesamt gesehen reichten zwar die Planungen der Philanthropen recht weit - von der
Bildung eines neuen Lehrerstandes bis zur Aufklärung der Bevölkerung - in der Realität
blieben jedoch wenig greifbare und dauerhafte Ergebnisse ihrer Arbeit übrig (vgl.
Tenorth, 1988, S. 88).
wicklung abzuwarten“ (1969, S. 148) und Tenorth bezeichnet die Philantropinen als ungeeignet, ein Modell der allgemeinen und öffentlichen Schule abzugeben (1988, S. 87).
18
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
2.
DIE KLASSISCH-IDEALISTISCHE EPOCHE
Geistesgeschichtlich gesehen ist die Zeit zwischen 1770 und 1840 eine Zeit des Widerstreits zweier mächtiger Strömungen: der Aufklärung und einer neuen ‘humanistischen
Bewegung’.
Auf sozialem und politischem Gebiet erfolgte ein Aufstieg des Bürgertums, damit verbunden ein Abbau der Standesunterschiede und politischer Schranken. Der Staat wandelte sich vom umfassenden Verwaltungs-, Fürsorge- und Verordnungsstaat hin zum
Kultur- und Verfassungsstaat, der dem Bürger mehr Selbständigkeit und Mitwirkung
einräumte (vgl. Hamann, 1993, S. 105).
Die Aufklärung hatte die Menschen in Europa für die Idee der Volksbildung aufgeschlossen, sie sollten durch Verstandesaufklärung an der Erkenntnis der Wahrheit teilhaben. Der Gebrauch des Verstandes sollte dem Menschen die Welt und sein Leben in
dieser Welt begreiflich machen. ‘Nützliche Kenntnisse’ sollten gelehrt werden, und im
Sinne der Aufklärung hieß das: reale Kenntnisse und Dinge, die der junge Mensch konkret ‘anwenden’ kann, wie die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben, die neueren Sprachen und Handfertigkeiten.
Dieses ‘einseitig realistisch-ökonomische Erziehungsideal’ (Dietrich, 1975, S. 75) forderte nun eine Gegenbewegung heraus, die den während der Aufklärung bereits gepflegten Idealen der Toleranz, Humanität und Menschlichkeit nun mehr Bedeutung zumaß als dem Gedanken der Nützlichkeit (vgl. Dietrich, 1975, S. 74).
Allgemeine Bildung, also nicht die Befähigung zum ‘Amt’ und ‘Beruf’, sondern zum
‘Begriff der Menschheit in unserer Person’, war daher das neue erörterte Thema. Der
Mensch stand nun im Mittelpunkt aller Tätigkeiten. Hier zeigte sich auch deutlich die
Oppositionsstellung der als ‘Neuhumanismus’ bezeichneten Bewegung gegen die der
Nützlichkeit verpflichteten Reflexion der Philanthropen (vgl. Tenorth, 1988, S. 124).
Dieser neue Gedanke der reinen, allseitig-harmonischen Menschenbildung beeinflusste
auch das Schulwesen entscheidend. In engem Zusammenhang mit dem, durch die Französische Revolution und Napoleon vollendeten, Zusammenbruch des alten Staates, erwuchsen, besonders in Preußen, umfassende Reformen des Bildungswesens. Besonders
viel erreicht wurde im Bereich der höheren Bildung mit der Gründung des im Sinne des
Neuhumanismus gestalteten Gymnasiums. Diese Schöpfung war eng verbunden mit den
Ideen Wilhelm von Humboldts.
19
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
a)
Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt wurde am 22.06.1767, fünf Jahre nach dem Erscheinen von
Rousseaus ‘Emile’ geboren und starb vierzehn Monate nach Friedrich Ernst Daniel
Schleiermacher am 08.04.1835. Wie die meisten Aristokraten seiner Zeit hat er nie eine
öffentliche Schule besucht; unterrichtet wurde er zusammen mit seinem Bruder Alexander von dem später bekannt gewordenen Pädagogen Joachim Heinrich Campe. Darüber
hinaus genossen die Brüder Privatvorlesungen, die sie bestens auf ein Studium an der
Universität vorbereiteten.
Als 22-jähriger unternahm er, nachdem er in Frankfurt/Oder und Göttingen Jurisprudenz
studiert und dieses Studium nach 4 Semestern beendet hatte, zusammen mit seinem früheren Hauslehrer Campe eine Bildungsreise, die über Brüssel und das Paris der französischen Revolution in die Schweiz führte. Hier lassen sich einige Parallelen zwischen
Rousseaus Romanfigur Emile (der auch eine Bildungsreise unternahm) und Humboldt
herstellen. Ebenso wie Emile tritt Humboldt nach Beendigung der Reise als Referendar
in den Staatsdienst ein (vgl. Benner, 1990, S. 12). Die Erlebnisse der Französischen
Revolution, die er als Augenzeuge in Paris selbst verfolgen konnte, beeinflussten ihn
wesentlich und nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst im Jahre 1791 beschäftigte
er sich mit der Frage, welche Bedeutung die Revolution auf Preußen haben könne. In
der Schrift ‘Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen’ die 1792 in Teilen veröffentlicht wurde, nimmt er erstmals öffentlich Stellung
zu bildungspolitischen Aspekten. 1794 oder 1795 arbeitete er dann an einem Grundriß
seiner Bildungstheorie. Im gleichen Zeitraum verband Humboldt ein reger Gedankenaustausch mit Goethe, Fichte, Schiller, Schlegel und Wolf (vgl. Max, 1996, S. 17f). Der
Zusammenbruch Preußens in den Jahren 1806/1807 und der sich anschließende Neuaufbau durch die inneren Reformen des Freiherrn von Stein brachte den eigentlichen Wendepunkt im Leben Humboldts.
In die Zeit vor 1812 fallen Humboldts bildungspolitische und bildungsreformerische
Tätigkeiten und Schriften. Dieser Zeitraum beginnt mit seiner Ernennung zum Direktor
der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren im Februar 1809 und
endet mit dem Entlassungsgesuch vom April 1810. Im gleichen Jahr wird er als Gesandter nach Wien geschickt. In der Pädagogik hat Humboldt als Bildungstheoretiker
und Schulreformer, in der Sprachwissenschaft als Sprachphilosoph und Sprachforscher,
in der Anthropologie und Ethnologie als Begründer einer vergleichenden Wissenschaft
20
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
vom Menschen gewirkt. Darüber hinaus hat er in der Politikwissenschaft, in der Altertumskunde, in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft gearbeitet (vgl. Benner,
1990, S. 13f).
(1)
Allgemeine Menschenbildung.
Schultheoretisch am deutlichsten hat sich Humboldt im Litauischen und im Königsberger Schulplan geäußert12. Obwohl beide Schulpläne zunächst regional ausgerichtet waren, haben sie doch weitreichende Bedeutung erlangt. Die Bildungsreform Humboldts,
die auch in den Schulplänen zum Ausdruck kommt, erstreckte sich auf das gesamte Gebiet institutionalisierter Allgemeinbildung: „Wie vielerlei Arten von Schulen soll es
geben? wie viele von jeder Art? und welche?“ (v. Humboldt, 1964, S. 168) und weiter
heißt es: „Es giebt, philosophisch genommen, nur drei Stufen des Unterrichts: Elementarunterricht, Schulunterricht, Universitätsunterricht“ (v. Humboldt, 1964, S. 169)13.
Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht das Ziel der allgemeinen Menschenbildung14.
Das heißt, für ihn stellte sich zunächst die Frage, worin der Bildungshorizont allgemeiner Menschenbildung liegen sollte und in welcher Form dies geschehen könne, damit
die Ständegesellschaft nicht durch eine neue, bürgerliche Stände- und Klassengesellschaft ersetzt wird. (vgl. Benner, 1990, S. 178)15.
Jede Schule, die nicht den primären Zweck der allgemeinen Bildung verfolgt, ist den
allgemeinbildenden Schulen nachzuordnen. Diese strenge Trennung musste notwendigerweise zu sehr eingreifenden praktischen Veränderungen führen, um die damals bestehende Vermischung, die schon im Elementarbereich zu finden war, zu beheben (vgl.
Menze, 1975a, S. 123). Humboldt greift hier eine Problemstellung auf, die sich von nun
an durch die gesamte Pädagogik und Bildungspolitik der Moderne zieht und bis heute
vehement diskutiert wird.
12
Den Königsberger Plan entwarf er in den Monaten Juli/ August 1809 anläßlich der Vorbereitung einer
Konferenz zur Verbesserung des Schulwesens in Königsberg; der Litauische entstand während einer Inspektionsreise durch Litauen im September 1809.
13
Humboldt nimmt die berufliche Bildung zunächst aus seinen ‘Unterrichtsstufen’ hinaus, da diese standesspezifisch gegliedert war: „Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, ums abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides
vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige
Bürger einzelner Klassen“ (v. Humboldt, 1964, S. 188). Hier stehen seine Entwürfe gegensätzlich zu
vielen Programmen der Aufklärung, die die Überführung der Ständegesellschaft in eine neue industrielle
Ständegesellschaft anstrebten, um die Industrialisierung voranzutreiben.
14
Siehe hierzu die genaueren Ausführungen in Teil B (Kap.1.1).
15
Die Berufsbildung folgt also der allgemeinen Menschenbildung, ist weder mit ihr vermischt, noch geht
sie ihr gar voran.
21
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
(2)
Elementarunterricht, Schulunterricht, Universitätsunterricht.
Die drei Stadien des Unterrichts, mit denen Wilhelm von Humboldt den Elementarunterricht, den Schulunterricht und den Universitätsunterricht beschreibt, werden dadurch
charakterisiert, dass jedes so auf das nächste verweist und zu ihm hinführt,
1. dass seine Absolventen fähig sind, in ein höheres Stadium überzugehen
oder aber
2. ihre unterrichtliche Allgemeinbildung abzuschließen und sich durch den
Übergang ins Leben oder durch den Besuch berufsspezifischer Einrichtungen auf bestimmte Tätigkeit vorzubereiten (vgl. Benner, 1990, S.
179).
Grundlage der allgemeinen Menschenbildung ist der Elementarunterricht, der nicht als
eine spezifische Unterweisung für das niedrige Volk zu gelten hat, sondern die Heranwachsenden in die Lage versetzen soll, das nächsthöhere Stadium - den Schulunterricht
- zu besuchen.
„Der Elementarunterricht soll bloß in Stand setzen, Gedanken zu
vernehmen, auszusagen, zu fixieren, fixiert zu entziffern, und nur die
Schwierigkeit überwinden, welche die Bezeichnung in allen ihren
Hauptarten entgegenstellt. Er ist nicht sowohl Unterricht, als er zum
Unterricht vorbereitet, und ihn erst möglich macht“ (v. Humboldt, 1964, S.
169).
Ziel des Elementarunterrichts soll sein, dass die jungen Menschen befähigt werden, die
hier gelernten Elementartechniken selbst auszuführen. Jeder soll dabei den Sinn für sich
selbst erkennen lernen: „Der Schüler ist reif, wenn er so viel bei andern gelernt hat, daß
er nun für sich selbst zu lernen im Stande ist“ (v. Humboldt, 1964, S. 170).
Allgemeinbildendes Lernen im Elementarunterricht beinhaltet demzufolge das Erlernen
der Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen, jedoch zunächst ohne den Blick auf
eine konkrete berufliche oder außerschulische Situation, sondern primär um das ‘Lernen
des Lernens’ zu fördern16. Dass sich die Vermittlung der Kulturtechniken dennoch an
16
Vorbild für die Reformen wurden die erzieherischen Entwürfe des Schweizers Johann Heinrich Pestalozzi, der das Erlernen des Schreibens, Lesens, Rechnens und Zeichnen nicht in Schulen, sondern in der
Wohnstubenatmosphäre erprobte und mit einer moralischen und politischen Erziehung verbunden hatte.
Die Grundlage hierbei ist der Gedanke der selbständigen Erweckung der geistigen Kräfte in jedem Kinde,
die dann zu Selbständigkeit und Freiheit jedes Menschen führt. Besonders Nicolivius, sein späterer Nachfolger, der mit Pestalozzi eng befreundet war, setzte sich stark für die Einführung der Pestalozzischen
Elementarmethode ein. Entgegen Befürchtungen von Seiten der Sektion für Kultus und Unterricht im
22
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
den Ansprüchen des ‘wirklichen Lebens’ orientieren sollten, erkennt man daran, dass
Humboldt den Schulabgang nach jeder Stufe vorsieht:
„Am Ende ihres Lehrganges steht sowohl die vollzogene Grundlegung der
Bildung, also die Erfüllung jener Bedingungen, die Bildung überhaupt erst
ermöglichen, als auch die abgeschlossene elementare Vorbereitung auf das
Leben, also die Ausstattung des jungen Menschen mit Kenntnissen und
Fähigkeiten, die ihn qualifizieren, sich in heterogenen Lebenssituationen
zurechtfinden zu können“ (Menze, 1975a, S. 223).
Hier werden zwei wesentliche Aufgaben der Schule deutlich:
• zum einen diejenige mit dem Anspruch einer allgemeinen Menschenbildung für alle
jungen Menschen unabhängig ihrer Herkunft und zum anderen
• die Sicherstellung der Vorbereitung auf das Berufsleben.
Die Kulturtechniken orientieren sich demnach im Elementarunterricht nicht mehr einseitig an Bibel- und Katechsimustexten, sondern sind lebensweltbezogen, da sie von den
Schülern als praktische und notwendige Fertigkeit erkannt werden sollen. Der Schulunterricht soll demnach in der Form auf das Leben vorbereiten, dass er nicht eine bestimmte Lebensart oder -form, sondern die Tätigkeiten an der Welt und zwischenmenschliche Kommunikation überhaupt, thematisiert (vgl. Benner, 1990, S. 200).
„Wenn also der Elementarunterricht den Lehrer erst möglich macht, so wird
er durch den Schulunterricht entbehrlich. Darum ist auch der
Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender,
sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Studien und
unterstützt ihn darin“ (v. Humboldt, 1964, S. 170).
Hier wird deutlich, was Humboldt unter dem Begriff des ‘Lernen lernen’ versteht: Junge Menschen werden durch die Schule so erzogen, dass sie zunehmend selbstverantwortlich entscheiden können, was sie lernen möchten.
Spätestens nach Abschluss des Schulunterrichts wird der Lehrer in seiner traditionellen
Rolle überflüssig und die Schüler widmen sich zunehmend eigenverantwortlich ihren
Interessen. Dabei gilt, ebenso wie beim Elementarunterricht, dass die jungen Absolventen fähig sind, entweder in den Universitätsunterricht überzugehen oder aber unterrichtliche Allgemeinbildung abzuschließen und sich durch den Übergang ins Leben oder
Ministerium des Inneren schreibt Humboldt am 25. März 1809: „Die Einführung der Pestalozzischen
Methode, wenn sie auf die rechte Weise geschieht, hat meinen ungetheilten Beifall“ (v. Humboldt, 1960,
S. 97).
23
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
durch den Besuch berufsspezifischer Einrichtungen auf bestimmte Tätigkeit vorzubereiten (vgl. Benner, 1990, S. 189).
Schule hat also die Aufgabe, die jungen Menschen aus ihrer Unmündigkeit herauszuführen und auf ein verantwortbares Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Immer wieder
betont Humboldt dabei den allgemeinbildenden Charakter der Schule, der keinesfalls
mit der Berufsbildung vermischt werden darf.
Oberstes Ziel der Schulbildung ist die Schaffung eines Zustandes, in dem sich die verschiedenen menschlichen Tätigkeiten ergänzen. Eine solche Bildung muss das Individuum fördern, darf also auf keinen Fall vorher festgelegte und einheitliche Fertigkeiten
vermitteln:
„Unter freien Menschen gewinnen alle Gewerbe besseren Fortgang; blühen
alle Künste schöner auf; erweitern sich alle Wissenschaften. [...] Soll aber
Erziehung dem Menschen eine bestimmte Form erteilen, so ist, was man
auch sagen möge, zur Verhütung der Uebertretung der Gesetze, zur
Befestigung der Sicherheit so gut als nichts getan“ (v. Humboldt, 1960, S.
108).
Und an anderer Stelle wird er noch deutlicher:
„Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der
Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch
alles Gewirkte. [...] Allein was der Mensch beabsichtigt und beabsichtigen
muß, ist ganz etwas andres, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit. Nur dies
giebt vielseitige und kraftvolle Charaktere. [...] Wer aber andere so
raisonnirt, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die
Menschheit miskennt, und aus Menschen Maschinen machen will“ (v.
Humboldt, 1960, S. 72).
(3)
Wertgutachten statt Ziffernzeugnisse.
Die allgemeinbildende Aufgabe der Schule kann nach Ansicht Humboldt nur in der Bewusstseinsschaffung von Zusammenhängen liegen, keinesfalls aber in der Erlernung
von Faktenwissen. Diese allgemeinbildende und lebenspropädeutische Aufgabe des
Schulunterrichts knüpfte er nicht an die Bedingung einer gleich langen Schulzeit für
alle. Der Übergang zwischen den Stufen wird zwar durch vorgängige Examen geregelt,
Ziffernzeugnisse lehnte Humboldt jedoch ab. Für die Abgangsgutachen sah er schriftli-
24
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
che Wortgutachten vor, in denen die Schule die Leistungen und Fähigkeiten der Schüler
beschreibt und würdigt (vgl. Benner, 1990, S. 196f):
„Die gelehrte Schule muss zwar zu jeder Zeit entlassen; [...] thut sie es aber
nur am Ende eines Schulsemesters, und nie anders, als nach vorhergängigem
Examen, dessen Zweck aber nur ist, dem jungen Menschen eine Erklärung
mitzugeben, wie viel oder wenig Fortschritte er gemacht hat“ (v. Humboldt,
1964, S. 186).
Zusammenfassend zeigen sich also deutlich die Hauptaufgaben, die Humboldt der
Schule zuweist: Im Mittelpunkt und als oberstes Ziel steht die allgemeine Menschenbildung. Diese beinhaltet, dass die Schule den jungen Menschen so auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet, dass er sich selbständig und eigenverantwortlich in ihr - kraft der
individuellen Möglichkeiten - entfalten kann, unabhängig von seiner Herkunft. Menschenbildung vor Berufsbildung bedeutet aber nicht, dass die Schule abgeschlossen und
lebensweltfremd arbeitet. Denn nur ein Mensch, der sich in seiner Lebenswelt zurechtfindet, kann sich auch voll entfalten. Die Übergänge zwischen den einzelnen Schulstufen sind dann auch so gestaltet, dass jeder entweder in die nächsthöhere Stufe wechseln
kann oder nach Abschluss in das Berufsleben übergeht. Dieser Übergang zwischen den
Stufen soll durch Examina geregelt werden, die jedoch weniger selektiv-vergleichenden,
als viel mehr individuell-informativen Charakter haben (vgl. v. Humboldt, 1964, S.
168).
Benner beschreibt demzufolge die Aufgabe der Schule als eine zweifache, die davon
ausgeht, dass wir um die Bestimmung des Menschen nicht wissen:
1. Sie muss in Anerkennung der unbestimmten Bildsamkeit der einzelnen die Möglichkeit weiterführender allgemeinbildender Studien eröffnen und
2. sie muss Übergänge von unterrichtlichen Lernprozessen ins Leben und von diesem in
neue unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse offenhalten und das Bewusstsein dafür
schärfen, das der Sinn des im Unterricht Gelernten nicht schon in innerschulischen
Situationen erreicht werden kann, sondern auf ein Handeln aus eigener Verantwortung verweist, das seinen Sitz nur zum Teil in der Schule, zum dauerhafteren Teil
aber außerhalb derselben hat (vgl. Benner, 1990, S. 213f).
25
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
Viele Überlegungen Humboldts haben die Geschichte der Schule geprägt und immer
wieder wird versucht, einzelne Reformmaßnahmen und -konzepte unter Berufung auf
oder in Abgrenzung zu seinen Ideen zu legitimieren. So geschehen auch bei der Frage,
ob Wilhelm von Humboldt der Vater des dreigliedrigen Schulsystems und des humanistischen Gymnasiums war oder eher als Ahnherr der Gesamtschule fungieren kann. Weder Dietrich Benner noch Clemens Menze lassen solche Überlegungen gelten, sondern
verweisen darauf, dass es sich bei dieser Diskussion um einen politischen Streit handelt,
„in dem über die Wünschbarkeit der Realisierung der dem Bildungswesen vorgesetzten
Zwecke genau so politisch lautstark wie pädagogisch unfruchtbar diskutiert wird“
(Menze, 1985, S. 383). „Vielmehr käme es darauf an, ihn als Denker zu würdigen, der
um das Vermittlungsproblem von Bildung und Schulstruktur gewußt hat“ (Benner,
1990, S. 212).
b)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Etwa zur gleichen Zeit arbeitete auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831) als
Professor und Rektor des humanistischen Ägidien-Gymnasiums in Nürnberg. In den
Jahren 1808 bis 1815 sprach er bei seinen Reden zur Jahresabschlussfeier über bestimmte, die Schule charakterisierende Merkmale. Diese Reden, die er als Rechenschaftsbericht für Lehrer, Schüler, Eltern und Gönner abgab, geben heute Auskunft darüber, welche zentralen Aufgaben die Schule erfüllen sollte.
Hegel sah in ihr das ‘verbindende Mittelglied’ (Hegel, 1970, S. 348, 352) zwischen Familie und wirklicher Welt, das zur Entwicklung der jungen Menschen beitragen sollte.
So bezeichnete er die Schule als „eine Sphäre, die ihren eigenen Stoff und Gegenstand,
ihr eigenes Recht und Gesetz, ihre Strafen und Belohnungen hat“ (Hegel, 1970, S. 348).
Diese Form des ‘Mittelgliedes’ lässt vier Aufgaben zu:
1. Die Orientierung an den Erwartungen der späteren ‘wirklichen’ Welt.
2. Die Bildung des jungen Menschen zu sich selbst.
3. Die Erziehung zur Gesellschaftsfähigkeit.
4. Die Verteilung innerhalb der Gesellschaft (vgl. Apel, 1995, S. 48).
(1)
Die Orientierung an den Erwartungen der späteren ‘wirklichen’ Welt.
Hegel kam zu dem Schluss, dass dem Handeln der Kinder in der Schule nur dann eine
ernsthafte Bedeutung zukommt, wenn es diese Muster und Normen der späteren Welt in
26
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
sich aufnimmt. Es ist Aufgabe der Schule, auf die ‘wirkliche Welt’ vorzubereiten. Diese
verlangt Einfügung in vorgegebene Ordnungen und Anpassung an bestehende Herrschaftsverhältnisse:
„In der Schule hat es [das Kind] im Sinne der Pflicht und eines Gesetzes
sich zu betragen und um einer allgemeinen, bloß formellen Ordnung willen
dies zu tun und anderes zu unterlassen, was sonst dem Einzelnen wohl
gestattet werden könnte“ (Hegel, 1970, S. 349).
Und weiterhin äußert er sich zu diesem Thema:
„Die wirkliche Welt ist ein festes, in sich zusammenhängendes Ganzes von
Gesetzen und das Allgemeine bezweckende Einrichtungen; die Einzelnen
gelten nur, insoweit sie diesem Allgemeinen sich gemäß machen und
betragen; und es kümmert sich nicht um ihren besonderen Zwecke,
Meinungen und Sinnesarten“ (Hegel, 1970, S. 352).
Genau hier kann es aber zu Konfrontationen mit eigenen Interessen kommen. Hegel sah
in der Schule einen künstlichen Raum zum Einüben der Verhaltensweisen und zum
Lernen. Erst die Anwendung des Gelernten in der wirklichen Welt kann dieses Bemühen vervollständigen. „Was durch die Schule zustande kommt, die Bildung des Einzelnen, ist die Fähigkeit derselben, dem öffentlichen Leben anzugehören“ (Hegel, 1970, S.
352).
Wichtiger Bestandteil der Schule ist die Klassengemeinschaft, in der die Kinder lernen,
mit anderen umzugehen und soziale Tugenden zu erlernen, die notwendig sind, um sich
in der Gesellschaft zurecht zu finden:
„In der Gemeinschaft mit vielen unterrichtet, lernt es, sich nach den anderen
richten, Zutrauen zu anderen, ihm zunächst fremden Menschen, und
Zutrauen zu sich selbst in Beziehung auf sie, zu erwerben und macht darin
den Anfang der Bildung und Ausübung sozialer Tugenden“ (Hegel, 1970, S.
349).
Durch die Schule treten die Kinder in eine ‘zweifache Existenz’ ein, nämlich in die einer Privatperson und in die einer Person des öffentlichen Lebens.
(2)
Die Bildung des jungen Menschen zu sich selbst.
27
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
Dennoch beruht schulische Bildung auf der Übung des Verstandes, nicht auf einer das
Leben eingrenzenden Disziplinierung (vgl. Hegel, 1970, S. 351). Hier sah Hegel einen
wichtigen Verbindungspunkt zwischen Schule und außerschulischem Leben. Die Aufgabe der schulischen Erziehung ist ‘wesentlich mehr Unterstützung als Niederdrückung
des erwachenden Selbstgefühls’ und nicht ‘der Jugend das Gefühl der Unterwürfigkeit
zu geben’. Die Schule muss in erster Linie eine ‘Bildung zur Selbständigkeit sein’ (vgl.
Hegel, 1970, S. 350).
Zwar forderte Hegel eine unbedingte Notwendigkeit in der schulischen Disziplin der
Schüler, diese darf aber nur soweit gehen, wie sie ‘zur Erreichung des Studienzweckes
notwendig ist’ (Hegel, 1970, S. 351). Zu der ‘eigentlichen Tätigkeit des Geistes paßt am
wenigsten ein unfreier Ton’ (ebd.). Vielmehr erfordert die Erziehung, daß die Jugend
sich früh daran gewöhnt, ‘den eigenen Verstand zu Rate zu ziehen’ (ebd.).
(3)
Die Erziehung zur Gesellschaftsfähigkeit.
Schon zwei Jahre zuvor, in seiner Rede zum Schuljahresabschluss am 10. Juli 1809,
betonte er, dass es eine wesentliche inhaltliche Aufgabe der Schule sei, „den Schatz der
Bildung, der Kenntnisse und Wahrheiten, [...] an welchem verflossene Zeitalter gearbeitet haben, zu erhalten und der Nachwelt zu überliefern“ (Hegel, 1970, S. 307). Nur so
wird die ‘Menschheit nicht in alte Barbarei versinken’.
In der Überlieferung tradierter Werte sah er jedoch keineswegs eine normative Notwendigkeit, sondern machte deutlich, dass diese bei der ‘Einsicht in das Ungenügende’ (Hegel, 1970, S. 314) durchaus verändert werden sollen, warnte aber gleichzeitig vor einer
voreiligen Beseitigung oder Abschaffung alter Inhalte. Vielmehr plädierte er dafür, dass
man das ‘Alte in ein neues Verhältnis zu dem Ganzen setzt und dadurch das Wesentliche desselben ebenso sehr erhält, als es verändert und erneuert’ (Hegel, 1970, S. 314).
Insgesamt war Hegel der Ansicht, dass der Zweck der Schule die sittliche Bildung des
Menschen ist. In der Gymnasialrede von 1810 sagte er hierzu:
„Schon die allgemeine Bildung hängt ihrer Form nach aufs engste mit der
moralischen Bildung zusammen; denn wir müssen diese überhaupt nicht auf
einige Grundsätze einschränken, sondern dafür halten, dass nur der
überhaupt gebildete Mensch auch ein sittlicher Mensch sein könnte“ (Hegel,
1970, S. 336).
28
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
Auch ein Jahr später thematisierte er das ‘Verhältnis der Schule und des Schulunterrichts zur sittlichen Bildung des Menschen überhaupt’. Diese wird zwar zu einem großen Teil durch direkte Belehrung über moralische Begriffe und Grundsätze gelehrt, dennoch spielt auch die Person des Lehrenden, der den ‘Samen der Erkenntnis ausstreut’
(Hegel, 1970, S. 306) sowie die mittelbare Wirkung der Einzelschule und ihrer
Schulatmosphäre eine bedeutende Rolle.
Ziel der schulischen Erziehung war für Hegel die ‘Prägung innerhalb der historischen
Kulturgemeinschaft’. Sie muss die Kinder auf die Gesellschaft vorbereiten, auch oder
gerade wenn es zu Konfrontationen mit den kindlichen Interessen kommt. In diesem
Punkt wendete er sich eindeutig gegen alle Pädagogik ‘vom Kinde aus’ und gegen jede
‘spielende Pädagogik’ (vgl. Reble, 1969, S. 193).
(4)
Die Verteilung innerhalb der Gesellschaft.
Auch über die Leistungsbewertung, die die Schule vornimmt, äußerte er sich in seinen
Reden. Hegel bestritt zwar nicht die Berechtigung schulischer Leistungsbewertung,
stand ihrer Aussagekraft jedoch kritisch gegenüber:
„Das Urteil, das die Schule fällt, kann daher so wenig etwas Fertiges sein,
als der Mensch in ihr fertig ist. Die allerhöchste Regierung hat darum
befohlen, daß erstens die Zensuren der Schüler nicht öffentlich bekannt
gemacht werden sollen; zweitens, daß ausdrücklich, in dem sie den Schülern
vorgelesen werden, dabei zu erklären, sie seien als die freien Urteile ihrer
Lehrer über sie anzusehen; es komme diesen Urteilen aber ‘kein
unmittelbarer Einfluß’ auf die künftige Lebensbestimmung und die
dereinstige Stellung in der politischen Verfassung zu“ (Hegel, 1970, S. 354).
Er warnte davor, als Hauptkriterium einer erfolgreichen Schullaufbahn die jährliche
Versetzung zu betrachten: „Es gilt dabei als Hauptgrundsatz, nicht in höhere Klassen zu
eilen; denn die Sicherheit und Festigkeit in den Anfangsgründen ist eine Hauptbedingung, um für das Höhere fähig zu sein, ...“ (Hegel, 1970, S. 355).
Hegel sah im Gymnasium ‘eine Spezialschule der Vorbereitung zur höheren wissenschaftlichen und geistigen Bildung’, die den Kindern vorbehalten bleibt, die diese Befähigungen mit sich bringen. In einem Gutachten über die Stellung des Realinstituts zu
den übrigen Studienanstalten aus dem Jahre 1810 äußerte er sich zu den Aufgaben der
verschiedenen Schularten. Dabei stellte er klar heraus, dass Kinder mit anderen Bega-
29
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
bungen, wie etwa einer ‘technischen Geschicklichkeit’, in anderen Schularten besser
untergebracht sind:
„Es wird für sie ein gleicher Unterricht so wenig stattfinden (oder derselbe
Unterricht für sie so ungleich sein), wie ein Bauer und ein Mensch, der
studiert hat, kaum miteinander militärisch exerziert werden können. - Eine
höhere Anstalt, die beiden, es sei im einzelnen oder im ganzen, genügen
sollte, würde keinem von beiden genügen“ (Hegel, 1970, S. 392).
Über die Zuweisung auf die einzelne Schulart entscheidet der Lehrer nach der Primarschule, die ‘die Probierzeit des Talents in sich faßt’ (ebd.). Soziale Selektionen nannte
Hegel in seinem Gutachten ebensowenig wie ungleiche Chancenverteilung zwischen
Jungen und Mädchen.
Somit schließt sich er Kreis der in sich greifenden Schulfunktionen: die Hauptaufgabe
der Schule ist bei Hegel gesellschaftlicher Art. Sie bereitet den jungen Menschen auf
das gesellschaftliche Leben vor, in das er sich gemäß seiner Begabungen einzugliedern
hat. Diese Befähigung zur Gemeinschaftsfähigkeit ist kulturell-gesellschaftlicher Art
und nimmt keine Rücksicht auf die individuelle Naturgemäßheit des Kindes (vgl. Reble,
1969, S. 194). Dennoch ist die Bildung zur Selbständigkeit (Sittlichkeit) eine wesentliche schulische Aufgabe, da nur der selbständige Mensch letztlich auch gemeinschaftsfähig ist.
Betrachtet man aus historischer Sicht die vielfältigen Äußerungen über die Aufgaben
der Schule genauer, so darf ein weiterer Vertreter dieses Zeitraumes, den Hermann Nohl
(1970) als ‘Deutsche Bewegung’ bezeichnet hat, nicht fehlen: Friedrich Ernst Daniel
Schleiermacher.
c)
Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher
Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768 - 1834), zunächst Hauslehrer und später
Pfarrer, kann insofern als Bildungstheoretiker angesehen werden, als er in den damals
entscheidenden Ausschüssen für die Bildungsreform arbeitete. Hier war er unter ande-
30
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
rem sowohl an der Neuordnung des Abiturs als auch der Lehramtsordnung der Gymnasiallehrer maßgeblich beteiligt17.
Schleiermacher äußerte sich in seinen Vorlesungen über Pädagogik in den Jahren 1813
und 1826 über die Aufgaben der öffentlichen Schule. Er sah - ähnlich wie Hegel - die
Schule als Institution, der die Aufgabe zukommt, die öffentliche Erziehung zu organisieren. Seine schultheoretischen Überlegungen stehen im Kontext einer umfassenden
pädagogischen Theorie18 und lassen sich in dreifacher Hinsicht unterscheiden:
1. Die öffentliche Anstalt der Erziehung als notwendige Einrichtung.
2. Die Aufgabe dieser Einrichtung.
3. Die speziellen Zwecke und Mittel der Schularten (vgl. Apel, 1995, S. 59).
(1)
Schule als Ursprung und Grundlage menschlichen Zusammenlebens.
Schleiermacher sah in der Erziehung den Ursprung des menschlichen Zusammenlebens
überhaupt:
„Für das menschliche Leben, für die gesamte menschliche Bildung gibt es
nichts bedeutenderes als Vollkommenheit der Erziehung. Die Fehler in der
Erziehung bewirken die menschlichen Unvollkommenheiten. [...] Es beruht
alle wesentliche Förderung des ganzen menschlichen Lebens auf der
Erziehung“ (Schleiermacher, 1959, S. 66f).
Gesellschaftliche Probleme lassen sich seiner Überzeugung nach immer auf die mangelnde Erziehung zurückführen:
„Der Mangel an Übereinstimmung zwischen der richtig organisierten
Erziehung und dem bestehenden Leben liegt nicht in der Idee, [...], sondern
nur in der Unvollkommenheit der Zustände, in der mangelhaften
Ausführung der Idee der Erziehung“ (Schleiermacher, 1959, S. 131).
Erziehung ist für ihn eine besondere Form der Einwirkung der älteren Generation auf
die jüngere, die zunächst in der Familie erfolgt (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 136). Das
Verhältnis zwischen den Generationen ist durch Autorität bestimmt. Schleiermacher
17
Sein wissenschaftlicher Werdegang führte ihn zunächst nach Halle, bevor er in Berlin tätig war (vgl.
Lichtenstein, 1959, S.295ff).
18
Diese sollen hier nur insofern erläutert werden, wie sie zum Verständnis seiner schultheoretischen
Überlegungen hilfreich erscheinen.
31
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
unterscheidet jedoch klar zwischen der familiären Erziehung und der Erziehung durch
Öffentlichkeit.
„In der ersten Periode gehört die Erziehung dem Hauswesen an. In der
zweiten Periode entsteht eine neue Aufgabe; es treten Bedürfnisse ein,
wodurch Hilfe postuliert wird. Die Eltern allein können diese Aufgabe nicht
lösen und die Bedürfnisse nicht befriedigen“ (Schleiermacher, 1959, S. 98).
Ausgehend von der Feststellung, dass es beim Phänomen der Erziehung um das Verhältnis der älteren zur jüngeren Generation geht und dass es Unterschiede zwischen familiärer und öffentlicher Erziehung gibt, sucht Schleiermacher nach einer Theorie der
Erziehung, die eine Antwort gibt, auf die Frage nach der Art und Weise der Gestaltung
dieses Verhältnisses:
„Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf die
jüngere, und sie ist um so unvollkommener, je weniger gewußt wird, was
man tut und warum man es tut. Es muß also eine Theorie geben, die von
dem Verhältnisse der älteren Generation zur jüngeren ausgehend sich die
Frage stellt: Was will den eigentlich die älterere Generation mit der
jüngeren? [...] Auf dieser Grundlage [...] bauen wir alles, was in das Gebiet
der Theorie fällt“ (Schleiermacher, 1966, S. 9).
(2)
Erziehung zur Idee des Guten.
So kann also die Aufgabe der Schule erst dann formuliert werden, wenn geklärt ist, was
durch Erziehung erwirkt werden kann:
„Wir haben somit eine nähere Bestimmung unserer Aufgabe gefunden,
indem wir den Prozeß der Erziehung an eine Tätigkeit anknüpften, die im
Anfange erregend, im Fortgange leitend, sich an die Idee des Guten
anzuschließen habe, mit Rücksicht auf die Unentschiedenheit der
anthropologischen Voraussetzungen. Es ist aber auf diese Weise weder das
Verfahren noch der Anfangs- und Endpunkt der Erziehung genau
bezeichnet“ (Schleiermacher, 1959, S. 51).
Die Idee des Guten zu wecken und dafür zu sorgen, dass der Mensch nach ihr handelt,
ist seiner Ansicht nach die primäre Aufgabe der Erziehung: „Finden wir im Lauf der
Erziehung etwas, was dem Begriff des Guten widerspricht: so werden wir es immer der
32
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
Erziehung zurechnen und sagen, dem hätte die Erziehung entgegenwirken sollen ...“
(Schleiermacher, 1959, S. 58).
Diese Idee wiederum ist bei jedem Menschen individuell verschieden. Die Erziehung
muss dieser Tatsache Rechnung tragen und darf nie gegen die ‘ursprüngliche Anlage im
Menschen einwirken’ (Schleiermacher, 1959, S. 72), wenn sie nicht der Idee des Guten
widerspricht: „Es soll sich uns im Gebiete der Natur die ganze Mannigfaltigkeit von
Erscheinungen entfalten“ (Schleiermacher, 1959, S. 59). Diese Individualität ist dadurch
zu gewährleisten, dass die Erziehung den Menschen zur Selbsttätigkeit anregt: „So ist
also, was in der Entwicklung begriffen ist, auch zu seiner Selbsttätigkeit gehörig anzusehen, und muss als solches [...] auch im Zwecke der Erziehung liegen“ (Schleiermacher, 1959, S. 59).
Hier schließt sich der Kreis: Erziehung hat das sittliche Leben zum Ziel und Selbsttätigkeit ist hierzu das geeignete Mittel. Das sittliche Leben wiederum schließt Fertigkeiten
und Gesinnung mit ein (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 150). Der Unterricht soll vorrangig Fertigkeiten ausbilden und einüben, und so seinen Beitrag leisten, eine Weltanschauung begründen und sich in der Gesellschaft zurechtfinden zu können. Die Erziehung soll moralische Selbständigkeit bewirken, die sich an der ‘Idee des Guten’ orientiert. Die Grenzen zwischen Unterricht und Erziehung sind fließend, so dass die jungen
Menschen durch das Leben und Lernen in der schulischen Gemeinschaft auf das Leben
in der Gesellschaft vorbereitet werden: „Daß aber für den Staat erzogen werden solle,
darüber ist die Theorie nicht schwankend“ (Schleiermacher, 1959, S. 61).
Gemeinschaftsgeeignete Lebensformen sollen durch die Schule gefördert werden, ungeeignete verhindert. ‘Unterstützen’ und ‘Gegenwirken’ sind zwei Formen der Einwirkungen, die Schleiermacher als Zentrum pädagogischen Handelns sieht (vgl. Schleiermacher,1959, S. 91, 93).
(3)
Schule als Vorbereitung auf die Gesellschaft.
Da die gesellschaftlichen Einflüsse aber auf das Leben der Kinder und Jugendlichen so
kompliziert und vielschichtig sind, muss die Schule in einem ‘Schonraum’ arbeiten. Nur
so kann sie ‘nicht gemeinschaftsfördernden Lebensformen’ entgegenwirken: „Die Verhütung kann nicht anders bewirkt werden als durch ein relatives Isoliertwerden des
Zöglings“ (Schleiermacher, 1959, S. 100).
33
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
Andererseits befürchtet Schleiermacher durch die Isolation eine Realitätsferne, die wiederum hinderlich für die Vorbereitung auf das gesellschaftliche Leben nach der Schule
ist. Um diesem Dilemma zu entkommen, teilt er die Schulzeit in bestimmte Phasen auf,
in denen die Schule die Kinder mehr oder weniger von der Realität isoliert: „..., d.h. das
Freilassen des Lebens in seiner Einwirkung auf den Zögling muss in der letzten Periode
seinen Ort haben und sich vollenden, so daß die Übung der Selbsttätigkeit im Kampf
schon da vollkommen im Gang ist“ (Schleiermacher, 1959, S. 102). Am Ende der
Schulzeit muss sich die Schule aus der Isolation lösen, damit der Eintritt in die Gesellschaft fließend geschehen kann, also ‘Erziehung und gemeinschaftliches Leben als ineinander ohne Störung übergehend’ (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 131) angesehen werden kann.
Ähnlich wie Hegel, der die Aufgabe der staatlichen Erziehung darin sah, dass sie die
„Überlieferung alter Werte in ein neues Verhältnis zu dem Ganzen setzt und dadurch
das Wesentliche desselben ebenso sehr erhält, als es verändert und erneuert“ (Hegel,
1970, S. 314), betonte Schleiermacher als ein Ziel der Erziehung, dass sie die Jugend
dazu erzieht, „daß sie tüchtig werde, einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch
tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen“ (Schleiermacher, 1959, S. 64). Auch er fordert eine kritische Beurteilung tradierter Werte, um sie
gegebenenfalls weiterzuentwickeln. Nur durch diese Bewertung und Fortführung gelingt
es, die Missstände zu beheben, ‘welche auf die Erziehung nachteilig wirken’ (vgl.
Schleiermacher, 1959, S. 173).
Er lehnte, wie Wilhelm von Humboldt, Standes-, Berufs- und andere spezielle Gesichtspunkte bei den allgemeinen Schulen ab:
„Was aber im Staate besteht als Wirkung der noch fortdauernden
angestammten Ungleichheit, das ist für die Erziehung nur ein solches
äußeres Verhältnis, das verschwinden soll. Dies kann aber nur geschehen
infolge der inneren Kraft, welche sich auch in den einzelnen entwickelt, die
zu der niederen Klasse gehören. [...] Es wäre frevelhaft, die Erziehung so
anzuordnen, daß Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird
auf dem Punkt auf dem sie steht“ (Schleiermacher, 1959, S. 76).
(4)
Notwendigkeit der Differenzierung für spätere Aufgaben.
34
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
Dadurch, dass die Schule auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet, gestand Schleiermacher ihr auch eine Selektionsaufgabe zu. Er sah die Notwendigkeit der Differenzierung für spätere Aufgaben in der Gesellschaft, warnte aber gleichzeitig vor vorschnellen
und unreflektierten Urteilen, da diese entscheidenden Einfluß auf das spätere Leben der
Zöglinge haben: „Das Urteil der erziehenden Generation muss also so sorgfältig und
sicher als möglich sein und von den klarsten Prämissen ausgehen, damit Irrungen nicht
vorkommen“ (Schleiermacher, 1959, S. 80).
Die Schule muss im Interesse des Staates jeden so fördern, dass „er das werde, was er
seiner Beschaffenheit nach werden kann“ (Schleiermacher, 1959, S. 161)19.
Insgesamt betrachtet wies Schleiermacher der Schule ähnliche Funktionen zu, wie diese
schon bei Hegel zu finden waren. Im Mittelpunkt steht die Bildungsfunktion, die das
Ziel hat, in den Menschen die Idee des Guten zu wecken. Aber auch er betonte die
Mittlerfunktion der Schule, die die Kinder aus der Familie in die Gesellschaft führen
soll. Die Notwendigkeit der Differenzierung innerhalb der Gesellschaft - gemeint sind
hier die verschiedenen beruflichen Tätigkeiten - legitimiert schließlich die Selektionsfunktion, wobei er ausdrücklich vor einer ‘standesgemäßen’ Selektion warnte. Allein die
Art der Begabung kann als Indikator für die gesellschaftliche Aufgabe nach der Schule
gelten; jedem soll seinen Anlagen gemäß eine allgemeine Ausbildung zuteil werden
(vgl. Apel, 1995, S. 60). Wie Hegel sah Schleiermacher die ‘wirkliche Welt’ als Orientierungspunkt. Nur was im ‘gewöhnlichen Leben’ auch von Bedeutung ist, soll in der
Schule thematisiert werden. Versäumnisse und Ungerechtigkeiten, die in der Gesellschaft vorherrschen, müssen jedoch beseitigt werden. Geschieht dies nicht, ist die Erziehung ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden (vgl. Schleiermacher, 1959, S. 224).
Er strebte, anders als Hegel, keine verschiedenen Schularten an, sondern empfahl als
ideale Lösung ein Nacheinander mit einer späten Differenzierung, wobei er zwischen
der Volksschule und dem Gymnasium die höhere Bürgerschule einschob (vgl. Reble,
1969, S. 202). Die allgemeine Volksschule legt dabei einen wichtigen Grundstein, denn
sie soll so gestaltet sein, dass „sie ihre Zöglinge sowohl in ein rein mechanisches Ge19
Einschränkend muss hinzugefügt werden, daß Schleiermacher diese Bildungschancen lediglich dem
männlichen Geschlecht vorbehielt. Das liegt vor allen Dingen daran, daß er gesellschaftliche Positionen
ausschließlich als männliche Domäne verstand, während den Frauen die Familie vorbehalten blieb. In
diesem Punkt konnte er sich nicht von den Vorstellungen seiner Zeit lösen.
35
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
werbsleben als auch in diejenigen Anstalten, in denen die höchste individuelle Ausbildung erreicht wird, abliefern kann“ (Schleiermacher, 1959, S. 216). Die höhere Bürgeroder Realschule soll denjenigen zu Gute kommen, die später zwischen der ausführenden
und der leitenden Schicht angesiedelt sind. Das Gymnasium schließlich dient als Vorbereitung für ein Universitätsstudium. Hier soll eine ‘höhere formale Bildung gepflegt’
werden, deren Inhalte sich an den Wissenschaften anlehnen und denjenigen vorbehalten
sein, die gesellschaftliche Führungspositionen übernehmen20. Der Eintritt in eine dieser
Schulen hat aber keine Endgültigkeit:
„Der Eintritt in die niedere Bürgerschule wird ebenfalls nichts ausschließen,
denn jeder wird aus derselben in die höhere Abteilung oder auch in die
Gelehrtenschule übergehen können, wenn er Fähigkeiten hat. Und ebenso
wird der Übergang aus der höheren Bürgerschule in die Gelehrtenschule sich
leicht ausführen lassen. Es würde nur darauf ankommen, dass der Übergang
... erleichtert würde“ (Schleiermacher, 1959, S. 308).
Schleiermacher spricht sich also für die Erleichterung der Übergänge zwischen den
Schularten aus. Dennoch kann er nicht ohne weiteres als Anwalt eines differenzierten
Schulsystems gesehen werden, vielmehr sah er sich mit den damals real existierenden
unterschiedlichen Schultypen konfrontiert, die es zu überwinden galt.
In seiner ‘Theorie der Erziehung’ versuchte er dagegen ein allgemeinbildendes Schulwesen zu entwickeln, das sich aus dem Prinzip der Selektion und der Leistung herleitet,
und das mit der Elementarschule beginnt, die alle Schüler durchlaufen müssen (vgl.
Krautkrämer, 1979, S. 284)21.
In den Beiträgen von Hegel und Schleiermacher zeigen sich deutlich die schultheoretischen Überlegungen der damaligen Zeit. Doch nicht nur diese theoretischen Grundlagen
machen Veränderungen deutlich, auch die Reformbemühungen Preußens wiesen den
Weg in die Zukunft.
20
Die Universität hat seiner Ansicht nach nicht die Aufgabe, eine Summe von Berufskenntnissen zu vermitteln. Vielmehr soll das Studium Kenntnisse in den gesamtgesellschaftlichen Rahmen einordnen und
bewerten. Dies lässt sich nicht rezeptiv lernen, sondern nur produktiv durch die Forschungstätigkeit. Mittelpunkt eines Studiums ist also das ‘Lernen des Lernens’. Studierende sollen zum eigenen Forschen angeleitet werden; die Universität hat nicht die Aufgabe, bereits bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse
zu vermitteln. ‘Königin der Wissenschaften’ ist die Philosophie.
21
Dass ihm Humboldt in dieser Frage immer wieder gegenübergestellt wird, rührt daher, dass Humboldt
versucht, seine Auffassung in die Praxis umzusetzen und Schleiermacher eine vorsichtigere Position einnimmt und Kompromissforderungen entwickelt, die die verschiedenen Schultypen als Tatsache anerken-
36
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
(5)
Der Süversche Unterrichtsgesetzentwurf.
Die zunächst von Humboldt eingeleitete äußere Reform des Unterrichtswesens zwischen 1808 und 1819 war eingeordnet in ein Gesamtkonzept preußischer Reformen und
erstrebte einen weitgehenden Abbau der hierarchischen Klassenstrukturen. Dabei suchte
es den Staat auf ein neues Fundament zu stellen: auf das Engagement seiner Bürger (vgl.
Hamann, 1993, S. 112). Exemplarisch lässt sich das neuhumanistische Schulmodell an
dem preußischen Unterrichtsgesetzentwurf, entwickelt von Süvers im Jahre 1819, verdeutlichen (vgl. Schweim, 1966, S. 123ff). Hier sprach Süvers in §1 über den Begriff
der öffentlichen allgemeinen Schulen, in dem die ‘allgemeine Menschenbildung an sich’
im Vordergrund steht und nicht die ‘unmittelbare Vorbereitung zu besonderen einzelnen
Berufsarten’. In den §§3 & 4 wird festgelegt, dass eine dreistufige Schulfolge die Jugendlichen auf die Universität vorbereitet: die Elementarschule im Kindesalter, die
Stadtschule im Knabenalter und das Gymnasium im Jugendalter. Danach sollte die allgemein-wissenschaftliche und sittliche Bildung soweit fortgeschritten sein, dass die jungen Menschen entweder auf die Universität oder in das ‘praktische Leben’ (vgl. Lundgreen, 1980, S. 57) entlassen werden können.
Alle Stufen waren so ausgerichtet, dass sie aufeinander aufbauten. Die Elementarschule
war also nicht die Schule für Arme und niederes Volk, sondern sollte die erste Stufe der
allgemeinen Menschenbildung sein und Grundbildung für alle leisten22.
Betrachtet man den neuhumanistischen Allgemeinbildungsanspruch hinsichtlich seiner
sozialgeschichtlichen Realisierung, so kann man feststellen, dass er angesichts der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse (Finanzschwäche des Staates, Massenarmut) nur
für einen relativ kleinen Teil der Gesellschaft erfüllbar war (vgl. Hamann, 1993, S. 120).
Eine auf wirklicher Mitbestimmung und Teilhabe des Volkes beruhende Verfassung
(worauf die Verwirklichung dieser Gedanken in ihren radikalen Entwürfen notwendig
abzielen musste), die dann auch das Schulwesen betroffen hätte, wurde von den Reformern nie ernsthaft beabsichtigt (vgl. Herrlitz, 1993, S. 31).
nen. Dies sollte aber keinesfalls als Gegenposition zu Humboldt verstanden werden (vgl. Krautkrämer,
1979, S. 285).
22
Dass eine solche Vorstellung von Schule auch Kritiker fand, liegt bei der Betrachtung der damaligen
Gesellschaftsverhältnisse nahe. So bezeichnet beispielsweise Ludolph von Beckedorff, der spätere Leiter
des Ressorts Volksschulwesen im Preußischen Kultusministerium, den Süverschen Unterrichtsgesetzentwurf als ein ‘Auflehnen gegen die Ordnung der Natur’ und befürchtet, dass dadurch ‘nichts anderes als
Neid, Eifersucht, Feindschaft, Hader und ewiger Kampf [...] in die Gemeinschaft der Menschen eingeführt
wird’, welche nichts anderes hervorrufen als Misstrauen und innere Kriege (vgl. Schweim, 1966, S.
222ff).
37
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
So blieben die antiständischen Reformpläne vielfach auf der Ebene der Programmatik.
Dazu kommt, dass die von Humboldt viel zu wenig bedachten Mechanismen sozialer
Systeme, besonders die, die von einer wirtschaftlichen und technischen Entwicklung
ausgingen, Veränderungen und Reformen von vornherein begrenzten. So hielt Humboldt beispielsweise die Mittleren Schulen mit praktischem Selbstverständnis, ausgerichtet an der ökonomischen Realität und den Lebensbedürfnissen, für überflüssig.
Am unbefriedigsten war, dass das Elementarschulwesen umgeschrieben wurde auf die
‘volkstümliche Bildung’ der unteren Sozialschichten; das Gymnasialkonzept brachte
statt der Menschenschule die bürgerliche Staatsschule zum Zwecke der Sicherung von
Bildung und Besitz als sozialer Privilegien hervor (vgl. Hamann, 1993, S. 121f).
Betrachtet man die längerfristige Wirksamkeit von Teilreformen, besonders der gelehrten Schulen, dann waren diese Reformen überaus folgenreich und weichenstellend und
sind es bis in die Gegenwart.
Herrlitz konstatiert drei beherrschende Tendenzen, die, ausgehend von dieser Zeit, die
weitere preußisch-deutsche Bildungsgeschichte beeinflusst haben:
1. Das Element der Staatsprüfungen, die das Bindeglied zwischen Abschlussqualifikationen und staatlicher Dienstbefähigung darstellten, wobei hierbei die Normierungen
für den Zugang in den Justizdienst 1755 wegweisend waren. Die preußischen Reformer verfolgten diesen Weg konsequent weiter: Humboldt führte im Jahre 1810 das
philosophische Staatsexamen als Berufsbefähigung für das Lehramt an Gymnasien
ein, womit sich das System der normierten Staatsprüfung endgültig etabliert hatte.
2. Mit dem Abiturreglement von 1834 wurden diese Zugangsbrerchtigungen auch
rechtlich verankert: jeder, der fortan in den Staatsdienst wollte, musste das humanistische Gymnasium erfolgreich absolviert haben sowie über ein mindestens dreijähriges wissenschaftliches Studium verfügen und eine mehrjährige Probezeit bestanden
haben.
3. Daraus resultierte wiederum eine Hierarchisierung, die sich aus dem zuvor durchlaufenen Bildungsweg ergab: fortan wurde zwischen ‘Subalternbeamten’ und ‘höheren
Beamten’ unterschieden (vgl. Herrlitz, 1993, S. 33ff).
38
Teil A: Die klassisch-idealistische Epoche
So verstärkte die neuhumanistische Bildungsreform die funktionelle Verschränkung
zwischen Staat und Schule, insbesondere der höheren Bildung 23. Dazu kam, dass sich
das höhere Schulwesen immer stärker vom niederen Schulwesen absonderte.
Damit waren die weitreichenden Pläne, ein einheitliches nationales Bildungswesen auch
wirklich in die Tat umzusetzen, gescheitert. Dies führte schließlich auch zu einer Ausdifferenzierung getrennter Lehrerstände, wobei sich die Gymnasiallehrer durch ihre
staatsunmittelbare Sonderstellung und die wissenschaftliche Laufbahn deutlich von den
Volksschullehrern abhoben, die von den eigentlich gebildeten Klassen nicht ernst genommen wurden (vgl. Herrlitz, 1993, S. 39ff).
In der Ausgestaltung der Schullandschaft zeigte sich eine eigentümliche Überschätzung
der formalen Geistesbildung gegenüber der materialen Bildung24. Die Kluft zwischen
dem auf relativ niedrigen Niveau stehenden ‘Volk’ und der Schicht privilegierter ‘Gebildeter’ wurde größer. Die in subjektbezogenem Bildungsidealismus befangene Einstellung ließ wenig Raum für die Einsicht in politische und soziale Notwendigkeiten.
Die zu sehr aus innerweltlicher Perspektive erfolgende Bewertung der Welt- und Lebensprobleme versperrte den Blick für tiefergehende Einsichten und notwendig zu ergreifende Maßnahmen.
23
Hier ist zunächst das Element der Staatsprüfungen zu nennen, als Bindeglied zwischen Abschlussqualifikation und Dienstbefähigung. Dazu kommt das im Jahre 1810 eingeführte philosophische Staatsexamen.
Durch das Abiturientenreglement von 1834 musste jeder, der in den höheren Staatsdienst treten wollte,
das humanistische Gymnasium und ein dreijähriges Studium absolviert haben.
24
Gemeint ist hier das zur Lebensbewältigung erforderliche Sachwissen.
39
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
3.
DAS ZEITALTER DER INDUSTRIALISIERUNG
In den Jahren 1830 - 1840 gab es einen deutlichen Einschnitt in das gesamte Kulturleben, ein Prozess, der häufig vereinfachend mit dem ‘Geist des 19. Jahrhunderts’ umschrieben wird. Das äußere Kennzeichen dieser Epoche ist die ‘Massenhaftigkeit’, die
das Leben in Europa für die nächsten 100 Jahre bestimmt hat (vgl. Reble, 1969, S. 233).
Beispielsweise wuchs zwischen 1830 und 1900 die Bevölkerung Deutschlands um mehr
als das Doppelte25, ebenso rasant entwickelte sich die gesamte Wirtschaft26. Möglich
wurde dies nur durch das Fortschreiten der Technik, die exakte naturwissenschaftliche
Erkenntnisse nun konsequent verwertete, um Güter zu produzieren. Es entstand ein ungeheurer ‘Apparat des Daseins’27 (Reble, 1969, S. 233).
Im wissenschaftlichen Bereich wurden die Einzeldisziplinen beherrschend, die Philosophie wurde entthront und war auch an den Hochschulen keine treibende Kraft mehr.
Insgesamt erfolgte eine Wendung vom idealistisch-philosophischen Denken zu einer
realistisch-empirischen Grundhaltung gegenüber Welt und Leben.
Daraus resultierte eine andere Auffassung von Erziehung und Bildung. Ähnlich wie in
der Zeit der Aufklärung wurde Bildung nun wieder als Nutzbarmachung des Menschen
verstanden. Dementsprechend war das Bildungswesen auch von der Verobjektivierung
der Welt, der fortschreitenden Zerspaltung sowie der Mechanisierung des Lebens betroffen. Bildung konnte jetzt nicht mehr als Persönlichkeitsgestaltung im Sinne einer allgemeinen Menschenbildung verstanden werden. Der Mensch sollte statt dessen für das
ökonomisch-soziale Dasein geschult werden.
Naturwissenschenschaftliche, mathematische und technische Inhalte gewannen an Bedeutung. Realien drangen verstärkt in die Lehrpläne ein, Lehr- und Lerninhalte wurden
erweitert, das Schulwesen erheblich verzweigt. Berufliche Erziehung und Bildung bekam einen höheren Stellenwert (vgl. Hamann, 1993, S. 133).
Die Zeit zwischen 1815 und 1840 war aber auch eine Epoche der Spannungen zwischen
konservativen und liberalen Kräften in der Schulpolitik. Auf der einen Seite die Konservativen, die das geschichtlich Gewordene zu bewahren suchten, und auf der anderen
25
Gab es im Jahre 1800 ca. 24 Millionen Deutsche, stieg die Bevölkerungszahl bis im Jahre 1900 auf
etwa 60 Millionen an (vgl. Reble, 1969, S. 233ff).
26
Wohnten noch zu Beginn des Jahrhunderts drei Viertel der Einwohner Deutschlands auf dem Lande,
war das Verhältnis am Ende des Jahrhunderts genau umgekehrt (vgl. Reble, 1969, S. 233ff).
27
Das gesellschaftliche Leben wird in einem bisher nicht gekannten Ausmaß organisiert, die Wirtschaftsbetriebe wachsen rasant, kleine Betriebe werden mehr und mehr verdrängt, die Arbeit zusehends kollektiviert (vgl. Reble, 1969, S. 233ff).
40
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
Seite die Liberalen, die dem Freiheits- und Fortschrittsglauben der Aufklärungszeit huldigten.
Äußeres Anzeichen der restaurativen Tendenzen war der Wiener Kongreß aus dem Jahre 1815. Die hier eingeleiteten Bemühungen gegen freiheitlich-liberale und nationale
Entwicklungen konnten auf die Schulpolitik nicht ohne Einfluss bleiben.
Als schulpolitischer Vertreter der konservativen Kräfte kann Ludolph Beckedorff gelten,
der die einzelnen Bevölkerungsgruppen in ihrem angestammten Berufs- und Lebenshorizont verankern wollte. Ziel war der staatstreue Untertan:
„Um aller dieser Gründe willen aber bedürfen wir in der menschlichen
Gesellschaft nicht gleichartiger Stufen, sondern verschiedenartiger Berufsund Standesschulen; [...] worin diejenigen, welche diesen zwar
verschiedenen, aber gleich ehrenwerten Ständen angehören, von
Kindesbeinen an zu ihrer künftigen Bestimmung vorbereitet werden; nicht
endlich einer künstlichen Gleichheit der Volkserziehung, sondern vielmehr
einer naturgemäßen Ungleichheit der Standeserziehung; zwar allerdings
einer übereinstimmenden Bildung zur Religion und Sittlichkeit, aber
keineswegs einer gleichartigen Abrichtung in Kenntnissen und Fertigkeiten
(Schweim, 1966, S. 229).
Beckedorff wandte sich deutlich gegen den Süverschen Unterrichtsgesetzentwurf.
Insgesamt entsprach zwar seine Zensur- und Kontrollpolitik dem Obrigkeitsstaat vor
1848, hemmte hier und da Fortschritte im Schulwesen, eine nachhaltige Wirkung auf
das sich entwickelnde Volksschulwesen konnte dadurch nicht erreicht werden. Das lag
schon allein daran, dass es bis zu diesem Zeitpunkt viel zu wenig ausgebaut war und die
entscheidenden Stellen in der Schulverwaltung immer noch von humanistisch und idealistisch gesinnten Männern aus der Reformzeit besetzt waren28 (vgl. Schmitz, 1980, S.
75).
Dennoch nahm die Volksschule, die von von Humboldt und Süvers als allgemeine Elementarschule geplant war, eine andere Entwicklung, als ursprünglich intendiert. Sie
wurde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit der eindeutigen Definition des Schulpflichtalters vollständig ausgebaut. Im Zuge der missglückten Revolution von 1848
28
Zudem stammten die jungen Lehrer, die seit der Reform in Seminaren ausgebildet wurden, überwiegend
aus den unteren sozialen Schichten und verstanden sich als ‘Mittler der Humanität und des objektiven
Geistes’ (Blankertz 1982, S. 160). Das von diesen Lehrern vertretene bildungspolitische Konzept war das
eines einheitlichen Schulsystems. Mit dem Scheitern der Revolution 1848 und dem Sieg reaktionärer
Kräfte wurden solche Grundideen zurückgedrängt.
41
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
wurde eine Volksschulpolitik betrieben, die eng mit dem Namen Ferdinand Stiehl29 verbunden ist. Die Regulative, mit denen die restriktive Schulpolitik eine verbindliche
Form erhielt, wurde so maßgeblich von ihm beeinflusst, dass sie mit dem Namen der
Stiehlschen Regulative von 1854 in die Geschichte eingegangen ist. Grundlage war eine
Theorie der materiellen Bildung, aus der drei Ziele abgeleitet werden konnten, die der
Regulative eine feste Norm vorgaben:
1. Die fraglose christliche Gläubigkeit,
2. die Liebe zum Herrscherhaus und Vaterland und
3. die nötige Kenntnis zur Sicherung des bürgerlichen Fortkommens (vgl. Blankertz,
1982, S. 163; Scheibe, 1974, S. 25).
Den genannten Zielstellungen entsprechend war der Lehrplan in mehrfacher Hinsicht
auf Bildungsbegrenzung angelegt und hatte als Bemessungsgrundlage die einklassige
Volksschule auf dem Lande. Unterrichtsstoffe wurden stark beschränkt, alles ‘Überflüssige’ und abstrakte Inhalte sollten verschwinden (vgl. Hamann, 1993, S. 139). Zentrales
Ziel war es, „dem praktischen Leben in Kirche, Familie, Beruf, Gemeinde und Staat zu
dienen und für dieses Leben vorzubereiten ...“ (Scheibe, 1974, S. 25).
Auch wenn der Stiehlschen Regulative keine nachhaltige Negativwirkung auf das sich
entwickelnde Volksschulwesen bescheinigt wird, so sind die ursprünglichen Ziele einer
allgemeinen Elementarschule durch sie verwischt und auch im Nachhinein nie wieder
aufgegriffen worden. Es wird deutlich, dass sich die hier geschaffenen Tatsachen gegen
die theoretischen Forderungen von Humboldt oder Schleiermacher wendeten.
Galt zunächst dem nach neuhumanistischen Zielen orientierten Gymnasium und der
Elementarschule das Interesse der Reformer, wurde den Realschulen und anderen
‘mittleren Schulen’ nun vorerst keine Bedeutung mehr beigemessen. Dies lag im Wesentlichen daran, dass seit den preußischen Reformen von 1809 und 1819 allein das
Gymnasium für den Besuch der Universität qualifizieren konnte. Im Bereich der Mittelschulen war das anfangs auch nicht notwendig, da selbst die meisten Gymnasiasten
nicht bis zum Abitur auf der Schule blieben. Bald aber entwickelte sich in den Städten
eine Bildungsanstalt, die sich verstärkt den ‘Realien’, also den Naturwissenschaften, der
Mathematik und den modernen Sprachen zuwendete: die Realschule.
29
Ferdinand Stiehl war evangelischer Theologe, Direktor des Lehrerseminars in Neuwied (Rhein) und
arbeitete in den Jahren zwischen 1844 und 1872 im preußischen Kultusministerium. Ab 1850 war er Lei-
42
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
Die Entwicklung dieser Schule nahm einen anderen Verlauf, als es ursprünglich bei
ihrer Etablierung beabsichtigt war: Statt der sich entwickelnden Privatindustrie, dem
Handel und Gewerbe den Nachwuchs zu sichern und eine an bürgerlichen Interessen
orientierte Alternative zur altklassischen Bildung zu bieten, geriet sie in den Sog der auf
die Bedürfnisse der beamteten Elite in Staat und Kirche ausgerichteten Gymnasien, eiferte diesen nach und orientierte ihre Konzeption weitgehend auf höhere Allgemeinbildung und breiten Hochschulzugang hin (vgl. Hamann, 1993, S. 151; Herrlitz, 1981, S.
63). Spätestens ab dem Jahre 1900 waren die drei Schultypen Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule30 Abitur- und damit gleichberechtigt.
Darin wird deutlich, dass die Entwicklung der höheren Schulen während des 19. Jahrhunderts unter dem Druck eines Systems von Berechtigungen stand. Dieses Berechtigungswesen hatte schon sehr früh eine politische Funktion. Auf der einen Seite nutzte es
das Bürgertum gegen das Adelsprivileg, auf der anderen Seite war es ein Instrument
gegen die mit der Industrialisierung aufstrebende Arbeiterschaft.
„Denn in der Gesellschaft der formal Gleichberechtigten behielten die
Besitzenden die politische Macht in der Hand, weil der Zugang zu den
Staatsämtern und den gesellschaftlich relevanten Funktionen allein über
Berechtigungen ging, die einen Schul- und Ausbildungsgang voraussetzten,
den die besitzenden Schichten ihren Kindern sehr viel leichter ermöglichen
konnten als die Arbeiterschaft“ (Blankertz, 1982, S. 184).
Dagegen hatten berufsbildende Abschlüsse kaum Bedeutung, was die Aufstiegsmöglichkeiten der Arbeiterschaft stark beeinträchtigte. Durch diese Profilierungskämpfe der
Schulen untereinander entfernte sich das Bildungswesen allerdings immer mehr von den
Intentionen der Theoretiker der damaligen Zeit.
Angesichts dieser Situation, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei manchen Zeitgenossen ein aus Kulturpessimismus resultierendes Dekadenzgefühl aufkommen ließ,
wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kritik laut gegen den ‘Ungeist’ des gesellschaftlichen Lebens, gegen materialistisches Denken und Vermassung, Bildungsphilistertum
und Unechtheit des Lebens. Kritiker wie Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) oder Paul de
Lagarde (1827 - 1891) zielten auf eine Erneuerung geistigen und kulturellen Lebens. Die
Philosophie griff idealistische Gedankengänge auf und propagierte die ganzheitliche
ter der Abteilung ‘Volksschulen und Lehrerseminar’ und kann als einer der ersten Vertreter pädagogischen Funktionärstums der verwalteten Schule angesehen werden (vgl. Blankertz, 1982, S. 163).
30
In beiden Schularten konnte das Abitur ohne das Latinum erworben werden.
43
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
Schau der Welt und des Menschen (vgl. Hamann, 1993, S. 181f). Mit der Veröffentlichung der ‘Einleitung in die Geisteswissenschaften’ aus dem Jahre 1883 hat Wilhelm
Dilthey31 (1833 - 1911) die ‘verstehenden’ Wissenschaften der Kultur und des Menschen
zu ergründen gesucht. Dabei versuchte er, die Manifestation des Menschen in der historisch-gesellschaftlichen Praxis, dokumentiert in den ‘Systemen der Kultur’, zu erkennen. Seine Ideen bildeten die Grundlage für die geisteswissenschaftliche Pädagogik.
a)
Wilhelm Dilthey
Wilhelm Dilthey war zunächst als Lehrer tätig. Er unterrichtete nach seinem theologischen Examen und seiner Lehramtsprüfung an zwei Gymnasien in Berlin, verließ diese
aber bereits wieder nach einem Jahr, um sich den Geisteswissenschaften zuzuwenden.
Auch wenn er sich mehr für die Begründung einer „wahrhaft wissenschaftlichen Pädagogik interessierte, als für die Schulstube selbst“ (Groothoff, 1981, S. 22), finden sich
Ansätze zu einer Theorie der Schule bzw. des Schulsystems an verschiedenen Stellen in
seinen Arbeiten32.
Grundlage dieser Schultheorie ist eine Theorie der Bildung, ohne die die Didaktiken und
Methoden zusammenhangslos nebeneinander stehen. Kann man die beiden Theorien
schließlich miteinander verknüpfen, so wird eine allgemeingültige systematische Pädagogik möglich33.
(1)
Bildung als gesellschaftliche Notwendigkeit.
Bildung außerhalb einer Gesellschaft ist Diltheys Ansicht nach nicht denkbar. Die weitere Entwicklung einer Gesellschaft wiederum hängt davon ab, daß einzelne Individuen
in ihren Bildungsprozessen diese Gesellschaft und ihr Selbstverständnis prüfen und
weiterführen. Somit ist die Bildung des Individuums nicht nur für das Individuum selbst
31
Bekannt gemacht hat ihn unter anderem seine Arbeit über das Leben Schleiermachers. Ausgehend von
dieser Arbeit hat er zwei Wege eingeschlagen: er hat sich in die Geistes- und Gesellschaftsgeschichte der
Neuzeit vertieft und sich auch der Gegenwart zugewandt, was zur Folge hatte, dass er die Geisteswissenschaften sowohl historisch als auch systematisch ausarbeitete. Ich möchte an dieser Stelle auf die Werke
von Ulrich Hermann (1971) und Hans-Hermann Groothoff (1981) zu Wilhelm Dilthey hinweisen.
32
Schultheoretische Überlegungen finden sich in seinen Gesammelten Schriften vor allen Dingen im VI.
Band (Abhandlungen zu Poetik, Ethik und Pädagogik), hier in seinem Kapitel ‘Schulreform und Schulstuben’ und im IX. Band (Pädagogik - Geschichte und Grundlage des Systems).
33
Eine Theorie der Bildung wird dann erst schlüssig, wenn man die ‘Einzelvorgänge’ des Systems in
einen ‘Kausalzusammenhang’ bringt (vgl. Dilthey, 1934, S. 179). Dilthey fordert eine Zusammenführung
verschiedener sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie der Psychologie, der Anthropologie und der
Statistik. Erst so wird eine systematische Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis möglich. Er wußte
aber auch, dass man von dieser Zusammenführung damals noch weit entfernt war.
44
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
wichtig, sondern sie liegt auch im ureigensten Interesse einer Gesellschaft (vgl. Groothoff, 1981, S. 157, 159, 179). Hier findet sich auch die Verknüpfung zur Erziehung:
„Unter Erziehung verstehen wir die planmäßige Tätigkeit, durch welche
Erwachsene das Seelenleben von Heranwachsenden zu bilden suchen. [...]
Die Erziehung ist eine Funktion der Gesellschaft“ (Dilthey, 1934, S. 190,
192).
Erziehung ist also eine gesellschaftliche Aufgabe, die die ältere Generation gegenüber
der jüngeren erfüllen muss. Als gesellschaftliche Notwendigkeit kann sie aber nicht zufällig geschehen, sondern muss geplant sein.
Dilthey spricht in diesem Zusammenhang insbesondere von den gesellschaftlichen Institutionen Familie, Gemeinde, Kirche und Staat. Dabei steht die Familie für das Element des persönlichen Glücks, die Gemeinde für das der Brauchbarkeit in der ökonomischen Welt, die Kirche für das der Personalität und der Staat für die Fähigkeit, sich dem
Gesetz unterzuordnen und sich im Ganzen zu bilden (vgl. Dilthey, 1934, S. 196). Nur
diese Institutionen zusammen bewirken eine umfassende Erziehung:
„So bemerkt man, wie gerade in dem Gleichgewicht dieser
Herrschaftskräfte, welche die moderne Gesellschaft ausmachen, die
Allseitigkeit gesichert ist. Sie wird in Einseitigkeit erstarren, wenn jemals
einer dieser Faktoren, eine dieser herrschenden Kräfte sich der Kinderseele
ausschließlich bemächtigte“ (Dilthey, 1934, S. 196).
Das macht deutlich, dass zumindest Teile der gesellschaftlichen Erziehung an das Unterrichtswesen delegiert werden müssen. Naturgemäß liegt das Erziehungsrecht zwar
primär bei der Familie, diese ist jedoch nicht autonom:
„Also wird die Funktion der Erziehung, sofern sie von der Familie nicht
vollständig besorgt werden kann oder doch im Einzelnen nicht besorgt wird,
von Gemeinde, Staat und Kirche ergänzt. An diesem Punkt löst sich die
Frage, was die vom Staat den Eltern aufgelegte Schulpflicht sei“ (Dilthey,
1934, S. 194).
45
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
Bildung und Ausbildung wird dann von der Schule übernommen, wenn es sich um ‘wissenschaftlich begründete planmäßige’ (vgl. Groothoff, 1981, S. 163) Erziehung für die
gesamte nachwachsende Generation handelt34.
(2)
Schule als Instanz der individuellen und gesellschaftlichen Bildung.
Die wichtigste Aufgabe der Erziehung ist es, den Menschen „nach dem Maß seiner
Kraft an der richtigen Stelle zu seiner Befriedung und zum Nutzen der Gesellschaft in
dieser Kultur“ (vgl. Dilthey, 1934, S. 14) heranzubilden.
Die schulische Erziehung der Heranwachsenden dient der Entfaltung und Entwicklung
eines einheitlichen, individualen, in sich wertvollen Seelenlebens. Darunter versteht
Dilthey die Wechselwirkung von Ich und Welt, die sowohl zur Identitätsbildung wie zur
Verweltlichung (Sozialisation, Enkulturation) des Individuums führt und die als die
‘Bildung’ des entwickelten Menschen beschrieben wird. Dilthey ist - ebenso wie Schleiermacher - der Ansicht, dass Bildung primär als sittliche Bildung verstanden werden
muss (vgl. Groothoff, 1981, S. 165f).
Das bedeutet aber gerade nicht, dass das Individuum gesellschaftlichen Interessen untergeordnet werden soll. Vielmehr soll jeder Zögling seinen Anlagen gemäß so gefördert
werden, dass er dadurch auch der Gesellschaft optimal dienen kann.
Auch wenn es Dilthey an keiner Stelle so formuliert hat, ist unverkennbar, dass die
Schule zur ‘Selbsttätigkeit’ und ‘Selbst-Bildung’ erziehen muss. Ihre eigentliche Aufgabe ist dann die ‘Anleitung’ und ‘Beratung’ der Zöglinge. Das schließt aber nicht aus,
dass es sich hierbei um harte Arbeit handelt, die eine innere Disziplinierung der Schüler
teils voraussetzt, teils bewirkt, wozu dann aber seitens des Erziehers auch gewisse ‘Hebel’ benutzt werden können (vgl. Groothoff, 1981, S. 167). Denn nur eine in diesem
Sinne erzogene Jugend hat die „plastische Kraft des selbsttätigen Schaffens, die Freude
an der Tätigkeit, an Bilden und Gestalten ...“ (Dilthey, 1934, S. 223).
Darüber hinaus hat jede Gesellschaft die Pflicht, sich zu reformieren. Der Schule kommt
dabei ein entscheidender Anteil zu: „Wirkliche Reformen werden nur durch eine stetige
schwere pädagogische Arbeit in den Schulstuben vollbracht“ (Dilthey, 1958, S. 185). Er
geht dabei von der Schule als einem Ort des Umgangs, des Unterrichts und der Bildung
aus, in dem die Schüler ‘reelle Erfahrungen’35 machen können. Wenn die Schule nicht
34
Die Frage nach der Bedeutung der familiären Erziehung in Bezug auf die öffentlichen Einrichtungen hat
sich für Dilthey nicht gestellt. So spricht er auch nicht von speziellen, sich hieraus ergebenden Sonderfällen, wie z.B. einer Pädagogik für die jungen Menschen, bei denen die familiäre Erziehung versagt hat.
35
Zum Erfahrungsbegriff siehe auch die Ausführungen in Kapitel Teil C (Kap.2.3).
46
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
ein ‘Ort der Langeweile und der Fronarbeit’ bleiben soll, aus dem das ‘Leben vertrieben’ wurde, sondern sich statt dessen der ‘Selbst-Bildung’ der Zöglinge zuwendet und
diese ‘anleitet’, dann muss sie reformiert werden. Die Orientierung an der Wirklichkeit
spielt dabei eine wichtige Rolle:
„Der Zusammenhang mit dem Lebendigen, dem Ganzen, muß im Verlauf
des Unterrichts beständig unterhalten bleiben. [...] Die Aufgabe einer
wirklichen modernen Pädagogik wäre nun, die Methoden zu finden, durch
welche die einzelnen Fächer so in den inneren Zusammenhang einer
möglichst einfachen Repräsentation des Zusammenhangs der Wirklichkeit
gebracht werden können. [...] In dem Maße, in welchem wir uns diesem
Ziele nähern, löst sich die pädagogische Frage“ (Dilthey, 1934, S. 217f).
Hier wird das Prinzip deutlich, das dem ‘bildenden Unterricht’ zugrunde liegt: Lernen
und Denken, Aneignung und Verarbeitung dürfen nicht getrennt werden (vgl. Dilthey,
1934, S. 212).
Der Unterricht muss Zusammenhänge erarbeiten, die die Wirklichkeit repräsentieren.
Diese kann erst danach erklärt, künstlerisch gestaltet, religiös und sittlich behandelt
werden. Ziel des Unterrichtes ist es, die Individuen in die Lage zu versetzen, die erkannten Zusammenhänge auf ihre persönliche Situation zu übertragen (vgl. Dilthey,
1934, S. 212).
Damit ein solches schulisches Schaffen überhaupt möglich wird, nennt Dilthey drei gesellschaftliche Vorbedingungen:
1. Die Schule muss ein Ort pädagogischer Freiheit für den Lehrer und damit auch für
die Schüler sein (vgl. Dilthey, 1958, S. 87).
2. Die Reform der Schulen kann nur voran getrieben werden, wenn ‘pädagogische Versuchsstationen’ eingerichtet werden (vgl. Dilthey, 1934, S. 89).
3. Die Ausbildung der Lehrer muss eine ‘pädagogische Ausbildung der gesamten Person’ sein (vgl. Dilthey, 1934, S. 8).
(3)
Verfechter des gegliederten Schulsystems.
Auch wenn er ‘pädagogische Versuchsstationen’ (für die Erprobung eines Einheitsschulsystems) forderte, war Dilthey grundsätzlich ein Verfechter des gegliederten
Schulsystems, das seiner Ansicht nach den schulischen Aufgaben am ehesten gerecht
wird: „Der natürlichen Trennung der Begabungen in den oberen Klassen entspricht die
der höheren Unterrichtsanstalten. Aber sie darf erst eintreten, nachdem Neigungen und
47
Teil A: Das Zeitalter der Industrialisierung
Talent sich entschieden haben“ (Dilthey, 1934, S. 219). Hauptargument dieser Gliederung ist die strenge Trennung zwischen den Schulen, die auf die wissenschaftliche Ausbildung in den Hochschulen vorbereiten und denen, die den Schwerpunkt auf die ‘Realien’ legen. Wie Schleiermacher betont auch er die späte Differenzierung, die die
Grundlage einer individuellen Förderung ist.
Der Erzieher hat die Aufgabe, jeden Schüler so zu beurteilen, dass die richtige Schulwahl getroffen wird. Diese Beurteilung soll ausschließlich nach den individuellen Anlagen geschehen, unabhängig von der sozialen Herkunft des Zöglings:
„Der Erzieher soll die individuellen Anlagen des Zöglings erkennen und
demselben zum Bewußtsein bringen. Er soll die Ausbildung des Zöglings in
der Richtung seiner Anlagen zur Anpassung an eine Berufstätigkeit
fortleiten. So wird die Erziehung aus einer dem zufälligen Willen der
Zöglinge oder Eltern dienenden Technik zur freien, großartig in das Ganze
der Gesellschaft greifenden Kunst“ (Dilthey, 1934, S. 198).
Eine im Sinne der individuellen Förderung arbeitende Schule leistet dann Diltheys Ansicht nach einen ‘Beitrag zur Lösung der sozialen Frage’: „Der Druck, der auf den körperlich hart arbeitenden Klassen lastet, würde am edelsten gemindert durch die Hoffnungen, welche ihnen gestatten, den Kindern jeden ihren Anlagen entsprechenden Beruf
nicht nur in abstracto rechtlich offen, sondern tatsächlich zugänglich zu sehen“ (Dilthey,
1934, S. 199).
Eine Schule, die den individuellen Bildungsprozess in dieser Weise initiiert, fördert
auch die Entwicklung der Gesellschaft und umgekehrt steht die Erziehung in Zeiten
gesellschaftlicher Krisen vor einer schweren Aufgabe, da die Ursachen unter anderem in
einer fehlerhaften Erziehung zu suchen sind.
Auch wenn sich Dilthey gemessen an seinem Gesamtwerk nur sehr wenig zu schulischen Fragen geäußert hat, ist es ihm doch gelungen, die Aufgaben der schulischen Erziehung deutlich herauszuarbeiten.
Im Mittelpunkt steht dabei die Bildung des jungen Menschen zu sich selbst, die ihn
gleichzeitig als gesellschaftsfähigen Menschen aus der Schule entlässt. Diese beiden
Funktionen können jedoch nur dann erfüllt werden, wenn sich die Schule an der ‘wirklichen Welt’ orientiert. Diese erfordert jedoch auf Grund der gesellschaftlichen Strukturen
eine Verteilung innerhalb der Gesellschaft. Diese Verteilung innerhalb der Gesellschaft
48
Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik
muss so gestaltet sein, dass sie zugleich dem individuellen Bedürfnis eines jeden jungen
Menschen gerecht wird, muss also auf der Basis einer breiten Allgemeinbildung aufbauen. Hieraus resultiert die Forderung einer späten Differenzierung innerhalb des Schulsystems.
4.
DIE ZEIT DER REFORMPÄDAGOGIK
Im Zusammenhang mit einem sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen
Lebensbereichen offenbarenden Wandel des Lebensgefühls36 entstanden in Deutschland
innerhalb kurzer Zeit neben- und nacheinander verschiedene reformerische Bemühungen. Damit eng verbunden war auch die Frage nach der Gestaltung des Schulwesens.
Die autoritäre ‘Lern- und Buchschule’ geriet in Kritik, eine neue pädagogische Bewegung wendete sich gegen „Zerspaltung und Veräußerlichung von Erziehung und Unterricht, gegen die Auslieferung des jungen Menschen an die Erwachsenenwelt“ (Reble,
1969, S. 258). Schule wurde kritisiert als ein System, das keine Rücksicht auf die späteren Berufsbedingungen der Kinder nahm. Diese Kritik erlebte ihren Höhepunkt, als
Wilhelm II. in der Eröffnungsrede der Berliner Schulkonferenz im Jahre 1900 die Gymnasien der bloßen Gelehrsamkeit anklagte und dabei betonte, dass Charakterbildung und
Bedürfnisse des täglichen Lebens keine Berücksichtigung fänden. Aus dieser Kritik heraus entstand der ‘Nährboden für die Reformpädagogik’ (Oelkers, 1987, S. 194)37.
Zu den wichtigsten Strömungen bzw. Richtungen der reformpädagogischen Bewegung
zählen die Jugendbewegung, die Kunsterziehungsbewegung, die Pädagogik ‘Vom Kinde aus’ und die ‘Arbeitsschulbewegung’.
Dazu kommen spezifische Versuche zur Umgestaltung des Schullebens, wie die
Landerziehungsheimbewegung oder die Lebensgemeinschaftsschulen. Den eigentlichen
Durchbruch schafften die reformpädagogischen Ansätze jedoch erst nach dem ersten
Weltkrieg, denn die staatliche Schulpolitik der Wilhelminischen Zeit war durch den
36
Gemeint sind hier beispielsweise die Rückwendung zum Menschen, das Streben nach irrationaler Tiefe
in der Lebensbedeutung und Lebensgestaltung oder das Bedürfnis nach Kreativität.
37
In der Zeit zwischen 1895 und 1913 wurde sehr viel in den Schulausbau investiert. In diesen Jahren
stiegen die jährlichen Pro-Kopf-Ausgaben im Bildungswesen um das Doppelte und im Jahre 1901 blieben
nur noch 0,01% der schulpflichtigen Kinder dem Unterricht widerrechtlich fern. Die Erfüllung der Schulpflicht war somit erreicht. Zudem erfuhr die Mädchenbildung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts
seinen größten Aufschwung. Nachdem in Baden Frauen im Jahre 1901 zum ersten Mal zum Studium
zugelassen wurden, bahnte sich die Gleichberechtigung im akademischen Berufsfeld an.
49
Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik
sogenannten ‘Kaiser-Erlaß’38 von Wilhelm II. geprägt. Dieser stammte aus dem Jahre
1889 und wurde bis 1918 nicht grundlegend revidiert (vgl. Hamann, 1993, S. 209ff).
Mit der militärischen Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg, der Novemberrevolution 1918 und der Gründung der parlamentarisch verfassten Republik im Jahre 1919
änderten sich die politischen Rahmenbedingungen für jede Art von Gesellschaftsreform.
Das galt auch für die Bildungspolitik (vgl. Lundgreen, 1981, S. 11). Während die Ideen
der Reformpädagogik vor dem Krieg vorwiegend in Büchern und Zeitschriften diskutiert wurden, setzten sich die Hauptprinzipien nun mehr und mehr durch. Die pädagogisch engagierten Politiker griffen das Gedankengut der Arbeitsschule und der Kunsterziehungsbewegung auf, hier besonders die Prinzipien der staatsbürgerlichen Erziehung
und der Selbsttätigkeit, und entnahmen der Kunsterziehungsbewegung das Prinzip des
eigenen Schöpfertums. Mit diesen Ideen sollte die Demokratisierung der Schule vorangetrieben werden.
Einem solchen inneren Wandel musste jedoch auch ein äußerer folgen, wenn die Schulreform im gesamten Schulwesen durchgesetzt werden sollte: Die Einheitsschule wurde,
entgegen der strengen Dreigliedrigkeit39, als die Möglichkeit in Betracht gezogen, die
Demokratsierungsbemühungen zu verwirklichen. Als Ganzes gesehen blieb sie jedoch
ein Entwurf, denn aufgrund finanziell-wirtschaftlich ungünstiger Bedingungen in den
zwanziger Jahren war bestenfalls die innere Reform zu realisieren. Somit konnte sich
die hart umkämpfte Einheitsschule nicht durchsetzen (vgl. Dietrich, 1975, S. 237).
An dieser Stelle zeigt sich die Problematik dieser Zeit: bis zum Ende der Weimarer Republik gelang es nicht, die Spannung zwischen dem politischem Pluralismus und dem
Aufbau einer für alle Kräfte akzeptablen Schule aufzulösen. Deutlich wurde dies in der
Reichsverfassung von 191940, in der zugleich Versprechen wie Enttäuschungen für die
bildungspolitischen Reformer enthalten waren. Zu den Enttäuschungen zählte, dass die
Regelung der politischen Kompetenzen hinter den Erwartungen der Reformer zurückblieb: Die Hoheit der Länder wurde nicht angetastet und das versprochene Reichsschulgesetz kam auch bis zum Ende der Weimarer Republik nicht zustande (vgl. Tenorth,
1988, S. 244). Um auseinanderstrebende Meinungen und Entwicklungen in Grenzen zu
halten und sowohl im Schul- wie im Hochschulwesen so weit als möglich Einvernehmen zu erzielen, wurde das Instrument der Ländervereinbarung geschaffen, das dann ab
38
Die Schule hatte diesem Erlaß zufolge den Auftrag, reichstreue Bürger zu erziehen, den Christenpflichten nachzukommen und gegen die Sozialdemokraten vorzubeugen.
39
Die Dreigliedrigkeit wurde vor allem wegen ihrer Auslesefunktion kritisiert.
50
Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik
1948 in die ‘Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik’[KMK] mündete.
So kam es zum ‘Weimarer Schulkompromiß’41 (Lundgreen, 1981, S. 16), der die Verabschiedung des Grundschulgesetzes im Jahre 1920 nach sich zog und weitreichende Folgen hatte. Kernstücke des Kompromisses waren die Einigung auf eine ‘für alle gemeinsame Grundschule’ (Weimarer Reichsverfassung [WRV] Art.146) und das sich anschließende christliche Simultanschulwesen (WRV Art. 146, Abs. 1). Allerdings nicht
entschieden war mit Artikel 146, wie der organische Aufbau des mittleren und höheren
Schulwesens auf der ‘für alle gemeinsamen Grundschule’ aussehen sollte. Aufgrund der
unterschiedlichen Meinungen, die keine Einigung im Parteienspektrum zuließen, war
die ‘Nicht-Entscheidung’ die Begründung für das dreigliedrige Schulsystem. Von nun
an stand das gesamte Schulwesen unter Aufsicht des Staates (vgl. Lundgreen, 1981, S.
17f; Scheibe, 1974, S. 55ff).
Letztlich hat es die Weimarer Republik nicht geschafft, der Formel ‘Freie Bahn dem
Tüchtigen’ zur Geltung zu verhelfen. Bildungsprozesse blieben auch nach der Einführung der Demokratie noch abhängig von der Zugehörigkeit zu sozialen Klassen und
Schichten (vgl. Tenorth, 1988, S. 247).
Im Bereich der inneren Reform wurde jedoch durch private Initiativen von vielen Pädagogen Entscheidendes geleistet. Man gestaltete den Unterricht im Sinne des kindgemäßen Wachsenlassens, was im Rahmen einer Gemeinschaftserziehung am ehesten möglich war. Aus diesem Grunde verstanden sich viele Schulen als Gemeinschafts- oder
Lebensgemeinschaftsschulen (vgl. Dietrich, 1975, S. 253; Hoof, 1969). Die Idee und
Wirklichkeit einer solchen Schule entwickelte Peter Petersen (1884 - 1952) in seinem
Jena-Plan umfassend. Dabei hat er auch fundiert die Funktionen der Schule dargestellt
und begründet.
a)
Peter Petersen
Peter Petersen sah seine Überlegungen, die er im Jena-Plan zum Ausdruck brachte, eingebettet in die europäische Bewegung der ‘Neuen Erziehung’. Für ihn war sie weit mehr
als eine Schulreform42, und so kann auch die Pädagogik Petersens als Ausdruck eines
40
Hier vor allen Dingen in den Artikeln 142 -150.
Beteiligt waren die Parteien der Weimarer Koalition: SPD, Zentrum und die Deutsche Demokratische
Partei (DDP).
42
Peter Petersen bezeichnete sie als ‘Ausdruck eines neuen Lebens- und Gemeinschaftswillens von Völkern’, der die Zukunft gehört (Petersen, 1965, S. 15).
41
51
Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik
Lebens verstanden werden, das die pädagogische Verantwortung als Kern des pädagogischen Handelns begreift. Seine schulpädagogische Theorie ist alles andere als eine konkrete Utopie. „Sie ist das Nachdenken über die Bedingungen der Möglichkeit einer pädagogisch verantwortbaren Praxis, einer Praxis also, die sich an der Frage orientiert:
Welche Schule ist am besten geeignet, der Menschwerdung des Menschen zu dienen“
(Klaßen & Skiera, 1984, S. 8)?
1923 wurde Peter Petersen (1884 - 1952) Ordinarius für Erziehungswissenschaft am
Pädagogischen Seminar in Jena und brachte aus der Hamburger Schulreformbewegung
neue Ideen mit43, die in vielen Punkten gegensätzlich zu der bisher in Jena gelehrten
Pädagogik standen.
Dem Pädagogischen Seminar angeschlossen war eine Universitätsübungsschule, an der
die Lehrstudenten die pädagogische Praxis erfahren sollten. Petersen löste die bestehende Schule zum Jahreswechsel 1923/24 auf und gründete Ostern 1924 auf der Basis der
‘Neuen Erziehung’ eine ‘Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschule’44. An die Stelle des
Begriffs ‘Einheitsschule’ setzte er dann die Bezeichnung ‘freie allgemeine Volksschule’.
Der Sache nach war sein Schulkonzept, das er 1919 entwickelt hatte, eine Gesamtschule, die die Kinder des ganzen Volkes vom Kindergarten bis zum Abitur, mindestens aber
bis zur 10. Klasse führen sollte.
Die neue Schule hatte zum Ziel, von den Kindern als ‘Zuhause’ anerkannt zu werden, in
dem sie sich selbst zurechtfinden konnten, sich eine Ordnung geben und selbständig
lernen. Dies geschah durch die freie Wahl des Gegenstandes und projektartige Bearbeitungsformen, die am Ende eine Darstellung der eigenen Lernergebnisse vor den anderen
Gruppenmitgliedern einschlossen.
Petersen nutzte neben den Publikationen zwei weitere Instrumente, um sein pädagogisches Konzept, das 1927 auf der internationalen Konferenz der ‘New Education Fellowship’ in Locarno den Namen ‘Jena-Plan’ erhielt, bekannt zu machen: zum einen
entfaltete er eine rege Vortragstätigkeit, zum anderen lud er zu sogenannten pädagogi-
43
Diese Ideen standen gegensätzlich zu denen seines Vorgängers Wilhelm Rein, der weiterhin an der
Universität lehrte. Rein stand fortwährend für die überkommene Pädagogik, Petersen für die ‘Neue Erziehung’ (vgl. Retter, 1996, S. 17).
44
Dies tat er im Auftrag der damaligen sozialistischen Landesregierung, die Volksschullehrersausbildung
an der Universität reformieren und die Einheitsschule verwirklichen wollte.
52
Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik
schen Wochen ein, die als mehrtägige Fortbildungsveranstaltungen für interessierte
Pädagogen in seinen Schulversuch einführten (vgl. Retter, 1996, S. 21).
(1)
Ursprünge der Jena-Plan-Pädagogik.
Bereits im Jahre 1910 wurde er durch seinen Wechsel von Leipzig an ein Hamburger
Gymnasium mit den Ideen und Zielen der Reformbewegung bekannt:
• Schule und Unterricht sollen fortan ‘vom Kinde’ ausgehen.
• Dementsprechend arbeiten die Schüler selbsttätig miteinander.
• Der Lehrer ist in erster Linie Berater.
• Lehrer, Schüler und Eltern bilden eine Schulgemeinde.
• Die Schule selbst ist organisch zu gliedern, darf also keine Trennwände zwischen
den verschiedenen Ständen und Begabungen errichten (vgl. Dietrich, 1991, S. 25).
Fortan versuchte Petersen, die Forderungen der Schulreformbewegung auf die Praxis zu
übertragen. 1920 übernahm er die Leitung der Realschule in Hamburg-Winterhude.
Durch den ‘Abstieg’ von einem Gymnasium an die Realschule wollte er deutlich machen, dass er eine Integration der Schularten anstrebte. Diese Schule, die schon 1921
eine Oberstufe erhielt, war seine erste ‘Reformschule’. Vor allem das Gemeinschaftsleben der Schüler stand im Mittelpunkt der Unterrichtsarbeit und in der sogenannten
Schulgemeinde arbeiteten Eltern, Lehrer und Schüler zusammen.
(2)
Erziehung zum humanen Menschen.
Hier finden sich die ersten Ansätze für seinen Jena-Plan, die er auch schriftlich formuliert: In seinem Buch ‘Gemeinschaft und freies Menschentum’ (1921) sind die wesentlichen Ideen für die Schulreform festgehalten45. Schon in dieser Zeit hat er an der Theorie
und Praxis einer Schule gearbeitet, die Kindern aller Schichten dazu dienen soll, ihr
Menschentum zu entfalten und Sachkenntnisse zu erwerben.
„Wie die Zukunft politisch und wirtschaftlich gestaltet sein wird, das wissen
wir nicht und weiß keiner der heute Lebenden, wie es auch niemand zuvor
gewußt hat. Die Zukunft wird von Nöten, Interessen, Kämpfen, neuen
wirtschaftlichen, politischen, sozialen Bedingungen bestimmt sein, die wir
nicht kennen, einige höchstens ahnen können. Aber eines wissen wir alle:
Alle diese Nöte usw. können nur behoben werden, wenn jene Zeiten über
45
Es zeigt sich, dass Petersen die Grundlagen für den Jena-Plan bereits vor seinem Wechsel nach Jena
ausarbeitete.
53
Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik
Männer und Frauen verfügen mit Initiative, fähig und bereit, die Last auf
sich zu nehmen und sie zu tragen, freundlich, liebenswürdig, rücksichtsvoll,
hilfsbereit und willig, sich selber ganz und gar an ihre Aufgabe hinzugeben,
Opfer zu bringen, wahrhaft zu sein, treu, schlichten Herzens, ehrlich,
selbstlos, und darunter einige wenige, die bereit sind, mehr zu tun, als die
andern für diese andern, ohne davon Aufhebens zu machen. Dienstbereit
alle, aber nach Maßgabe des Pfundes, das sie zu verwalten bestimmt und
darum in ihr Leben entlassen worden sind“ (Petersen, 1980, S. 41).
Das Ziel der Erziehung ist für ihn der ‘humane Mensch’, der sich über die zeitbedingten
Aufgaben hinaus um die Humanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen bemüht und die sittlichen Normen durch ‘Tathandlungen’46 zu verwirklichen versucht, wie
sie am Grunde des Menschseins entstanden sind und wie sie aufgrund der ‘schöpfungsmäßigen Verbundenheiten’ der Menschen für das Zusammenleben unumgänglich sind.
Petersen will mit seinen erziehungsphilosophischen Erkenntnissen nicht nur der
Menschheit dienen, sondern vor allem dem einzelnen Menschen, dem Kinde und dem
Jugendlichen (vgl. Dietrich, 1991, S. 16).
(3)
Die Schule als Menschenschule.
Hier liegt auch der primäre Auftrag der Schule: Sie soll als ‘Menschenschule’ verwirklicht werden, also als eine Schule, die das Humanum anspricht, in diesem Sinne entwikkelt wird und dafür sorgt, dass die interpersonalen Beziehungen ‘menschlicher’ werden
(vgl. Dietrich, 1991, S. 22).
Die Konsequenz für die Schule muss also lauten: Schule und Unterricht müssen unter
die ‘Idee der Erziehung’ gestellt werden, d.h. das gemeinsame Handeln muss den Mittelpunkt bilden, damit sittliches Tun geübt, sich bewähren und dann bedacht werden
kann47 (vgl. Dietrich, 1991, S. 54).
46
Der Begriff ‘Tathandlungen’ stammt von Johann Heinrich Pestalozzi, wird jedoch im Rahmen dieser
Arbeit nicht näher erläutert.
47
Grundlage der Pädagogik ist die Betrachtung des Menschen, so wie er ist, in seiner individuellen und
gesellschaftlichen Gebundenheit, eben realistisch. In der Tradition Fröbels (1782 - 1852) bedeutet dies,
dass das ganze Leben des Menschen ein Leben der Erziehung ist. Durch dieses Verständnis wird aus der
geschlossenen Erziehungsanstalt Schule eine offene. Petersen geht also von der grundsätzlichen Unfestgelegtheit und -legbarkeit des Menschen aus:
• der Mensch ist ein instinktreduziertes Wesen;
• er bedarf daher der Erziehung, um Mensch zu werden;
• die Erziehung kann aber immer nur Hilfen anbieten, Ansatzpunkte und Möglichkeiten aufzeigen, wie
der Mensch sittlich handeln kann und soll.
Das Eigentliche, nämlich die Selbstüberwindung, muss dann jeder Mensch selbst vollbringen. Die hier
zum Ausdruck kommende Auffassung vom Menschen hat entscheidende Konsequenzen für Erziehung und
Unterricht (vgl. Dietrich, 1991, S. 31).
54
Teil A: Die Zeit der Reformpädagogik
„Die echte Schulgemeinde will also in dem vom Staate abgesteckten
Rahmen für planvolle Einwirkung beruflich ausgebildeter Erzieher auf die
noch nicht reife Generation ein Zusammenleben und eine Arbeitswelt
darstellen, in denen sich die Erziehungsfunktion so rein wie nur irgend
möglich auswirkt und alle Verhältnisse bestimmt, vor allen Dingen auch den
Unterricht“ (Petersen, 1980, S. 9).
(4)
Lebensweltorientierung.
Diese Bewährung soll sich an realen Gesellschaftsproblemen orientieren. Die Schule hat
also die Aufgabe, sich an der Lebenswelt der Kinder zu orientieren und sich mit dieser
auseinanderzusetzen. Denn nur der ‘Mensch der polis’48, der sich in dem vielfältigen
gesellschaftlichen, politischen und geistigen Ordnungen der Gesellschaft zurechtfindet,
kann ein ‘freier Mensch’ sein (vgl. Petersen, 1980, S. 12).
So können Bildung und Bewährung nicht ‘zensiert’ werden:
„Die Gefahr der Zensur durch den Lehrer kann als nicht groß genug
bezeichnet werden. Sofort befördert sie die Einstellung des Lernens auf den
Lehrer und verdirbt die eigene Arbeitslinie des Kindes und verstört das
eigene sittliche Urteil, die Sicherheit der eigenen Stimme des Kindes.
Verschiedene Erlebnisse lehrten das in krassester Form“ (Petersen, 1980, S.
64).
Petersen wandte sich deutlich gegen Zensuren, sah aber die Notwendigkeit von individuellen Beurteilungen. Hier unterscheidet er zwischen dem objektiven und dem subjektiven Bericht.
„Für die objektive Charakteristik tragen alle Lehrer, die mit dem Kinde zu
tun hatten, ihre Beobachtungen und Urteile über das Kind ein und stellen sie
den Eltern zur Einsicht, zur kritischen Stellungnahme und zur schriftlichen
Gegenäußerung frei“ (Petersen, 1980, S. 64).
Diese Charakteristik für die Eltern ist jedoch nicht für das Kind bestimmt. Dazu dient
der subjektive Bericht, in dem der Lehrer die Aufgabe hat, „nur das dem Schüler zu sagen, was nach seiner besten Überzeugung für dieses Kind das Beste ist. [...] So muß
48
Auf den Begriff der polis geht Petersen hier nicht näher ein. Es bleibt - ähnlich wie bei Hartmut von
Hentig - offen, in wie fern er die negativen Seiten dieser polis in seinen schultheoretischen Überlegungen
berücksichtigt.
55
Teil A: Die Zeit nach 1945
manches verschwiegen, anderes milder oder stärker gesagt werden als im objektiven
Βerichte“ (Petersen, 1980, S. 65).
Es liegt nahe, dass Petersens Jena-Plan-Schule eine Gesamtschule ist. Dies hat auch
biographischen Ursprung: er selbst stammte aus einer armen Bauernfamilie und wurde
frühzeitig mit der sozialen Frage konfrontiert. Das hat später wesentlich das Handeln
von Petersen bestimmt. So erklärt sich sein Engagement für die ‘Förderung aller Begabten’ in der ‘freien allgemeinen Volksschule’, als einer ‘Gesamtschule’. Erst danach
entscheidet sich der weitere berufliche Weg.
Insgesamt gesehen sind auch bei Petersen die Aufgaben der Schule deutlich zu erkennen: Sie hat seiner Ansicht nach nur eine untergeordnete selektive Funktion, wohingegen die Erziehung zum ‘humanen Menschen’ im Mittelpunkt seiner pädagogischen
Überlegungen steht.
Wie viele andere reformpädagogische Schulkonzepte beinhaltet die Pädagogik Peter
Petersens ein vielfältiges Schulleben und ist darauf angelegt, durch sinnliche Erfahrung
und durch Orientierung an den Erfahrungsräumen des gesellschaftlichen Lebens vorhandene Erfahrungsdefizite der Kinder aufzuarbeiten und ihnen selbsterworbene Erfahrungen zu ermöglichen (vgl. Retter, 1993, S. 26).
5.
DIE ZEIT NACH 1945
Nach Kriegsende, beim Wiederaufbau des dreigliedrigen Schulsystems nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges, besannen sich die Deutschen auf tradierte Werte. Statt,
wie von den Alliierten vorgeschlagen, sich ein neues, bisher nicht gekanntes innovatives
Schulsystem zu erschaffen, wollte und musste man das schwere Erbe beachten: ein im
Dritten Reich aufgebautes Schulsystem, das die Gleichschaltung der jungen Generation
systematisch verfolgte.
Dies sollte in Zukunft verhindert werden. Ebensowenig wollte man sich dem Einheitsschulsystem der sozialistischen Bruderstaaten annähern. So kam es zu einem dreigliedrigen Schulsystem:
56
Teil A: Die Zeit nach 1945
„Seine Schaffung und die entschiedene Abwehr einer auch von den
Alliierten gewünschten äußeren Schulreform gehören ebenfalls in den
Zusammenhang der in der Nachkriegszeit bestehenden allgemeinen
Modernisierungsskepsis“ (Deutscher Bildungsrat, 1970, S. 31).
„[...] Weil die Lernfähigkeit der Bevölkerungsmehrheit gering eingeschätzt
wurde, sollten schulische Einrichtungen für die politische Kultur sorgen und
ihr gegen mögliche Gefährdung Halt geben. Die soziale Festigkeit und
Selektivität der wiedergeschaffenen Schultypen ist im Rückblick wohl
überschätzt worden“ (Deutscher Bildungsrat, 1970, S. 73).
Das mutet im internationalen Vergleich erstaunlich an, aber es gab zwei entscheidende
Faktoren, die bei einer Beurteilung berücksichtigt werden müssen:
1. Das Fehlen einer republikweiten Bildungspolitik49, welches dadurch zustande kam,
dass das Grundgesetz den Ländern die Kulturhoheit zuwies. Aus diesem Grunde
wurde die 1948 geschaffene ‘Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der
Bundesrepublik’ [KMK] für die Abstimmung und Lösung zahlreicher (gemeinsamer)
Probleme immer wichtiger.
2. Der Zustrom von zirka 11 Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen bis 1960, der eine
große Arbeitskräftereserve ergab. Eben dieser Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in anderen Staaten war eines der wichtigsten Argumente für Bildungsreformen.
Ein solcher Traditionalismus darf jedoch nicht als einheitliches und klar definiertes Programm verstanden werden. Es war vielmehr eine Vereinigung verschiedener politischer
Tendenzen und sozialer Standpunkte, die in traditionellen Schul- und Universitätsstrukturen einen gemeinsamen Nenner fanden. Dieser war vor allen Dingen in einem
hierarchischen Bildungssystem zu finden (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsbericht am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung [MPI], 1994, S. 24f).
So wurden für die Aufbauphase des nachkriegszeitlichen Schulwesens verschiedene
Länderabkommen der KMK recht bedeutungsvoll. Das zeigt auch, dass der innere (konzeptionelle) Ausbau des Schulwesens, im Gegensatz zum materiellen, in den 50er Jahren vorangetrieben wurde50.
49
Die Konzeption der föderalistischen BRD, die 1949 gegründet wurde, ließ eine republikweite, einheitliche Bildungspolitik nicht zu.
50
Beispielsweise setzte im Jahre 1955 das Düsseldorfer Abkommen ‘Zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens’ einem 10jährigen ‘Schulchaos’ ein Ende und normierte die Schultypen des dreigliedrigen Schulsystems unter Einschränkung von abweichenden Schulversuchen.
57
Teil A: Die Zeit nach 1945
Mit dem im Jahre 1953 eingesetzten ‘Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen’51 wurde auch die Reformdiskussion wieder eröffnet. Besonders der ‘Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden und öffentlichen Schulwesens’, in dem der Ausschuß mehr Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und individuell angepasste Bildungsgänge forderte, löste lebhafte Auseinandersetzungen aus. Als wichtigste Empfehlung gilt die ‘Empfehlung zum Aufbau der Hauptschule’.
Mit Beginn der 60er Jahre, in Verbindung des fortgesetzten wirtschaftlichen Wachstums, wurde die Bundesrepublik durch die Dynamik der gesellschaftlichen Modernisierung geprägt52. Es entwickelte sich ein gesellschaftlicher Pluralismus, der auch öffentliche Konflikte als legitim erscheinen ließ. Im Bildungsbereich erkannte man, dass bestehende Selektionsbarrieren im Schulsystem zu einem Hemmschuh, vor allen Dingen in
Bezug auf die berufliche Vorbereitung, geworden waren. Der Begriff ‘Bildungskatastrophe’ entstand (vgl. MPI, 1994, S. 31f).
a)
Der Deutsche Bildungsrat
1964 löste man den Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen auf
und gründete 1965 den Deutschen Bildungsrat. Der Deutsche Bildungsrat sollte helfen,
die Bildungskatastrophe konstruktiv zu beheben. So ist der Bildungskommission am
15.07.1965 die Aufgabe gestellt worden:
1. Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen zu entwerfen, die
den Erfordernissen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens entsprechen
und den zukünftigen Bedarf an ausgebildeten Menschen berücksichtigen.
2. Vorschläge für die Struktur des Bildungswesens zu machen und den Finanzbedarf zu
berechnen.
3. Empfehlungen für eine langfristige Planung auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens auszusprechen (vgl. Deutscher Bildungsrat, 1970, S. 1).
(1)
Chancengleichheit und individuelle Förderung.
51
Die Aufgabe des Ausschusses war es, ’Die Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesen
zu beobachten und durch Rat und Empfehlung zu fördern’. Seine Mitglieder arbeiteten unabhängig von
Institutionen und Organisationen.
52
Diese beeinflusste das gesamte Jahrzehnt: Das Ende der Adenauer-Ära (1963), die Regierungsbeteiligung der SPD (1966 große Koalition; 1969 sozial-liberale Koalition) und die Studentenunruhen (1967/68)
machten die tiefgreifenden Veränderungen gesellschaftlicher Prozesse deutlich.
58
Teil A: Die Zeit nach 1945
In der 1970 erschienenen ‘Empfehlungen der Bildungskommission’ lautete die Leitfrage, wie sich Chancengleichheit und individuelle Förderung - auch der Hochbegabten in einem Bildungswesen verwirklichen lassen, das zugleich den Erfordernissen einer
schnell sich wandelnden Welt Rechnung tragen muss. Der Bildungsrat votierte dabei
sehr stark für die Einrichtung von Versuchsschulen, die auf der Basis von Ganztagsschulen organisiert sein sollten.
Folgende Motive für die Versuche mit Ganztagsschulen stehen dabei im Vordergrund:
1. Der Mensch ist in zunehmendem Maße in komplexe und schwer übersehbare gesellschaftliche Zusammenhänge gestellt. Die Familie kann ihn nicht auf
alle notwendigen Tugenden des öffentlichen Verhaltens hinreichend vorbereiten. Der Schule fällt daher in hohem Maße die Aufgabe zu, auf das Leben
in der Gesellschaft vorzubereiten. Die herkömmliche Halbtagsschule kann
diese Aufgabe aber nur ungenügend erfüllen, weil sie im wesentlichen auf
den Unterricht beschränkt ist und deshalb zur Entwicklung vielfältiger
Kommunikationsformen nur wenig beitragen kann.
2. In der BRD besteht eine Ungleichheit der Bildungschancen. In den Schulen
gelingt es noch immer nicht, die unterschiedliche Herkunft zu ignorieren.
3. Trotz der Bemühungen vieler Lehrer bleibt die Schule gegenwärtig weitgehend auf den Unterricht beschränkt und überlässt die Hausaufgaben der Familie. Dies aber wiederum setzt familiäre Hilfen voraus, die bei weitem
nicht in allen Familien geleistet werden.
4. Die heutige Gesellschaft benötigt Menschen, die die Fähigkeit zu Einzelarbeit mit der Bereitschaft zu Kooperation in der Gruppe verbinden. Die
Schule geht zu wenig darauf ein.
5. Die Berufstätigkeit vieler Mütter aller sozialen Schichten hat das Problem
der ‘Schlüsselkinder’ und des mit der Arbeit der Schule nicht verbundenen
Hortes geschaffen. Die Schulleistungen der dort aufwachsenden Kinder zeigen, dass sie nur ungenügend gefördert werden und zu wenig Anregungen
und Unterstützung erhalten.
6. Der Ausfall der Unterrichtszeit bei einer Verkürzung von einer 6 auf eine 5Tage-Woche kann nicht von der Halbtagesschule aufgefangen werden.
59
Teil A: Die Zeit nach 1945
7. In der gegenwärtigen Halbtagesschule bestehen kaum Möglichkeiten für eine zeitliche Flexibilität der Unterrichtsplanung (vgl. Deutscher Bildungsrat,
1970, S. 50-52).
(2)
Schule als Ort der Persönlichkeitsbildung und fachlichen Qualifikation.
Aus diesen 7 Motiven heraus ergeben sich dann auch die Funktionen, die nach Ansicht
des Bildungsrates eine Schule erfüllen muss:
In hochtechnisierten Gesellschaften bedarf es zweier Grundsäulen der Qualifikation: die
der individuellen Persönlichkeit und die der fachlichen Qualifikation. Die individuelle
Persönlichkeitsbildung schließt das ‘persönliche Bildungsstreben’ mit ein und die fachlichen Qualifikation die ‘Berücksichtigung der technischen Zivilisation’.
Gerade hinsichtlich der Erlangung der Hochschulreife liegt diesem Schulverständnis ein
‘doppelter Bildungsbegriff’ zu Grunde, der sich aus den Überlegungen von Wilhelm
Flitner, Heinrich Holzapfel und Robert Ulshöfer53 (1961) herleitet:
• Ein pädagogisch-theoretischer, der die humanistische Komponente beinhaltet und
bestimmt wird durch
- die menschlich-sittliche Reife54,
- die formale Bildung55,
- die Allgemeinbildung56.
• Ein pragmatischer, der sich aus den Voraussetzungen für das wissenschaftliche
Fachstudium herleitet.
(3)
Empfehlung für die Einrichtung von Gesamtschulen.
Aus diesen schulfunktionalen Überlegungen heraus resultierte dann auch die Empfehlung für Einrichtung von Gesamtschulen. Sie stellt eine Schulform dar, die zugunsten
einer größeren Chancengleichheit auch in einem weiteren Punkt zu einer ‘besseren
Schule’ wird: durch eine größere Individualisierung soll die Leistungsfähigkeit jedes
einzelnen Schülers gestärkt werden.
53
Vgl. hierzu: Flitner W., Holzapfel H. & Ulshöfer R. (1961). Die gymnasiale Oberstufe. Heidelberg:
Quelle Meyer.
54
Gemeint sind hier Gründlichkeit, Zuverlässigkeit, ‘Lebensreife’.
55
Hier wird der Begriff der ‘Studierfähigkeit’ von W. Flitner übernommen.
56
Während der Grad der menschlich-sittlichen Reife wie der der Denk- und Urteilsfähigkeit nicht materiell fixierbar ist, sind die Anforderungen an die Allgemeinbildung im sogenannten Tutzinger Maturitätskatalog zwischen den Beauftragten der KMK und der westdeutschen Rektorenkonferenz 1958 vereinbart
worden.
60
Teil A: Die Zeit nach 1945
Aufgrund der Empfehlungen sorgte der Bildungsrat mit seinen 18 Empfehlungen und
über 50 Gutachten für wissenschaftliche und politische Kontroversen, die dann im Jahre
1975 zu seiner Auflösung führten.
Es wird durch die Empfehlungen des Bildungsrates deutlich, dass, gesamtgesellschaftlich gesehen, das umfassende Bildungsziel die Befähigung des Einzelnen zu individuellem und gesellschaftlichem Leben sein sollte. Jeder sollte zur Wahrnehmung seiner
Rechte und Pflichten befähigt werden sowie die Möglichkeit der freien Berufswahl haben. Eine weitere Zielkomponente sollten die Anforderungen der Gesellschaft an den
Einzelnen abgeben. Demokratisierung unter Herstellung größtmöglicher Chancengleichheit war die generelle Leitlinie (vgl. Hamann, 1993, S. 244).
Kennzeichnend für die Zeit der 60er Jahre ist, dass Problemwahrnehmung und bearbeitung primär politisch definiert wurden. Davon war auch die Bildung nicht ausgeschlossen und so wurde Bildungspolitik immer mehr zu einem relativ selbständigen
Politikbereich, eingebunden in die seit 1969 versuchte Reformpolitik der sozialliberalen Koalition (vgl. Tenorth, 1988, S. 273). Damit verbunden war auch die Möglichkeit für Pädagogen gegeben, sich kritisch über das Schulwesen in der Bundesrepublik zu äußern. Einer dieser Pädagogen war Ivan Illich, ein Pädagoge, der sich durch
seinen ‘radikalen Humanismus’57 (Fromm, 1972, S. 7) auszeichnete.
b)
Ivan Illich
Im Jahre 1972 veröffentlichte Ivan Illich (geb. 1926) seine zwei Bücher ‘Schulen helfen
nicht’ und ‘Entschulung der Gesellschaft’, die durch ihre Zweifel an der Wirksamkeit
des Schulsystems kontroverse Diskussionen in der Fachwelt auslösten.
„Durch Schulung ist allgemeine Bildung nicht erreichbar. Sie wäre eher
erreichbar, würde der Versuch mit alternativen, im Stil auf den jetzigen
Schulen aufbauenden Einrichtungen unternommen“ (Illich, 1972a, S. 13).
(1)
Defizite eurozentristisch verkürzter Schultheorien.
57
Erich Fromm erläutert den Begriff des ‘radikalen Humanismus’ im Vorwort des Buches ‘Schulen helfen
nicht’ näher.
61
Teil A: Die Zeit nach 1945
Der ehemalige Priester dalmatinisch-österreichischer Herkunft und Gründer des Centro
Interculutral de Documentation (CIDOC) in Cuernavaca (Mexiko) weist in seinen Aufsätzen immer wieder auf zwei wesentliche Defizite ‘disziplinär und historisch eurozentristisch verkürzter Schultheorien’ (vgl. Dauber, 1987, S. 108) hin:
1. Die unzureichende Analyse der ökonomischen, sozialen und kulturellen ‘Verschmelzungen’ der Idee und Praxis der Schule mit der Idee und Praxis des wissenschaftlichen Fortschritts.
2. Die systematische Vernachlässigung der Alltagserfahrungen von Schülern, Lehrern
und Eltern58.
Illich kann im eigentlichen Sinne nicht als Schultheoretiker bezeichnet werden. Wenn er
trotzdem immer wieder genannt wird, dann deshalb, weil er schulische Defizite aufzeigt,
die in dieser Form nur selten so klar und gründlich geäußert werden.
Darüber hinaus argumentiert er immer wieder vom Blickwinkel eines Aussenstehenden,
der die Schwächen der öffentlichen Schule so aufdeckte, wie es einem Autor, der nicht
mit den Problemen der sogenannten dritten Welt vertraut gewesen wäre, sicherlich nicht
hätte gelingen können.
(2)
Schule erliegt ihren sekundären Funktionen.
Illich zeigte in seinen Aufsätzen immer wieder deutlich die Funktionen der Institution
Schule auf. Er kritisierte, dass Bildung dann, wenn sie in der Pflichtschule institutionalisiert wird, ihren sekundären Funktionen59 erliegt. Diese sekundären Funktionen charakterisierte er folgendermaßen (vgl. v. Hentig, 1972, S. 7ff):
• Schulbildung hat eine ‘Herrschafts-Eigenschaft’ und eine damit verbundene selektive Eigenschaft:
Resultierend aus der Unterweisung, die mit der Benotung von bereits gelerntem und
noch nicht gelerntem Unterrichtsstoff zusammenhängt, entsteht in den Schulen eine
hierarchischen Gliederung, wobei sich die Schüler nach den Zielen der Lehrer richten, um mit den bestmöglichen Noten abzuschließen (vgl. Illich, 1972a, S. 30, 103).
58
Dies beklagt er vor allen Dingen bei empirischen Untersuchungen.
Hentig hat die Funktionen in seinem Vorwort zur ‘Entschulung der Gesellschaft’ als ‘Eigenschaften’
bezeichnet. Ich wähle hier bewusst den Begriff ‘Funktion’ als Synonym, da sich die bisher aufgezeigten
Schulfunktionen in den hier genannten Eigenschaften widerspiegeln.
59
62
Teil A: Die Zeit nach 1945
So dienen Schulen vor allen Dingen den Reichen und Privilegierten: Bezahlt von der
Mehrheit, bevorteilen sie eine Minderheit. Den Beitrag zum Abbau von sozialer Ungleichheit kann das hierarchisch strukturierte System nicht leisten.
• Schulbildung hat eine ‘kapitalistische Eigenschaft’:
Sie ist akkumulierbar (sammelbar), gibt dem, der akkumuliert hat, einen prinzipiellen
Vorteil über den, der weniger akkumuliert hat, und setzt, wie anderes Kapital, den
Reicheren in die Lage, die Bildungsmittel zu monopolisieren - allein schon dadurch,
dass eine länger dauernde Bildung, die der Ärmere sich nicht leisten kann, als die
‘höhere’ und bessere gilt (vgl. v. Hentig, 1972, S. 7). Illich kritisiert an dieser ‘kapitalistischen Eigenschaft’ besonders, dass die Auswahl für eine Aufgabe oder Kategorie am Arbeitsmarkt immer mehr von der Länge des Schulbesuchs abhängt (vgl. Illich, 1972a, S. 30), oftmals jedoch nicht von den individuellen Eigenschaften, die der
Bewerber für die angebotene Arbeit mitbringt.
• Schule hat eine ‘bürokratische Eigenschaft’:
Schulen ähneln immer mehr Fabriken: möglichst groß, um rationell zu sein; möglichst differenziert, um arbeitsteilig und spezialisiert unterrichten zu können. In einer
solchen nach dem Fabrikmodell organisierten Schule bleibt aktives, selbstdiszipliniertes Lernen auf der Strecke (vgl. Dauber, 1987, S. 108).
• Schulbildung hat eine ‘beschwichtigende Eigenschaft’:
Sie trennt nicht nur von der Erfahrung des bestehenden Unrechts, indem sie überhaupt von vieler Erfahrung trennt, sie nährt vor allem die Überzeugung, dass man
jetzt, da man lernt, nichts tun könne, dass man aber in den Positionen der Kompetenz, die man durch sie erreicht, auch Macht haben werde - und dann werde sich das
System ändern (vgl. v. Hentig, 1972, S. 8).
(3)
Bildung wird zur Schulbildung.
Lernen als primäre Eigenschaft der Schule und die Zuweisung gesellschaftlicher Aufgaben als sekundäre Eigenschaft werden Illichs Ansicht nach zur Schulung verschmolzen.
So wird Bildung zu Schulbildung.
Bildung als Schulbildung, die die genannten Charakterzüge trägt, ist aber zum Gegenteil
dessen geworden, was Menschen sich unter Bildung vorstellen und was in den Lexika,
in den Präambeln und Theorien steht: ein Stück sozialer Determinismus (hier: Vorbestimmtheit) statt ein Akt geistiger Emanzipation (vgl. v. Hentig, 1972, S. 8).
63
Teil A: Die Zeit nach 1945
Die an Noten, Abschlüssen und Berechtigungen orientierte Lernpraxis der Schule sperrt
die Erfahrung von Schülern, Lehrern und Eltern aus und ersetzt die selbständige Bearbeitung von Problemen durch die Gewöhnung an folgenlosen Wissenskonsum (vgl.
Dauber, 1987, S. 109). Maßstab des schulischen Lernens ist der angestrebte Abschluss
und diese Ergebnisorientierung wiederum Ausgangspunkt für den ‘heimlichen Lehrplan’. So „wird sich bald erweisen, dass die Schule mit Bildung etwa so viel zu tun hat,
wie der Medizinmann mit der öffentlichen Gesundheitspflege“ (Illich, 1972b, S. 16).
Illich bezeichnet die Schule als Einrichtung, die institutionalisierte Werte quantitativer
Art vermittelt. Sie führt junge Menschen in eine Welt ein, in der alles meßbar ist: auch
ihre Phantasie und sogar der Mensch selber. Persönliches Wachstum ist aber nicht eine
meßbare Größe (vgl. Illich, 1972a, S. 64f). „Die Jugend will (jedoch) Bildungseinrichtungen, die ihr Bildung verschaffen. Sie will und braucht nicht bemuttert, bestätigt oder
indoktriniert zu werden“ (Illich, 1972b, S. 20).
Diese von ihm aufgezeigten Gegensätze zwischen Schulbildung und Bildung sind Ausgangspunkt für seine weiteren Überlegungen. Bildung ist für ihn „die Ausbildung eines
unabhängigen Lebensgefühls und eine Bezüglichkeit, die Hand in Hand damit geht, dass
die im Zusammenleben der Menschen aufbewahrten Erinnerungen zugänglich und nutzbar gemacht werden“ (vgl. Illich, 1972b, S. 21). Eine hierarchisch gegliederte Institution,
die bestimmte Lerninhalte vorschreibt, kann diese Ausbildung seiner Ansicht nach jedoch nicht vermitteln.
Derzeit besteht Schule aus fremdbestimmtem, sozial kontrolliertem Lernen und Leben,
das es den Menschen lediglich gestattet, zu schaffen und zu vernichten, zu produzieren
und zu verbrauchen. „Die Zukunft hängt jedoch mehr davon ab, dass die Menschen Institutionen schaffen, die ein Leben schöpferischen Tuns fördern, als dass sie neue Ideologien und technische Verfahren entwickeln“ (Illich, 1972a, S. 80f).
Hier zeigt sich nun auch deutlich, welche Funktionen Illich der Schule zuschreibt:
Schule hat als einzige Aufgabe, jeden Menschen so weit wie möglich zu bilden. Diese
Bildungsfunktion steht aber im Widerspruch zu den Funktionen, die eine Schule erfüllt,
die im Dienste der Gesellschaft steht.
64
Teil A: Die Zeit nach 1945
(4)
Trennung von gesellschaftlichen und schulischen Interessen.
Für Illich ergibt dieser Widerspruch nur eine logische Konsequenz: Gesellschaftliche
Interessen und schulische Bildung müssen streng von einander getrennt werden. Immer
wieder nennt er in seinen Aufsätzen die Trennung zwischen Kirche und Staat als mögliches Vorbild. Denn erst, wenn die jungen Menschen wieder um der Bildung willen in
die Schule gehen, kann Schule auch bilden.
Die Konsequenzen, die er sich aus einer strikten Trennung versprach, lassen sich bereits
erahnen. Heinrich Dauber hat sie in seinem Aufsatz ‘Radikale Schulkritik als Schultheorie?’ in wenigen Sätzen skizziert (vgl. Dauber, 1987, S. 112):
• Schulen müssen - solange es keine Alternativen für sie gibt - intern so verändert
werden, dass der Lernraum für Schüler und Lehrer nicht länger auf die zumeist sterile
Atmosphäre von Klassenzimmern und Schulgebäuden beschränkt bleibt, sondern
sich in vielfältigen Aktivitäten in die umgebende soziale und natürliche Umwelt hinverlagert.
• Damit relativiert sich die Bedeutung von lebenslang verbeamteten Lehrern, deren
Kompetenz sich auf den Unterricht beschränkt.
• Die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern muss nicht auf Über- und Unterordnung beruhen, sondern kann in der gemeinsamen Bemühung um Lösungen für reale
gesellschaftliche Probleme zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit führen.
• Schulisches Lernen muss nicht irrelevant für persönliches Lernen, gemeinschaftliches Handeln und gesellschaftliche Entwicklungen sein. Dies schließt auch die
schrittweise Aufhebung der institutionellen Trennung von Lerngelegenheiten für
Kinder und Jugendliche einerseits und Erwachsene andererseits mit ein.
• Schulen dürfen nicht länger dazu dienen, hochgeschätztes und gesellschaftlich relevantes Wissen nur einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit zugänglich zu machen.
• Schulen müssen ihre starren inneren Organisationsstrukturen auflockern. Es dient
nur der sozialen Kontrolle, alle Kinder in altershomogenen Gruppen zur gleichen Zeit
das gleiche lehren zu wollen. Heterogene Interessengruppen und flexible Zeitpläne
sind Elemente stärker selbstbestimmten Lernens.
• Schulen müssen von der Aufgabe entlastet werden, Berechtigungen für weiteres Lernen und Arbeiten zu vergeben. Dies bedeutet einen breiten Ausbau frei zugänglicher
Lernmöglichkeiten für Erwachsene jeglichen Alters und unterschiedlichster Vorbildung.
65
Teil A: Die Zeit nach 1945
(5)
Wege des Lernens.
So etwa kann eine Schule aussehen, die neue Wege zum Lernen eröffnet. Diese ‘Wege
des Lernens’ bilden die jungen Menschen, statt sie in bestehende Hierarchien einzuführen. Ivan Illich ist sich der Tragweite durchaus bewusst: „Die von mir vorgeschlagenen
Bildungseinrichtungen sollen einer Gesellschaft dienen, die es noch gar nicht gibt“ (Illich, 1972a, S. 105).
Auch wenn eine Trennung zwischen Schule und Gesellschaft nicht möglich scheint,
enthalten die Überlegungen Illichs sicherlich einige Elemente, auf die eine Schultheorie
in Zukunft nicht verzichten sollte.
Mit Beginn der 70er Jahre kündigte sich eine instabile Wirtschafts- und Finanzpolitik
an. Die Expansion im Bildungsbereich war davon, zumindest, was die Schülerzahlen
auf den höheren Schulen anging, nicht betroffen. Immer mehr Kinder und Jugendliche
besuchten Realschulen und Gymnasien, bisher benachteiligte Gruppen der Heranwachsenden, wie Landbewohner oder Mädchen, nahmen in zunehmendem Maße Bildungsangebote in Anspruch (vgl. Tenorth, 1988, S. 274f).
Die Zeit der großen Reformen war jedoch vorüber. In der BRD häuften sich nun die
Stimmen, die pädagogische, finanzielle und arbeitsmarktpolitische Konsequenzen der
Reform und Expansion fürchteten. Mit der Ölkrise verschärften sich diese Stimmen, und
der Bildungsrat, zunächst von allen Parteien gestützt, verlor diesen Rückhalt und wurde,
wie bereits erwähnt, im Jahre 1975 abgeschafft.
Eine genauere Analyse verschiedener Bildungsindikatoren zeigt an, daß die Zeit zwischen 1965 und 1975 die Periode der großen und schnellen Veränderungen war, die
dann deutlich nachließen, jedoch - im Unterschied zur DDR - nie zum Stillstand kamen
(vgl. MPI, 1994, S. 41).
Es war auch eine Zeit, in der die Hauptschule eine Aufwertung erfuhr. Mit der Erweiterung des 10. Schuljahres können seitdem die Schüler, wie in die Realschule, den Abschluss der mittleren Reife erwerben.
Aber an dieser Aufwertung zeigt sich auch ein Folgeproblem besonders deutlich: der
Effekt der Abwertung von Qualifikationen. Während früher für den Zugang in bestimmte Berufe der Abschluss mittlerer Bildungseinrichtungen oder sogar der Haupt66
Teil A: Die Zeit nach 1945
schulabschluss ausreichend war, wurden die Zugangsschwellen für bestimmte Berufe
immer höher gelegt.
Insgesamt betrachtet waren die Jahre ab dem Ende des Deutschen Bildungsrates, verglichen mit den Bemühungen der 60er und frühen 70er Jahre, eine Zeit der Stagnation.
Dennoch gab es natürlich auch in dieser Phase bedeutende Theoretiker, die die ‘schulfunktionale Diskussion’ aufgriffen. So stammt aus dem Jahre 1980 die bis heute sicherlich am weitesten ausgearbeitete interdisziplinäre Theorie der Schule60, vorgelegt von
Helmut Fend (geb. 1940).
c)
Helmut Fend
Der Autor begründet seine Hauptaussagen immer wieder mit umfangreichen empirischen Arbeiten, die den Fundus seiner Argumentation bilden. Fend versteht Schulen als
‘Institutionen’, wobei er allerdings terminologisch nicht näher auf den Begriff eingeht:
„Unter Schulsystemen sollen Institutionen der gesellschaftlich kontrollierten und veranstalteten Sozialisation verstanden werden“ (Fend, 1980, S. 2) (vgl. Einleitung).
(1)
Gesellschaftliche Notwendigkeit der Erziehung.
Eine Gesellschaft braucht Institutionen, die zur Lösung grundlegender Probleme beitragen, etwa zur Herstellung lebensnotwendiger Güter (wirtschaftliche Institutionen) oder
zur Konfliktbewältigung (rechtliche und politische Institutionen). Durch die Notwendigkeit und Möglichkeit von Erziehung61, die aus der menschlichen Unfertigkeit resultiert, erklärt sich die Notwendigkeit von Erziehungs- und Schulsystemen. Ein solches
gesellschaftliches System benötigt aber eine fundierte Grundlage, die Auskunft über
seine Problemlösungsbeiträge in einer hochkomplexen Gesellschaft gibt. So erklärt sich
die Notwendigkeit einer Institutionstheorie, in diesem Falle einer Theorie der Schule.
Die Hauptaufgabe einer solchen Theorie ist es, zwischen veranstalteten und nicht veranstalteten Lernprozessen genau zu unterscheiden. Hier verweist Fend besonders auf das
Problemfeld von ungeplanten Lernprozessen, von ihm als ‘heimlicher Lehrplan’ bezeichnet, die gleichzeitig die Grenzen absichtlicher Erziehung markieren (vgl. Fend,
1980, S. 5).
60
Fends Arbeit hat jedoch eindeutig einen soziologischen Schwerpunkt. Dieser zeigt auch deutlich den
Schwerpunkt seiner Theorie an: die Grundzüge einer sozialwissenschaftlich orientierten Theorie von
Schulsystemen haben seiner Ansicht nach immer einen soziologischen Schwerpunkt.
61
Hier nennt Fend anthropologische Voraussetzungen wie zum Beispiel Instinktarmut, Weltoffenheit,
Lernfähigkeit.
67
Teil A: Die Zeit nach 1945
Von der Gesellschaft veranstaltete, also absichtliche Sozialisationsprozesse lassen sich
seiner Ansicht nach in zwei Hauptsträngen darstellen:
• Einmal mit Blick auf die Reproduktion der Gesellschaft, bei der in den Schulen eine
systematische Resubjektivierung kultureller Objektivationen erfolgt. Dies schließt
das Erlernen von notwendigen Qualifikation und Fertigkeiten mit ein.
• Zum anderen mit Blick auf das Werden der Persönlichkeit, bei dem die jungen Menschen zu eigenständigen, kritischen und mündigen Bürgern erzogen werden sollen62
(vgl. Fend, 1980, S. 7).
Um diesen Hauptaufgaben gerecht zu werden, erörtert Fend die gesellschaftlichen
Funktionen des Schulsystems: die Qualifikationsfunktion, die Selektionsfunktion und die
Legitimationsfunktion.
Unter Qualifikationsfunktion versteht er in erster Linie die Aneignung von ‘Sockelqualifikationen’, die den jungen Menschen das rasche Erlernen konkret notwendiger Arbeitsqualifikationen ermöglichen (vgl. Fend, 1980, S. 28f). Das bedeutet, dass das Schulsystem Qualifikationen erzeugt, die im Arbeitsprozess profitbringend eingesetzt werden
können. Hier übt der Staat Komplementärfunktionen für die Wirtschaft aus. So erklärt
es sich, dass das Bildungssystem erheblich von wirtschaftlichen Interessen beeinflusst
wird (vgl. Fend, 1980, S. 22f).
Auch für Fend hat das Erziehungssystem die Aufgabe, als Bindeglied zwischen dem
familiären und dem gesellschaftlichen Leben zu fungieren. Hieraus resultiert die Selektionsfunktion des Schulsystems:
„Danach wird das Schulsystem als großes ‘Rüttelsieb’ konzipiert, das
zwischen den Generationen eingebaut ist und zu einer Neuverteilung von
Lebenschancen führt, in dem es den Zugang zu hohen oder niederen
beruflichen Positionen und damit zu Prestige, Macht und Einkommen
reguliert“ (vgl. Fend, 1980, S. 29).
Fend bezeichnet die Selektionsfunktion als Nahtstelle zwischen Schule und Gesellschaft, wobei die Schule hier als Instrument für eine Sozialreform dienen kann.
62
Gleichzeitig warnt er aber vor dem Einfluss, den Bildungsinstitutionen auch im negativen Sinne haben
können: „Bildungssysteme selber sind die größten Agenturen der sozialen Beeinflussung, die einem hochentwickelten Volk zur Verfügung stehen, sei es im positiven Sinne als Instanzen der Aufklärung und Liberalität, sei es negativ als riesige Agenturen der Propaganda und Verblendung, wie es unsere Väter noch
erlebt haben“ (Fend, 1980, S. 98).
68
Teil A: Die Zeit nach 1945
Seine empirischen Studien zeigen jedoch, dass weiterhin ein Zusammenhang zwischen
sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung besteht (vgl. Fend 1974) und seine Prognosen in Bezug auf eine Neuverteilung, unabhängig von der sozialen Herkunft, sind pessimistisch: „Eines ist sicher: Das Schulsystem ist kein ‘Rüttelsieb’, das eine vollkommene Neuverteilung der Lebenschancen zwischen den Generationen vornimmt“ (Fend,
1980, S. 37). Besonders der Zwang der frühen Selektion (nach vier Grundschuljahren)
und ein fehlendes Bemühen zum Ausgleich von familiär mitgebrachten Lerndefiziten,
die seiner Ansicht nach schon viel früher ihren Ursprung finden, verhindern eine sinnvolle Neuverteilung der Lebenschancen durch die Schule. Die bestehende Chancenungleichheit ist somit ein gesamtgesellschaftliches Problem und kann nicht alleine durch
die Schule gelöst werden (vgl. Fend, 1980, S. 38f).
Wenn aber das Erziehungssystem nicht zum Abbau von gesellschaftlichen Ungleichheiten beiträgt, dann leistet es einen Beitrag zur Reproduktion der normativen Grundlagen von bestehenden Herrschaftsverhältnissen und hilft dabei, es zu legitimieren. Fend
zeigt die Legitimationsproblematik an zwei Sachverhalten auf: einmal an der ungleichen
Verteilung knapper Güter, zum anderen an der Anerkennung der politischen Instanzen.
Die ungleiche Verteilung wird durch eine Leistungsideologie legitimiert,
„nach der Ungleichheit das Ergebnis unterschiedlicher Anstrengung und
unterschiedlicher Qualität des Menschen (z.B. Begabung) ist. [...] In die
Leistungsideologie gehen Vorstellungen von der Chancengleichheit aller
Menschen ein, wobei unterschiedliche Ergebnisse individuell geklärt
werden: Wer es nicht schafft, der ist selber schuld und kann dafür
niemanden verantwortlich machen“ (Fend, 1980, S. 45f).
Diese ungleiche Verteilung, begründet durch die Leistungsideologie, kann aber nur dann
funktionieren, wenn die Menschen nicht an der Legitimität dieser gesellschaftlichen
Ordnung zweifeln. Hier zeigt sich die Verzahnung zwischen der Anerkennung der gesellschaftlichen Verteilung und der Anerkennung des politischen Systems.
Das Schulsystem ist durch die unterschiedlich hoch bewerteten Schulabschlüsse an der
Verteilung innerhalb der Gesellschaft beteiligt:
„Im Verlauf seiner Schulzeit lernt der Schüler, diese Ungleichheit zu
akzeptieren, indem er das Regelsystem der Zuordnungen zu
unterschiedlichen Leistungspositionen und deren Verfahren (Prüfungen) zu
akzeptieren lernt. [...] Selbst der degradierte Schüler fühlt sich schließlich
69
Teil A: Die Zeit nach 1945
als gerecht behandelt, da er sich als wenig begabt, als wenig fleißig und an
Höherem uninteressiert einschätzt“ (Fend, 1980, S. 46).
Fend macht trotz dieser massiven Kritik an der legitimatorischen Funktion deutlich,
dass er nicht die radikale Meinung teilt, nach der diese Funktion ausschließlich kritisch
zu beurteilen ist, fordert aber entschieden - und das zieht sich durch seine ganze Arbeit einen Abbau der gesellschaftlich bedingten Chancenungleichheiten und die damit verbundenen Menschenrechte der werdenden Menschen (vgl. Fend, 1980, S. 375f).
(2)
Schulische Erfahrungs- und Lernfelder.
Die schulischen Funktionen dienen der ‘Institution Schule’ dazu, über ‘einen hochdifferenzierten Sanktionsapparat’ jene Ziele im Sinne der Erzeugung von Qualifikationen
und Bewusstseinsstrukturen zu erreichen, die für die Reproduktion und Veränderung der
Gesellschaft notwendig sind (vgl. Fend, 1980, S. 26).
So sollen schulische Erfahrungs- und Lernfelder eröffnet werden, in denen Kinder und
Jugendliche lernen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Er unterscheidet
• das kulturelle Lernfeld, in dem die Übertragung kultureller Werte und Normen vorgenommen wird,
• das soziale Lernfeld, in dem wichtige soziale Prinzipien gelernt werden sollen und
das
• institutionale und ökologische Lernfeld, in dem die jungen Menschen lernen, sich in
einer für die Gesellschaft unentbehrlichen Institution zurechtzufinden.
Da sich in diesen Lernfeldern auch die schulischen Funktionen wiederfinden, soll es der
Institution Schule gelingen, die jungen Menschen zu mündigen Bürgern der Gesellschaft
zu erziehen. Und genau hier setzt die Kritik Helmut Fends an: er stellt ein eindeutiges
Übergewicht des Leistungsgedankens fest und bezeichnet die heutige Schule als ‘demokratisch-rational-leistungsorientiert’ (vgl. Fend, 1980, S. 165).
„Im Bildungssystem sind wichtige ethische Traditionen institutionell nicht
verankert und von daher tendenziell ausgeblendet. Gemeint ist das
Sozialprinzip, das [...] die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Personen
betont. Institutionell ausgeklammert ist auch das Humanprinzip, nach dem
der Selbstwert der Person, der Selbstwert seines intellektuellen Strebens und
die Unverletzbarkeit der Person im Mittelpunkt stehen“ (Fend, 1980, S.
161).
70
Teil A: Die Zeit nach 1945
(3)
Ungleichgewicht zwischen Qualifikation und Persönlichkeitserziehung.
Wieder schließt sich der Kreis: die Schule hat neben grundlegenden Qualifikationen und
Fertigkeiten auch die Persönlichkeit der jungen Menschen auszubilden. Die Persönlichkeitsbildung schließt ethische Traditionen mit ein. Fend bezeichnet den Sozialcharakter
der heutigen Schulen als
„leistungsorientiertes Aufstiegssystem, das sich besonders durch das Fehlen
von persönlichem Einsatz, Erlebnis-, Handlungs- und Erfahrungsarmut
auszeichnet“ (vgl. Fend, 1980, S. 382).
Im Rahmen der Erziehung muss es jedoch darum gehen, „Heranwachsende zu befähigen, ein selbstverantwortliches Leben zu führen und ihre Einsicht und Handlungsfähigkeit zu stärken, um an einem glücklichen Leben aller mitzuwirken“ (Fend, 1980, S.
382). Dieses Erziehungsziel nennt Fend Lebensbewährung. Aber nicht nur auf Zukunft
bezogen, sondern auf das Leben in der Schule selbst (vgl. Fend, 1980, S. 383).
Solange also wichtige Funktionen, die die Schule zu erfüllen hat, nicht in angemessener
Weise berücksichtigt werden, solange kann die ‘Institution Schule’ ihr Ziel der Lebensbewährung gar nicht erreichen.
Insgesamt betrachtet, erkennt man auch bei der Theorie der Schule Helmut Fends Schulfunktionen, die nicht neu sind. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen die Funktionen der Qualifikation, Selektion und Legitimation. Aber auch er betont die Mittlerfunktion der Schule, die die Kinder aus der Familie in die Gesellschaft führen soll. Diese
Funktionen münden in die Hauptstränge der Qualifikation im Sinne von Fertigkeitslernen und dem Werden der Persönlichkeit im Sinne von Mündigkeit.
Helmut Fend ist ein Befürworter der Gesamtschulidee, da er im hierarchischen System
der Dreigliedrigkeit keine Möglichkeit sieht, soziale Ungleichheiten zugunsten von
Chancengleichheit abzubauen.
d)
Theodor Ballauff
„Die Geschichte der Schule ist ein Trauerspiel. Gemessen an dem, was man
ihr auftrug und was man von ihr erwartete, enttäuschten ihre Institution und
die Vorgänge immer aufs neue. Ja ihre beobachtbare, feststellbare
71
Teil A: Die Zeit nach 1945
Wirklichkeit bot oft den gegenteiligen Anblick zu ihrer postulierten Gestalt
und Verfassung“ (Ballauff, 1982, S. 1).
Mit diesen Worten beginnt Theodor Ballauffs (1911 - 1995), im Jahre 1982 verfasste
und 431 Seiten starke Schrift, in der 31(!) verschiedene Funktionen der Schule systematisch analysiert werden. Er betont dabei, dass eine Kritik und entsprechende Reformen
nur auf der Grundlage einer fundierten Theorie der Schule möglich sind: „Man muß
wissen, was die Schule soll, weshalb man sie einrichtet, was ihre Aufgaben und Ziele
sind und woran man deren Erfüllung messen kann. Man muß sich über die ‘Funktionen’
der Schule klar sein“ (Ballauff, 1982, S. 1). Denn das, was als Schule gesehen wird,
hängt von den Funktionen ab, auf die hin Schule interpretiert und aus deren Synthese sie
jeweils erkennbar wird (vgl. Ballauff, 1982, S. 2).
(1)
Vier schulische Hauptfunktionen.
Zunächst unterscheidet Ballauff vier funktionale Hauptgruppen, unter die er die anderen
subsumiert. Schule hat
a) traditionelle (pervulgate/ triviale) gesellschaftliche Funktionen,
b) kommunikative Funktionen,
c) projektive Funktionen und
d) paideutische (musische/ kulturelle) Funktionen.
(a)
Die traditionellen gesellschaftlichen Funktionen.
Die traditionellen gesellschaftlichen Funktionen formulieren Aufgaben, die den Menschen als Mitglied in die Gesellschaft einführen sollen. Schule soll qualifizieren, reproduzieren, aber auch stabilisieren. Sie verleiht Rechte und Berechtigungen, sie zu besuchen kann zum Privileg werden. Sie soll tradierte Werte übermitteln und selektieren. Sie
hat eine sozialintegrierende und auf das Leben vorbereitende Funktion. Insgesamt nennt
der Autor 12 solcher Funktionen, denen die Schule als gesellschaftliche Institution gerecht werden soll.
(b)
Die kommunikativen Funktionen.
Schule baut darüber hinaus auf einem personalen Verhältnis auf - sie möchte dem
Schüler zur Personalität verhelfen und ihn in die Gemeinschaft integrieren: sie hat also
eine personale, eine solidarisierende, aber auch eine sozialisierende und identitätskonstitutierende Funktion. Schule soll zudem die Kinder auch als Jugendliche und junge
72
Teil A: Die Zeit nach 1945
erwachsene Menschen begleiten. Sie soll Eltern und Öffentlichkeit von der Jugend entlasten. Schule gibt den Lehrern einen Beruf.
Schließlich muss Schule eine propagandistische Funktion übernehmen, sie muss
Dienstleistungen übernehmen. Ballauff erarbeitet 9 kommunikative Funktionen, denen
Schule als Stätte der Begegnung von Menschen gerecht werden soll.
(c)
Die projektiven Funktionen.
Schule wird um der Zukunft Willen eingerichtet. Sie soll dies durch Planung, Zielsetzung, Ausrichtung und Lenkung gewährleisten: hieraus ergeben sich vorausschauende,
aber auch restriktive Funktionen, die alles verhindern sollen, was der geplanten Zukunft
im Wege stehen könnte. Schule soll der Weltverbesserung dienen. Nicht zuletzt gehört
hierher die ‘Reeducation’ nach dem zweiten Weltkrieg. Zusammen ergeben sich vier
projektive Funktionen, die die Schule zu erfüllen hat.
(d)
Die paideutischen (bildenden) Funktionen.
Gemeint ist die Gruppe der Funktionen, die pauschal mit ‘Bildung’ umschrieben werden
können. Zentral werden hier die emanzipatorische Funktion, die partizipatorische Funktion, die theoretische Funktion genannt. Die Gruppe der paideutischen Funktionen umfasst insgesamt sechs Unterfunktionen.
Aber auch diese vier Hauptgruppen mit ihren insgesamt 31 Funktionen können noch
einmal unterschieden werden in solche Funktionen, die qualifizierender Art sind und
solchen, die bildender Art sind. Beide Gruppen stehen einander oft antithetisch entgegen, so dass hier in der täglichen Schularbeit Widersprüche der Umsetzung zu erwarten
sind.
Ballauff warnt davor, von ‘fundamentalen Funktionen’ zu sprechen und damit eine Fundierungsstruktur einzuführen. Für ihn bilden die Funktionen eine kreisförmige Gegenseitigkeit, deren Systematik keinen Unterbau oder Überbau gestattet.
„Das System der Funktionen, im ganzen betrachtet, wird durch seine Zyklik
gekennzeichnet; damit ist viel gesagt. Nicht von einem Fundierungskonzept
ist auszugehen, nach welchem es ein Fundament mit einem darauf
aufbauenden Gefüge gibt, nicht von einem hierarchischem System, nach
dem es eine zusammenfassende und richtungsweisende Spitze gibt, nicht
von Basis und Überbau, sondern wir haben ein Ganzes vor uns, in welchem
alles in kreisförmiger Abhängigkeit steht. [...] Keine Funktion und keine
73
Teil A: Die Zeit nach 1945
Gruppe von Funktionen fundiert oder dirigiert autonom ein von ihnen
abhängiges Gefüge, sondern jede Funktion ist auf die andere angewiesen,
wie sie selbst ins Ganze eingreift und sich einfügt“ (Ballauff, 1982, S. 424f).
Dementsprechend ist auch keine lineare Deduktion möglich, auch wenn es so scheint,
als könne man Folge-Funktionen ableiten. Die Gründe hierfür liegen in der Geschichtlichkeit des Schulwesens. In der Schule haben sich die Funktionen nach und nach herauskristallisiert und sind so miteinander verbunden, dass es nicht möglich ist, einzelne
Funktionen losgelöst von anderen zu betrachten und zu bewerten.
„Daher ist nur mit Vorbehalt die Formulierung von ‘konstitutiven
Funktionen’ anzunehmen. Eher könnten wir sagen, dass geschichtlich diese
Konstituität wechselt: Im Umschwung mit dem Ganzen geraten andere
Funktionen in die Konstituität hinein, um wieder von anderen abgelöst zu
werden. Mit der Präferenz wechselt auch das Gewicht der Funktionen“
(Ballauff, 1982, S. 424).
(2)
Widersprüche der Funktionen.
Immer wieder zeigt Ballauff die Widersprüche auf, die sich aus den Funktionen ergeben.
Dabei hebt er diejenigen Funktionen hervor, die sich auf den ersten Blick nicht miteinander gleichberechtigt verbinden lassen:
1. Der Widerspruch von qualifizierender und emanzipatorischer Funktion.
2. Der Widerspruch von formaler und materialer Chancengleichheit.
3. Der Widerspruch von normierter Leistung und individueller Bildung.
4. Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis.
5. Der Widerspruch zwischen Bürokratisierung und Verselbständigung (vgl. Ballauff,
1982, S. 403-405).
Er begnügt sich jedoch nicht damit, diese Widersprüche zu nennen, sondern versucht sie
auch aus anderen Blickwinkeln zu beleuchten und zu entkräften, wo dies angemessen
erscheint. Eine Auflösung gelingt ihm letztlich jedoch nicht.
Dazu kommt, dass es Funktionen gibt, die besonders gut und oft durchdacht sind und
andere, die es nicht sind. Zu den gut artikulierten Funktionen gehören beispielsweise die
qualifizierende und tradierende Funktion, nur zögernd wurde dagegen die retardierende
oder indoktrinierende Funktion herausgearbeitet (vgl. Ballauff, 1982, S. 415).
74
Teil A: Die Zeit nach 1945
Schließlich ist noch die latente Funktion des geheimen Lehrplans zu nennen: „Die
Schule lehrt immer mehr, als was ihr Lehrplan ausdrücklich formuliert. Normen, Werte,
Umgangsformen, Arbeitstugenden werden vermittelt, ohne dass sie bewußt gemacht
werden oder als Inhalt des Curriculums deklariert wären“ (Ballauff, 1982, S. 417).
Wenn man nun aber die Betrachtung der Funktionen im Einzelnen verlässt und nach
ihrem Zusammenhang fragt, so wird klar, dass sich die Funktionen, unabhängig davon,
ob sie dominanter oder weniger dominant erscheinen, einander durchdringen und bedingen. Nur in diesem Mit- und Ineinander kann eine Theorie der Schule erklärt und bewertet werden (vgl. Ballauff, 1982, S. 420).
Hier zeigen sich nun auch die Lösungen, die Ballauff vorschlägt, um das ‘Trauerspiel’
der Schule zu beenden. Die Widersprüche müssen aufgelöst werden und die einzelnen
Funktionen so miteinander verbunden, dass Bildung und Qualifikation ermöglicht werden:
„Die simple Zielsetzung der Sozialisation: Qualifikation und Identität wird
sie (die Schule) in ihrer eruditiven (gelehrsamen) Funktion in selbstlose
Verantwortung der Wahrheit zu verwandeln trachten, eingedenk der
Unbezielbarkeit der Bildung. Ein Kranz von konvertierten (in sich
verschachtelten) Funktionen kann und muß diese Mittelbarkeit,
Unplanbarkeit und Unbewirkbarkeit der Bildung ermöglichen. Ja alle
Funktionen können mehr oder minder ihre Konversion dadurch erreichen,
dass sie zu jener Ermöglichung beitragen“ (Ballauff, 1982, S. 431).
Trotz dieser Vielzahl von Funktionen, die das Werk Ballauffs auf den ersten Blick als
einen Versuch erscheinen lassen, die Schule in ihren Aufgaben zu überfrachten, lassen
sich die Strukturen nach näherem Hinsehen so bündeln, dass vier Hauptaufgaben zu
erkennen sind, in denen sich sowohl die gesellschaftlichen, als auch die bildenden Aufgaben widerspiegeln, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Schultheorie
ziehen und im Folgenden mit Bildungs-, Mittler-, Orientierungs- und Selektionsfunktion
umschrieben werden sollen.
(3)
Ungleichgewicht zu Gunsten der Qualifikationsfunktion.
Ballauff wehrt sich energisch gegen eine Hierarchisierung der Funktionen und betont
dagegen die Gleichrangigkeit aller von ihm erarbeiteten Funktionen. Aber gerade zwi-
75
Teil A: Die Zeit nach 1945
schen den Funktionen qualifizierender Art und denen bildender Art entsteht immer wieder ein Ungleichgewicht zu Gunsten der Qualifikation in der schulischen Realität.
Dieses Ungleichgewicht muss abgebaut werden, damit Schule den jungen Menschen die
Möglichkeit gibt, sich zu bilden, anstatt diese zu bilden oder gar zu sozialisieren (vgl.
Ballauff, 1982, S. 10). Dann löst sich auch der Widerspruch auf, der sich scheinbar zwischen der Forderung nach Qualifikation und Persönlichkeitsbildung der nachfolgenden
Generation ergibt. So kann Schule auch den vielen von ihr aufgetragenen Aufgaben gerecht werden, ohne überfordert zu sein.
Doch nicht nur Helmut Fend und Theodor Ballauf kritisierten das bestehende Schulsystem zu Beginn der 80er Jahre. So konstatieren beispielsweise auch Klaus Klemm,
Hans-Jürgen Rolff und Klaus-Jürgen Tillmann in ihren Überlegungen, dass die Schule
als „lebensfern, handlungsarm, entsinnlicht, einseitig rationalistisch, [...], als Lernknast,
als Sortiermaschine oder auch als totale Institution gesehen“ wird (Klemm, Rolff &
Tillmann, 1985, S. 11). Hartmut von Hentig fordert vehement eine Rückkehr der Schule
zur Pädagogik und bemängelt, dass diese Schule notwendige Veränderungen63 verpasst
hatte.
Selbst die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde nicht zu grundlegenden Überlegungen im Schulwesen genutzt; statt dessen wurde den neuen Bundesländern
das alte System mit all seinen Schwierigkeiten übergestülpt. So ist es auch kaum verwunderlich, dass in den neunziger Jahren die Kritik an einem Schulsystem immer lauter
wird, das als ‘einäugig, bald sogar blind’ (Zeitpunkte, 1996) bezeichnet wird.
Die Diskussion über eine Schule, die ihren Aufgaben nicht mehr nachkommt, wird nun
auch über die Fachkreise hinaus diskutiert. Dennoch bleibt in den meisten Fällen eine
genaue und fundierte Zuweisung von schulischen Aufgaben aus.
Im Jahre 1993 meldet sich Hartmut von Hentig mit seinem Buch ‘Die Schule neu denken’ zu Wort, das die heutige Schulsituation treffend charakterisiert.
e)
Hartmut von Hentig
Obwohl kaum ein anderer deutscher Pädagoge in diesem Jahrhundert mehr über Schule
geschrieben hat wie der 1925 geborene Hartmut von Hentig und er zu den wenigen gehört, die ihre Vorstellungen in die Praxis umsetzen konnten, wird er von vielen Autoren
76
Teil A: Die Zeit nach 1945
nicht als Schultheoretiker genannt. So wird ihm vorgeworfen, dass er in der Erziehungswissenschaft nicht eindeutig zuzuordnen ist und kein eindeutiges Theoriegebäude
hinterlassen hat (vgl. Winkel, 1997, S. 53).
Dennoch äußert er sich in zahlreichen Schriften über die Aufgaben, die die öffentliche
Schule seiner Ansicht nach zu erfüllen hat. Insbesondere das Buch ‘Die Schule neu denken’ kann als Zusammenfassung seiner Überlegungen betrachtet werden.
Darüber hinaus zeigt er auch, wie theoretische Überlegungen konsequent in die Praxis
übertragen werden können. Das von ihm geschaffene Schulmodell der Bielefelder Laborschule versucht seit über 20 Jahren deutlich zu machen, wie eine Schule arbeitet, die
den Prinzipien eines Pädagogen folgt, der die Bedürfnisse der jungen Menschen in den
Vordergrund rückt. Annemarie von der Groeben bezeichnet die Bielefelder Laborschule
als ‘Zipfel einer besseren Welt’, das heißt als einen Ort, an dem die Lehrer versuchen,
die Probleme der Kinder ernst zu nehmen, diese aufzugreifen, um gemeinsam mit ihnen
nach Lösungen zu suchen (vgl. v.d. Groeben, 1991, S. 91f).
„Die Aufgabe der Schule in einer Demokratie ist es, aus Kinder und
Jugendlichen politikfähige, politikbereite und verantwortungsbewußte
Menschen zu machen und die Kultur weiterzugeben - zusammen: der
nächsten Generation zu helfen, in der Welt, in der sie lebt, erwachsen zu
werden“ (v. Hentig, 1993, S. 17).
(1)
Minima Paedagogica.
Hentig nennt immer wieder verschiedene Erwartungen, die er an eine Theorie der
Schule hat und macht deutlich, wie die Schule von ihm geforderte Ziele erreichen kann.
Er skizziert dabei verschiedene Grundaufgaben, die er ‘Minima Paedagogica’ nennt.
Weil die Schule für die Mehrheit der Kinder für den größten Teil des Tages der wichtigste Aufenthaltsort und Schullernen die beherrschende Lernart ist, wird sie der Ort sein,
an dem lebensnotwendige Erfahrungen ermöglicht werden. Diese können aber nur gemacht werden, wenn die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ernst genommen
werden. Dafür muss sich die Schule nach außen öffnen und die Lebenswelt der Menschen berücksichtigen, die sich täglich in der Schule aufhalten. Leben und Lernen dürfen seiner Ansicht nach nicht mehr getrennt werden. Hierzu gehört aber auch, dass die
Kinder die wichtigsten Merkmale der pluralistischen Gesellschaft kennenlernen. Nur so
63
Gemeint sind hier die immer noch bestehende Chancenungleichheit im Bildungswesen, hierarchische
77
Teil A: Die Zeit nach 1945
werden sie die Vielfalt der Meinungen bejahen können und die Würde des Einzelnen
achten.
(2)
Schule als polis.
Die Schule als polis64, also als ein Ort, an dem die Komplexität der Gesellschaft im
‘Kleinen’ wiedergegeben wird, kann den jungen Menschen befähigen, am Modell der
Gemeinschaft die Grundbedingungen des friedlichen, gerechten, geregelten und verantworteten Zusammenlebens mit allen seinen Schwierigkeiten zu üben. Da Schule ein
überschaubares Gemeinwesen ist, können hier grundlegende Erfahrungen der Gemeinschaft und der Demokratie nicht nur gelernt, sondern auch gelebt werden. Die Kinder
organisieren sowohl ihre Klassengemeinschaft (Gruppeninnenpolitik), als auch ihr Verhältnis zu den anderen Klassen selbst (Gruppenaußenpolitik). Es gibt eine Schülerschiedsinstanz und einen gewählten Lehrer, der auf Einhaltung demokratischer Prinzipien achtet. Somit wird die Schule zum Lebens- und Erfahrungsraum mit dem Ziel, „sie
auf die Welt vorbereiten, wie sie ist, ohne sie der Welt zu unterwerfen, wie sie ist“ (v.
Hentig, 1993, S. 183). Hier wird die Mittlerfunktion deutlich, die die Schule hat:
„Die Schule ist eine Brücke zwischen der Kleinfamilie, in der das Kind im
Vorschulalter groß geworden ist, und den meist massenhaft organisierten
Systemen des gesellschaftlichen Lebens - des Ausbildungs- , Berufs-,
Verbrauchs-, Herrschafts-, Verkehrs- und Informationssystems und anderer“
(Hentig, 1993, S. 228).
(3)
Schule als Ort des Lernens.
Immer wieder macht Hartmut von Hentig deutlich, dass es die Hauptaufgabe der Schule
ist, Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. Schule ist in erster Linie ein Ort des Lernens:
„Aber auch die Schule als Lebens- und Erfahrungsraum ist eine Schule - ein
Ort, an dem wichtige Kenntnisse erworben, Fähigkeiten entwickelt und
geübt, Vorstellungen geordnet werden. Die Schüler werden auf das Leben
Gesellschaftsstrukturen, Rückständigkeit der Inhalte und Verfahren (vgl. v. Hentig, 1987, S. 12).
64
Das Wort ‘polis’ verweist auf die Strukturen der altgriechischen Stadtstaaten. Kritisch muss jedoch, wie
bereits bei Peter Petersen, bemerkt werden, dass die Metapher der polis mehr beinhaltet als nur die positiven Seiten des Stadtstaates Athen. Denn der Stadtstaat war auch ein Platz, an dem es Sklaven und entrechtete Frauen, quälende Kultriten und Verbannungen gab. Wenn Hentig von der polis spricht, meint er
zwar sicherlich nicht die dunklen Seiten dieser polis, dennoch scheint der Begriff im Zusammenhang mit
seinen schultheoretischen Überlegungen nur bedingt geeignet zu sein.
78
Teil A: Die Zeit nach 1945
danach vorbereitet; sie erfahren, wie die Gesellschaft ihre Leistungen
einschätzt, welche Rollen und Aufgaben für sie bereitstehen, welche
Chancen sie haben und welche nicht. Und auch darin bleibt sie eine Schule,
daß sie sich in besonderem Maß um Dialog bemüht, diese oder jene
weiterführende Schule oder Ausbildung zu bewältigen. Sie hilft ihnen, eine
vernünftige Wahl unter den verschiedenen Laufbahnen - den Berufen und
Ausbildungsstätten - zu treffen. Dies aber bleibt jenem Programm
untergeordnet, das ich einmal die Menschen stärken, die Sache klären
genannt habe“ (v. Hentig, 1993, S. 232).
Denn nur dadurch, dass die jungen Menschen Kenntnisse erwerben, können sie die Welt
verstehen. Und nur wer die Welt versteht, kann sich seines ‘Verstandes vernünftig’ bedienen. Schule als Lernort thematisiert die kulturellen Errungenschaften und befähigt
dazu, diese kritisch zu bewerten und neu zu gestalten.
Nur eine Schule, die das Leben der Kinder und Jugendlichen ernst nimmt und somit als
Lebensraum Erfahrungen bietet, wird eine Schule sein, in der gelernt wird. So wenig
wie möglich Belehrung, so viel wie möglich eigene Erfahrungen (vgl. v. Hentig, 1993,
S. 226) machen aus Kindern und Jugendlichen politikfähige, politikbereite und verantwortungsbewusste Menschen.
Dass aber die Schule überhaupt zum Lebensort der Kinder und Jugendlichen wird, erklärt sich damit, dass es in einer Gesellschaft, in der die technologischen Errungenschaften immer differenzierter und undurchschaubarer werden, unmöglich geworden ist,
‘am Leben zu lernen’. Kinder haben in vielen Fällen nicht mehr die Möglichkeit, durch
den Umgang mit Menschen, mit Tieren, mit der Natur überhaupt, mit Werkzeugen und
Maschinen, die man verstehen lernte, alltägliche Dinge zu lernen. Dies war früher die
Aufgabe des Lebens, heute ist es die Aufgabe der Schule. „Und weil das so ist, weil
unser Leben so technisiert und organisiert ist, daß Kinder es eben nicht mehr am Leben
lernen können, schickt man sie immer länger in die Schule; diese wird, ob man will oder
nicht, zur Bewahranstalt“ (vgl. v.d. Groeben, 1991, S. 78).
(4)
Verfechter der späten Differenzierung.
Für Hartmut von Hentig sind die hier genannten Aufgaben nicht voneinander zu trennen. Seine Schule ist ein Ort, in der die Schüler so spät wie möglich getrennte Wege
gehen. Erst am Ende der Schullaufbahn ist es seiner Ansicht nach sinnvoll, ein individuelles Lernprofil auszubilden. Eine Differenzierung, wie sie im dreigliedrigen Schulsystem (nach Jahrgängen) oder in Gesamtschulen (nach Kursen) erfolgt, wird in Bielefeld
79
Teil A: Die Zeit nach 1945
abgelehnt. An der Laborschule soll allen Schülern eine gemeinsame Bildung gegeben
und besondere Leistungsbedürfnisse möglichst durch zusätzliche Angebote befriedigt
werden.
Wenn die Schule individuelle Lernwege ermöglicht, so schließt dies auch die Abschlüsse mit ein. Auch für Hartmut von Hentig hat die Schule die Aufgabe, die jungen Menschen in der Gesellschaft zu verteilen. Dies kann jedoch nicht durch das System der
Benotung geschehen, sondern die Schüler erhalten an Stelle der klassischen Notenzeugnisse sogenannte Beurteilungen (Berichte zum Lernvorgang), in denen ihre individuellen Fortschritte beschrieben werden. Diese Beurteilungen geben darüber genau Auskunft, was bisher gelernt wurde. Sie thematisieren nicht nur den Fortschritt im Sinne des
Fertigkeitslernens, sondern auch das soziale Verhalten und das Engagement, das der
jeweilige Schüler zeigt. Diese Art der individuellen Beurteilungen kann nicht vergleichend sein und es ist somit auch nicht möglich, ein Zeugnis im Sinne von Ziffernnoten
auszustellen.
Auch bei Hartmut von Hentig erkennt man deutlich die schulischen Aufgaben: bei ihm
steht die Bildung des jungen Menschen zu sich selbst im Mittelpunkt, die ihn gleichzeitig als gesellschaftsfähigen Menschen aus der Schule entlässt. Diese beiden Funktionen
sieht Hartmut von Hentig untrennbar verbunden mit der Orientierung an der ‘wirklichen
Welt’. Diese erfordert jedoch auf Grund der gesellschaftlichen Strukturen eine Verteilung innerhalb der Gesellschaft. Diese Verteilung ergibt sich aus dem individuellen Bedürfnis eines jeden jungen Menschen, wobei eine breite und gleiche Allgemeinbildung
Voraussetzung ist. Aus diesem Grunde ist ein selektives Schulsystem nicht geeignet, die
jungen Menschen zu verantwortungsbewussten, politikfähigen und politikbereiten jungen Menschen zu machen. Hieraus resultiert die Forderung einer späten Differenzierung
innerhalb einer Schule mit individuellen Profilabschlüssen. Zusätzlich nennt von Hentig
die Notwendigkeit der Aufbewahrungsfunktion, die sich aus den Lebensbedingungen
vieler Kinder und Jugendlichen ergibt.
f)
Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft
„Als ich im Sommer 1992 die Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule
der Zukunft’ berief, ging es mir um den Versuch, eine Diskussion in Gang
80
Teil A: Die Zeit nach 1945
zu bringen, die über die Tagesaktualitäten hinaus weit in die Zukunft weist.
Wir haben heute mit gesellschaftlichen Umbruchsituationen zu tun, die allen
viel abverlangen. Bildungspolitik muß wieder zu einem wichtigen Thema
werden in einer Welt, die sich mit großer Dynamik verändert“ (Rau, 1995,
S. V).
Die Denkschrift der Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’65, die seit
1995 vorliegt, versucht Leitvorstellungen und Empfehlungen zu formulieren, wie eine
Schule als Haus des Lernens organisiert werden kann.
Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass die Reformvorhaben der 70er Jahre keine
so starke Wirkung (wie erwartet) entfalten konnten, dass eine grundlegende Veränderung der Arbeit in den Einzelschulen erreicht worden wäre.
„Die Kommission hat sich von der Vorstellung tragen lassen, dass Schule
der Zukunft ein Ort sein wird, wohin Kinder und Jugendliche gerne gehen
sollen, den sie bereichert durch neue Erfahrungen und Kenntnisse verlassen,
dazu motiviert, neue und andere Orte des Lernens kennenzulernen“
(Bildungskommission NRW, 1995, S. 78).
(1)
Ausgestaltung der Lernkultur.
Die Kommission versucht, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse aufzuzeigen und die
dafür notwendigen Bildungsinhalte zu skizzieren. Dazu zählen:
• der Anspruch der Selbstbestimmung,
• diesen auch für die Mitmenschen anzuerkennen,
• Mitverantwortung für die gesellschaftlichen Prozesse zu übernehmen,
• eigene Ansprüche in Relation zu anderen Ansprüchen zu stellen (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. XII).
Hier zeigen sich deutlich die Aufgaben, die einer öffentlichen Schule zukommen:
65
Die Mitglieder der Kommission setzten sich zusammen aus: Universitäten, Städte, dem Ministerium für
Wissenschaft und Forschung des Landes Brandenburg, der Deutsche Bank, des Volkswagenwerkes, der
Bertelsmannstiftung, der IBM Deutschland, Industriegewerkschaft Metall, dem Wuppertal Institut für
Klima, Umwelt und Energie sowie dem persönlichen Beauftragten des Ministerpräsidenten des Landes
NRW. Im Einzelnen handelte es sich um: Prof. Dr. Grotemeyer (Vorsitz), Prof. Dr. Buttler, Prof. Dr.
Dalin, Prof. Dr. Faulstich-Wieland, Erich Frister, Prof. Dr. Hurrelmann, Prof. Dr. Jacobi, Prof. Dr. Klafki,
Hilmar Kopper, Dr. Langemeyer, Dr. Liket, Prof. Dr. Metz-Göckel, Prof. Dr. Dr. Meyer-Dohm, Prof. Dr.
Mittelstraß, Reinhard Mohn, Prof. Dr. Rolff, Eva Rühmkorf, Gisa Schulte-Wolters, Dr. Trier, Elisabeth
Vogelheim, Prof. Dr. Wasna, Prof. Dr. Von Weizsäcker, Dr. Meyer-Hesemann.
81
Teil A: Die Zeit nach 1945
• Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung, die jedoch zusammen gesehen und
vermittelt werden66.
• Fachliches und überfachliches Lernen, das in einem Folgeschritt ins Gleichgewicht
gebracht werden muss.
• Soziales Lernen auf allen Ebenen.
• Anwendungsorientiertes Lernen, das mit Bezug zu biographischen, historischen und
umweltbezogenen Erfahrungen realisiert wird.
• Das Finden der eigenen Identität und die Achtung der Integrität anderer (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. XIV).
Schule soll sich auf das Lernen konzentrieren, jedoch nicht im Sinne einer ‘historisch
überwundenen Lernschule’, sondern durch die Ausgestaltung einer Lernkultur, die Mittelpunkt der erzieherischen und sozialen Aufgaben sein kann.
Der Lernbegriff der Kommission zielt darauf ab, in den Lernzusammenhängen Identitätsfindung und soziale Erfahrungen zu ermöglichen. Das entspricht nicht mehr dem
traditionellen Lernbegriff, der von einem festen, geschlossenen Wissenskanon und einem auf seine Vermittlung hin organisierten Unterrichtsplan ausgeht und an einem - auf
Lernergebnisse im Sinne von Reproduktion - überprüfbaren Wissen orientiert ist (vgl.
Bildungskommission NRW, 1995, S. XIV). Deshalb sollen Fachwissen und Alltagsfragen künftig zusammen gesehen werden.
(2)
Die ‘Neue Ordnung des Lernens’.
Die Kommission geht davon aus, dass die von ihr für notwendig erachtete neue Ordnung des Lernens bestimmt wird durch
1. fachliches und überfachliches Lernen in Dimensionen.
2. Offenheit für aktuelle Schlüsselprobleme.
3. Erwerb von Schlüsselqualifikationen.
4. Erwerb von Kulturtechniken.
(3)
Fachliches und überfachliches Lernen in Dimensionen.
Die Bildungskommission stellt klar heraus, dass Lernen in Zusammenhängen geschehen
muss,
1. die auf fachlichen Strukturen aufbauen oder diese umfassen;
66
Hier wird der Hauptkritikpunkt Helmut Fends an der öffentlichen Schule wieder aufgegriffen.
82
Teil A: Die Zeit nach 1945
2. die auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen bezogen werden können;
3. die in der Gesellschaft langfristig relevante Problemstellungen aufgreifen.
Diese Zusammenhänge werden als ‘Dimensionen des Lernens’ bezeichnet und haben
den Erwerb des ‘intelligenten Wissens’67 zum Ziel.
„Die Dimensionen sind keine Fächer, Lernbereiche oder Unterrichtsthemen.
Dimensionen sind dynamische, nicht streng voneinander abgegrenzte
Perspektiven, in denen Menschen ihre Wirklichkeit erfahren, sie erkennen,
sich mit ihr auseinandersetzen, sie gestalten. Sie eröffnen bestimmte Denkund Erschließungsmöglichkeiten von Welt, die sich wechselseitig ergänzen,
aber auch in Frage gestellt werden können. Sie sollen für die
Unterrichtsgestaltung
einen
festen
Bezugsrahmen
bilden“
(Bildungskommission NRW, 1995, S. 107).
Ein solches Lernen in Dimensionen bildet den Ausgangspunkt zur Identitätsbildung des
Individuums und der Individuen in ihren wechselseitigen Beziehungen zueinander. Insgesamt stellt die Kommission sieben Lerndimensionen zur Diskussion:
1. Die Lerndimension Identität und soziale Beziehungen, eigene Körperlichkeit
und Psyche.
2. Die Lerndimension Kulturelle Tradition: Weltbilder, Wissenschaften, weltanschauliche Gemeinschaften, Kulturen.
3. Die Lerndimension Natur, Kunst und Medien: Gestaltender Umgang mit Materialien, Konstruktion und Rekonstruktion, Informieren, Manipulieren, Inszenieren und Schaffen, Erleben von Natur und Kunst.
4. Die Lerndimension Sprache, Kommunikation: Sprache als Medium des Ausdrucks und der Verständigung, Wege und Medien der Kommunikation, Internationalisierung der Lebensverhältnisse.
5. Die Lerndimension Arbeit, Wirtschaft, Beruflichkeit: Fremdbestimmung und
Selbstverwirklichung in der Arbeitswelt, ökonomische Sachzwänge und Gestaltbarkeit wirtschaftlicher Verhältnisse, Beruflichkeit als Lebens- und Bildungsform.
6. Die Lerndimension Demokratie: Verantwortete Entscheidungen, Beteiligung an
der Gestaltung der Wirklichkeit.
7. Die Lerndimension Ökologie: Umgang mit der Welt der heute lebenden und
der folgenden Generationen.
67
Der Begriff wird im Anschluss näher erläutert.
83
Teil A: Die Zeit nach 1945
(4)
Offenheit für aktuelle Schlüsselprobleme.
„Die aktuellen Problemlagen und Konflikte, die in der Regel mit den großen
Problemen gegenwärtiger und zukünftiger Gesellschaft zusammenhängen,
können als ‘Schlüsselprobleme’ thematischer Bezugsrahmen für das Lernen
in bestimmten Zeitabschnitten sein“ (Bildungskommission NRW, 1995, S.
112).
Schlüsselprobleme der Gegenwart können kein abgeschlossenes System bilden. Ein auf
Schlüsselprobleme orientierter Unterricht kann auch nicht an die Stelle fachlicher Orientierung treten. Die Kommission betont dagegen die Notwendigkeit zeitlich begrenzter
Sequenzen innerhalb ‘eines an Schlüsselproblemen orientierten Unterrichts’.
Zu den Schlüsselproblemen zählen beispielsweise die Kriegs- und Friedensproblematik,
die Umweltfrage, das Verhältnis der Generationen, die Möglichkeiten und Gefahren des
Technischen und Ökonomischen, das Thema Arbeit, Berufswahl, Arbeitslosigkeit oder
die soziale Ungleichheit.
(5)
Erwerb von Schlüsselqualifikationen.
„Schlüsselqualifikationen sind erwerbbare allgemeine Fähigkeiten,
Einstellungen und Strategien, die bei der Lösung von Problemen und beim
Erwerb neuer Kompetenzen in möglichst vielen Inhaltsbereichen von
Nutzen sind“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 113).
Gemeint sind hier Fähigkeiten wie Erkenntnisinteresse und eigenständiges Lernen, die
Reflexion und Optimierung der eigenen Lernprozesse und damit die Fähigkeit dazuzulernen, das Zutrauen in die eigene Selbstwirksamkeit als Grundeinstellung, Flexibilität,
Fähigkeit zur Kommunikation und zur Teamarbeit, kreatives Denken.
Schlüsselqualifikationen sind nicht auf direktem Wege zu erlernen, sondern müssen in
Verbindung mit ‘intelligentem Wissen’ aufgebaut werden, welches das Resultat der
‘Lernkompetenz’68 ist.
(6)
Erwerb von Kulturtechniken.
Schließlich betont die Kommission die Notwendigkeit der Sicherheit in den Kulturtechniken, wobei sie diesen Begriff sehr stark erweitert: Über die elementaren Techniken
68
Auch diese werden im Anschluss näher erläutert.
84
Teil A: Die Zeit nach 1945
(Lesen, Schreiben, Rechnen) hinaus, geht es um eine Vielzahl von Instrumenten der
Wissensaneignung, angefangen bei der Beherrschung von Arbeitsformen, über Informationserschließung und Darstellungs- und Schreibformen, bis hin zum kompetenten Umgang mit Bibliotheken und neuen Verfahren der Exploration.
(7)
Lernkompetenz und intelligentes Wissen.
Diese ‘neue Ordnung’ des Lernens führt zum Aufbau von Lernkompetenz, dem zentralen Ziel der Schule. Der Aufbau von Lernkompetenz ist nur möglich im Erarbeiten konkreter Lerninhalte und in der Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben. Wissensinhalte,
die in diesem Sinne angeeignet werden, stellen das eigentliche Ziel des Lernens dar,
nämlich ‘intelligentes’ Wissen.
Lernkompetenz hat folgende übergeordnete Merkmale: Lernen wird selbst gesteuert, ist
auf einen Dialog angewiesen, ist ein interaktiver Prozess, setzt Selbstinitiative voraus,
wird als Lernarbeit verstanden. Das schließt aber ein, dass Schule auf die besonderen
Bedürfnisse der Schüler ausgerichtet ist.
„Der Aufbau von Lernkompetenz stellt keine Alternative zum Erwerb
inhaltlichen Wissens dar, sondern ist nur möglich im Erarbeiten konkreter
Lerninhalte und in der Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben. Aufgaben
sind um so anspruchsvoller, je weniger eine einzige vorher definierte
Lösung feststeht und je weniger der Lösungsweg bekannt ist.
Wissensinhalte, die in diesem Sinne reflektiert angeeignet werden, werden
in der Lernpsychologie als ‘intelligentes Wissen’ bezeichnet“
(Bildungskommission NRW, 1995, S. 90).
In diesem Sinne wird die Schule ein Haus des Lernens, das aber als Institution nur bescheidene Einwirkungsmöglichkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung hat. Institutionelle Selbstkritik und ein neuer Optimismus gegenüber den immer schwerer werdenden Aufgaben des Lebens sind die Möglichkeiten und zugleich die Grenzen der Schule.
Wie Hartmut von Hentig auch, spricht die Kommission von der Schule als Lebensraum,
wobei das Spektrum des Lernens nicht völlig neu definiert werden muss. Dennoch bedarf es einer Erweiterung dieses Spektrums, das zudem eine Neuordnung des LehrerSchüler-Verhältnisses betrifft: „Der neue Begriff dafür kann ‘Coaching’ lauten. Schule
wird für Lehrende und Lernende zum gemeinsamen Erfahrungsraum“ (Bildungskommission NRW, 1995, S. 85). So wird Schulbildung auch Grundlage für lebenslanges
Lernen.
85
Teil A: Die Zeit nach 1945
Möglichst alle Jugendlichen sollen einen förmlichen Abschluss der Sekundarstufe I erhalten. Wo dies nicht möglich ist, werden Leistungen bescheinigt und können später
erweitert werden. Dazu wird es notwendig sein, eine breite Palette von Schularten mit
den unterschiedlichsten Profilen anzubieten. Die Kommission schlägt weiterhin vor, für
Schüler mit besonderen Begabungen, Neigungen und Interessen, Einzelschulen mit besonderen inhaltlichen und organisatorischen Profilen einzurichten. Die gymnasiale
Oberstufe soll eine individuelle Profilbildung ermöglichen; die Einbeziehung neuer Fächer wird notwendig.
Die Schule der Zukunft setzt Weiterbildung voraus, und Weiterbildung setzt eine Schule
der Zukunft voraus, in der die Entfaltung der Lernkompetenz als zentrale Aufgabe angesehen wird.
„Es kann also nicht sein, dass in dem Haus des Lernens vorrangig auf Prüfungen, Abschlüsse und Berechtigungen hin gelernt wird“ (Bildungskommission NRW, 1995, S.
85).
Insgesamt werden auch in der Denkschrift der Bildungskommission NRW die traditionellen Aufgaben der Schule deutlich: Schule als Haus des Lernens muss das Ziel haben,
diese Aufgaben zu vernetzen und so zu gestalten, dass sich die jungen Menschen individuell bilden können, dass sich der Lernstoff an den Schlüsselproblemen der Lebenswelt
der Kinder und Jugendlichen orientiert, dass Schlüsselqualifikation neben elementaren
Kulturtechniken erlernt werden und dass die Dimensionen des Lernens den geeigneten
Bezugsrahmen schaffen. Eine Selektion wird nicht abgelehnt, sondern unter die Prämisse der individuellen Profilbildung gestellt, anstatt primär weiterführende Berechtigungen
zu ermöglichen.
86
Teil A: Zusammenfassung und Fazit
6.
ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT
Versucht man sich die schulgeschichtliche Entwicklung seit der Aufklärung zu vergegenwärtigen, so kommt man zu folgendem Schluss:
Das Bildungswesen wurde maßgeblich von den allgemeinen kulturellen und politischen
Veränderungen der jeweiligen Epoche beeinflusst. So lassen sich die Entwicklungslinien von einer ständisch geprägten Gesellschaft mit einer ebenso ständisch typisierten
Schulorganisation zu einer komplexen Industriegesellschaft mit einem offenen und vielschichtigen Bildungssystem nachzeichnen.
Dieses gegenseitige sich Beeinflussen macht einen Konflikt deutlich, der sich durch die
Geschichte des Schulwesens zieht: immer wieder wurden die von den Theoretikern geforderten Maßnahmen für eine Modernisierung des Schulwesens aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst und untergeordnet.
Daher stehen auch nach 1945 kontinuierlich die gleichen Themen zur Diskussion, die
seit Anfang des öffentlichen Erziehungswesens immer wieder diskutiert werden:
1. Die Frage von Einheit und Differenzierung,
2. die Suche nach Kriterien begründeter Unterscheidung von Bildungsgängen,
3. das Problem, wie sich Förderung und Selektion, Individualisierung und Egalisierung
verbinden und die Herstellung von Chancengleichheit organisieren lassen (vgl.
Tenorth, 1988, S. 282).
Die Diskussion und die gerade seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder verstärkte und in das Licht der Öffentlichkeit geratene Kritik an dem öffentlichen Bildungswesen zeigt aber auch, dass es in der geschichtlichen Kontinuität nicht gelungen
ist, grundlegende, das Bildungssystem behindernde Probleme zu beheben. In Umbruchzeiten sind schon immer neue Konzepte für die Schule gefordert und entworfen worden
- zur Zeit Humboldts, im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, nach dem zweiten Weltkrieg und in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. „Für das Schulwesen insgesamt wird man jedoch grundstürzende Reformen oder Umbrüche vergeblich
suchen ...“ (Fauser, 1996, S. 3).
87
Teil A: Zusammenfassung und Fazit
Dennoch wird immer wieder gefordert, dass sich Schule rasch und radikal ändern muss,
„damit sie zeitgemäß wird, damit sie wieder eine sinnvolle Institution der Gesellschaft
wird, die sinnvoll in die Kinder und damit in die Zukunft unserer Gesellschaft investiert“ (Struck, 1997, S. 10).
Ein anderes Ergebnis des Problems zeichnet sich bei der geschichtlichen Betrachtung
von Schule und ihren Aufgaben ab: immer wieder betonen Schultheoretiker ähnliche
oder gleiche Aufgaben der Schule und immer sind es diese ihr zugedachten Aufgaben,
die sie nicht erfüllt.
So fanden schon Anfang des 19. Jahrhunderts die Ideen des Süverschen Unterrichtsgesetzentwurfes aufgrund verschiedener Ursachen, allesamt gesellschaftlich-politischer
Art, keine wirkliche Beachtung, was nicht zuletzt an dem fehlenden Interesse der Reformer an tiefgreifenden Veränderungen lag (vgl. Kapitel 2 dieses Teiles). Dass diese
Entwicklung während der Industrialisierung, einer Epoche, die sich durch Technisierung
und gesellschaftliche Modernisierung auszeichnet, eher verstärkt, verwundert nicht.
Dagegen zeichneten sich die Reformpädagogen wiederum durch eine starke Kritik an
der autoritären ‘Lern- und Buchschule’ aus, wobei es ihnen - langfristig gesehen - auch
nicht gelang, das Schulwesen so zu ändern, dass es auf seine ‘eigentlichen Aufgaben’ im
Fundament aufbaute. Wiederum waren es in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich-politische Gründe, die eine Reform scheitern ließen. Höhere Schulbildung
blieb weiterhin ein Privileg führender sozialer Klassen und Schichten.
Dass sich, wie aufgezeigt, die Kritik an der Schule auch nach dem zweiten Weltkrieg
nicht geändert hat, hat sicherlich viele Gründe. Wenn jedoch Schulkritiker an der Wende zum dritten Jahrtausend immer noch bemängeln, dass Schule ein Ort ohne Lernkultur
(vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. XIV) sei, in dem vorrangig auf Prüfungen,
Abschlüsse und Berechtigungen hin gearbeitet werde, so ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass Schule nie zu ihren eigentlichen, hier herausgearbeiteten Aufgaben gefunden
hat. Wenn der heutige Sozialcharakter der Schule tatsächlich gekennzeichnet ist als leistungsorientiertes Aufstiegssystem mit Fehlen von persönlichem Einsatz, der notwendi88
Teil A: Zusammenfassung und Fazit
gen Rücksichtnahme, Mitmenschlichkeit, wenn sie sich tatsächlich durch Erlebnis-,
Handlungs- oder Erfahrungsarmut (vgl. Fend, 1980, S. 381)69 auszeichnet, dann muss sie
sich nicht ‘radikal ändern’, sondern in erster Linie auf ihre tatsächlichen Aufgaben besinnen.
Aus dieser Erkenntnis lassen sich zwei Rückschlüsse ableiten:
1. Entweder ist die Schule nicht in der Lage, solchen - in der Theorie sicherlich schlüssigen - Aufgaben, in der praktischen Umsetzung gerecht zu werden. Oder
2. eine möglichst konsequente Umsetzung der theoretischen Ideen in die Praxis der
Staatsschule wurde - aus welchen Gründen auch immer - niemals ernsthaft angestrebt.
Um die Frage der praktischen Umsetzung schulischer Aufgaben weiter verfolgen zu
können, um daraus Rückschlüsse auf das einzelne Fach abzuleiten, ist im folgenden
jedoch erst eine genaue inhaltliche Betrachtung jeder einzelnen Aufgabe erforderlich.
Wie sich gezeigt hat, ergeben sich aus der historischen Betrachtung vier Grundaufgaben;
die gewählte Terminologie ist an Helmut Fend (1980) angelehnt, die bei den hier behandelten Autoren jeweils unterschiedlich benutzten Begriffe bzw. ihre Umschreibungen werden in der Übersicht am Ende dieses Teiles noch einmal deutlich gemacht.
1. Die Bildungsfunktion der Schule.
2. Die Mittlerfunktion der Schule.
3. Die Orientierungsfunktion der Schule.
4. Die Selektionsfunktion der Schule.
Diesen Aufgaben muss Schule gerecht werden, damit sie den Menschen aus der ‘Unmündigkeit’ führt. Das betrifft auch jedes einzelne Schulfach. Denn nur wenn die einzelnen Fächer genau belegen können, welchen unverzichtbaren Beitrag sie zu den
Grundaufgaben leisten, kann Schule zeitgemäß arbeiten und sich in Zukunft der Kritik
stellen.
69
Fend wird hier nur als Stellvertreter genannt. Ähnliche Kritik lässt sich in vielen weiteren Beiträgen
nachlesen, wie z.B. bei Struck 1997, Wollersheim 1996 oder auch Giesecke 1996.
89
Teil A: Zusammenfassung und Fazit
In Teil B werden nun folgelogisch die einzelnen Aufgaben näher beleuchtet, anschließend soll geprüft werden, welchen unverzichtbaren Beitrag das Fach Sport im Fächerkanon der Schule leistet.
„Schule und Bildung sind heute fast sich beißende Begriffe. Zu häufig
verkommt Schule zu einer vermeintlichen oder tatsächlichen Wissensmast.
Statt Bildung ist Tauschwertpädagogik angesagt. Die Bildungsinhalte sind
eigentlich unwichtig. Wichtig ist, was man für die Beschäftigung mit ihnen
an Zensuren, Punkten und Abschlüssen bekommt. Schule zu überleben ist
wichtiger, als etwas mitzunehmen“ (Bönsch, 1994, S. 21).
90
entlässt die Schüler als gesellschaftsfähige Menschen
Vorbereitung auf das Leben in
der Gesellschaft
strenge Trennung zwischen gesellschaftlichen Interessen und schulischer Bildung
Kritik: Schule erliegt ihren sekundären Funktionen, Maßstab für schulisches Lernen ist der ‘heimliche
Lehrplan’
Bildung des jungen Menschen
zu sich selbst
Bildung zum ‘humanen Menschen’
individuelle Persönlichkeitsbildung
Bildung des jungen Menschen
Persönlichkeitsbildung des
jungen Menschen
W. Dilthey
(1833 - 1911)
P. Petersen
(1884 - 1952)
Deutscher Bildungsrat
(1965 - 1975)
I. Illich
(geb. 1926)
H. Fend
(geb. 1940)
Qualifikationsfunktion
Selbstbestimmung für sich und
andere
Bildungskommission NRW
(1995)
Mitverantwortung für gesellschaftliche Prozesse
politikfähige, politikbereite,
verantwortungsbewusste Menschen
Berücksichtigung der Lebenswelt,
Ort des Lernens
Erwerb von Kulturtechniken
‘heimlicher Lehrplan’
Allokationsfunktion
Verteilung nach individuellen
Begabungen - Grundsatz der
Chancengleichheit
individuelle Beurteilungen
statt Zensuren
Verteilung nach den individuellen Bedürfnissen
Selektion, aber nicht standesgemäß
Verteilung innerhalb der Gesellschaft
individuelle Profilabschlüsse
individuelle, nicht vergleichbare Abschlüsse
traditionelle gesellschaftliche Funktionen
Fertigkeitslernen
Orientierung an der wirklichen
Welt
Orientierung am ‘gewöhnlichen’
Leben
Orientierung an der späteren Welt
Schlüsselprobleme, Schlüsselqualifikationen
Schule als ‘polis’
Brückenfunktion
paideutische (musische/kulturelle) Funktion
kommunikative Funktion
‘Lebensbewährung’
doppelter Bildungsbegriff
H. v. Hentig
(geb. 1925)
T. Ballauf
(1911 - 1995)
fachliche Qualifikation Orientierung an der technischen Zivilisation
Mittlerin zwischen Familie und
Gesellschaft
Bildungsfunktion als Mittelpunkt
F.E.D. Schleiermacher
(1768-1834)
Schule führt Kinder in die Gesellschaft (schulische Erfahrungsfelder)
Lebensweltorientierung
Erziehung zur Gesellschaftsfähigkeit als Hauptaufgabe
‘sittliche Bildung’
Bildung zu sich selbst
Selektionsfunktion
Verteilung in der Gesellschaft, unabhängig von der
Herkunft, keine Ziffernzeugnisse
F.W. Hegel
(1770-1831)
Orientierungsfunktion
Orientierung an den in der Gesellschaft notwendigen Fertigkeiten,
nicht mehr an Bibel- und Katechismustexten
Mittlerfunktion
fließender Übergang von Unterrrichtsstufe zu Unterrichtstufe oder Abgang nach jeder
Stufe
Bildungsfunktion
Allgemeine Menschenbildung
W. von Humboldt
(1767 - 1835)
Lebensbegleitendes Lernen
Erziehungsfunktion
keine Hierarchisierung der
Funktionen
Projektive Funktion
Legitimationsfunktion
Erziehungsfunktion durch
Schulleben und Schulgemeinde nach den Grundsätzen der Erziehungsidee
weitere Funktionen
Tabelle 1: Die Übersicht macht die Zuordnung der einzelnen Autoren zu den hier benutzten Begrifflichkeiten deutlich:
Teil A: Zusammenfassung und Fazit
angestrebte Schulform
plurales, wohnortnahes Angebot an Bildungsgängen
und Abschlüssen
Bielefelder Laborschule
Befürworter der Gesamtschulidee
Entschulung der Gesellschaft
Empfehlung zur Gesamtschule
Jena-Plan-Schule - Lichtwarkschule
freie allgemeine Volksschule
späte Differenzierung innerhalb des Schulsystems
Allgemeine Volksschule
mit später Differenzierung
gegliedertes Schulsystem
keine Vorbildfunktion für
ein bestehendes Schulsystem
Teil B: Die Aufgabe der Bildung
TEIL B: DIE AUFGABEN DER SCHULE IN IHRER
INHALTLICHEN AUSGESTALTUNG
1.
DIE AUFGABE DER BILDUNG
1.
Klassische Allgemeinbildungskonzepte als Ausgangspunkt bildungstheoretischer Überlegungen in der heutigen Zeit
Nachdem nun die Grundlage der Arbeit insofern gelegt ist, dass die Aufgaben der öffentlichen Schule klar umrissen sind, sollen diese im Folgenden inhaltlich näher bestimmt werden. Gerade die Vielschichtigkeit des Begriffes der Bildung gibt ohne nähere
Erläuterung noch keinen Aufschluss darüber, wie jedes einzelne Schulfach - in dieser
Arbeit der Schulsport - konkret so gestaltet werden kann, dass er bildend wirkt.
Wie sich zeigen wird, finden sich die anderen Grundaufgaben in vielfältiger Weise im
Bildungsbegriff wieder, so dass sich dieser immer deutlicher als zentraler Bezugspunkt
für das weitere Vorgehen herauskristallisiert. Aus diesem Grunde verwundert es auch
nicht, dass die Behandlung des Bildungsaspektes im Vergleich einen viel größeren
Rahmen einnimmt als die der anderen schulischen Aufgaben (vgl. Teil B, Kapitel 2).
Zwar besteht bis heute allgemeiner Konsens über das Primat der Bildung70 im schulischen Kontext. Dennoch scheint es gerade in einer Gesellschaft, die einerseits durch
Orientierungslosigkeit und Disparitäten, andererseits durch Leistungsorientierung gekennzeichnet werden kann, schwer zu sein, einen tragfähigen Bildungsbegriff aus den
derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen zu entwickeln (vgl. Bönsch, 1994, S. 21).
Wenn dies aus der gegenwärtigen Situation heraus nicht möglich ist, so kann es hilfreich
sein, jene Epoche als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu nehmen - hier im Sinne
kritischer Vergegenwärtigung - die bereits in Teil A den Anfangspunkt markierte und in
der der Bildungsbegriff und seine Auslegung als ‘allgemeine Bildung’ erstmalig in der
Theorie und Realgeschichte der Pädagogik zu einem Zentralbegriff pädagogischer Re-
70
Wie im vorigen Kapitel deutlich wurde, besteht in diesem Primat von den Autoren unterschiedlichster
Herkunft große Übereinstimmung.
93
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
flexion wurde. Es handelt sich wiederum um den Zeitraum zwischen etwa 1770 und
1830.
Folgende drei Gründe sprechen dafür, warum ein geschichtlicher Rückblick sinnvoll
erscheint, wenn man einen auch heute gültigen Bildungsbegriff klar herausarbeiten
möchte:
1. Eine eindeutige Begriffsbestimmung der Termini ‘Bildung’ und ‘Allgemeinbildung’
sowie ihr im Laufe der Zeit gewandeltes Verhältnis zueinander lassen sich besser
verstehen, wenn man die Begriffsgeschichte näher betrachtet71. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass eine solche Unterscheidung notwendig wird, um den schulischen
Bildungsbegriff genauer bestimmen zu können (vgl. Heymann, 1996, S. 38).
2. Kein heutiger Versuch den Bildungs- bzw. Allgemeinbildungsbegriff neu auszulegen, kann aus der Problemgeschichte aussteigen. Jeder heutige Beitrag zu unserem
Problemkreis müßte sich also schon um der Selbstaufklärung Willen seiner eigenen
historischen Wurzeln zu vergewissern versuchen (vgl. Klafki, 1984, S. 456).
3. Schließlich sollten Begriffsbestimmungen in Bezug allgemeiner Bildung, die sich auf
die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme in unseren allgemeinbildenden Schulen
beziehen, mindestens das Problemniveau und den Differenzierungsgrad bildungstheoretischer Reflexionen erreichen, die bereits einmal gewonnen waren (vgl. Klafki, 1984, S. 456).
Natürlich könnte eine historische Bestimmung weit früher beginnen, etwa mit der Aufarbeitung von Platon und Sokrates. Andererseits ist die bis in die Antike zurückreichende Vorgeschichte des bildungstheoretischen Denkens in erheblichem Maße in den Bildungskonzeptionen zwischen 1770 und 1830 berücksichtigt und aufgehoben. Dazu
kommt, dass erst in den letzten Jahrzehnten des 18. und den ersten des 19. Jahrhunderts
die Grundtendenz der Entwicklung von weitreichenden Demokratisierungsformen erkennbar wird, die bis heute Bestand haben. Denn erst jetzt sind Frühstadien der technischen Entwicklung erreicht und ihre gesellschaftlichen Folgen spürbar. Allerdings sieht
nur Hegel die Weiterentwicklung zur großen Industrie voraus. Pestalozzi wiederum ist
der einzige, der aus den ökonomisch-gesellschaftlichen Erkenntnissen Konsequenzen
für seine Bildungskonzeption gezogen hat. Und schließlich ist die seit der Aufklärung
voranschreitende Säkularisierung bewusstseinsgeschichtlich eine weitere Bestimmung
93
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
der bürgerlichen Gesellschaft. Die Entfaltung der klassischen Bildungsidee ist demnach
nicht denkbar ohne die Freisetzung der im Säkularisierungsprozess eröffneten Möglichkeiten, dass Menschen sich als Subjekte heranbilden, die sich in erster Linie durch ihre
‘vernünftige Selbstbestimmung’ auszeichnen (vgl. Klafki, 1984, S. 456f).
Besonders Wolfgang Klafki (1984) verweist in seinen Ausführungen darauf, dass unsere
heutige Gesellschaft immer noch als ein Teil der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen ist, in deren entscheidender Durchbruchsphase die klassischen deutschsprachigen Bildungstheorien als Antwort auf die damalige Situation, auf die Gefährdung
und die Möglichkeiten des bürgerlichen Subjekts entwickelt wurden. Aus diesem Grunde erscheint eine kritische Vergegenwärtigung jener Bildungskonzepte auch für unsere
Gegenwart durchaus sinnvoll und zeitgemäß.
Jedoch darf hierin die explizite Gefahr einer unkritischen Übertragung der neuhumanistischen Bildungstheorie in der Form nicht übersehen werden, dass sie zu einem ahistorischen Ideal übersteigert wird und dabei immer stärker ihre historische Dimension verliert: Das im historischen Bildungsbegriff enthaltene kritische Potential wird auf diese
Weise „beschränkt auf Sprach-, Text- und Kunstkritik, während die gesellschaftliche,
ökonomische und die technologische Tätigkeit gerade durch die Trennung, die angeblich dem Prinzip der Bildung zufolge notwendig sein sollte, der Reflexion entzogen
wurde“ (Blankertz & Born, 1978, S. 68).
Die Spannung zwischen allgemeiner idealer Menschenbildung und den konkreten
Zwängen ‘bürgerlicher Brauchbarkeit’ bestimmt seit Beginn der Aufklärung den Problemhorizont jener Bildungskonzeptionen, die von den Pädagogen in vielfältigen Abstufungen entworfen worden sind. Eine angemessene Interpretation zum Bildungsverständnis im Historischen muss demnach von der Voraussetzung ausgehen, dass der historische Prozess in seiner Gesamtheit mit seinen politischen, sozialen und ökonomischen
Verflechtungen die bedingenden Faktoren für die Entwicklung theoretischer Selbstaufklärung darstellt (vgl. Krause, 1989, S. 14). Es kann also nur darum gehen, die bestimmenden Merkmale der damaligen Konzepte in neue, zeitgemäße Konzeptionen zu übertragen, um so den Anforderungen unserer Gesellschaft an eine allgemeinbildende
Schule gerecht werden zu können.
71
Zur genauen Unterscheidung zwischen dem Begriff der Allgemeinbildung und dem Begriff der Bildung
siehe Kapitel 1.2 dieses Teiles.
94
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
In Anlehnung sowohl an die Überlegungen Wilhelm von Humboldts sowie die Klassifizierung Wolfgang Klafkis, die als erste in den von ihm veröffentlichten Studien zur Bildungstheorie und Didaktik72 aus dem Jahre 1996 vorliegt, sollen im Folgenden die
grundlegenden Momente von Bildung aufgezeigt werden, wie sie sich aus dem historischen Kontext ergeben.
Es ist deshalb sinnvoll, zunächst Wilhelm von Humboldt als Ausgangspunkt der Überlegungen zu nehmen, da er der erste war, der eine neuhumanistische Bildungstheorie
formulierte, die seitdem immer wieder als Vergleichsmoment herangezogen wird.
Die Studien Wolfgang Klafkis bieten sich an, da er in den meisten neuesten Veröffentlichungen immer wieder im Zentrum der Argumentationen steht:
„Wie kaum ein zweiter deutscher Pädagoge hat sich Wolfgang Klafki in
umfassender, historischer und systematischer Reflexion mit dem
Bildungsbegriff beschäftigt. Die im Jahre 1985 veröffentlichen ‘Studien zur
Bildungstheorie und Didaktik’ zeigen die Erfordernisse einer allgemeinen
Bildung. Zwar ist sich Klafki im Klaren darüber, dass eine einfache
Übertragung der historischen bildungstheoretischen Konzepte unmöglich ist,
dennoch geht er davon aus, dass es konstitutive Merkmale und Kriterien des
Bildungsbegriffes gibt, die in der Zeit zwischen 1770 und 1830 festgemacht
wurden“ (Rupp, 1994, S. 296).
Die in der Studie gemachten Überlegungen sollen aufgezeigt und wo notwendig näher
erläutert werden. Unbeschadet der Kontroversen, die es innerhalb des hier interessierenden Denkzusammenhanges der klassischen Epoche deutscher Bildungstheorie um die
spezifische Deutung der einzelnen Pädagogen gibt, sollen mit Hilfe der beiden Autoren
die durchgehenden Momente der klassischen Bildungstheorien deutlich werden. Angesichts des Tatbestands, dass es sich bei vielen in diesem Zusammenhang zugrunde liegenden Texten oft um fragmentarische Theorieansätze handelt, darf auch hier - ähnlich
wie beim Begriff der Schultheorie (vgl. Einleitung) - die Rede von Bildungstheorien nur
im Sinne einer sprachlichen Vereinfachung akzeptiert werden. Darüber hinaus werden
sich im Folgenden viele Parallelen zu den schultheoretischen Ansätzen zeigen, so dass
die enge Verbindung zwischen bildungstheoretischen und schultheoretischen Überlegungen deutlich wird.
72
Die hier erwähnte Studie wurde erstmals im Jahre 1984 unter dem gleichen Titel in der Zeitschrift für
Pädagogik veröffentlicht.
95
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
a)
Wilhelm von Humboldts ‘Allgemeine Menschenbildung’ als Ausgangspunkt neuhumanistischer Bildungstheorien
Zunächst handelt es sich bei der neuhumanistischen Bildung, wie sie von Wilhelm von
Humboldt formuliert wurde, um ‘allgemeine Bildung’ oder noch genauer ‘allgemeine
Menschenbildung’. Humboldt beschreibt ein Ideal der Persönlichkeitsentwicklung, von
dem er annimmt, dass es dem Menschen schlechthin gerecht werde. In seinen Ausführungen wird die Selbstdeutung und das Weltverständnis der damaligen Zeit exemplarisch deutlich.
Wilhelm von Humboldt kam zunächst zu der Einsicht, dass die ständig zunehmenden
Kenntnisse in den verschiedensten Wissenschaften die Menschheit zwar verändert, aber
keinesfalls verbessert haben. Im Gegenteil, er befürchtete, dass sich der Mensch selbst
den von ihm geschaffenen Errungenschaften anpassen und die Herrschaft über sie verlieren könnte (vgl. Menze, 1975a, S. 9).
„An die Stelle einer Politik, die das überkommene Herrschaftssystem des
Adels nur bewahrt, und an die Stelle einer Politik, die in einem
revolutionären Akt eine neue, bessere gesellschaftliche Ordnung zu
begründen hofft, setzte er darum das Programm einer bildenden
gesellschaftlichen Praxis, welche die Menschen weder zu Opfern der
Geschichte reduziert, noch zu Tätern der Geschichte hypostasiert, sondern
die bessere Ordnung durch eine Veränderung der bestehenden Ordnung
herbeiführt, indem sie Bildung ermöglicht und freisetzt“ (Benner, 1990, S.
39).
Die zentrale Frage war dabei, welchen Nutzen die Menschheit aus den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ziehen kann, denn Humboldt war der Überzeugung, dass das pädagogische Denken auf diese Veränderungen reagieren musste, da das
Leben der Menschen nicht mehr in den tradierten vorgezeichneten Bahnen verlief.
Ziel war es, in Freiheit künftig mehr als private Willkürfreiheit, in Brüderlichkeit mehr
als Gesinnungsgenossenschaft und in Gerechtigkeit mehr als formale Rechtsgleichheit
zu erkennen und in die gelebte Realität umzusetzen (vgl. Benner, 1990, S. 36).
Damit war Humboldt vor die Frage gestellt, wie der Mensch in diesen neuen Situationen
handlungsfähig werden soll, die mit einem Mehr an Freiheit zugleich auch ein Mehr an
Bedrohung, an Möglichkeiten der Verkehrung und Selbstpreisgabe bringen (vgl. Menze,
1975a, S. 12).
(1)
Die Idee einer allgemeinen Menschenbildung.
96
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Humboldt war der Überzeugung, dass an dieser Stelle nur eine neu gedachte Bildung
weiterhelfen kann. Diese muss sich jedoch von überlieferten erzieherischen Überlegungen fundamental unterscheiden, denn nur so kann den neuen gesellschaftlichen Anforderungen zeitgemäß begegnet werden.
1792 schreibt er seinen ersten Entwurf einer Bildungstheorie nieder. Sie ist in seiner
staatstheoretischen Abhandlung enthalten und trägt den Titel ‘Ideen zu einem Versuch,
die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen’.
Leitgedanke darin ist die Idee einer allgemeinen Menschenbildung, denn nur in dieser
lässt sich der gesellschaftliche Fortschritt begründen.
Die Schule hat Humboldts Idee zu Folge nun nicht mehr nur die Aufgabe, bei den jungen Menschen lediglich Kenntnisse und Fertigkeiten auszubilden, die sie für die Tätigkeit in einem bestimmten Beruf benötigten, sondern sie sollte die Schüler vornehmlich
dazu befähigen, sich selbst zu bilden.
Diese Aufgabe ist losgelöst von Herkunft, Geburt oder Stand; Ziel war die Selbstbestimmung jedes Einzelnen. Politisch bedeutet dies dann aber, dass an die Stelle einer
gesellschaftlichen Ordnung, die die Menschen in verschiedene Stände und Klassen unterscheidet, eine Politik treten muss, die auf der Idee einer freien Bildung und der
Wechselwirkung aller Individuen basiert und sich somit von tradierten gesellschaftlichen Mustern löst.
„Denn die wichtige Untersuchung der Grenzen der Wirksamkeit des Staates
muß - wie sich leicht voraussehen läßt - auf höhere Freiheit der Kräfte, und
größere Mannigfaltigkeit der Situationen führen. Nun erfordert die
Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen
Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen,
verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen
mannigfaltigeren Reichthum der handelnden Individuen. Besitzt daher das
gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke, und
diesem Reichthum, so muss man ihm auch die Freiheit gewähren, auf
welche derselbe mit Recht Anspruch macht“ (Humboldt, 1960, S. 58)73.
73
Eine solche Theorie steht in der Tradition Rousseaus: Die reine Menschenbildung ersetzt die Ausbildung, der sich selbst bewusste Mensch, der nicht mehr erzogen wird, sondern sich selbst erzieht, löst den
staatshörigen Bürger ab.
97
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Erziehung kann somit nicht mehr normativ arbeiten, an die Stelle der Ausbildung tritt
dann die reine Menschenbildung, die den jungen Menschen nicht mehr erzieht, sondern
ihn befähigt, sich selbst zu erziehen.
(2)
Die höchste und proportionierlichste Bildung.
Bildung und Politik treten damit in ein neues, einander nicht mehr untergeordnetes,
sondern nicht-hierarchisches, dialektisches Verhältnis:
„Daß er der Erörterung des Zwecks des Staates diejenige des Zwecks des
Menschen voranstellt, um dann die Aufgabe einer öffentlichen Erziehung
von beiden her zu bestimmen, weist ihn als einen Bildungstheoretiker der
Neuzeit aus, der die Bestimmung des Menschen nicht mehr einem
vorgegebenen gesellschaftlichen Ganzen oder einer im vorhinein
konstruierten gesamtgesellschaftlichen Ordnung entlehnt, sondern darum
weiß, daß die Möglichkeiten eines politischen Fortschritts der Gesellschaft
ebenso von der Bildung der Einzelindividuen abhängig sind wie deren
individuelle
Bildung
umgekehrt
von
gesamtgesellschaftlicher
Zukunftsplanung“ (Benner, 1990, S. 45).
Hier stellt sich nun die zwingende Frage, was denn der Zweck des Menschen sei, wenn
er sich nicht aus dem Zweck des Staates ableiten lässt.
„Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde
Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm
vorschreibt - ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte
zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche
Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der
menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng
verbundenes, Mannigfaltiges der Situationen. Auch der freieste und
unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder
aus“ (Humboldt, 1960, S. 64).
Was heißt nun ‘höchste und proportionierlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen’?
Dietrich Benner setzt sich in seinen Überlegungen zu Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie (1990)74 mit dieser Frage auseinander und zeigt, dass dies nur klar werden kann,
wenn
die
aporetische
Struktur
offengelegt
und
diese
auf
den
historisch-
zeitgeschichtlichen Kontext hin ausgelegt wird. Und hier zeigt sich, dass
74
Benner bezieht sich hier im wesentlichen auf Humboldts Ausführungen in seiner Schrift ‘Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen’ (Humboldt, 1960), beruft sich darüber hinaus jedoch auch auf Hegels Überlegungen der ‘Grundlinien des Rechts oder Naturrecht und
Staatswissenschaft im Grundrisse’ (1965).
98
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
• der Begriff der ‘höchsten und proportionierlichsten Bildung’ weder auf eine ursprüngliche Übereinstimmung des Ichs mit sich selbst zielt, noch auf eine Übereinstimmung des Ichs mit vorgegebenen, vorbildlichen Weltinhalten;
• der Begriff der ‘höchsten Bildung’ auch nicht meint, dass es eine allgemeine, höchste
Norm von Bildung gäbe, an der sich die Bildung der Einzelnen wie eine Latte messen
ließe; der Begriff ebensowenig irgendwelche allgemeingültigen Proportionen oder
Maßverhältnisse meint, an denen sich die Zweckbestimmung der Menschen und die
Proportionen individueller Bildung ausrichten könnten (vgl. Benner, 1990, S. 49).
Humboldt selbst sagt dazu:
„Jeder Mensch vermag auf Einmal nur mit Einer Kraft zu wirken oder
vielmehr sein ganzes Wesen wird auf Einmal nur zu Einer Tätigkeit
gestimmt. Daher scheint der Mensch zur Einseitigkeit bestimmt, indem er
seine Energie schwächt, sobald er sich auf mehrere Gegenstände verbreitet.
Allein dieser Einseitigkeit entgeht er, wenn er die einzelnen, oft einzeln
geübten Kräfte zu vereinen, den beinah schon verloschen wie den erst
künftig hell aufflammenden Funken in jeder Periode seines Lebens zugleich
mitwirken lassen, und statt der Gegenstände, auf die er wirkt, die Kräfte,
womit er wirkt, durch Verbindung zu vervielfältigen strebt. Was hier
gleichsam die Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der
Gegenwart wirkt, das wirkt in der Gesellschaft die Verbindung mit anderen.
Denn auch durch alle Perioden des Lebens erreicht jeder Mensch dennoch
nur Eine der Vollkommenheiten, welche gleichsam den Charakter des
ganzen Menschengeschlechts bilden. Durch Verbindungen also, die aus dem
Inneren der Wesen entspringen, muss einer den Reichtum des anderen sich
zu eigen machen. [...] Der bildende Nutzen solcher Verbindungen beruht
immer auf dem Grade, in welchem sich die Selbständigkeit der
Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält“ (Humboldt,
1960, S. 64f).
Benner führt weiter aus, dass Humboldt unter der Einförmigkeit der Situationen sowohl
1., die dem einzelnen in der Ständegesellschaft von Geburt her zugewiesene künftige
Bestimmung als auch 2., die fortschreitende Arbeitsteilung innerhalb der in der Entwicklung begriffenen bürgerlichen Gesellschaft meint, welche die Einzeltätigkeiten immer weniger nach Kriterien einer Güter produzierenden handwerklichen Tätigkeit und
immer mehr im Sinne einer auf Warenproduktion ausgerichteten Arbeitsteilung differenziert (vgl. Benner, 1990, S. 50).
99
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Diesen beiden Vergesellschaftungsformen stellt Humboldt nun eine dritte Form gegenüber, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Mensch eben nicht geburtsständisch vorbestimmt ist, sondern dass er angeregt werden muss, seine Bestimmung zu erkennen
und diesen Weg nicht zu verfehlen. In seiner Bildungstheorie macht Humboldt die Beziehung des Menschen zur Welt und seine Bestimmung deutlich (vgl. auch Teil C, Kap.
1).
Die Ausführungen von Clemens Menze (1975a) zeigen diese Beziehung und die damit
verbundene Bestimmung75:
Im Mittelpunkt des Humboldtschen Bildungsgedankens steht die Frage nach dem, was
der Mensch ist und werden soll, wobei diese nur dann beantwortet werden kann, wenn
das Verhältnis des Menschen zur Welt mitbedacht wird.
In diesem Zusammenhang führt Humboldt die Begriffe der Kraft, der Tätigkeit und der
Welt76 ein und zeigt auf, dass die Kraft in dem menschlichen Vollzug nichts anderes als
Tätigkeit ist, die eines Gegenstandes bedarf, an dem sie tätig wird: der Welt.
Welt wiederum umfasst alle Hervorbringungen des Menschen: Sprache, Geschichte,
Kunst, Wissenschaft, Werkzeuge, Verhältnisse. Anders ausgedrückt ist die Welt alles,
was der Mensch geschaffen hat, womit er umgehen und was er benutzen kann.
Das bedeutet, dass Welt zunächst all das ist, was nicht Individualität ist. Sie kann als
Resultat der Kraft bezeichnet werden, als Summe ihrer Objektivationen, die dem Menschen fremd sind, aber dennoch von ihm geschaffen. Ohne diese Welt ist menschliches
Leben, gleichsam als eine weltlose menschliche Existenz, unmöglich. Welt bedeutet für
Humboldt also zunächst nichts anderes als die vom Menschen geschaffene Welt.
„Das Verhältnis des Menschen zur Welt läßt sich somit nicht als ein bloß
statisches, unveränderliches fassen, sondern es handelt sich um eine
Wechselbeziehung, in der sich Welt und Mensch verändern. Der Mensch
kann gar nicht anders als weltgestaltend wirksam werden. In dem Tätigsein
seiner Vermögen ändert der Mensch die Welt, und als neues Objekt wirkt
die veränderte Welt auf den Menschen zurück“ (Menze, 1975a, S. 29).
75
Menze bezieht sich hier im wesentlichen auf seine eigenen Ausführungen in den Schriften ‘Wilhelm von
Humboldts Lehre und Bild vom Menschen’ (1975b) und ‘Unvergänglichkeit und Bildung’ (1973). Dabei
beruft er sich auf die Briefe Wilhelm von Humboldts an Friedrich Schiller aus dem Jahre 1796 und an
Karl Gustav Brinkmann aus dem Jahre 1803 sowie auf die Ausführungen Humboldts, erschienen in den
von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaft herausgegeben Gesammelten Schriften, in den
Bänden 1, 2, 5, 6 & 7.
76
Auf den Weltbegriff wird im Rahmen dieser Arbeit in Kap. 1.2 dieses Teiles näher eingegangen.
100
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Damit der Mensch nun aber die Welt immer weiter verändern kann, entwickelt er immer
mehr Fertigkeiten, die dann nach dem Grad ihrer Brauchbarkeit unterschieden werden
können.
Ulrich Hübner bezeichnet diese ‘begrifflichen Elemente der Bildung bei Humboldt’
(Hübner, 1983, S. 126) als die entscheidenden, denn er sieht in der Bildung die gehobene Stellung des Menschen in der Welt. Bildung ist somit kein rein pädagogischer Begriff mehr, „sondern ein Begriff, der die Stellung des Menschen in der Welt, d.h. in der
geschichtlichen Wirklichkeit bestimmt. Und dies nicht nur begrifflich, sondern auch
praktisch. Es ist dies das Fundament seines Bildungsdenkens“ (Hübner, 1983, S. 125).
Für Humboldt stellt sich nun die Frage, welche Welt überhaupt den Menschen in vorzüglicher Weise bilde. Er ist der Ansicht, dass die Kunst hierbei eine besonders bildende
Wirkung habe, die Sprache sie aber noch überträfe. In einem Brief an Caroline heißt es:
„Das ganze Feld der Gedanken, alles was den Menschen zunächst und zuerst
angeht, selbst das, worauf Schönheit und Kunst beruht, kommt nur in die
Seele durch das Studium der Sprache, aus der Quelle aller Gedanken und
Empfindungen.“ (Menze, 1975a, S. 38 zitiert nach Humboldt 1906 - 1916)
Kunst und Sprache sind also jene vorzüglichen Bildungswelten, an denen und durch die
hindurch sich der Mensch in einzigartiger Weise bilden kann.
Dennoch ist die Frage noch nicht geklärt, warum sich der Mensch überhaupt bilden soll.
„Schon der Ausgangspunkt der Humboldtschen Bildungstheorie zeigt, dass
sich das Leben des Menschen nicht darin erfüllen kann, vom Zufall
zugewiesene und erlernte Beschäftigungen auszuüben, seine Pflicht in
einem Wirkungskreis zu tun, in den sich der einzelne aus welchen Gründen
auch immer hineingestellt findet. Es genügt nicht, dass der Mensch Bauer,
Handwerker, Soldat, Gelehrter, Politiker ist und sich so erschöpfend von
ihm sagen läßt, er verstehe das seinem jeweiligen Wirkungskreis
entsprechende Geschäft. Es muß vielmehr unabhängig von diesen je
verschiedenen Tätigkeiten und den durch sie erbrachten Werken ein Werk
ablösbar sein, das über die keineswegs bestrittene Notwendigkeit der
Arbeitsteilung hinausgreift“ (Menze, 1975a, S. 46).
Dieses über die notwendige Arbeitsteilung hinausgehende Werk ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch sich zu einem unverwechselbaren Individuum entwickelt, das
ihn einzigartig macht und dennoch die Menschheit in seiner wesenhaften Eigentümlichkeit vertritt.
101
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
(3)
Lebenslanges Lernen.
Die höchste und proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen sieht die
menschliche Bildung schließlich als eine unabschließbare Aufgabe und bezieht sich auf
die Entwicklung individueller Urteilskraft und Handlungskompetenz in allen Bereichen
menschlicher Praxis (vgl. Benner, 1990, S. 52).
„Denn durch alle Perioden des Lebens erreicht jeder Mensch dennoch nur
Eine der Vollkommenheiten, welche gleichsam den Charakter des ganzen
Menschengeschlechts bilden. Durch Verbindungen also, die aus dem Innren
der Wesen entspringt, muss einer den Reichthum des andren sich eigen
machen“ (Humboldt, 1960, S. 64f).
Das bedeutet, dass die höchste und proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem
Ganzen somit eine Aufgabe darstellt, die wir nie ganz und nie endgültig erfüllen können, sondern immer verfehlen müssen. „Fortschreitende Bildung ist überhaupt nur möglich, weil wir nie endgültig mit uns identisch sind, sondern stets von Neuem an unserer
Bestimmung arbeiten können“ (Benner, 1990, S. 52).
Die Fähigkeit, sich fortschreitend zu bilden, kann also nie abgeschlossen sein und das
Werk das dem Menschen als Mensch zukommt, ist nicht ablösbar von seinem gelebten
Leben. Orientierungspunkt ist dabei die ‘individuelle Idee’ des Menschen:
„Die reinste Form mit der leichtesten Hülle nennen wir Idee […] oder, um
ohne Bild zu reden, je ideenreicher die Gefühle des Menschen, und je
gefühlvoller seine Ideen, desto unerreichbarer seine Erhabenheit“
(Humboldt, 1960, S. 66).
Die ‘individuelle Idee des Menschen’ ist demnach eine Fähigkeit, deren Ausbildung sich
über ein ganzes Leben erstreckt und nicht an einem bestimmten Punkt abgeschlossen ist.
Hieraus resultiert die Forderung des lebenslangen Lernens.
Benner (1990) kommt an dieser Stelle noch einmal auf den Kraftbegriff77 zurück und
stellt heraus, dass der Mensch nur dann seine Kraft oder Bildsamkeit entwickeln kann,
wenn er in der Welt tätig wird. Diese Bildsamkeit ist aber eben unbestimmmbar, weshalb der Mensch in mannigfaltiger Weise an seiner Bestimmung arbeiten muss.
77
Benner setzt für den Kraftbegriff den neuzeitlichen Begriff der Bildsamkeit als Synonym.
102
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
„Diese Kraft nun und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in
der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen
zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muß, und was der,
welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist
Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung. Wie diese Eigenthümlichkeit
durch Freiheit des Handelns und Mannigfaltigkeit der Handelnden gewirkt
wird, so bringt sie beides wiederum hervor“ (Humboldt, 1960, S. 65).
Der Mensch besitzt eine Originalität eben nur dann, wenn er weiß, dass es kein ‘Original’ für seine Bestimmung gibt. Bildung in diesem Sinne ist zuhöchst individuell und
von Mensch zu Mensch grundverschieden:
„Der Mensch ist von seinem ersten Odemzuge an Mensch, und sein
ursprünglicher Charakter ist kein andrer als der Charakter seiner
Persönlichkeit, [...]“ (Humboldt, 1960, S. 481).
Hier wird auch der Unterschied deutlich, den Humboldt zwischen dem Mensch als gesellschaftliches Wesen und dem Mensch als Menschen macht. Für die ‘Werke’ im gesellschaftlichen Zweckverband, also für die Berufe, gilt, dass sie austauschbar sind,
denn jede Funktion, die von einem Menschen ausgeführt wird, kann in zumindest ähnlicher Weise von einem anderen ausgeführt werden. Die ‘Bildung’ des Menschen hin zu
seiner individuellen Idee jedoch ist nicht austauschbar und lässt es sich vor allen Dingen
von anderen nicht vorschreiben, wie sie aussehen soll (vgl. Menze, 1975a, S. 51).
„Der Geist, der Gewalt gehabt hat, sich vom Ganzen loszureißen und sich
allein zu denken, der bleibt ewig und hört nicht mehr auf selbständig zu
sein“ (Humboldt, 1963, S. 170).
Dennoch bleibt immer noch die Frage bestehen, warum sich der Mensch überhaupt bilden muss. Auch wenn diese Frage bei den Humanisten nicht eindeutig geklärt wurde, so
besteht Einigkeit darüber, dass der Zusammenhang von Bildung und Freiheit unauflösbar ist, dass Bildung einen Menschen befähigen kann, frei zu handeln. Ohne eine rein
menschliche Bildung kann auch die bürgerliche Bildung nicht in rechter Weise wahrgenommen werden (vgl. Menze, 1975a, S. 52).
Zusammenfassend lassen sich bei der Bildungstheorie Humboldts folgende Merkmale
festhalten, die Bildung als ‘reine Menschenbildung’ kennzeichnen:
103
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Ausgehend von der Überlegung, dass der Mensch sich nicht unreflektiert neuen gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen solle, steht die Frage, wie der Mensch in Situationen
handlungsfähig werden kann, die mit einem Mehr an Freiheit, aber auch einem Mehr an
Bedrohung, an Möglichkeiten der Verkehrung und Selbstpreisgabe verbunden sind und
wie er diese Situation als Chance für sich wahrnehmen kann. Schule sollte aus dieser
Überlegung heraus nicht mehr nur Kenntnisse und Fertigkeiten ausbilden, sondern die
jungen Menschen, unabhängig ihrer Herkunft, zu Selbstbestimmung befähigen. An die
Stelle einer normativen Erziehung tritt dann die reine Menschenbildung, die den jungen
Menschen nicht mehr erzieht, sondern ihn dazu befähigt, sich selbst zu erziehen, was
auch bedeutet, dass Politik und Bildung in ein neues, nicht-hierarchisches Verhältnis
treten müssen.
Ulrich Herrmann (1985) sieht besonders in diesem Zusammenhang das bildungspolitische Wirken von Humboldts: bei der Frage, ob die Schule den Mensch zum Menschen
oder zum Bürger zu erziehen habe, hat sich Humboldt deutlich für die erste Möglichkeit
ausgesprochen.
Aus dieser Überlegung heraus stellt sich nun die Frage nach dem Zweck des Menschen,
wenn er nicht mehr für die Belange des Staates erzogen werden soll.
Diesen beschreibt Humboldt als die ‘höchste und proportionierlichste Bildung seiner
Kräfte zu einem Ganzen’, deren erste Grundvoraussetzung die Freiheit des Menschen
ist. Im Mittelpunkt dieses Bildungsgedankens steht die Frage nach dem, was der
Mensch ist und werden soll. Kunst und Sprache sind dabei jene Bildungswelten, an denen sich der Mensch in einzigartiger Weise bilden kann.
Dabei ist noch nicht geklärt, warum sich der Mensch überhaupt bilden soll: Für Humboldt steht es außer Frage, dass der Mensch nicht nur dazu geschaffen wurde, einem
bestimmten, austauschbaren Beruf nachzugehen, sondern dass es eine Bestimmung gibt,
die weit über das gesellschaftliche Werk der Arbeitsteilung hinausgeht.
In diesem Sinne ist der wahre Zweck des Menschen die Ausbildung einer individuellen
Urteilskraft und Handlungskompetenz in allen Bereichen menschlicher Praxis. Diese
Individualität macht ihn einzigartig und vertritt dennoch die der Menschheit wesenhaften Eigentümlichkeiten. Der wichtigste Ansatzpunkt des Humboldtschen Bildungsideals
muss somit die menschliche Individualität sein, die das Gegenteil des ‘gleichförmig
gebildeten Schablonenmenschen’ (vgl. Spitta, 1985, S. 2) darstellt.
104
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Die Ausbildung der ‘individuellen Idee des Menschen’ erstreckt sich jedoch über ein
ganzes Leben und ist nicht an einem bestimmten Punkt abgeschlossen. Hieraus resultiert
die Forderung des lebenslangen Lernens.
Auch kann kein in diesem Sinne gebildeter Mensch jemals mit sich oder mit einem anderen Menschen identisch sein, noch kennt er seine Bestimmung, noch lässt sich diese
von einem anderen Menschen vorschreiben. Der Zweck einer solchen Bildung führt
dann zwangsläufig dazu, dass der Mensch frei handeln kann. Bildung im Sinne der reinen Menschenbildung ist in Humboldts Augen schließlich die unbedingte Voraussetzung
für eine bürgerliche Bildung.
b)
Wolfgang Klafkis Studie ‘Die Bedeutung der klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung’
In den oben gemachten Ausführungen zeigen sich deutlich die Momente, die auch
Wolfgang Klafki in seiner Studie benennt, wobei es Klafki hier gelungen ist, eine allgemein anerkannte und weiteren Autoren immer wieder als grundlegende Basis dienende Zusammenführung der übergreifenden Charakteristika der klassischen Bildungstheorien und ihre Zusammenhänge herauszuarbeiten. Er selbst bezeichnet diese Studie als
das Ergebnis einer vergleichenden und synoptischen Interpretation.
Klafki unterscheidet dabei folgende Bedeutungsgehalte:
1. Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung.
2. Bildung als Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit.
3. Individualität und Gemeinschaftlichkeit im klassischen Bildungsbegriff.
4. Die moralische, kognitive, ästhetische und praktische Dimension im klassischen Bildungsbegriff.
105
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
(1)
Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung.
Ausgehend von Kants Überlegungen, formuliert in seiner Abhandlung ‘Was ist Aufklärung?’, sieht Klafki hier die Grundintentionen des gerade angesprochenen Begriffskomplexes.
Klafki erkennt trotz zahlreicher unterschiedlicher Interpretationen von Kants Texten
durchgehende Momente der klassischen Bildungstheorien, die sich auch deutlich bei
Humboldt zeigen:
• Der Mensch ist ein zu freier und vernünftiger Selbstbestimmung fähiges Wesen.
• Diese Tatsache macht es ihm zur Aufgabe, seine Bestimmung zu realisieren.
• Die individuelle Bestimmung kann sich jeder jedoch nur selbst geben.
• Bildung ist zugleich Weg und Ausdruck solcher Selbstbestimmungsfähigkeit (vgl.
Klafki, 1984, S. 459).
So lassen sich seiner Ansicht nach synoptisch folgende Begriffe umschreiben, die sich
deutlich hervorheben, wenn man verschiedene grundlegende Texte78 zu Rate zieht:
Selbstbestimmung, Freiheit, Emanzipation, Autonomie, Vernunft, Selbsttätigkeit.
„Bildung wird also verstanden als Befähigung zu vernünftiger
Selbstbestimmung, die die Emanzipation von Fremdbestimmung voraussetzt
oder einschließt, als Befähigung zur Autonomie, zur Freiheit eigenes
Denkens und eigener moralischer Entscheidungen. Eben deshalb ist denn
auch Selbsttätigkeit die zentrale Vollzugsform“ (Klafki, 1984, S. 458).
Im Vergleich mit den Ausführungen Humboldts wird schnell deutlich, dass sich die
zentralen Momente der Bildungstheorie entsprechen.
(2)
Bildung als Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit.
Bildung ist jedoch weit mehr als ein höchst anspruchsvoller Subjektivismus, wie es nach
näherer Betrachtung des ersten Punktes - insbesondere der Begriffe Selbstbestimmung,
Autonomie, Selbsttätigkeit - scheinen kann.
Demgegenüber muss betont werden: der zugrunde liegende Subjekt- bzw. Selbstbestimmungsbegriff ist alles andere als subjektivistisch! Das wird deutlich, sobald man
78
Klafki bezieht sich in seiner Studie insbesondere auf Texte von Goethe (Wilhelm Meister, Pädagogische Ideen), Hegel (Werke), Herder (Werke), Humboldt (Anthropologie und Bildungslehre), Kant (Werke, Ausgewählte Schriften), Lessing (Ausgewählte Texte zur Pädagogik), Marx (Kritik der Hegelschen
106
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
eine zweite Gruppe von Bestimmungen ins Auge fasst. Klafki benennt hier als zentrale
Begriffe die der Humanität, Menschheit und Menschlichkeit, Welt, Objektivität und des
Allgemeinen.
„Das bedeutet: Vernünftigkeit, Selbstbestimmungsfähigkeit, Freiheit des
Denkens und Handelns gewinnt das Subjekt nur in Aneignungs- und
Auseinandersetzungsprozessen mit einer Inhaltlichkeit, die zunächst nicht
ihm selbst entstammt, sondern Objektivation bisher menschlicher
Kulturtätigkeit im weitesten Sinne des Wortes ist“ (Klafki, 1984, S. 460).
Auch hier werden die Parallelen zu Humboldt deutlich, wenn dieser fordert, dass der
Mensch sich zu einem unverwechselbaren Individuum entwickelt, das ihn einzigartig
macht und dennoch die Menschheit in seiner wesenhaften Eigentümlichkeit vertritt.
„Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen
Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung
schenken soll? Man verlangt, dass Bildung, Weisheit, Tugend so mächtig
und allgemein verbreitet als möglich unter ihm herrschen, dass es seinen
inneren Wert so hoch steigere, dass der Begriff der Menschheit, wenn man
ihn von ihm als dem einzigen Beispiel abziehen müßte, einen großen und
würdigen Gehalt gewönne“ (Humboldt, 1956, S. 29).
In diesem Punkt wird der Begriff der Allgemeinbildung deutlich: sie soll von der Allgemeinheit und nicht nur von einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe gleichermaßen getragen werden und Gültigkeit besitzen. Insofern bedeutet in diesem Verständnis
‘allgemeine Bildung’ gleichzeitig ‘Bildung für alle’.
Hier zeigen sich jedoch auch die Grenzen des klassischen Bildungsbegriffes und die
bereits angesprochene Gefahr, dass Spannungen zwischen allgemeiner idealer Menschenbildung und den konkreten Zwängen gesellschaftlicher Realität nicht erkannt werden. Die Bildungstheoretiker der damaligen Zeit waren der Ansicht, dass die Freisetzung der Menschheit zur Selbstbestimmung trotz aller Hindernisse ein abschließbarer
Prozess ist. Diese Annahme soll in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden.
Wichtig ist allerdings, dass Humboldt (wie auch Schleiermacher) in dieses Denken sowohl die institutionalisierte als auch individuelle Auswahl von konkreten Inhalten einbezogen. Eine Konsequenz, die sich aus diesen Überlegungen von individuellen Inhalten ergibt, ist das ‘lebenslange Lernen’.
Rechtsphilosophie, Die Deutsche Ideologie), Pestalozzi (Werke), Schiller (Briefe über die ästhetische
107
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, wie sie in Punkt 1 dargestellt wurde, ist nur möglich im Medium des Allgemeinen. Gemeint sind hier historische
Objektivationen der Humanität. Das bedeutet, dass nach erzieherischen Möglichkeiten
gesucht werden muss, die den humanitären Fortschritt garantieren. Ausgedrückt werden
kann dies mit den Worten Schleiermachers, der meint, dass die Jugend ‘tüchtig’ werden
solle, „einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden
Verbesserungen mit Kraft einzutreten“ (Schleiermacher, 1959, S. 64, vgl. auch Teil A,
Kap. 2).
(3)
Individualität und Gemeinschaftlichkeit im klassischen Bildungsbegriff.
„Erst auf dem Hintergrund der dialektischen Beziehung zwischen der
Selbstbestimmungsfähigkeit und einer objektiv-allgemeinen Inhaltlichkeit
wird eine dritte Bestimmung des klassischen Bildungsbegriffs angemessen
interpretierbar. Die Zentralbegriffe heißen hier: Individualität und
Gemeinschaftlichkeit“ (Klafki, 1984, S. 463).
Der Begriff der Individualität, wie er von den Klassikern genutzt wird, ist nicht als
‘selbstbezogene Vereinzelung’ zu verstehen, sondern wird erst in seiner Beziehung zur
Allgemeinheit deutlich. Bei der Betrachtung der Überlegungen Humboldts wird diese
Beziehung zwischen Individualität und Allgemeinheit an vielen Stellen deutlich, besonders jedoch - wie dargestellt - bei seinen Ausführungen zu den Begriffen der Kraft, der
Welt und der Sprache (vgl. Abschnitt a dieses Kapitels).
Auch bei Schleiermacher erkennt man die Geselligkeit als eine Form primär nichtinstitutionalisierter, kommunikativer Begegnung, für die aber auch in den Bildungsinstitutionen, insbesondere der Schule, freie Räume eröffnet werden müßten.
„Die utopische Leitvorstellung der klassischen Bildungstheoretiker wird nun
deutlich: Ziel war ein friedliches, von Beherrschungsabsichten freies
Zusammenleben von Völkern, Nationen, Kulturen in wechselseitiger
Anerkennung und in wechselseitigem Austausch zur Beförderung der
Humanität, um es in Anspielung auf die Forderung Herders auszudrücken.
Somit
schließt
die
humanistische
Bildungsphilosophie
eine
friedenspädagogische Perspektive ein“ (Klafki 1984, S. 465).
Da sich hier zwischen dem hohen Niveau kritischer Rationalität und vernunftgeleiteter
Moralität der deutschen Klassiker auf der einen Seite und den sich auf die bildungstheoErziehung des Menschen) und Schleiermacher (Pädagogische Schriften).
108
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
retischen Ideale berufenden Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts auf der anderen
Seite eine grundlegende Diskrepanz erkennen lässt, fordert Klafki die Einführung von
für die Gegenwart verbindlichen ‘Schlüsselproblemen’. Diese stehen für den Teilbereich
des Allgemeinen in der Bildung79, der den Gegenwartsbezug deutlich macht.
(4)
Die moralische, kognitive, ästhetische und praktische Dimension im klassischen Bildungsbegriff.
Soll Bildung, wie bereits bei Humboldt deutlich wurde, allgemeine Bildung in dem Sinne sein, dass sie die Entfaltung aller menschlichen Kräfte fördert, so muss „die damit
angesprochene Mehrdimensionalität menschlicher Beziehungsmöglichkeiten zur natürlichen und zur menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit an die Einheit der verantworteten Personen zurückgebunden bleiben“ (Klafki, 1984, S. 467).
Klafki nennt hier vier Dimensionen, die den klassischen Bildungsbegriff kennzeichnen:
a) die moralische Dimension,
b) die Dimension des Erkennens bzw. Denkens,
c) die ästhetische Dimension,
d) die praktische Dimension.
(a)
Die moralische Dimension und
(b)
die Dimension des Erkennens.
Die selbstbestimmte moralische Verantwortlichkeit, die moralische Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit ist bereits in den bisher behandelten Punkten hinreichend
deutlich geworden. Auch bei der Betrachtung der Ausführungen Humboldts dürfte in
diesem Punkt kein Zweifel bestehen.
Dagegen zeigt Klafki auf, dass in der von Kant entwickelten Unterscheidung der Begriffe Verstand und Vernunft eine wichtige Differenzierung besteht:
• Verstand bezeichnet im engeren Sinne des Wortes die instrumentelle Rationalität. Sie
bezeichnet die Aneignung von Wissen und Erkenntnis in einem nicht abschließbaren
Prozess. Das Wissen und die Erkenntnis können dann im Folgenden zu beliebigen
Zwecken in einem technischen Sinne angewendet werden.
• Vernunft aber meint jenen reflexiven Modus von Rationalität, mit dem der Mensch
zum einen nach den Voraussetzungen verstandesmäßiger Erkenntnis und zum ande79
Zur näheren Begründung der Schlüsselprobleme siehe Kapitel 1.2, Abschnitt b dieses Teiles.
109
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
ren nach begründbaren Zielen der Verwendung von Wissen und Erkenntnis gefragt
wird. Hierin eingeschlossen ist die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der
Verstandestätigkeit für eine humane Existenz.
„Kognitive Bildung, Bildung des Erkenntnisvermögens sollte im Sinne der
Klassiker niemals instrumentelle Rationalität ohne Rückbindung an die
vernunftgemäße Reflexion auf ihren humanen Sinn, auf die
Verantwortbarkeit ihrer Verwendungsmöglichkeiten fördern. Im Grund ist
damit schon das Urteil gesprochen über alle modernen Formen naiver
Wissenschaftsgläubigkeit und eine nicht-pädagogisch reflektierte
‘Wissenschaftsorientierung’ des Lernens, sofern dabei Wissenschaft auf
instrumentelle Dimension reduziert wird“ (Klafki, 1984, S. 468).
Gemeint ist hier nicht eine undifferenzierte Wissenschafts- oder Technikfeindlichkeit,
sondern vielmehr der Appell an ein Konzept allgemeiner Bildung, das Menschen Voraussetzungen vermittelt, damit sie an der Bewältigung dieser Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben mitwirken können.
(c)
Die ästhetische Dimension.
Dass die ästhetische Dimension im Laufe des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit zu
Gunsten der kognitiven Dimension vernachlässigt und schließlich vielerorts vergessen
wurde, ist für Wolfgang Klafki ein weiteres Zeichen der Verfallsgeschichte des klassischen Bildungsbegriffes. Als Kernbegriffe gemeint sind hier die
• Bildung der ‘Empfindsamkeit’ gegen Naturphänomene und des menschlichen Ausdrucks,
• Entwicklung der Einbildungskraft oder Phantasie,
• Entwicklung des Geschmacks,
• Entwicklung der Genussfähigkeit und der ästhetischen Urteilsfähigkeit,
• Befähigung zum Spiel und zur Geselligkeit.
„Die ästhetische Dimension zeichnet sich dadurch aus, dass sie spezifische
Sinn- und Freiheitserfahrungen als Möglichkeit in sich birgt und daher eine
unverzichtbare Perspektive allgemeiner Bildung ist“ (Klafki, 1984, S. 469).
Auch bei Humboldt kommt dieses ästhetische Moment immer dann zur Sprache, wenn
er fordert, dass die reine Menschenbildung weit mehr ist, als die bloße Eingliederung in
das gesellschaftliche Leben. Nur wenn die ästhetische Komponente ausreichend einbe110
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
zogen ist, kann ‘höchste und proportionierlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen’
auch vollzogen werden. Dabei wird deutlich, dass der ästhetische Begriff weit über den
Bereich der ‘großen’ Kunst hinausgeht und auch die Ästhetik des Alltags mit einschließt.
Klafki zeigt hier einmal mehr auf, dass die bildungstheoretischen Ansätze jener Epoche
weit über den Rahmen von Schulbildung hinausgehen. Explizit verdeutlichen dies die
von Schiller verfassten ‘Briefe über die ästhetische Erziehung’ aus dem Jahre 179580.
Für Schiller kristallisieren sich zwei Argumentationslinien heraus, die die Wichtigkeit
der ästhetischen Erfahrung unterstreichen:
1. Als Vorbereitung zur Vernunftbestimmung, in dem der ästhetische Zustand81 erfahren
wird. In diesem Zustand produktiver Rezeption von Kunst oder des eigenen ästhetischen Gestaltens erfährt der Mensch die Synthese seiner naturhaften Antriebe und
seiner Vernünftigkeit. In der genussvollen Erfahrung der Einheit von vernunftbestimmter (ästhetischer) Gesetzmäßigkeit und Naturhaftigkeit wird der Gestaltende
(schon das Kind) zwanglos jener Freiheit inne, die er in der Situation moralisch relevanter Vernunftansprüche dann ggf. auch gegen seine widerstrebende Natur durchsetzen muss.
2. Als eigenwertige menschliche Möglichkeit: Erfahrung des Glücks, menschlicher Erfüllung, erfüllter Gegenwart. „... der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung
des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller, 1960,
S. 41) (vgl. Teil C, Kap. 1.3).
In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Erziehung und Bildung keine getrennten
Sachverhalte darstellen, sondern dass Erziehung als eine bewusste pädagogische Hilfe
verstanden werden kann, die Bildung ermöglicht82.
80
vgl. Schiller (1960). Briefe über die ästhetische Erziehung. 15. Brief. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 41.
Diesen bezeichnet Schiller auch als den Zustand des Spiels oder der Erfahrung des Schönen.
82
Es soll hier nicht weiter auf die Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung eingegangen werden,
da diese nicht wesentlich zur Klärung des hier behandelten Sachverhaltes beiträgt.
81
111
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
(d)
Die praktische Dimension.
Schon für Humboldt stand außer Frage, dass die ‘allgemeine Menschenbildung’ die
Komponente der gesellschaftlichen Realität mit einschließt. Ziel seiner Überlegungen
war eine gesellschaftliche Ordnung, in der die Menschen frei von Herrschaftsabsichten
leben können. Dabei verkannte er zwar keineswegs die berufliche Bildung, meinte aber,
die berufliche Vororientierung und die Vorbereitung auf spätere berufliche Spezialisierungen zeitlich und institutionell scharf von der allgemeinen Grundbildung trennen zu
müssen. Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen lässt sich die von den Bildungsklassikern geforderte Einbindung der praktischen, also gesellschaftsrelevanten Bildung
nicht verleugnen.
Wolfgang Klafki arbeitet bezüglich dieser Dimension zwei entscheidende Kerngedanken heraus:
1. Die praktisch-werktätige Auseinandersetzung des Menschen mit der Wirklichkeit ist
eine fundamentale Basiskomponente seiner personalen Entwicklung, sofern sie nicht
zu früher Abrichtung degeneriert.
2. Es kann nur dem Anspruch einer umfassenden, allgemeinen Menschenbildung genügen, wenn von der frühesten Phase an (wenn auch im gestuften Gang) die Perspektive künftiger beruflicher Tätigkeiten und Bewährungen im Bildungsgang selbst repräsentiert ist (vgl. Klafki, 1984, S. 471).
Als Konsequenz dieser Dimension fordert er, dass es eine der zentralen Aufgaben heutiger bildungstheoretischer Arbeit und zukünftiger Bildungspraxis sein muss, die Differenz zwischen Allgemeinbildung und beruflicher Bildung zu überwinden und die Berufsbildung in eine neue Allgemeinbildungskonzeption zu fassen. Das aber würde
gleichzeitig die permanente Relativierung und Rückbindung jeder beruflichen bzw. berufsorientierten Spezialisierung an die allgemeinen Zusammenhänge individueller und
gesellschaftlicher Existenz bedeuten. Hier wendet er sich gegen den Ansatz Humboldts
und zeigt seine Schwächen auf, die es in einer zeitgemäßen Einbindung der praktischen
Dimension in ein Konzept der Allgemeinbildung zu überwinden gilt.
112
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
c)
Folgerungen
Will man nun aus den gewonnenen Erkenntnissen Folgerungen für die Gegenwart ziehen, so stellt sich zuerst die Frage, in wieweit es den klassischen Bildungstheoretikern
gelungen ist, ihre Vorstellungen selbst in die Praxis umzusetzen.
Auf den ersten Blick lässt sich diese Frage nur für Schleiermacher83 positiv beantworten.
Jedoch soll an dieser Stelle aufgezeigt werden, dass auch Wilhelm von Humboldt an
einer konkreten Umsetzung der Ideen in die Schulwirklichkeit gearbeitet hat. Grundlage
der Umsetzungsmöglichkeit seiner Ideen in die Praxis war, wie schon in Teil A (vgl.
Kap. 2) beschrieben, die Tatsache, dass er zwischen Februar 1809 und April 1810 Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren war. Aus dem
Jahre 1809 stammen auch der Königsberger und der Litauische Schulplan, in denen er
seine Vorstellungen zur Neuordnung des öffentlichen Schulwesens festgehalten hat.
Und obwohl beide, formal gesehen, auf zwei bestimmte Gebiete Preußens bezogen sind,
haben sie für das gesamte preußische Bildungswesen eine herausragende Bedeutung,
deren Folgen zum Teil bis in die heutige Zeit nachwirken (vgl. Max, 1996, S. 36).
Die Reform der Elementarschule war eine wesentliche Voraussetzung, um eine Erneuerung des Staatslebens in Preußen voranzutreiben. So kam im Zusammenhang mit den
Reformen des Freiherrn von Stein auch Bewegung in das Elementarschulwesen. Vorbild
für die Reformen wurden die erzieherischen Entwürfe Pestalozzis, der den Grundgedanken der selbständigen Erweckung der geistigen Kräfte in jedem Kinde entwickelt und
die Selbsttätigkeit und Freiheit eines jeden Menschen propagiert hatte. Wenn nun eine
Beurteilung der Humboldtschen Neuordnung im 20. Jahrhundert versucht wird, kann
dies nur dadurch geschehen, dass diese unter den Bedingungen des Zeitgeistes gedeutet
wird (vgl. Max, 1996, S. 85). Sind die Betrachtungen der verschiedenen Autoren auch
nicht immer einheitlich, so zeigen sich in der Gesamtschau dennoch Momente der konkreten Umsetzung in die Schulwirklichkeit, die eindeutig auf die Initiative Wilhelm von
Humboldts zurückgehen.
Immer wieder ist zu erkennen, dass vier wichtige Grundsätze des Schulunterrichts bei
Humboldt bis heute Bestand haben84:
1. Ziel des Schulunterrichts ist nicht nur das Lernen, sondern das Lernen des Lernens.
83
Die Frage könnte auch für Pestalozzi positiv beantwortet werden; da er aber bisher nicht näher erläutert
wurde, soll darauf nur kurz hingewiesen werden. Wie bereits erwähnt, finden sich sein für diese Arbeit
wichtigen Gedanken in dem Konzept Humboldts wieder.
84
Vergleiche hierzu unter anderem die Arbeiten von Franz Schnabel (1947), Irmgard Kawohl (1969),
Clemens Menze (1975b), Herbert Scurla (1976), Ulrich Herrmann (1985) und Dietrich Spitta (1985).
113
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
2. Der Schulunterricht muss vornehmlich universal sein, um der späteren wissenschaftlichen Spezialbildung an den Universitäten bzw. der Berufsbildung ein sicheres Fundament zu geben.
3. Im Unterricht müssen die individuellen Interessen des Schülers geachtet und gepflegt
werden85.
4. Am Ende steht die Schaffung von Bildungsmöglichkeiten für alle Menschen.
Dennoch war schon bald klar, dass die Reformbemühungen Humboldts scheitern würden und dass das Konzept der allgemeinen Menschenbildung zu einem gesellschaftlichen Privileg verkam, das bewusst als Abgrenzung gegen die ‘ungebildeten Massen’
eingesetzt wurde86.
Dass er, wie auch viele andere Denker der damaligen Zeit noch keine direkte Verbindung zwischen pädagogischen und politischen Maßnahmen sahen, liegt sicherlich daran,
dass sie im Grunde die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte des Fortschritts der
Humanität ansahen.
„Diese Grundüberzeugung hinderte jedoch keinen Denker daran, zahlreiche
Hemmnisse, Rückfälle und schwere Verfehlungen gegen den Prozeß der
Humanisierung zu erkennen und zu kritisieren. Daß sich die Menschheit
bessert, diese Überzeugung hat sich jedoch nicht bewahrheitet“ (Klafki,
1984, S. 474).
85
In diesem Punkt muss darauf hingewiesen werden, dass die Einheit von übergreifenden Orientierungen
und Individualisierung, die Humboldts Bildungsidee kennzeichnete nicht um das einseitige Moment der
Individualisierung verkürzt werden darf. Gerade auch Klafki bezweifelt, dass die Zulassung verschiedener, streng voneinander getrennter Schultypen, diese Einheit widerspiegelt (vgl. Klafki, 1996, S. 47).
86
Hier wäre insbesondere Pestalozzi zu nennen, dessen Verdienst vor allen Dingen darin lag, dass er, wie
kein anderer in seiner Zeit, eine Rückbindung aller Bildungsbemühungen an die soziale Lebensrealität der
Menschen betont hat. Er gehörte zu den wenigen, die die Ausschließung der verarmten Bevölkerung bei
der Bildungsdiskussion kritisierten. Auch wenn er sich für die Belange der armen Bevölkerungsschichten
einsetzte, so lagen seine Zielsetzungen doch in einer Gesellschaft, die sowohl berufs- als auch sozialständisch gegliedert war. Das damit automatisch verbundene Maß ökonomischer und gesellschaftlicher Ungleichheit hielt er letztlich für unaufhebbar, ja für gottgegeben (vgl. Klafki, 1984, S. 472).
Schleiermacher schließlich war derjenige, der den widersprüchlichen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und humanen Entwicklungsmöglichkeiten bzw. ‘Bildung’ andererseits in seiner pädagogischen
Theorie am nachdrücklichsten betonte. Er unterschied dabei zwischen angestammter (historischgesellschaftlich bedingter) und angeborener (natürlicher) Ungleichheit.
Im Hinblick auf die angestammte Ungleichheit betonte er, dass Erziehung in keinem Falle dazu beitragen
darf, dass gesellschaftliche Ungleichheit verfestigt werde, wenngleich es nicht in ihrer Macht stehe, die
gesellschaftlichen Verhältnisse direkt zu verändern. Ziel ist vielmehr, den Schülern zur optimalen Entfaltung ihrer menschlichen Möglichkeiten zu verhelfen, die wiederum zu einer gesellschaftlichen Änderung
führt.
114
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Schließlich sollte jedoch nicht vergessen werden, dass gerade in diesem Jahrhundert
Fortschritte im Bereich des Bildungswesens erzielt wurden. Da aber die Aufgabe keineswegs gelöst ist und schon deshalb nie ein für allemal gelöst werden kann, weil gesellschaftliche Prozesse selbst in denkbar optimalen demokratischen Systemen nie so
gestaltet werden können, dass die Möglichkeit, neue Ungleichheiten zu produzieren,
völlig auszuschließen wäre, ist es sinnvoll, sich die grundlegenden Bildungsüberlegungen der Klassiker zu vergegenwärtigen und ihre Errungenschaften in moderne Konzepte
angemessen mit einzubeziehen.
Dies kann jedoch nur dann sinnvoll sein, wenn man zunächst einen zeitgemäßen Bildungsbegriff für die Gegenwart formuliert.
2.
Bildung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend
Die gegenwärtige Transformation der Industriegesellschaft in eine Informationsgesellschaft (oder Risikogesellschaft, wie Beck (1986) konstatiert) stellt für die Erziehungswissenschaft in vielfältiger Hinsicht eine Herausforderung dar. Otto Hansmann und
Winfried Marotzki (1988) stellen in der Eröffnung ihres Diskurses über die Bildungstheorie zwei besonders deutliche Entwicklungstendenzen einander gegenüber:
• Einerseits werden infolge der technologischen Umwälzungen die meisten Arbeitsund Lebensvollzüge zunehmend abstrakter und weniger anschaulich. Der Grad der
Verwissenschaftlichung steigt gesamtgesellschaftlich weiter an. Das Wissen, das für
die selbständige Bewältigung des Alltags und der individuellen beruflichen Entwicklung benötigt wird und vom einzelnen angeeignet werden muss, nimmt explosionsartig zu.
• Andererseits stellt sich trotz dieses quantitativ wachsenden Wissens zunehmend die
Erfahrung ein, dass die Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Lösung dringender
praktischer Probleme (Ökologie, Arbeitslosigkeit, intergenerationeller Wertewandel,
Geschlechterverhältnis, internationale Verflechtungen und Konflikte, ...) zusehends
abnimmt. Gefühle der Ohnmacht, die Einstellung der Gleichgültigkeit, Rückzugstendenzen auf die bloße Subjektivität, ein ethischer Relativismus machen sich breit.
Gleichzeitig wird vielfach von der Erziehungswissenschaft eine moralische und sitt115
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
liche Begründung angesichts dieser Lebensbedingungen gefordert (vgl. Hansmann &
Marotzki, 1988, S. 9).
Hier kann auch eine Chance liegen, nämlich dann, wenn sich die Erziehungswissenschaft ihrer traditionellen Pflicht der Zukunftsorientierung bewusst wird. Nimmt sie
diese Pflicht ernst, sind von ihr Visionen gefordert, schon allein deshalb, weil auch die
nachwachsende Generation eine Zukunft braucht. Aus diesem Grunde kann sie auch
keine ‘l´art pour l´art - Wissenschaft’ (Opaschowski, 1994, S. 258) sein.
Hinsichtlich solcher Zukunftsfragen hat sie eine doppelte Verantwortung, denn die Zukunftsgesellschaft wird auch eine Lern- und Bildungsgesellschaft sein und ihre Entwicklung kann nicht dem Zufall oder dem privaten Belieben überlassen bleiben:
1. Sie sollte Konzepte vorstellen, die die humanitären klassischen Ideale einerseits angemessen berücksichtigen und
2. gleichzeitig Lösungen für Bewältigung heute noch nicht absehbarer zukünftiger Probleme integrieren.
Gerade der Bildungsbegriff scheint hier die Möglichkeit zu bieten, die beiden Aufgaben
miteinander zu verbinden.
„Eine in der Tradition der europäischen Aufklärungsphilosophie stehende
kritische Erziehungswissenschaft müßte eine Bildungsidee formulieren, die
als Kriterium praktischer Bildungsarbeit darüber wacht, dass die
organisierten Lernprozesse der Heranwachsenden zu kritischem
Selbstverständnis,
zu
Selbstbestimmung
und
zu
konkreter
Handlungsfähigkeit führen, bei gleichzeitiger stetiger Reflexion über den
gesellschaftlichen Zusammenhang, generell und konkret der soziokulturellen und institutionellen Bedingungen wie der praktizierten
Interaktionsverhältnisse und der verordneten Lernintentionen und -inhalte“
(Bönsch, 1994, S. 30).
Bereits die problemgeschichtliche Hinwendung im vorigen Kapitel hat deutlich gemacht, welche konzeptionelle Fülle und inhaltliche Spannung dieser Begriff aufweist.
Will man nun den Bildungsbegriff für die heutige Zeit neu bestimmen, so kann es nur
um eine dialektische Zusammenführung von systematischer Analyse und problemgeschichtlicher Aneignung gehen. Die problemgeschichtliche Aneignung wurde bereits im
vorigen Kapitel geleistet, die systematische Analyse setzt bei den vielschichtigen Problemen der Gegenwart an. Versucht werden soll dadurch,
116
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
1. Bildungsprozesse in diesem Kontext gewissermaßen aufzuspüren, um die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Ermöglichung und/ oder ihrer Behinderungen bzw.
Verkehrung zu studieren,
2. ihre problematischen und widersprüchlichen Elemente auf den Begriff zu bringen
und für die Reformulierung des Bildungsbegriffs fruchtbar zu machen (vgl. Hansmann & Marotzki, 1988, S. 10).
Ein solcher Zugang ist somit gegenwartsbezogen und kann dann für konkrete didaktische Überlegungen als Ausgangspunkt dienen.
Eine Analyse der jüngeren bildungstheoretischen Geschichtsschreibung beginnt in der
Regel mit dem Zusammenbruch des Bildungsbegriffs als ‘pädagogische Leitkategorie’
in der Mitte der 60er Jahre. Die ‘Bildungskatastrophe’ (Picht, 1964) wurde vornehmlich
ausgerufen, weil maßgebliche Kreise aufgrund quantitativer Vergleiche einen Standortnachteil für die BRD im Vergleich zu anderen Industrienationen befürchteten. Die Steigerung des Bildungs-Outputs, d.h. Vermehrung der Abiturientenzahlen, Ausschöpfung
der Begabungsreserven und der damit verbundenen Verwissenschaftlichung des schulischen und außerschulischen Lernens auf allen Ebenen war das Gebot der Stunde. Mit
Robinsohns Curriculum-Revision (1967) erreichte diese Strömung ihren Höhepunkt
(vgl. Heymann, 1996, S. 15).
Dass die traditionellen Begriffe der Bildung nicht mehr griffen, wurde nun immer deutlicher. Das Bildungsverständnis änderte sich in eine empirische Ausrichtung und der
Bildungsbegriff wurde ersetzt durch ‘theoretische Äquivalente’ wie Wissenschaftsorientierung, Lernen, Erziehung oder Unterricht (vgl. Hansmann, 1988, S. 24). Eckhard
Meinberg konstatiert als Hauptgründe für die damalige Abkehr vom Bildungsdenken,
dass die Bildungstheoretiker nicht in der Lage waren, die gesellschaftliche Praxis in
ausreichendem Maße in ihre Überlegungen zu integrieren, da es ihnen am notwendigen
Realitätssinn mangelte. Aus diesem Grunde wurde den bildungstheoretischen Entwürfen
mangelnder Gesellschaftsbezug vorgeworfen. Schließlich war allem bildungstheoretischen Erkenntnisgewinn die Berufung auf hermeneutisch-phänomenologische Verfahren
gemein, so dass der Verdacht aufkam, viele Bildungstheoretiker hätten zwar ein Interesse am Bestehenden, nicht aber an notwendigen Veränderungen (vgl. Meinberg, 1991, S.
71f).
117
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Deutlich wird diese veränderte Haltung auch an einer Kritik Theodor Wilhelms an der
kategorialen Bildung Wolfgang Klafkis:
„Wir sprechen von etwas prinzipiell anderem als dem ‘aufschließenden’
Charakter der Bildungskategorien. Dort wird die Rettung der Schule im
Angesicht der Überfülle der Stoffe von den intensiven Kategorien des
Fundamentalen und Elementaren erwartet, wobei die Wirklichkeit, in der
der Schüler lebt, geheimnisvoll und formelhaft wird“ (Wilhelm, 1969, S.
227).
Fragte man hier nach der entsprechenden ‘Anthropologie der Wissenschaftsschule’
(Wilhelm, 1969, S. 228), so waren die entsprechenden Erfordernisse für die wissenschaftliche Haltung ‘Sachlichkeit’, ‘Veränderungsfähigkeit’ und ‘Öffentlichkeitsstatus’.
Als Wege hin zu diesen Erfordernissen wurden Begriffe wie Sozialisation, Qualifikation
oder Identität geprägt, ohne diese Formeln gleichzeitig mit einem zu verändernden Bildungsbegriff in logische Beziehung zu setzen.
Andererseits gilt heute aber auch, dass, wenn der Bildungsbegriff wieder stärker in den
Mittelpunkt des Interesses treten soll (und das tut er, wie die Zahlen der jüngeren Veröffentlichungen zu diesem Thema zeigen), er die in diesen Beiträgen formulierte Kritik
berücksichtigen und einschließen muss.
„Sollte der Bildungsbegriff als pädagogisch-praktisch-wissenschaftlicher
Leitbegriff
wiedergewonnen
werden,
sind
die
erwähnten
sozialwissenschaftlichen Leitformeln in ihren Unterscheidungen
aufzunehmen, voneinander abzugrenzen, vor allem aber in ihren
horizonterweiternden wie horizontverstellenden Dimensionen zu
interpretieren“ (Hansmann, 1988, S. 24).
Bönsch vertritt die Ansicht, dass geprüft werden muss, welche Art von Bildung wir gesellschaftlich benötigen, um unsere Lebensverhältnisse humaner, freundlicher und entkrampfter zu gestalten. Das bedeutet auch, dass zunächst geklärt wird, was die Menschen an Lebensausrüstung benötigen, um ihr Leben, wie das der anderen, lebenswert zu
gestalten (vgl. Bönsch, 1994, S. 31). Auch Klafki greift die Kritik auf und gesteht ihr
‘partielle Wahrheitsmomente’ zu (vgl. Klafki, 1996, S. 44). Dennoch lässt er einen Verzicht auf den Bildungsbegriff als Grundkategorie im Hinblick auf die sich stellenden
pädagogischen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben aus zwei Gründen nicht gelten:
118
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
• Zum Einen ist eine zentrale Kategorie wie der Bildungsbegriff unbedingt notwendig,
wenn die pädagogischen Bemühungen um die nachwachsende Generation und der
heute unabdingbar gewordene Anspruch an das ‘lebenslange Lernen’ (dieser betrifft
alle Generationen) nicht in ein unverbundenes Nebeneinander von zahllosen Einzelaktivitäten auseinanderfallen soll. Vielmehr sollen pädagogisch gemeinte Maßnahmen begründbar und verantwortbar sein und bleiben.
• Zum Anderen erweist es sich, dass in manchen neueren pädagogischen Theorien
zwar auf den Bildungsbegriff verzichtet wird, dies jedoch nicht im Sinne einer ‘ersatzlosen Streichung’, sondern mit analogen Zentralbegriffen geschieht. So sollen
Begriffe wie ‘Emanzipation’ oder ‘Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit’ im Sinne
oberster Lernziele strukturell das gleiche leisten wie die Kategorie der Bildung: sie
bezeichnen zentrierte, übergeordnete Orientierungs- und Beurteilungskriterien für
alle pädagogischen Einzelmaßnahmen.
In Anknüpfung an die Versuche von Heydorn, Blankertz, Horkheimer oder auch Nipkow, die progressiven Momente der Denkansätze des klassischen Bildungsbegriffes
herauszuarbeiten, begründet auch Klafki in seiner zweiten Studie die Grundbestimmungen eines Allgemeinbildungskonzeptes. Ausdrücklich weist er dabei darauf hin, dass es
sich dabei um eine ‘kritische Aneignung’ des Bildungsbegriffes handelt. Dies aus zwei
Gründen:
1. In den klassischen Bildungstheorien ist der Zusammenhang von Bildung und Gesellschaftsstruktur und damit die politische Dimension nur unzureichend erkannt worden.
2. Die Forderungen nach der allgemeinen Menschenbildung der klassischen Bildungstheoretiker sind durch die unverkennbare Einseitigkeit gekennzeichnet, dass sie sich
nur auf das männliche Geschlecht bezogen.
Auffallend ist, dass es in letzter Zeit eine Fülle von Veröffentlichungen gegeben hat, die
sich mit der Neuformulierung des Bildungsbegriffes auseinandersetzen. Auch hier
wählen die meisten Autoren einen dialektischen Zugang zwischen historischer Analyse
und kritischem Gegenwartsbezug. Besonders ausführlich bemühen sich die Herausgeberwerke von Otto Hansmann und Winfried Marotzki mit ihrem zweibändigen Diskurs
der Bildungstheorie aus den Jahren 1988 und 1989 und die Münchner Pädagogen Her119
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
bert Seibert und Helmut Serve (1994) in ihrem Herausgeberwerk mit dem Titel ‘Bildung
und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend’ um eine Neuordnung des Bildungsbegriffes.
Die Schwierigkeit besteht nun darin, den Bildungsbegriff so auszugestalten, dass er
Gültigkeit für alle pädagogischen Handlungsfelder besitzt. Es gilt also, einen Ordnungsrahmen zu finden, der gleichzeitig als Orientierung dienen kann.
a)
Allgemeinbildung und Bildung: Begriffliche Klärungen
„Bildung ist nicht gleich Wissen, aber wohlverstandenes Wissen ist für sie
unerläßlich, da es Erkennen und Ermessen ermöglicht, .... Bildung ist nicht
Allgemeinbildung, aber Wissen und Denken aus einem ‘Allgemeinen’“
(Ballauff, 1989, S. 119).
Zwar wird in der neueren Literatur zwischen den Begriffen der Allgemeinbildung und
der Bildung kaum systematisch unterschieden. Dennoch sprechen, wie die Ausführungen bei der Darlegung des historischen Bildungsbegriffes (vgl. Teil B, Kap. 1.1) schon
deutlich gezeigt haben, problem- und begriffsgeschichtliche Gründe dafür, die Begriffe
zu unterscheiden und den Allgemeinbildungsbegriff gegenüber dem Bildungsbegriff zu
bevorzugen, gerade dann, wenn es um eine Einbeziehung in schultheoretische Überlegungen geht.
Zunächst einmal spricht hierfür der Tatbestand, dass der Begriff ‘Bildung’ heute einer
der unklarsten und verschwommensten Grundbegriffe sowohl in der deutschen Pädagogik als auch im allgemeinen Sprachgebrauch ist. Ebensowenig besteht eine Übereinstimmung darüber, was unter Bildung zu verstehen ist; die Tatsache, dass der Bildungsbegriff bis heute von den gegensätzlichsten pädagogischen und schulpolitischen Positionen in Anspruch genommen wird, weist darauf hin, dass vor der inhaltlichen eine
begriffliche Bestimmung vorgenommen werden muss.
In Bezug auf die Schule setzt sich mehr und mehr der Allgemeinbildungsbegriff durch.
Unbestritten notwendig ist hierbei die immer wieder zu stellende Frage, welche Fächer
(und daran anschließend, welche Inhalte und welche Vermittlungsformen) aus welchen
120
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Gründen für die Allgemeinbildung unverzichtbar, welche reduzierbar oder ergänzungsbedürftig sind.
Hat die Allgemeinbildung den Anspruch, Bildung für alle zu vermitteln, so muss genau
geklärt werden, welches Wissen, welche Fertigkeiten und Haltungen allen Schülern anzutragen sind. Dazu kommt, dass gerade in den höheren Stufen Schulfächer als wissenschaftliche Propädeutik auf Kosten der Allgemeinbildung betrieben werden.
„In dem Maße, in dem die Leitfunktion der Wissenschaften verschwindet, in
dem Maße muß man sich über Bedingungen von fächerübergreifenden
Kriterien Gedanken machen. Die Tragfähigkeit eines neuen
Allgemeinbildungskonzeptes wird nicht zuletzt danach zu beurteilen sein, in
wieweit es Kriterien für die einzelnen Fächer bereitstellt. Dies weist auf
einen schwarzen Fleck hin, da es bisher kaum Überlegungen in Hinsicht der
curricularen Binnenstruktur gibt“ (Heymann, 1996, S. 29).
Die Universalität, das heißt, die Allgemeinheit der Bildung wird seit langem missverstanden: In Wahrheit ist kein Enzyklopädismus intendiert, sondern Wissen als ein Ganzes, wie es durch erkennendes und ermessendes Denken offenbar wurde. Es geht darum,
das, was ist und sein kann, in der Fülle seiner Erscheinungen zu erschließen (vgl. Ballauff, 1989, S. 119).
Um terminologische Ungenauigkeiten zu vermeiden, müssen zunächst die Termini Bildung und Allgemeinbildung begriffskritisch voneinander abgegrenzt werden, damit sie
als pädagogische Leitkriterien dienen können.
(1)
Unterscheidungen des Bildungsbegriffes.
Der Begriff der Bildung, aber auch Ableitungen wie ‘allgemeine Bildung’ oder ‘Allgemeinbildung’ zeigen zunächst typisch deutsche semantische Traditionen auf. Nicht nur,
dass in anderen westeuropäischen Sprachen die Differenz von Erziehung und Bildung
nicht so artikuliert werden kann, wie das im Deutschen (aber auch im Russischen) möglich ist, auch problemgeschichtlich verweist die Historie von Bildung auf besondere
Merkmale der deutschen Gesellschaft (vgl. Tenorth, 1986, S. 10). Ihren Ursprung und
die fortdauernde Bedeutung hat diese spezifische deutsche Tradition bereits an der
Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In dieser Zeit erfährt der Begriff der Bildung nicht
121
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
nur „eine einzigartige philosophisch-ästhetische und pädagogische Überhöhung und
ideologische Aufladung“, hier werden auch schon die bis heute kontroversen Deutungen
seines Gehaltes und seines Anspruchs vorgetragen (vgl. Vierhaus, 1972, S. 508). Einerseits wird Bildung zum Leitbegriff einer gesellschaftlichen Bewegung, in der Freiheit
und Autonomie der Bürger, ihr Verständnis von Individualität und Persönlichkeit formuliert und zugleich die gesellschaftliche Bedeutung der Bildungseinrichtungen, der
gelehrten Berufe und der Gebildeten für den Staat ausgedrückt wird. Andererseits gewinnt der Bildungsbegriff neben dieser sozialen Funktion auch philososphische Identität: Als systematische Deutung des Prozesses, in dem sich die Subjekte ihre Welt aneignen und sich erst wirklich zum Menschen bilden. Dabei kennt der Begriff der Bildung in
dieser Konstitutionsphase zumindest philosophisch noch keineswegs schicht- oder klassenspezifische Begrenzungen (vgl. Tenorth, 1986, S. 10).
Dem gegenüber steht die Indienstnahme für den gesellschaftlich nützlichen Nachweis
‘höherer wissenschaftlicher‘ Bildung. Eine in diesem Sinne verstandene Bildung bestätigt die Existenz eines ‘sozialen Klassensystems’ und entkräftet zugleich den überlieferten humanistischen Anspruch (vgl. Blankertz, 1969).
Erst jetzt, da der Gedanke ‘allgemeiner Bildung’ politisiert und ideologisch aufgeladen
wird und der ursprünglich aufklärerische und egalitäre Anspruch dementiert ist, findet
auch allmählich die substantivierte und bis dahin nicht benutzte Fassung ‘Allgemeinbildung’ Eingang in die öffentliche und pädagogische Diskussion.
„‘Allgemeinbildung’ als Formel für kontingentes Wissen und als Etikett für
den Lehrplan einer speziellen, nämlich zur akademischen Berufslaufbahn
führenden Ausbildung ersetzt im pädagogisch-bildungspolitischen Diskurs
die Idee allgemeiner Menschenbildung. Damit wird zugleich die Differenz
zwischen einer allgemeinen Theorie der Bildung des Menschen und der
historischen Gestalt von Allgemeinbildung in Lehrplänen und
Schulstrukturen vorerst und anscheinend bis heute irreversibel
festgeschrieben“ (Tenorth, 1986, S. 14).
In der bildungstheoretischen Diskussion wird der Begriff dann in sich schematisiert. An
die Stelle der allgemeinen, als der jedem Menschen unerläßlichen Bildung tritt jetzt der
Begriff der ‘grundlegenden Bildung’, der der Berufsbildung folgt, während die wahre
Allgemeinbildung ihren Ort nur noch außerhalb der öffentlichen Pflichtschulen finden
kann. Der ‘Beruf des Staates zur Erziehung’, den Schleiermacher schon 1814 skeptisch
erörterte, wird vielleicht nicht grundsätzlich bestritten, aber der Zweifel ist doch unüber122
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
sehbar, ob die Erziehungseinrichtungen des Staates den Anspruch der Bildungsanstalt
zu Recht erheben (vgl. Benner, 1978). Sobald das Schulsystem aber nur noch als Stätte
einer gesellschaftlich definierten und kontrollierten Verallgemeinerung der Subjekte
erscheint, verlagern sich auch theoretische Fragen aus dem schulhistorischen und
schulpädagogischen Kontext. Klassische Themen der Bildungsphilosophie - das Verständnis von Subjektivität, Individualität und Humanität, sogar der Bildungsbegriff,
spalten sich von den pädagogisch-professionellen Erörterungen über Schule und Erziehung ab und werden in Philosophie und philosophischer Anthropologie, in Ästhetik
oder kritischer Theorie verhandelt.
Auf die Schule bezogen, wird dagegen die ‘Kontinuität von Ungleichheit’ zum dominierenden Eindruck und diese Ungleichheit erstreckt sich auf die Lernziele und Lehrpläne,
die Inhalte und Berechtigungen, die Lebenschancen und die über Schulen und Karrieren
vermittelte soziale Lage (vgl. Kaelble, 1978, 1983; Lundgreen, 1981). Das Bildungssystem erlaubt somit kaum den Schluss, dass es dem klassischen bürgerlichen Anspruch
entsprochen hat, ‘alle in Allem’ zu bilden oder ihnen auch nur den Teil an Bildung zu
vermitteln, den man für ‘unerläßlich’ halten kann (vgl. Tenorth, 1986, S. 15).
In dieser Perspektive - der Kontinuität von Ungleichheit wie der Universalisierung von
Lernprozessen - ist die Wirklichkeit allgemeiner Bildung zuerst und nachdrücklich gegenwärtig. Hier ist die Pädagogik gefordert, Auskunft darüber zu geben, wie unter dem
Anspruch allgemeiner Bildung Freiheit und Gleichheit, Einheit und Differenzierung,
Individualisierung und Vergesellschaftlichung legitimiert und zugleich Leitlinien pädagogischer Arbeit werden können.
Dass hier zunächst eine begriffliche Bestimmung notwendig ist, zeigt sich schon allein
daran, dass in der Realität verschiedene Auffassungen von Bildung aufeinandertreffen,
die außer der gleichen Begrifflichkeit nur wenig Gemeinsamkeiten aufzeigen. Das hat
durchaus auch einen praktischen Grund: Um Problemen der Gegenwart zu begegnen ist
es nicht Voraussetzung, Informatik oder Ökonomie oder Arbeitswissenschaft zu lernen,
sondern zu wissen, was Bildung oder Allgemeinbildung ist, welche Möglichkeiten sich
für diese (allgemeine) Bildung überhaupt bieten, und welchen Anspruch sie nicht unterbieten darf (vgl. Tenorth, 1986, S. 22f).
123
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
(2)
Die Bedeutungsdimensionen der Bildung.
Wendet man sich zunächst den wichtigsten Bedeutungsdimensionen des Bildungsbegriffes zu, die sowohl in der Alltags- als auch Fachsprache verbreitet sind, so lassen sich
drei Hauptdimensionen erkennen (vgl. Beck, 1987; Heymann, 1996; Hentig 1996):
a) Bildung als Idee
b) Bildung als Produkt
c) Bildung als Prozess
(a)
Bildung als Idee.
In vielen bildungstheoretischen Texten ist explizit die Rede von der ‘Idee der Bildung’
oder vom ‘Geist der Bildungsidee’. Gemeint ist hier kein empirischer Sachverhalt, sondern die Tatsache, dass sich der Mensch von einer ‘Idee’ leiten lassen kann. Denn ob
beispielsweise ein Lehrer, der versucht, im Geiste der Bildungsidee zu unterrichten, dies
auch wirklich tut oder nicht, lässt sich empirisch kaum nachweisen, da viele seiner
praktischen Umsetzungen unterschiedlich zu deuten sind.
Dennoch schwebt die Idee nicht beziehungslos über unserem praktischen Handeln, da
sie sich in ihm immer konkretisiert. Hier zeigt sich das verwirrende Spektrum, das der
Bildungsidee anhängt.
(b)
Bildung als Produkt.
Hierbei handelt es sich sicherlich um die verbreitetste Dimension des Bildungsbegriffes.
Gemeint ist ein bestimmtes Wissen, das sich gegenüber einem anderem Wissen als Bildungswissen unterscheidet. Unterstellt wird dieser Art der Bildung, dass sie sich wie ein
Produkt erwerben und besitzen lässt. „Bildung wird manifest als ein Ensemble von Wissen und/ oder Fähigkeiten, über das eine Person verfügt und das sie im Laufe ihres bisherigen Lebens erworben hat“ (Heymann, 1996, S. 36f). Im Unterschied zur Bildung als
Idee lässt sich hier empirisch überprüfen, ob eine Person gebildet ist.
(c)
Bildung als Prozess.
Bildung als Prozess manifestiert sich vor allen Dingen in dem Verb ‘bilden’. Bildung
drückt hier eine Aktivität aus, die in der Regel zunächst keinen unmittelbaren Nutzen
hat. Im Unterschied zur Bildung als Produkt wird Bildung nicht erst als ein bestimmtes
Ergebnis wahrgenommen, sondern sie wird schon in der Auseinandersetzung als Bereicherung empfunden. Gemeint ist hier die (intellektuelle) Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen jeglicher Art. Bildung in dieser Form ist nur sehr schwer zu in124
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
stitutionalisieren, da sie sich nicht den dafür notwendigen Vereinheitlichungszwängen
unterwirft.
In allen drei Fällen ist Bildung als ein Prozess der Auseinandersetzung mit Welt und
Aneignung von Welt87 zu sehen; dieser kann Bildung als Produkt oder Zustand für das
Individuum hervorbringen, wenn er im Geiste der Bildungsidee verläuft. Das ‘Verlaufen
im Geiste der Bildungsidee’ bezeichnet somit eine Qualität des Prozesses, und zwar
diejenige, die in dem gesuchten Leitkriterium konkretisiert werden muss. Konkret bei
Unterricht heißt dies: Unterricht kann im Geiste der Bildungsidee verlaufen, dann darf
er bildend genannt werden (vgl. Heymann, 1996, S. 37).
In der Unterscheidung zeigt sich nun bei näherer Betrachtung, dass Bildung zunächst ein
Oberbegriff von Allgemeinbildung ist. Allgemeinbildung scheint da etwas spezielleres
zu sein, wo ihr beispielsweise Berufsbildung oder andere Spezialbildungen gegenübergestellt werden. Da eine derartige Hierarchie heute aber eher eine Ausnahme zu sein
scheint, empfiehlt sich eine Unterscheidung in der Art, dass beide sehr große Ähnlichkeiten mit einer Reihe konnotativer Unterschiede aufweisen (vgl. Ballauff, 1989, S.
119). Bildung betont stärker die Seite des Individuums, wohingegen Allgemeinbildung
stärker auf das Moment der gesellschaftlichen Kulturvermittlung abzielt:
„Im Prozeß der begegnenden Aneignung zwischen dem Individuum und der
Kultur, in der es heranwächst, betont der Allgemeinbildungsbegriff stärker
die Seite der Gesellschaft, der Bildungsbegriff stärker die des Individuums.
Die Institutionalisierung von Lern- und Erziehungsprozessen in Form eines
öffentlichen Schulwesens, auf das die Gesellschaft angewiesen ist, wenn sie
ihr kulturelles Erbe und das für ihren Fortbestand lebensnotwendige Wissen
an die nachwachsende Generation übermitteln will, ist im
Allgemeinbildungsbegriff, wie er heutzutage verwendet wird, im
Unterschied zum Bildungsbegriff von vornherein mitgedacht“ (Heymann,
1996, S. 42).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Bildung und Allgemeinbildung als Antworten auf zwei unterschiedliche Probleme stehen:
87
Gemeint ist hier ein Weltbegriff, der die Erde (Erdoberfläche, Biosphäre), die globalen Lebensbedingungen und -realitäten, Natur und Kulturen unseres Planeten sowie den astronomischen Nahbereich (Sonne, nahe Planeten, Mond) umschreibt, welcher auch den gebräuchlichsten darstellt.
125
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Dabei ist Bildung die Antwort auf die Frage, was das Menschsein des Menschen ausmacht. Heymann bezeichnet diese Frage in Bezug auf Ballauff (1989) als die anthropologische Grundidee, wobei es sich hier um ein theoretisches, philosophisches und anthropologisches Problem handelt und es nicht geklärt werden kann, ob dies lösbar ist.
Allgemeinbildung antwortet dagegen auf die Frage, was den Heranwachsenden durch
die öffentlichen Schulen vermittelt werden soll. Wie bereits am Ende von Teil A erwähnt, handelt es sich hier um das schulpädagogische Grundproblem. Somit ist Allgemeinbildung also in diesem Fall das angemessenere Leitkriterium.
Allgemeinbildung geht aber weit über den schulischen Kontext hinaus:
„Worauf es mir bei der Verklammerung von Schule und Allgemeinbildung
ankommt, ist vielmehr die Einsicht: Allgemeinbildung, die wesentliche
Grundzüge unserer Kultur repräsentiert, stellt eine entscheidende
Voraussetzung für individuelle Bildung dar: für individuelle Aneignung von
Kultur, letztlich für die Menschwerdung innerhalb unserer Kultur. Indem
Schule sich um Allgemeinbildung als Angebot an alle bemüht, hat sie für
ihre Schüler die Möglichkeit von Bildung (Menschwerdung) zu eröffnen.
Bewirken, produzieren oder gar erzwingen kann sie Bildung nicht“
(Heymann, 1996, S. 43).
Allgemeinbildung ist demnach so zu konzipieren, dass sie Bildung in großer Vielfalt
möglich macht. In diesem Sinne ist Bildung nicht Allgemeinbildung, aber Wissen und
Denken aus einem ‘Allgemeinen’. „So gesehen bedeutet Bildung die Erhebung zu diesem Allgemeinen und enthebt dem Partikularen, Individuellen ebenso wie dem Gelegentlichen und Zufälligen“ (Ballauff, 1989, S. 119). Das schließt auch eine Fülle von
unterschiedlichen, sich eventuell widersprechender Bildungsidealen mit ein.
Allgemeinbildung ist Voraussetzung vernünftiger Selbstverwirklichung für den Einzelnen, die ihm Zugänge zu allem Besonderen eröffnet, auf das er sich einlassen und für
das er tätig werden kann.
Es wird deutlich, dass mit der Allgemeinheit der Bildung kein Enzyklopädismus intendiert ist, sondern Wissen als ein Ganzes, wie es durch erkennendes und ermessendes
Denken offenbar wird. Es geht darum, dass das, was ist und sein kann, in der Fülle seiner Erscheinungen erschlossen wird.
126
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Ausgearbeitete Konzepte, wie beispielsweise das von Wolfgang Klafki, dienen dann als
Brücke zwischen der Idee und ihrer konkreten praktischen Umsetzung und können einen
Kompromiss darstellen in der Konsensfindung bei der Curriculumsentwicklung. Wenn
im weiteren Verlauf dieser Arbeit von Bildung die Rede ist, wird das Wort der Vereinfachung wegen mit dem Begriff der Allgemeinbildung synonym gesetzt und nur dann
explizit auf die Unterscheidung verwiesen, wo diese notwendig erscheint.
b)
Grundbestimmungen eines Konzeptes der Allgemeinbildung als Ausgangspunkt für den Fachunterricht
Das Vorhaben, die Bildungsfunktion der Schule über das Kriterium der Allgemeinbildung zu formulieren, konkretisiert sich mehr und mehr. Der folgende Abschnitt soll den
Grundstein dafür legen, dass es möglich wird, sowohl konkrete curriculare als auch allgemeinbildende Vorgaben für den Fachunterricht zu formulieren.
So gelingt es dann auch, die Beziehungen zwischen den in Teil A herausgearbeiteten
Aufgaben der Schule abzuleiten. Bildung, respektive Allgemeinbildung, als pädagogisches Leitkriterium präzisiert sich im Folgenden in vier verschiedenen Punkten, die zusammen genommen den Rahmen der Aufgaben bilden, die eine zeitgemäße Schule zu
erfüllen hat, wenn sie dem Anspruch einer demokratischen Einrichtung gerecht werden
will, „aus Kindern und Jugendlichen politikfähige, politikbereite und verantwortungsbewusste Menschen zu machen und die Kultur weiterzugeben - zusammen: der nächsten
Generation zu helfen, in der Welt, in der sie leben, erwachsen zu werden“ (Hentig,
1993, S. 17).
Diese 4 verschiedenen Aufgaben stellen eine Synopse verschiedener bildungstheoretischer Überlegungen dar und versuchen, die Gemeinsamkeiten zu bündeln. Auch hier
zeigt sich die starke Anlehnung an Wolfgang Klafkis Konzept der Allgemeinbildung,
die Gründe wurden bereits zu Beginn dieses Kapitels näher erläutert:
1. Der gesellschaftliche Aspekt zeitgemäßer Bildung.
2. Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen.
3. Die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung.
4. Lebenslanges Lernen.
127
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
(1)
Der gesellschaftliche Aspekt zeitgemäßer Bildung.
Zunächst einmal gilt es, das generelle Verhältnis zwischen Bildung und Gesellschaft zu
klären, denn Bildungsfragen sind immer Gesellschaftsfragen. Diese zunächst selbstverständlich klingende Formel ist aber mehrdeutig und lässt, wie Klafki zeigt, mindestens
zwei unterschiedliche Auslegungen zu:
1. Sie kann so gedeutet werden, dass pädagogische (Bildungs-) Theorie und (Bildungs-)
Praxis als Funktionen der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet werden. Wie
sich bereits gezeigt hat, wird der Bildungstheorie in diesem Falle eine IstBestimmung vorangestellt und Bildung hat sich an den Grundstrukturen und Anforderungen der Gesellschaft zu orientieren.
2. Die andere Deutung hält nicht an dieser Abhängigkeit von Bildung an den gesellschaftlichen Voraussetzungen fest und zwar deshalb, weil sie erkennt, dass Gesellschaft zum einen immer von Menschen gemacht ist und deshalb auch veränderbar ist.
Zum anderen sind in den modernen Gesellschaften und in den ihnen impliziten Entwicklungstendenzen zahlreiche Widersprüche vorhanden. Wo sich aber Gesellschaft
in einer Entwicklung befindet, in der unterschiedliche Interessengruppen miteinander
ringen, sind auch Handlungsspielräume und Interpretationsmöglichkeiten gegeben,
die mitbestimmungs- und handlungsfähige Personen fordern. So besagt dann diese
Deutung, dass der pädagogischen (Bildungs-)Theorie und (Bildungs-)Praxis Möglichkeiten und Aufgaben zugesprochen werden, dass sie auf gesellschaftliche Verhältnisse und Veränderungen nicht nur reagieren, sondern unter der Prämisse der
pädagogischen Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebensbedingungen
auch aktiv gestalten kann (vgl. Klafki, 1996, S. 50).
Für den hier behandelten Zusammenhang ist die zweite von Klafki vorgeschlagene
Deutung relevant, denn für die Schule kommt ein Bildungsauftrag nur dann in Betracht,
wenn sie nicht nur „Transformationsriemen vordergründiger gesellschaftlicher Erwartungen“ ist (Bönsch, 1994, S. 43). Theodor Ballauff bezeichnet diesen Vorgang als
‘Freigabe’:
„Der Prozeß der Sozialisation wird durch den Gedanken der Freigabe zu
einer neuen Interpretation erhoben: Nicht lassen wir uns gegenseitig in
Kommunikation und Interaktion als das erscheinen, was wir Dank der
Sozialisation ‘sein’ dürfen, oder die Rolle zuweisen, in der wir aufzutreten
haben; vielmehr werden wir unsere gegenseitigen Mittler. Jeder verhilft dem
128
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
anderen, in Kosmos und Gesellschaft sich ‘sein Wesen’ zu bilden, das sich
zusammenschließt aus der Selbständigkeit des Ich im Denken und der
dadurch ermöglichten Übernahme, besser: Teilnahme an bestimmten
sachlichen und mitmenschlichen Aufgaben, Werken, Taten, die dem
einzelnen als dem Verantwortlichen zugerechnet werden“ (Ballauff, 1989,
S. 117).
Die Aufgabe der schulischen Bildung lässt sich demnach dahingehend umschreiben,
dass der Unterricht zunächst nicht schüler- oder lehrerzentriert ist, sondern sach- und
aufgabenzentriert. Immer behält diese ‘Emanzipation’ nur ihren Sinn, wenn ihr der Gedanke der Partizipation, der Teilhabe, Teilnahme und Teilgabe korrespondiert (vgl.
Ballauff, 1989, S. 118).
Auch Bönsch knüpft in diesem Zusammenhang an dem Begriff der Freiheit an, hier verstanden als dialektischer Zusammenhang von individueller und gesellschaftlicher Freiheit und Gerechtigkeit, individueller Vernunft und vernunftgemäßen gesellschaftlichen
Verhältnissen. Unabhängig von ökonomischem Zwang muss unter dieser Prämisse geprüft werden, welche Art von Bildung wir gesellschaftlich benötigen, um unsere Lebensverhältnisse humaner, freundlicher, entkrampfter zu gestalten. Der Mensch muss
immer wieder prüfen, was seine Gattung an Lebensausrüstung benötigt, um ihr Leben
lebenswert zu machen (vgl. Bönsch, 1994, S. 31).
Andererseits hat Bildung und die damit verbundenen Institutionen nur so viel Wirkungschancen, wie ihnen insgesamt von der Gesellschaft zugestanden werden. Konkret bedeutet dies, dass die Schule die ständige Ausbalancierung von individueller und sozialer
Bildung und pragmatisch formulierter Qualifikationen versuchen muss.
Gerade hier zeigt sich ein wesentliches Merkmal des Verhältnisses zwischen Bildung
und Gesellschaft: Moderne Bildung identifiziert sich nicht mit Sozialisation88, sondern
sollte den Menschen befähigen, diese kritisch zu reflektieren. Nur so gibt sie ihn zu
selbständiger Gedanklichkeit frei.
88
Geißler bezeichnet Sozialisation bezugnehmend auf Geulen & Hurrelmann (1982) als den ‘Prozess der
Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich
vermittelten sozialen und materiellen Umwelt’. Im Bezug zwischen Sozialisation und Bildung lautet seiner
Ansicht nach die Frage, wie der Mensch sich zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet.
Beschränkt man sich dabei auf das ‘Lernen der Normen und Werte einer Gesellschaft’, so kann der bildungstheoretische Aspekt in der Erziehung ausgeblendet werden. Soll aber der Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung stärker akzentuiert werden, dann kann das der Erziehung nur gelingen, wenn Bildungstheorien und Gesellschaftstheorien verknüpft werden (vgl. Geißler, 1994, S. 34ff).
129
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Man könnte geradezu ein reziprokes Verhältnis von Sozialisation und Bildung ansetzen:
Je mehr die Sozialisation überwiegt, desto geringer wird die Bildung; je mehr die Bildung - die Verselbständigung im Denken - überwiegt, desto mehr wird die Sozialisation
in ihren Funktionen und Prozessen zurücktreten.
Bildung bedeutet, eine Balance zwischen personaler und sozialer Identität herzustellen
und aufrecht zu erhalten.
„Dann bereite ich mir nicht ein Selbst, indem ich zum Beispiel einen Beruf
mit diesem Selbst identifiziere und ihn mir zu eigen mache, um mich
wiederum auf ihn hin identifizieren zu lassen, sondern ich erfülle eine
Berufstätigkeit, weil ich ihren Sinn, ihre Notwendigkeit einsehe, weil ich
beides erfahren habe und jene Tätigkeit verwirklichen möchte - aber nicht
mich“ (Ballauff, 1989, S. 44).
Es zeigt sich, dass ein modernes Bildungskonzept „nicht hinreichend, ja nicht einmal
primär durch den Bezug zur modernen Industriegesellschaft begründet werden kann“
(Klafki, 1996, S. 51). Damit ist nicht gesagt, ein solches Konzept solle die gegenwärtigen und vermutlich zukünftigen gesellschaftlichen Anforderungen nicht berücksichtigen, im Gegenteil: damit ist gesagt, dass es die ausdrückliche Aufgabe hat, diese aufzugreifen und kritisch zu erweitern. Erst dadurch können „auch die Herausforderungen,
die sich aus der Weiterentwicklung der Industriegesellschaft für die Theorie und Praxis
einer neuen Allgemeinbildung ergeben, angemessen interpretiert und konstruktiv beantwortet werden“ (Klafki, 1996, S. 51).
Schule hat somit die Aufgabe der ‘Weltorientierung’. Mit der Aufgabe der ‘Weltorientierung’ spricht Heymann einen Bereich an, dessen zentrales Anliegen es ist, die Schüler
mit materialem Wissen über die Welt auszustatten. Um hier gleich Missverständnissen
vorzubeugen, muss deutlich gemacht werden, dass sich Heymann hier mit seinem Begriff der Weltorientierung an den von Becker (1980) benutzten Terminus ‘Weltverständnis’ oder den von Ballauff beschriebenen Aufbau eines „umfassenden Interpretationshorizontes, eines Gedankenkreises, der Erkennen und Ermessen ermöglicht“ (Ballauf, 1989, S. 94) anschließt89. Es geht hier weder um den bereits erwähnten Enzyklopä-
89
Auch der von ihm gewählte Terminus der Weltorientierung ist weit verbreitet: vgl. Stegmaier, 1984;
Geißler, 1984; Fetscher, 1986; Maier, 1986. Dieser Weltbegriff darf nicht verwechselt werden mit dem
bereits beschriebenen Weltbegriff, wie ihm Humboldt benutzte.
130
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
dismus, noch um eine Wissenschaftsorientierung90, die wichtige Aspekte der ursprünglichen Idee der Weltorientierung in den Hintergrund gedrängt hat: die lebensweltlichen
und nicht primär wissenschaftlich repräsentierbaren Aspekte des Weltverstehens, etwa
in der Form, dass Musik auf Musikwissenschaft reduziert wird91. Natürlich sind die modernen Wissenschaften ein fester Bestandteil unserer Welt, weshalb die jungen Menschen auch ihre zentralen Gegenstandsbereiche, Zuständigkeiten, Problemlösungskapazitäten und spezifischen Weltsichten kennen sollten. Dennoch sollte in den Schulen
auch klar gemacht werden, welche Bedeutung die fachlichen Begriffe und Strukturen für
das Verständnis sachlicher, sozialer und ideeller Alltagsprobleme haben, welche nichtfachlichen Probleme sich mit ihrer Hilfe lösen lassen und wo die Grenzen der jeweiligen
Wissenschaft liegen. Gerade auf der Suche nach solchen Grenzen erhält die Frage nach
den zentralen Inhalten eines Schulfaches große Bedeutung.
„Wenn man sich also entscheidet, den Fachunterricht an grundlegenden oder
zentralen Ideen zu orientieren, so sollten diese nicht in erster Linie von
fachimmanenter Bedeutung sein, sondern in ihnen sollten sich die
Beziehung des Fachs zur übrigen Welt spiegeln“ (Heymann, 1996, S. 82).
Und genau an diesem Punkt bezieht sich Heymann auf das Allgemeinbildungskonzept
von Wolfgang Klafki und bezeichnet die von Klafki geforderte Auseinandersetzung mit
den Welt- und Schlüsselproblemen im Rahmen der Allgemeinbildung als dringend notwendig.
„Sie sollte auf den Aufbau eines allgemeinen Vorstellungs- und
Urteilshorizontes bezogen werden. Sie ist einzubetten in eine nicht nur
kurzatmig
erworbene
Kenntnis
von
historischen,
politischen,
geographischen,
naturwissenschaftlichen
und
ökologischen
Zusammenhängen. Und weil mit den Schlüsselproblemen viel emotionale
Betroffenheit in Spiel kommen kann, bedarf die Auseinandersetzung mit
ihnen einer gewissen Gelassenheit und Fähigkeit zur Distanzierung.
Betroffenheit und Angst allein lähmen, wenn solchen Gefühlen keine
konkreten Handlungsmöglichkeiten entsprechen“ (Heymann, 1996, S. 88).
90
Die Wissenschaftsorientierung wurde im Strukturplan des Deutschen Bildungsrates 1972 gefordert, um
einen gesicherteren Zugang zu der Welt zu haben und um die Chancenungleicheit abzubauen. Heymann
zeigt deutlich die Grenzen dieser Wissenschaftsorientierung auf: erstens würden Handlungen und Entscheidungen im Lebensalltag unzumutbaren Beschränkungen unterworfen, wenn nur auf ‘wissenschaftlich
abgesicherte’ Informationen zugegriffen werden dürfe, zweitens erweist sich eine erhoffte Eindeutigkeit in
der Systematik der Wissenschaften und des Wissens als Illusion und drittens sind die einzelnen Wissenschaften selbst von Experten nicht mehr zu überschauen (vgl. Heymann, 1996, S. 82).
91
Im Bereich des Sportes stellt sich in der Schule die Problematik der Reduktion von Sport auf Sportwissenschaft nicht.
131
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
(2)
Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen.
Dieser Abschnitt unterteilt sich in zwei Bereiche: zum Einen werden die Kompetenzen
Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Gemeinschaftlichkeit angesprochen, zum Anderen die der Verständigung und Kooperation behandelt.
(a)
Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Gemeinschaftlichkeit.
„Wenn eine Schule der Zukunft die Verschiedenheit von Individuen stärker
beachten soll, als es bisher üblich ist, dann muß sie in den Stand versetzt
werden, die jeweils spezifische Komplexität von Kompetenzen
wahrzunehmen“ (Wessel, 1994, S. 414).
Unter Kompetenz versteht Wessel in diesem Zusammenhang die zum jeweiligen Abschnitt des Lebens entfalteten Begabungen als Voraussetzungen für die Weiterentfaltung
und Nutzung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, also nicht die Begabung oder Veranlagung schlechthin, sondern ihre Herausbildung bzw. Nutzung zum Zeitpunkt der Betrachtung bzw. Einschätzung des Individuums. Die Kompetenz eines Individuums ist
somit nur im Prozess darstellbar, wobei grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass
jedes Individuum über die notwendigen Kompetenzen verfügen kann, wenn sie entsprechend geweckt werden. Die Schwierigkeit im Hinblick auf die Entwicklung von Kompetenzen kann nun darin bestehen, dass in verschiedenen konkreten Situationen ein ganzer Komplex von Kompetenzen gefordert ist. Neben dieser Herausbildung muss es der
Schule darüber hinaus gelingen, die Schüler zu befähigen, verschiedene Kompetenzen
miteinander zu verknüpfen.
In diesem Zusammenhang liegt der Anknüpfungspunkt Wolfgang Klafkis, der fordert,
dass Bildung heute als selbsttätig erarbeiteter und personal verantworteter Zusammenhang verschiedener Grundfähigkeiten (Kompetenzen) verstanden werden muss. Bei näherer Betrachtung92 kristallisieren sich hierin zunächst die drei Fähigkeiten heraus:
1. Die Selbstbestimmung jedes Einzelnen über seine individuellen Lebensbedingungen
und Sinndeutungen menschlicher, beruflicher, ethischer oder religiöser Art;
92
vgl. auch u.a. Klafki, 1994; Meinberg, 1991; Wollersheim, 1996; Bildungskommission NRW, 1995;
Hentig, 1993, 1996; Seibert & Serve, 1994; Hansmann & Marotzki, 1988, 1989; Ballauff, 1989.
132
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
2. die Mitbestimmungs- und Verantwortungsfähigkeit für die Gestaltung gemeinsamer
kultureller, ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse;
3. die Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit93 in dem Sinne, dass der eigene Anspruch auf
Mit- und Selbstbestimmung nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn dies den anderen Menschen aufgrund gesellschaftlicher Verhältnisse nicht vorenthalten wird.
Eingeschlossen in diese Fähigkeiten sind andere, nicht minder wichtige Fähigkeiten, die
deutlich machen, wie anspruchsvoll diese drei von Klafki genannten Fähigkeiten sind.
Zunächst zeigt sich, dass die drei von Klafki vorgeschlagenen Grundfähigkeiten durchaus auch den kritischen Vernunftgebrauch beinhalten, wie er beispielsweise von Heymann in Anlehnung an Kant gefordert wird. Diesem liegt eine doppelte anthropologische Annahme zu Grunde:
1. Der Mensch ist fähig zur vernünftigen Selbstbestimmung,
2. Vernünftiges Denken fällt ihm nicht in den Schoß, er kann es verfehlen, wenn ihn
Bildung und Erziehung nicht unterstützen (vgl. Heymann, 1996, S. 89).
Wie bereits in der Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft (vgl. dieser Teil,
Kap. 1.1) deutlich wurde, geht es hier um die Aufgabe, den Menschen zu befähigen,
seine eigene Vernunft kritisch zu gebrauchen. Das bedeutet, dass er Tatsachenbehauptungen und Werturteile nicht einfach hinnimmt, sondern sie auf mögliche Widersprüche
hin untersucht und der eigenen Urteilskraft vertraut. Kritischer Vernunftgebrauch fordert in hohem Maße gedankliche Folgerichtigkeit und Unterscheidungsvermögen und
beinhaltet auch die Fähigkeit zur Selbstkritik. Der kritische Vernunftgebrauch ist dann
auch die Voraussetzung für Mündigkeit im Sinne Theodor Adornos: „Mündig ist der,
der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet“
(Adorno, 1971, S. 10). Wer mündig ist, nimmt sein Leben selbst in die Hand und trifft
Entscheidungen selbstverantwortlich. Das zeigt ein hohes Maß an Selbstbestimmung.
Kritischer Vernunftgebrauch erleichtert wiederum die Emanzipation, verstanden als
Befreiung aus ungerechtfertigten Abhängigkeiten und falschen Zwängen, sowohl individuell als auch gesellschaftlich verstanden. Denn mittels kritischer Vernunft kann der
Einzelne Abhängigkeiten und Zwänge durchschauen.
Die Parallelen zum Aufklärungsbegriff Kants sind hier unübersehbar, denn die Aufklärung zielt auf die Freisetzung, auf die Verwirklichung des kritischen Vernunftgebrauchs.
133
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Natürlich dürfen die Grenzen des kritischen Vernuftgebrauches und letztlich der Forderungen nach den hier genannten Fähigkeiten nicht übersehen werden. Horkeimer &
Adorno (1969) kommen in ihrem Buch ‘Dialektik der Aufklärung’ in Anbetracht des
unmittelbaren Eindrucks der nationalsozialistischen Verbrechen94 schon zu dem Schluss,
dass die Welt eben nicht aufgeklärt ist und nie sein wird. Den Grund sehen sie in der
fehlenden Selbstbegrenzung des Denkens. Hier zeigt sich der Ansatzpunkt Hartmut von
Hentigs.
Hentig sieht als Hauptmerkmal von Aufklärung „die ständige Prüfung des Denkens
durch Denken“ (Hentig, 1989, S. 315). Und unter Denken versteht er die folgerichtige
Beurteilung des Tatbestandes unter Berücksichtigung der sinnlichen Wahrnehmung
durch gesunde menschliche Organe und durch Gesetze der Logik. Die daraus resultierende Annahme, dass mit dem menschlichen Verstand grundsätzlich alles erreichbar
und erklärbar sei, bezeichnet er als irrational. Damit kann auch nur eine vernünftigere
und nicht eine vernünftige Welt, das Pensum der Aufklärung sein (vgl. Hentig, 1989, S.
319).
Auch Ballauff (1989) spricht im Kontext der Willentlichkeit von der Selbstbestimmung,
Mitbestimmung und Solidarität, wenn er deutlich macht, dass es das Ziel der Bildung
sein muss, dass sich das Denken selbst vom Willen befreien muss. Denn in der Willensfreiheit sieht er ein Missverständnis doppelter Art:
• Entweder setzt sie einen Willen voraus, der unabhängig von jeder anderen Instanz
sich bestimmt (angesichts von Alternativen), also auch unabhängig vom Denken, von
Einsicht oder Wissen (diese sind selbst bestimmende Instanzen) oder
• die Einsicht bestimmt, und zwar mich. Dann würde diese mir zuteil und ich denke
die Einsicht und versuche, ihr zu entsprechen. Eine andere als die Erkenntnis steht
mir dann nicht zur Verfügung, es bedarf dann nicht eines ‘Willens’. Höchstens kann
eine gewisse ‘Kraft’, eine Stärke oder Festigkeit gemeint sein, aber diese ‘wollen’
nicht, sondern sind mein Können (vgl. Ballauff, 1989, S. 56).
So gesehen bedeutet dann Selbstbestimmung, inmitten eines Kranzes von Wahlmöglichkeiten, Alternativen, Angeboten, aber auch Vorschriften, Regeln, Gesetzen, Auswahl
und Verwirklichung zu bestimmen. Dazu kommt, dass jeder Mensch in einer Gemein93
Wolfgang Klafki schlägt hier den Begriff der Solidarität vor, in dem hier genannten Sinne zu wenig
eindeutig ist. Unverfänglicher ist deshalb der Begriff der Gemeinschaftlichkeit.
94
Erstveröffentlicht wurde das Buch im Jahre 1947.
134
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
schaft lebt und nicht beanspruchen kann, allein Mensch zu sein (vgl. Abschnitt b sowie
Punkt 3 ‘Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung’).
Da aber das ‘Wollen’ der Ansicht Ballauffs genau dies will, führt es zur Selbstsucht. Im
Gegensatz dazu steht die Einsicht, die zu bedachten, begründeten, nachvollziehbaren
Aussagen, Intentionen und Projekten führt, sofern sie aus dem Gesetz der Einsicht hervorgeht (vgl. Ballauff, 1989, S. 58f).
Die pädagogische Folgerung wiederum ergibt die Unerläßlichkeit des langen Weges
vom Wollen zum Denken. Wollen muss dann der Einsicht und dem Wissen mit ihrer
Selbstkritik weichen. Dies schließt auch die Mitbestimmungsfähigkeit und die Solidarität mit ein. Ballauf betont immer wieder, dass Bildung nur deshalb immer noch thematisiert werden muss, da es Aufgabe der Erziehung und Bildung ist, „dass sie den jungen
Menschen auf den ‘rechten Weg’ bringen“ (Ballauff, 1989, S. 67). Dass es noch keine
recht verstandene praktische Umsetzung der Bildung gibt, liegt unter anderem an einem
falschen Verständnis von Selbstbestimmung, die in Wahrheit immer wieder Fremdbestimmung ist, da sich der Mensch viel zu sehr von außen lenken lässt. Diese falsch verstandene Selbstbestimmung führt dann auch zwangsläufig zu einer missverständlichen
Auffassung von Solidarität. Hier zeigt sich die enge Verknüpfung zu dem ersten Punkt
der Allgemeinbildung, umschrieben mit dem ‘gesellschaftlichen Aspekt zeitgemäßer
Bildung’: Es kann nicht die Aufgabe der Schule sein, im Sinne von Fremdbestimmung
zu sozialisieren.
Dass in dieser Arbeit die Begrifflichkeiten, wie sie Wolfgang Klafki vorschlägt (mit
Ausnahme der Solidarität), vorgezogen werden, liegt daran, dass die drei Grundfähigkeiten (in denen die anderen in der Formulierung, wie Klafki sie gewählt hat, integriert
sind) im schulischen Kontext aussagekräftiger und somit verständlicher sind als der
‘kritische Vernunftbegriff’. Gleiches gilt auch für die Abwägung gegenüber dem Begriff
der Emanzipation, der nur dann als Leitbegriff fungieren kann, wenn er in seiner ganzen
Vielfalt immer wieder ergänzt wird. Hier scheint der Begriff der Aufklärung zunächst
unverfänglicher, jedoch zeigt sich schnell, dass er in der pädagogischen Argumtentation
in so unterschiedlichen Kontexten benutzt wird, (von der historischen Epoche bis hin
zum Bereich des menschlichen Sexualverhaltens) dass er nur noch in Verbindung mit
der ‘kritischen Vernunft’ seine Klarheit behält. Mündigkeit schließlich scheint mehr und
135
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
mehr aus dem pädagogischen Vokabular zu verschwinden, so dass es fragwürdig erscheint, ob dieser Begriff die große aktuelle Brisanz des Themas auszudrücken vermag.
Ziel der Ausbildung der hier genannten Grundfähigkeiten (Kompetenzen) ist die Erlangung von Souveränität:
„Souveränität ist auf Selbstbestimmung, Selbstfindung, Selbstförderung und
Selbstbild gerichtet. Nicht der beste, schönste, klügste, sondern er ist der,
der die Maßstäbe des Menschen zur Kenntnis zu nehmen vermag, sich
demenstprechend beurteilt, der den anderen, den ‘besseren’ wie
‘schlechteren’ Menschen in der einen wie anderen Hinsicht zu würdigen
vermag und sein Streben auf Dinge zu richten weiß, die zu bewältigen
möglich sind, die Grenzen weder zu hoch noch zu tief anlegt, aber sehr
zufrieden zusein vermag, wenn er seine Grenzen ausgeschritten hat, seine
Grenzen und die Zufriedenheit auch behält, wenn andere über diese
hinauszugehen vermögen (Wessel, 1994, S. 417f).
(b)
Verständigung und Kooperation.
Die geglückte Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsfähigkeit sowie die Fähigkeit
zur Gemeinschaftlichkeit beinhalten die Fähigkeit zur Verständigung und Kooperation
zwischen den beteiligten Personen.
Verständigung meint dabei ein interaktives Verhalten, das sowohl auf mitmenschliches
Verstehen, als auch auf Interessenausgleich und Ermöglichung eines praktischen Miteinanders zielt. Das schließt die Einsicht in fremde Standpunkte, Gedanken und Meinungen mit ein, ist aber ebenso vom Bemühen getragen, anderen einen Zugang zu den
eigenen Vorstellungen zu gewähren. Somit ist Verständigung eine Grundvoraussetzung
für ein gelungenes Zusammenleben, sowohl im privaten wie im politischen Rahmen.
Kooperation meint das gemeinsame Hinarbeiten auf ein Ziel, über das man sich (ausdrücklich oder nicht ausdrücklich) im Vorhinein verständigt hat. Kooperation kann ein
wichtiges Mittel sein, um Verständigung zu vertiefen, setzt somit Verständigung voraus.
Es zeigt sich also, dass Kooperation und Verständigung in einem Wechselverhältnis
stehen, wobei Verständigung dabei die grundlegendere Bedingung ist und Kooperation
Verständigung voraussetzt. Andererseits beinhaltet eine gelungene Verständigung nicht
zwingend Kooperation.
136
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
In diesem Sinne gemeinte Verständigung und Kooperation meint von außen geschaffene
Situationen, die es Schülern nahelegen, sich auszutauschen und Probleme in gemeinsamer Arbeit anzugehen. Um dies in einer für alle befriedigenden Weise durchzuführen,
muss in den Schulen eine Unterrichtskultur geschaffen werden, die Verständigung und
Kooperation als selbstverständlich voraussetzt und auch fordert. Eine so geschaffene
Unterrichtskultur ist antinomisch zu dem Konkurrenz- und Leistungsprinzip, das Kindern und Jugendlichen aus vielen Bereichen in und außerhalb der Schule vertraut ist.
In vielen schulischen Situationen wird das Konkurrenzprinzip häufig als belebendes
Element akzeptiert, besonders dann, wenn es gelingt, Lernprozessen das Gepräge eines
sportlichen Wettstreits zu verleihen. Würde die Schule auf solche Möglichkeiten extrinsischer Motivation verzichten, würde sie sich eines wirksamen Mittels zum Anstoßen
erwünschter Lernprozesse berauben (vgl. Heymann, 1996, S. 112).
Verständigung und Kooperation, wie die Allgemeinbildung sie einschließen, bilden somit einen Gegenpol zur Überbetonung des Kokurrenzprinzips, sollen aber auch nicht so
verstanden werden, dass eine Verlagerung auf diese Merkmale zur Folge haben, dass
Schule ihres ‘eigentlichen Auftrages’ (nämlich die fachliche Instruktion der Schüler)
beraubt wird. Im Gegenteil: Verständigung und Kooperation sind Voraussetzungen dafür, dass Schüler dahingehend unterrichtet werden, wie man mit anderen zusammen
fachlich lernt.
Gerade in der Sportpädagogik erkennt man hier viele Zielsetzungen, die immer wieder
mit dem Terminus ‘soziales Lernen’ umschrieben werden (vgl. Teil C, Kap. 2.3). Die
hier, in Anlehnung an Heymann gewählte Terminologie wird aber deshalb vorgezogen,
da globale Zielsetzungen, wie sie hier angesprochen werden, gegen ideologische Vereinnahmungen nicht gefeit sind. Gerade in Bezug auf ‘soziales Lernen’ oder ‘sozialer
Kompetenz’ hob man in den sechziger und frühen siebziger Jahren eher auf Interessendurchsetzung und Auseinandersetzung unter emanzipatorischem Anspruch ab und vergaß bisweilen, dass ‘soziales Lernen’ ebenso auch Toleranz, Kompromissbereitschaft
und Willen zum Konsens mit einschließen kann. Die hier in Anlehnung an Heymann
(1996) gewählten Begriffe der ‘Verständigung und Kooperation’ sind in diesem Sinne
jedoch relativ unbelastet.
137
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Inhaltlich vereinigen die Begriffe der ‘Verständigung und Kooperation’ ein Bündel von
Kompetenzen, die in Anlehnung an Harm Prior (1976, S. 83ff) unter folgende ‘Richtzielen’ subsumiert werden können, wohlwissend, dass sie nicht nur in der Pädagogik,
sondern auch in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (zum Teil mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten) gängig sind: Identität, Toleranz, Kooperation, Kritik,
Solidarität, Sensibilität und Sprache. Wenn der Begriff der Solidarität, der ja schon als
eine wesentliche Grundfähigkeit dargestellt wurde, hier noch einmal auftaucht, so macht
das die enge Verknüpfung zwischen individuellen Grundfähigkeiten und dem Leben in
der Gemeinschaft deutlich, die untrennbar miteinander verbunden sind. Darüber hinaus
wird der Begriff der Solidarität in diesem Zusammenhang noch einmal erweitert. Diese
Verbundenheit verstärkt sich dann noch durch die Begrifflichkeiten der Kooperation
und Identität.
Die Richtziele dienen sowohl als basale Qualifikationen und sind zugleich Grundbedürfnisse menschlichen Sozialverhaltens. Aus diesem Grunde sind sie auch als Leitkategorien des sozialen Lernens anzusehen, das Ziel ist die Ausbildung einer umfassenden
Sozialkompetenz. Auffallend ist, dass diese Leitkategorien sowohl in den 70er Jahren
als auch in dem 1994 erschienen Bericht der Arbeitsgruppe Bildungswesen des MaxPlanck-Instituts für Bildungsforschung [MPI] und den 1995 erschienenen Empfehlungen der Bildungskommission NRW (vgl. Teil A, Kap. 5) angemahnt werden, was zum
einen ein Indiz der ständigen Aktualität anzeigt, zum anderen deutlich macht, dass es in
diesem Bereich in der heutigen Schule immer noch einen erheblichen Nachholbedarf
gibt.
Identität95 meint dabei die Übereinstimmung des Menschen mit seinen individuellen
Fähigkeiten und Wünschen, seinem Willen und Handeln, mit seiner Umwelt und Gesellschaft, ihren Anforderungen und Erwartungen. Identität ist demnach das Ergebnis
eines Prozesses der Anpassung und Auseinandersetzung zwischen Individuum, Umwelt96 und Gesellschaft. Das Ergebnis bleibt aber immer unsicher und muss lebenslänglich fortgeschrieben werden. Krise und Veränderung von Identität sind normal, denn
diese Dialektik bestimmt die Identität. Schulische Lernkompetenzen verlangen die Ent-
95
An dieser Stelle soll nicht auf die Unterscheidungen zwischen persönlicher und sozialer Identität unterschieden werden, wie es etwa Goffmann (1967) oder Habermas (1968) getan haben.
96
Unter Umwelt werden hier die Bezugspersonen, sowie die Primär- und Sekundärgruppen einschließlich
ihrer materiellen Bedingungen und Normen verstanden.
138
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
wicklung von Identität in Lernarrangements mit wachsender Eigenverantwortlichkeit
der Schüler (vgl. MPI, 1994, S. 37ff; Bildungskommission NRW, 1995, S. 80ff).
Toleranz bedeutet die Entschlossenheit, die Meinung anderer Personen und Gruppen
gelten zu lassen. Voraussetzung für Toleranz ist der Besitz eines eigenen Standpunktes.
Entscheidend ist, dass Toleranz ein aktives Verhalten ist, das eingeübt werden muss
(vgl. Drechsler, Hilligen & Neumann, 1992, S. 462).
Kooperation97 ist darum bemüht, die Schüler zur gegenseitigen Zusammenarbeit anzuregen. Zentraler Bezugspunkt ist der Aspekt der Arbeit und von Bedeutung ist, dass ein
Produkt gemeinsam erstellt wird. Die Bildungskommission NRW spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Kooperationsfähigkeit zu einer Schlüsselqualifikation in der
Schule werden muss (vgl. Deutscher Bildungsrat, 1970; Bildungskommission NRW,
1995, S. 52ff).
Kritik ist die Fähigkeit zu unterscheiden und zu urteilen. Dabei ist nicht die Negation
gemeint, sondern das Sichtbarmachen von Zusammenhängen. Korrespondierende Begriffe sind Konfliktfähigkeit oder Kreativität. Wichtig ist, dass Kritik immer auf Realitätsbewusstsein basiert, das heißt, sie soll sich an der Realität messen, kann aber an utopischen Vorstellungen orientiert sein, solange sie das Machbare nicht aus den Augen
verliert. Kritik sollte immer die Überzeugung der Lernfähigkeit in sich bergen, das bezieht sich sowohl auf die eigene als auch auf die Lernfähigkeit des jeweils anderen.
Schließlich setzt Kritikfähigkeit ein bestimmtes Maß an Rationalität voraus (vgl. MPI,
1994, S. 390ff; Bildungskommission NRW, 1995, S. 33ff).
Solidarität in Gruppen geht nicht von gefühlsmäßigen oder natürlichen Bindungen der
Beteiligten aus, sondern von gemeinsamen Interessen. Sich mit jemanden zu solidarisieren meint, dass man gemeinsame Ziele bejaht, aber nicht alles billigt, was die Gruppe
unternimmt (vgl. Drechsler, Hilligen & Neumann, 1992, S. 414). Neben diesem hier
beschriebenen Außenaspekt der Solidarität ist der Binnenaspekt von gleicher Wichtigkeit: Er darf nicht gekennzeichnet sein durch hierarchische Strukturen. Solidarische
Gruppen müssen gewissermaßen den Zustand schon vorwegnehmen, den sie erreichen
wollen (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. 81).
97
Kooperation kann weiterhin in zwei verschiedene Aspekte unterschieden werden, einen individuellsozialen und einen technischen. Der individuell soziale Aspekt beinhaltet die Fähigkeit auf andere einzugehen, eigene Schwächen zuzugeben, konstruktive Kritik üben zu können usw.. Der technische Aspekt
bezieht sich auf die Fähigkeit zur Spezifisierung verschiedener Arbeitsschritte, die Fähigkeit zur Materialbeschaffung und die Fähigkeit des Zusammenfügens einzelner Arbeitsschritte zu einem Gesamtprodukt.
139
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Sensibilität meint die Empfänglichkeit für soziale Reize (eigenes und fremdes Sozialverhalten, soziale Beziehungen, soziale Probleme, ...) und die Bereitschaft zum sozialen
Engagement. Somit bezieht sich Sensibilität auf „die sozialen Konsequenzen der
Handlungen, auf die Motive und Probleme anderer Personen (Empathie) und auf die
Abweichungen zwischen Normen und beobachtetem Verhalten“ (Fend, 1971, S. 44).
Sensibilität zeigt sich innerhalb eines sozialen Geschehens dreifach: 1. als vorausschauende soziale Phantasie, 2. als Einfühlungsvermögen innerhalb der Interaktion, 3. als
nachfolgende Reflexion des Verhaltens (vgl. MPI, 1994, S. 58).
Sprache schließlich in dem hier erwähnten Zusammenhang zu nennen, erscheint zunächst paradox. Da jedoch gemeinsame Sprache die Voraussetzung für ein gemeinsames
Handeln in der Schule ist, beeinflusst sie maßgeblich die Wahrnehmung und das Denken. Das Fehlen einer sozialen Sprache führt zu einem Mangel an sozialer Wahrnehmung. Das heißt, dass problemlösendes Denken nur unzureichend ausgebildet wird (vgl.
Roth, 1971, S. 398). Sprache strebt die planmäßige Einübung und Anwendung der
(sprachlichen) Kommunikation für den Bereich des Sozialen an. Es geht darum, Gefühle
und Meinungen ausdrücken zu können, begrifflich zutreffend und verständlich artikulieren zu können, die Wirkung der Sprache zu kennen und mit anderen kommunizieren zu
können, anstatt an ihnen vorbei. Die Bildungskommission NRW schlägt aus diesem
Grunde Sprache als eine von sieben Lerndimensionen vor, die die Identitätsbildung der
Schüler fördern soll und insbesondere als Medium der Verständigung in ihrer vollen
Tragweite in der Schule bisher vernachlässigt wurde (vgl. MPI, 1994, S. 388ff; Bildungskommission NRW, 1995, S. 107ff).
Natürlich erkennt man in diesem Punkt viele in anderen Zusammenhängen bereits angesprochene Forderungen. Wenn auch an der einen oder anderen Stelle der Verdacht der
Wiederholung aufkommen sollte, ist dies lediglich ein Indiz für die enge Verwobenheit
der Kompetenzen, die in ihrer Gesamtheit den allgemein gebildeten Menschen ausmachen.
(3)
Die Bedeutungsmomente der ‘Allgemeinbildung’.
Neben der begrifflichen Unterscheidung, die sich zwischen Bildung und Allgemeinbildung zunächst als Frage stellt (vgl. Teil B, Kap. 1.1), gilt es, die Bedeutungsmomente
der Allgemeinbildung näher zu bestimmen, um auch hier aufkommende Unklarheiten
besser begegnen zu können.
140
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
(a)
Dreifache Bestimmung.
Zunächst kann in Anlehnung an Wolfgang Klafki Allgemeinbildung in dreifachem Sinn
bestimmt werden (vgl. Klafki, 1996, S. 53):
1. Allgemeinbildung als Bildung für alle
2. Allgemeinbildung als kosmische Verantwortung
3. Allgemeinbildung unter der Bedingung der Mehrdimensionalität des Menschen
1. Allgemeinbildung als Bildung für alle.
Bildung muss, wenn sie als demokratisches Bürgerrecht anerkannt werden soll, Bildung
für alle sein. Hierin verbergen sich zwei Bedeutungsmomente: ein inhaltliches und ein
organisatorisches.
Nimmt man sich zunächst den organisatorischen Maßnahmen an, zeigt sich, dass auch
in diesem Bereich immer wieder für die Demokratisierung gekämpft werden muss. Das
ist schon alleine deshalb notwendig, weil ein Allgemeinbildungskonzept, beruhend auf
den Ideen der Bildungsklassiker und basierend auf der demokratischen Grundordnung
der Bundesrepublik Deutschland nicht von seinen organisatorischen Realisierungsbedingungen abgekoppelt werden kann. In dieser Arbeit soll es nicht darum gehen, Grundforderungen für schulorganisatorische Maßnahmen zu stellen. Vielmehr sollen aus dem
Allgemeinbildungskonzept Folgerungen für den Fachunterricht gezogen werden. Aus
diesen Gründen wird dieser Punkt nur insofern Berücksichtigung finden, als dass seine
prinzipielle Wichtigkeit als Teil der Allgemeinbildung hier genannt wird. Zu organisatorischen Maßnahmen, insofern sie in der hier behandelten Thematik relevant werden,
wird dann Stellung bezogen, wenn die dazu notwendigen Ausführungen hinreichend
vollzogen sind (vgl. Teil C, Kap. 2.4).
2. Allgemeinbildung als kosmische Verantwortung.
Allgemeinbildung muss neben der Befähigung zur vernünftigen Selbstbestimmung, der
Befähigung zur Gemeinschaftlichkeit sowie den inhaltlichen und organisatorischen
Momenten auch solche Themen aufweisen, die „die Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlichen Gegenwart
und der sich abzeichnenden Zukunft und als Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen, Gefahren“ beinhalten (Klafki, 1996, S. 53). Die Auseinandersetzung mit in der Geschichte bereits entwickelten Denkergebnissen ist hier ebenso
141
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
enthalten, wie die Tatsache, dass das in diesem Zusammenhang gemeinte Allgemeine
weit über eine nationale oder eurozentristische Begrenzung hinausgeht. Insofern ist
hierunter die Bildung im Medium des Allgemeinen zu verstehen.
Aber auch (oder gerade) im Kleinen (das muss die moderne Schule berücksichtigen) gilt
es die bereits geforderte Selbstbestimmung und Individualität in einen Zusammenhang
mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu bringen.
Der Mensch ist nicht nur ein Individuum mit eigener Lebensgeschichte, deren spezifische Ausprägung aus Interaktion und Erfahrung resultiert, sondern auch ein Exemplar
seiner Gattung und somit in gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet (vgl.
Hurrelmann, 1991; vgl. Punkt 2a dieses Kapitels). Allgemeinbildung berücksichtigt
neben der individuellen auch die gesellschaftliche Komponente und geht sogar noch
einen Schritt weiter. Ballauff (1989, S. 93) spricht in Anlehnung an Jonas (1984) von
einer kosmischen Verantwortung, von der der Mensch in Anspruch genommen wird.
Es geht ihm darum, dass der Mensch nicht nur sich selbst und die Gesellschaft ins Auge
fasst, sondern ebenso dem ‘Kosmos’ entsprechen muss.
„Heute sind wir auf eine kosmische Verantwortung in Anspruch genommen;
sie zeichnet ein Ermessen vor, das sowohl jenen Entdeckungen98 gerecht
wird als auch jener Zweiseitigkeit, nicht nur uns Menschen, unsere
Gesellschaft ins Auge zu fassen, sondern ebenso dem Kosmos, dem wir
entsprechen müssen (Ballauff, 1989, S. 93).
Als Beispiele nennt er in diesem Zusammenhang etwa den Tierschutz, der versucht,
jeder Tierart einen angemessenen Lebensraum zu bewahren oder auch den Umweltschutz, der in übertragenem Sinne ähnliches versucht (vgl. Teil C, Kap. 2.3). In Rückbesinnung auf Kant würde das bedeuten, dass jeder Mensch seine Maxime daraufhin überprüfen muss, dass sie eine wie auch immer gestaltete Freigabe von Sachen, Wesen,
Mitmenschen, Verhältnissen die Konstitution eines Kosmos gewährleistet, in der sowohl die Selbständigkeit im Denken gewahrt wird als auch die größtmögliche Freisetzung dessen, was sein kann.
Eine solche Verantwortung setzt jedoch nicht erst in größeren Zusammenhängen ein:
98
Gemeint ist die Entdeckung der Individualität und Singularität des Menschen, die Ballauff als ‘entdekkende Einsicht’ aus dem 18. und 19. Jahrhundert bezeichnet.
142
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
„In jeder noch so kleinen Tat, in jedem Wort, in jeder alltäglichen
Verrichtung stehen wir in kosmischen Bezug, sind wir verantwortlich für
Ordnung und Gestaltung des Ganzen, für Zusammenhang und Verhältnis
eines jeden, das ist oder wird, im und zum Ganzen“ (Ballauff, 1989, S. 95).
In Bezug auf schulische Vermittlung einer solchen ‘kosmischen Verantwortung’ zeigen
sich hier bereits deutliche Schwierigkeiten, denn bei einer in diesem Sinne praktizierten
Pädagogik werden Rede, Werk und Tat die Verantwortung übernehmen müssen (vgl.
Ballauff, 1989, S. 95). Sie können nicht Gewinn, Anerkennung und Rückerstattung von
außen einkalkulieren, was, wie sich noch zeigen wird, ein wesentliches Merkmal schulischer Selektion darstellt (vgl. Teil B, Kap. 2).
3. Allgemeinbildung unter der Bedingung der Mehrdimensionalität des Menschen.
In diesem Zusammenhang wird auch ein Komplex angesprochen, dessen historischer
Hintergrund das Kanonproblem bildet. Lässt man nämlich die Fragen der Schulstruktur
einmal außer Acht, dann wird die Arbeit im Klassenzimmer (und mit ihr der Lehrplan)
zum entscheidenden Faktor. Nimmt man die bisher gemachten Überlegungen als Voraussetzung für inhaltliche Überlegungen, so kommt es jetzt nicht mehr nur darauf an,
‘Alles’ zu lehren, sondern auch, ‘Alle in Allem zu bilden’. Deshalb wird die Reflexion
von Inhalten notwendig, die geeignet sind, dem Bildungsauftrag gerecht zu werden (vgl.
Teil C, Kap. 2.4).
„Hier liegt auch die Problematik des Allgemeinen: Unter den Bedingungen
einer fachlich gegliederten Schule, strukturiert von Berechtigungen und
professionellen Erwartungen, modifiziert sich dieses Allgemeine der
Allgemeinbildung dann aber bald zu einem Kanon, in dem lokale
Traditionen der Schule und alte Überlieferungen, die neue Struktur der
Wissenschaften und die Rückwirkungen der Abiturprüfungen einen schwer
entwirrbaren Kompromiß eingehen“ (Tenorth, 1986, S. 20f).
Es wird immer Uneinigkeit darüber geben, welche Inhalte schulische Relevanz haben
und auf welche im Zuge von notwendigen Beschränkungen verzichtet werden muss.
Zunächst einmal liegt der Schluss nahe, dass man bei der Frage, an welchen Inhalten
und auf welche Weise der bisher skizzierten Bildungsidee nachgegangen werden soll,
gegenüber dem herkömmlichen Bildungskanon Skepsis anmelden muss, da er Bildungsinhalte fein sortiert, aber häufig lebensfern anbietet.
143
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Hentig sagte bereits in den sechziger Jahren:
„Die Lernziele der Bildung sind nicht mehr nach den alten Einteilungen und
Disziplinen zu bestimmen, sondern nur noch nach den Aufgaben, die sich
aus der Notwendigkeit ergeben, mit jenen (gesellschaftlich bestimmten)
Veränderungen fertig zu werden“ (Hentig, 1968, S. 105).
Und auch Wolfgang Klafki meldete bereits 1969 Bedenken gegen die gängige Praxis an,
Lernziele aus Fragestellungen, Methoden und Resultaten unreflektiert abzuleiten. Für
ihn war nicht ausreichend geklärt, welchen Zusammenhang die einzelnen Fächer und
ihre Lernziele zueinander im Rahmen eines Gesamtcurriculums haben. Er folgerte aus
diesen ungeklärten Zusammenhängen, dass der Wert eines Lernziels letztlich daran gemessen wird, inwieweit es innerhalb des organisierten Lernprozesses dazu beiträgt, „die
Fähigkeit des Schülers zur Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und sein Selbstverständnis und seine Handlungsfähigkeit in der jeweiligen historischen Situation zu
fördern“ (Bönsch 1994, S. 33 zitiert nach Klafki 1969).
Manfred Bönsch kommt 25 Jahre später zu dem ernüchternden Schluss, dass ein
Haupthindernis der verfestigte und kaum aufzubrechende Fächerkanon ist, „der quasi
naturgesetzlich herrscht“ (Bönsch, 1994, S. 33).
Es ist bereits deutlich geworden, dass sich Allgemeinbildung insbesondere auf die Herausbildung von Kompetenzen bezieht. Die Inhalte, die gewählt werden, um die jungen
Menschen mit den geforderten Kompetenzen auszustatten, sind in diesem Zusammenhang zunächst einmal von untergeordneter Bedeutung. Dazu kommt, dass die bereits
erwähnte gegenwärtige Transformation der Industriegesellschaft in eine Informationsgesellschaft gesellschaftliche Entwicklungen bereit hält, die derzeit nicht abzusehen sind.
(b)
Epochaltypische Schlüsselprobleme.
Eine zeitgemäße Schule wird aber immer die Aufgabe haben, gemeinsame aktuelle Frage- und Problemstellungen aufzugreifen. Entgegen der starren Inhalte geht Wolfgang
Klafki von einer notwendigen Fokussierung auf epochaltypische Schlüsselprobleme aus.
144
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Die Beschäftigung mit solchen Schlüsselproblemen hilft den Menschen, problemsichtig
zu werden und ein differenziertes Problembewusstsein zu gewinnen. Das wird nach
Klafkis Ansicht dadurch erreicht, dass jeweils einige historische Wurzeln solcher Probleme aufgedeckt und dazu einige zentrale und unterschiedliche Lösungsvorschläge mit
den dahinterstehenden Interessen aufgeklärt, sowie die emotionale Ansprechbarkeit und
erste Handlungserfahrungen entwickelt werden (Klafki, 1996, S. 62). Wichtig dabei ist,
dass es sich um Strukturprobleme von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung handelt. Dabei geht es nicht um die Festlegung auf eine einzige Sichtweise, was ja auch nicht vereinbar mit den bisher erläuterten Merkmalen der Allgemeinbildung wäre.
Eine weitere Erläuterung hat für Wolfgang Klafki gleich hohes Gewicht: Der Vorschlag,
die Konzentration auf Schlüsselprobleme als eines der Zentren eines Allgemeinbildungskonzeptes anzuerkennen, setzt voraus, dass ein weitgehender Konsens über die
gravierende Bedeutung solcher Probleme erreicht werden kann, nicht aber, dass damit
gleichzeitig die Wege zur Problemlösung schon vorgezeichnet sind. Vielmehr ist er der
Ansicht, dass es, je nach unterschiedlichen ökonomisch-gesellschaftlich-politischen
Interessen auch verschiedene Antworten gibt. Daraus lässt sich wiederum nicht die
Gleichwertigkeit aller Antworten schließen. Diese müssen mit Hilfe verschiedener Kriterien einander gegenübergestellt werden, die das Allgemeinbildungskonzept durch seine Bestimmungsmomente bereitstellt (vgl. Klafki, 1996, S. 60ff).
Ein vollständiger Aufriss solcher Schlüsselprobleme kann aus zweierlei Gründen nicht
das Ziel schulischer Vermittlung sein: Zum einen wäre zu jedem Zeitpunkt eine fundierte Theorie des gegenwärtigen Zeitalters erforderlich, die nur unvollständig ausfallen
kann. Zum anderen soll die Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen an exemplarischen Beispielen die Aneignung von Einstellungen und Fähigkeiten fördern, die weit
über das spezifische Beispiel hinausgehen. Klafki hebt vier grundlegende Einstellungen
und Fähigkeiten heraus, die jeweils inhaltsbezogene und kommunikationsbezogene
Komponenten enthalten (vgl. Klafki, 1996, S. 63f):
1. Kritikbereitschaft und -fähigkeit einschließlich der Selbstkritik, in dem Sinne, dass
ein bisher entwickelter Standpunkt für die weitere Prüfung offengehalten wird.
2. Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit, in dem Sinne, dass eigene Positionen und
eigene Kritik so in den Zusammenhang eines Gesprächs eingebracht wird, dass den
Gesprächspartnern Verstehen und kritische Prüfung ermöglicht wird.
145
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
3. Empathie in dem Sinne, dass man fähig wird, ein Problem aus der Lage des jeweils
anderen sehen zu können.
4. Vernetztes Denken in dem Sinne, dass hinsichtlich globaler gesellschaftlicher Probleme ein auf die eigenen Fächergrenzen beschränktes Denken nicht mehr hilfreich
sein kann.
Die hier geforderten Fähigkeiten lassen erkennen, dass Bildung im Medium des Allgemeinen nicht nur kognitive Ansprüche stellt, sondern dass es auch darum geht, emotionale Erfahrungen und Betroffenheit zu ermöglichen, zum Ausdruck zu bringen und zu
reflektieren und die moralische und politische Verantwortlichkeit, Entscheidungs- und
Handlungsfähigkeit anzusprechen (vgl. Klafki, 1996, S. 65).
Dass der von Wolfgang Klafki gemachte Vorschlag einer Fokussierung auf epochaltypische Schlüsselprobleme von großer Reichweite ist, zeigt sich zunächst einmal darin,
dass diese in der aktuellen Curriculumsdiskussion immer wieder aufgegriffen wird. In
den Empfehlungen der Bildungskommission Nordrhein-Westfalen nehmen sie eine
ebenso zentrale Stellung ein, wie in aktuellen Veröffentlichungen, die sich mit dem
Thema der 'Bildung in einer veränderten Welt’99 beschäftigen.
Dazu kommt, dass eine solche Schwerpunktsetzung verschiedene Ansätze zeitgemäßer
Bildung vereinigt, die allesamt auf Verpflichtungen hinweisen, die ein in der heutigen
Zeit gebildeter Mensch als Wissender, Wahrnehmender für sich und andere eingehen
muss. Als Beispiele solcher Ansätze sollen an dieser Stelle etwa das Konzept des innovativen Lernens, vorgestellt vom Club of Rome im dem Jahre 1980100, die ‘Pädagogik
im Atomzeitalter’ der Freiburger Pädagogen Kern und Wittig aus dem Jahre 1982101
oder die Ökologische Ethik des Göttinger Philosophen Patzig102 angeführt werden.
Schließlich soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass es durchaus auch kritische Stimmen gegen das Konzept der Schlüsselprobleme gibt, wie die Kritik Hermann
Gieseckes in der NEUEN SAMMLUNG und der postwendenden Kritik zur Kritik der
Jahre 1997 und 1998 zeigen (vgl. Giesecke 1997; Klafki, 1998). Diese Diskussion soll
99
Siehe hierzu beispielsweise Hentig, 1993; Zöpfl, 1994; Wiater, 1994; Bönsch, 1994; Struck, 1995;
Thurn, 1997; u.a.
100
Siehe hierzu auch das Herausgeberwerk von A. Peccei (1983). Der Weg ins 21. Jahrhundert. Bericht
für den Club of Rome. München: Molden & Seewald.
101
Siehe hierzu Kern P. & Wittig H. G. (1982). Pädagogik im Atomzeitalter. Freiburg: Herder.
146
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
hier nicht aufgegriffen und nur soweit kommentiert werden, als dass sich Wolfgang
Klafki als einer der wenigen Pädagogen auszeichnet, der sein Konzept explizit als kritisch-konstruktiv bezeichnet und somit seine grundsätzliche Offenheit für dynamische
gesellschaftliche Prozesse zeigt.
(c)
Allgemeinbildung unter der Bedingung der Mehrdimensionalität des
Menschen.
Allgemeinbildung zeichnet sich, wie bereits näher erläutert, durch ihr Verhältnis zum
Ganzen aus. Wissen als Ganzes, nach außen hin sichtbar durch erkennendes und ermessendes Denken ist jedoch mehr als die exemplarische Behandlung von epochalen
Schlüsselproblemen.
„Überdies ist jene Konzentration auf Schlüsselprobleme mit Anspannungen,
Belastungen, Anforderungen intellektueller, emotionaler und moralischpolitischer Art verbunden, die nicht zuletzt auch für junge Menschen zur
Überforderung und zur Einschränkung ihrer gegenwärtigen und zukünftigen
Möglichkeiten werden könnten, wenn sie Bildungsprozesse ausschließlich
bestimmen würden“ (Klafki, 1996, S. 69).
Es bedarf also noch einer Ergänzung von Bildungsdimensionen, deren Inhalte sich nicht
durch ihren Beitrag der Auseinandersetzung mit zentralen Zeitproblemen auszeichnen.
Vielmehr zielen diese auf die Mehrdimensionalität menschlicher Aktivität und Rezeptivität ab: auf die Entwicklung seiner kognitiven, emotionalen, ästhetischen, sozialen,
praktisch-technischen Fähigkeiten sowie seiner Möglichkeiten, das eigene Leben an
individuell wählbaren ethischen und/oder religiösen Sinndeutungen zu orientieren.
Gerade in der individuellen Dimension des Menschen und seiner personalen Verfassung
liegt die Begründung der Anthropologie. Anthropologie bedeutet zunächst das Wissen
über sich selbst, besser wäre es wahrscheinlich zu sagen: das Nachdenken des Menschen
über sich selbst, weil der Prozess des Nachdenkens offensichtlich genauso wichtig ist
wie dessen Ergebnis. Ein solches grundsätzliches Nachdenken beeinflusst den Menschen nicht nur in dem, was er tut, sondern existentiell in dem, was er ist (vgl. Teil C,
Kap. 1).
102
Siehe hierzu Patzig G. (1983). Ökologische Ethik - innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht.
147
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Für die Pädagogik stellt sich nun die schwierige Frage, wie man jemanden von außen
her so beeinflussen kann, dass er nach und nach - unabhängig von jedweder Fremdhilfe
- Selbständigkeit zu demonstrieren imstande ist; wobei diese Selbständigkeit jedoch
nicht Internalisierung bedeuten darf, sondern dem Anspruch der Aufklärung nach denkerischer Radikalität - bis zu den ‘Wurzeln’ hinab selbständig - gerecht werden soll
(vgl. Geißler, 1994, S. 46ff).
Es wird deutlich, dass es sich hier prinzipiell um Zugänge aller Arten menschlicher Existenz handelt. Klafki trifft diesbezüglich folgende Unterscheidungen:
• der lustvolle und verantwortliche Umgang mit dem eigenen Leib,
• die kognitiven Möglichkeiten des Menschen,
• die handwerklich-technische und hauswirtschaftliche Produktivität,
• die Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungsmöglichkeiten,
• die ästhetischen Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Urteilsfähigkeit,
• sowie die ethische und politische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit (vgl. Klafki, 1996, S. 54).
Diese inhaltliche Bestimmung ergänzt zum einen die terminologische Unterscheidung
zwischen dem Allgemeinbildungsbegriff und dem Bildungsbegriff und zeigt wiederum
die große Bandbreite dessen auf, was Allgemeinbildung einschließt.
Eine zentrale Forderung der Thematisierung solcher Grunddimensionen menschlicher
Interessen und Fähigkeiten ist das Lernen zu lernen, um es den jungen Menschen zu
ermöglichen, in einer Welt, deren Erkenntnisbestände, Anforderungen, Chancen und
Gefahren sich schnell wandeln, selbständig oder mit fremder Hilfe immer neue Lernprozesse zu vollziehen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, wie bereits in den historischen
Grundlegungen deutlich geworden ist (vgl. Teil A).
‘Lernen lernen’ meint in diesem Zusammenhang:
1. Offenheit dafür zu gewinnen, neue Erfahrungen machen zu können und zu wollen,
die das bisherige Wissen erweitern und in Frage stellen,
2. Grundkategorien zu gewinnen, in deren Spur neue an Erfahrungen angelehnte Fragen
gestellt werden können (Wie kommt das? Wie wird das begründet?),
3. die Bereitschaft zu erlernen, neue Informationen einzuholen und zu verarbeiten.
Dieses Vielseitigkeitsprinzip führt zu einer Konsequenz, die Wolfgang Klafki als
Aspektverknüpfung bezeichnet:
148
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
„In den pädagogisch vermittelten Lernprozessen müßten kognitive
Anforderungen und kognitive Förderung verbunden werden mit sozialem,
mit kooperativem Lernen, ästhetische Gestaltung und Rezeption mit der
Reflexion über ihre Voraussetzungen und Wirkungen. Praktischhandwerkliches Gestalten bzw. technisches Handeln und Konstruieren
müßte in produktive Wechselbeziehung zum Entdecken und Begreifen der
zugrundeliegenden
naturwissenschaftlichen
und
technologischen
Gesetzmäßigkeiten und zur Einsicht in ihre Funktion in den
außerschulischen Produktionsverhältnissen gebracht werden. Berufliche
Grundbildung muß verknüpft werden mit der Aufklärung der
ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen
beruflicher Tätigkeiten, der Bedeutung des Berufs für die Ausbildung der
personalen Identität und der Beziehungen zwischen beruflicher Arbeit und
Freizeit“ (Klafki, 1996, S. 72).
(4)
Lebenslanges Lernen.
Als ein Fazit dessen, was in den bisher genannten Punkten gesagt wurde, kann gelten,
dass Allgemeinbildung weit über die Spanne der Schulzeit hinausgeht.
Im Unterschied zur früheren Beschränkung auf das Kindes- und Jugendalter werden
heute immer mehr Lernerfordernisse nicht nur für das mittlere, sondern auch auf das
späte Erwachsenenalter formuliert. In diesem Sinne fordert die Denkschrift der Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’, dass Bildung und Lernen, wollen
sie die Menschen dazu fähig machen, den Veränderungen, welche die gesellschaftliche
Entwicklung mit sich bringt, gewachsen zu sein, sich nicht auf die Kindheit und Jugendzeit beschränken können. Auch kann es dabei nicht um eine funktionale Anpassung
gehen, sondern es sind im schulischen Rahmen Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung und selbstverantworteten Lebensgestaltung zu schaffen (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. 56).
Lebenslanges Lernen gehört an der Schwelle zum dritten Jahrtausend zu den herausragenden bildungspolitischen Schwerpunkten - national und international.
„Die große Bedeutung des Themas wird auch daran deutlich, dass die
Europäische Union und die OECD sich dieser Sache besonders annehmen
wollen. Auf Beschluß des Europäischen Rates veranstaltet die Europäische
Union 1996 das ‘Europäische Jahr des lebensbegleitenden Lernens’. Eine
Bildungsminsiterkonferenz der OECD im Januar 1996 befaßt sich
ausschließlich mit dem Thema ‘lifelong learning’ (Boppel, 1996, S. 7).
149
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Ein gültiges Allgemeinbildungskonzept hat der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die
‘spürbare Entkonventionalisierung in allen Lebensbereichen der Gesellschaft’ (vgl. Bildungskommission NRW, 1995, S. 56) dazu herausfordert, die herkömmlichen Orientierungsmuster, Normen und Werte auf ihre Gültigkeit zu überprüfen und daraus neue
Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die dann wieder einem Wandlungsprozess unterliegen. In einer Welt des Wandels wird es für die Menschen zunehmend wichtig, immer wieder neue Qualifikationen aufbauen zu können. Dies jedoch erfordert die Fähigkeit und Bereitschaft, Lernkompetenz in einem lebenslangen Prozess kontinuierlich und
selbständig zu aktivieren. Gerade die gegenwärtige Transformation der Industriegesellschaft in eine Informationsgesellschaft (oder Risikogesellschaft) hat zur Folge, dass bisherige, als sicher vermutete Wissens-, Kenntnis- und Fähigkeitsbestände überdacht, verändert und weiterentwickelt werden müssen und völlig neue Befähigungen hinzukommen. Die Denkschrift der Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’ sieht
in der Möglichkeit, lebenslang weiterlernen zu können, nicht nur eine berufliche Notwendigkeit, sondern auch ein Zeichen der Demokratisierung von Bildungsmöglichkeiten, denn so verstandenes lebenslanges Lernen setzt Bildungsentscheidungen des einzelnen voraus und damit auch die Befähigung, sie zu treffen (vgl. Bildungskommission
NRW, 1995, S. 56f).
In diesem Sinne bezeichnet Nipkow Bildung als ‘Lebensbegleitung’, wenn er davon
spricht, dass es sich hierbei um einen auf den gesamten Lebensweg bezogenen Prozess
handeln muss, bei dem die Freiheit und Würde der Person respektiert und diese vor
fremdbestimmtem Verfügenwollen bewahrt wird (vgl. Nipkow, 1990, S. 603f). Für
Loch schließlich zeigen sich die Wurzeln für das lebenslange Lernen in der Erziehung:
„Umgekehrt hat die Erziehung, die einem Menschen widerfährt, mehr oder
weniger Einfluß darauf, welche Bedeutung sein Lebenslauf für ihn erhält,
welche Lebensziele man ihm als sinnvoll bezeichnet, welche
Lebensmöglichkeiten ihm eröffnet und welche ihm zunächst damit
verschlossen werden. Denn es gehört zu den grundlegenden Aufgaben der
Erziehung, dem Individuum für seine Bildung Lebensbezüge zu vermitteln,
die in der Gesellschaft für den Nachwuchs als bedeutsam gelten und einen
produktiven und befriedigenden Lebenslauf versprechen [...]. Die Absichten
erzieherischen Verhaltens gewinnen oder verlieren ihren Sinn mit den
Wirkungen, die sie in den Lebensläufen der erzogenen Individuen haben. In
dieser sozialen Hinsicht muß der Zusammenhang von Lebenslauf und
Erziehung pädagogisch verantwortet werden“ (Loch, 1979, S. 13f).
150
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Eine wichtige Erziehungsinstanz ist ohne Zweifel die Schule, die damit auch im Bereich
des lebenslangen Lernens eine gewichtige Rolle spielt. Diese muss jedoch die individuellen Selbstgestaltungsmöglichkeiten berücksichtigen, das heißt, den jungen Menschen
dabei behilflich sein, eigene biographische Entscheidungen treffen zu können. Unter
diesem Aspekt kann das Ziel schulischer Allgemeinbildung nur sein, den Schülern die
Einsicht zu vermitteln, dass solche Entscheidungen nie endgültig sind. Vielmehr handelt
es sich hierbei um eine Lebensaufgabe, denn zu sehr erneuert sich ständig das gesellschaftliche Wissen, zu schnell wandeln sich Anforderungen und Situationen (vgl.
Bönsch, 1994, S. 36).
„Schulausbildung, Aus- und Weiterbildung müssen im Lebenszyklus neu
gewichtet werden. Schulische Bildungsgänge müssen sich mehr als bisher
auf die Entwicklung von elementaren Fähigkeiten und Grundkompetenzen
beschränken und vor allem die Motivation zum ‘Lebenslangen Lernen’
fördern“ (Boppel, 1996, S. 7).
Klafkis Forderung nach der Thematisierung epochaler Schlüsselprobleme und ihrer exemplarischen Eigenschaften zeigt an, dass Menschen über Qualifikationen verfügen
sollten, die es gestatten, auch in Zukunft handlungsfähig zu bleiben, selbst wenn sich
neue praktische Probleme auftun, die heute noch nicht abzusehen sind. Schließlich ist
für ihn Allgemeinbildung „die Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden
Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlichen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft und als Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen, Gefahren“ (Klafki, 1996, S. 53).
Hier spiegelt sich auch das wieder, was Heymann anspricht, wenn er von der Notwendigkeit spricht, dass Schule kulturelle Kohärenz103 zu stiften hat und damit meint, dass
die Frage nicht lauten kann, ob der Schule eine kulturtradierende Aufgabe zukommt,
sondern wie sie diese Funktion zeitgemäß erfüllt, da Innovation ohne Tradition genauso
zum Scheitern verurteilt ist, wie Tradition ohne Innovation.
Auch Dohmen ist der Überzeugung, dass die zentrale Frage heute nicht mehr die nach
dem Warum lebenslangen Lernens sein kann, sondern nach dem Wie. Dabei erkennt er
103
Was kulturelle Kohärenz hier (in Kürze) meint, hat Leo Kolakowski (1970), der die Dialektik von
Tradition und Fortschritt einprägsam auf den Punkt gebracht hat: „Erstens, hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition rebelliert, würden wir heute noch in Höhlen leben; zweitens, wenn die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell würde, werden wir uns wieder in
Höhlen befinden. Der Kult der Tradition und der Widerstand gegen die Tradition sind gleichermaßen
unentbehrlich für das gesellschaftliche Leben“ (Kolakowski, 1970, S. 1).
151
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
in der internationalen Diskussion schon deutliche Konsensbildungen (vgl. Dohmen,
1996, S. 13f): „Es setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass lebenslanges
Lernen weitgehend ein selbstgesteuertes Lernen sein muss, bei dem die Lerner selbst
jeweils aus einer wachsenden Vielfalt verschiedener Lernmöglichkeiten nach ihren eigenen Bedürfnissen auswählen und kombinieren müssen“. Die Rolle der Schule sieht er
dabei so, dass sie sich mehr auf die Vermittlung der notwendigen Verständnis- und Motivationsgrundlagen für das lebenslange Weiterlernen und auf die neugierfördernde Gewöhnung der Schüler an selbständiges Lernen konzentrieren muss. In der Umsetzung
dieser Forderungen sieht er jedoch Schwierigkeiten: „Es ist allerdings nicht leicht, den
immer noch zu sehr auf den Sektor des geplanten, organisierten Lernens eingeengten
Blick der Pädagogen und Bildungsmacher zu öffnen für die umfassenderen Dimensionen menschlichen Lernens“ (Dohmen, 1996, S. 15). Seine Forderungen diesbezüglich
beziehen sich auf eine Veränderung des schulischen Lernen in die Richtung, dass die
Person des Schülers mit seinem individuellen Aktionspotential, eigenen Denken und
eigenem Gewissen in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. „Wir brauchen also eine
umfassende, der tatsächlichen Komplexität und Eigendynamik menschlichen Lernens
angemessene Gesamtkonzeption, die auf ein weites, offenes Netzwerk vielfältiger Lernformen und praktischer Lernmöglichkeiten bezogen ist. Der entscheidende Ansatzpunkt
[...] ist eine neue Offenheit für das informelle Selbstlernen“ (Dohmen, 1996, S. 15).
Ausblickend sieht er die Möglichkeiten der Schule darin, dass sie sich auf eine umfassendere Kompetenzentwicklung des lernenden Menschen konzentrieren muss, um ihn
auf das nächste Jahrtausend vorzubereiten (vgl. Dohmen, 1996, S. 20).
c)
Zusammenfassung, Fazit und Ausblick
Damit in Zukunft die Schule stärker ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommt, den jungen
Menschen zu bilden, ist es zunächst wichtig, sich daraufhin zu besinnen, was unter Bildung im eigentlichen Sinne zu verstehen ist. Hierzu bedarf es nun zuerst einer Unterscheidung zwischen dem Begriff der Bildung und dem der Allgemeinbildung. Während
Bildung stärker auf die Seite des Individuums abzielt, also danach fragt, was den Menschen als Menschen ausmacht, antwortet die Allgemeinbildung dagegen auf die Frage,
was den Heranwachsenden vermittelt werden soll, damit für die Gesellschaft notwendiges kulturelles Erbe und für ihren Fortbestand lebensnotwendiges Wissen an die nächste
Generation weitergegeben wird.
152
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Gerade aber in einer Gesellschaft, die sich durch ein hohes Maß an Veränderungen auszeichnet und der Mensch einerseits mit einer explosionsartigen Wissensvermehrung,
andererseits mit einer zunehmenden Handlungsunfähigkeit bezüglich dringender gesellschaftlicher Probleme konfrontiert wird, stellt sich die Frage nach einer zeitgemäßen
Allgemeinbildung.
Nach der Abkehr vom Bildungsdenken in den 60er- und 70er- Jahren des 20. Jahrhunderts aus Gründen der gesellschaftlichen Praxisrelevanz, kam man bald auf den bildungstheoretischen Erkenntnisgewinn zurück. Jetzt allerdings unter der Prämisse, zukünftig
mit Hilfe eines ‘pädagogisch-praktisch-wissenschaftlichen Leitbegriffes’ (Heymann,
1996) wesentlich dazu beizutragen, dass die menschlichen Lebensverhältnisse ‘humaner, freundlicher und entkrampfter’ (Bönsch, 1994) gestaltet werden.
Es bleibt die Frage der Herangehensweise. Da es in einer Gesellschaft, die allgemein
durch Orientierungslosigkeit, Disparitäten und Leistungsorientierung gekennzeichnet
wird, nur schwer möglich ist, einen tragfähigen Bildungsbegriff zu entwickeln, bietet
sich ein Rückgriff auf die Epoche zwischen 1770 und 1830 an, in der der Bildungsbegriff erstmals in pädagogischer Reflexion entwickelt wurde. Eine historische Rückbesinnung scheint aus verschiedenen Gründen sinnvoll:
• Zunächst einmal lässt sich die begriffliche Unterscheidung der Termini Bildung und
Allgemeinbildung besser verstehen, die bei einer schulischen Betrachtungsweise
notwendig ist,
• zweitens kann eine bildungstheoretische Untersuchung nicht hinreichend deutlich
werden, wenn die historischen Wurzeln außer Acht gelassen werden und
• schließlich sollten bildungsbegriffliche Bestimmungen zumindest das Differenzierungsniveau jener Epoche erreichen.
Dabei darf es freilich nicht bleiben. Eine historische Betrachtungsweise ist nur dann
sinnvoll, wenn es gelingt, die bestimmenden Merkmale der damaligen Konzepte auf die
heutige Zeit zu übertragen, um so den Anforderungen einer zeitgemäßen allgemeinbildenden Schule gerecht zu werden. Somit ergibt sich also eine doppelte Verantwortung
für die Erziehungswissenschaft: Sie sollte Konzepte vorstellen, die die humanistischen
klassischen Ideale einerseits angemessen berücksichtigen und gleichzeitig Lösungen für
Bewältigung heute noch nicht absehbarer zukünftiger Probleme integrieren.
153
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Eine Gesamtschau auf die klassischen Bildungstheorien ergibt zunächst vier wesentliche
Merkmale der klassischen Bildung:
1. Bildung ist die Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung,
2. beinhaltet die Subjektentwicklung im Medium objektiv-allgemeiner Inhaltlichkeit,
3. vereinigt die Individualität und die Gemeinschaftlichkeit und zeichnet sich
4. durch die moralische, kognitive, ästhetische und praktische Dimension aus.
In diesen Merkmalen enthalten sind Begriffe wie Selbstbestimmung, Freiheit, Emanzipation, Autonomie, Vernunft und Selbsttätigkeit. Sie werden aber nur dann wirksam,
wenn diese individuellen Merkmale mit der Humanität, Menschlichkeit, Welt und dem
Allgemeinen in Zusammenhang gebracht werden können. Der Mensch kann sich nur zu
einem unverwechselbaren Individuum entwickeln, wenn er auch die Menschheit in ihrer
‘wesenhaften Eigentümlichkeit’ (Humboldt, 1956) vertritt. Hier liegt der Anknüpfungspunkt für den Begriff der Allgemeinheit, der eine doppelte Bedeutung hat und einerseits
‘Bildung für alle Menschen’ fordert und sich andererseits von der ‘selbstbezogenen
Vereinzelung’ (Klafki, 1984) hin zu einer ‘Beziehung des Menschen zur Welt’ (Humboldt, 1960) entwickelt. Gemeint ist hier die vernunftgemäße Reflexion auf den humanen Sinn menschlichen Zusammenlebens mit dem Ziel, die Menschen zu befähigen, an
der Bewältigung der Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben mitwirken zu können. Unter
dieser Sichtweise wird dann die Notwendigkeit der vier bereits mehrfach angesprochenen Dimensionen deutlich. Denn ohne die Empfindsamkeit gegenüber natürlichen Erscheinungen, ohne die Entwicklung einer Genussfähigkeit, ohne die Befähigung zu
Spiel und Geselligkeit, ohne die praktische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist es kaum möglich, zu einer ‘höchsten und proportionierlichsten
Bildung der Kräfte zu einem Ganzen’ (Humboldt, 1960) zu gelangen.
Der kurze Rückblick auf die problemgeschichtliche Hinwendung des (Allgemein)Bildungsbegriffes macht die konzeptionelle Fülle und die inhaltliche Ausdifferenziertheit deutlich. Will man nun den (Allgemein)Bildungsbegriff für die heutige Zeit
neu bestimmen, so muss es nun darum gehen, die Erkenntnisse auf die Gegenwart anzuwenden, um so die Möglichkeiten der dann entstehenden schulischen Allgemeinbildung voll ausschöpfen zu können.
154
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
In einer synoptischen Zusammenführung von klassischer und neueren respektive neuen
Bildungstheorien ergeben sich im Folgenden vier Punkte, die zusammen den Rahmen
allgemeinbildender Aufgaben bilden, die eine zeitgemäße Schule zu erfüllen hat, will
sie dem hohen Anspruch der Allgemeinbildung gerecht werden.
1. Der gesellschaftliche Aspekt zeitgemäßer Bildung macht zunächst deutlich, dass Bildungsfragen immer auch Gesellschaftsfragen sind. Damit ist gleichzeitig ausgesagt,
dass gegenüber einem zeitgemäßen Allgemeinbildungsbegriff nicht der Vorwurf erhoben werden kann, an der gesellschaftlichen Realität vorbeizugehen (Wilhelm,
1969). Wichtig dabei ist, dass das Individuum die gesellschaftliche Realität nicht als
eine Ist-Bestimmung voranstellt, sondern befähigt wird, die Herausforderungen, die
sich aus der Weiterentwicklung der Gesellschaft ergeben, sieht, angemessen zu interpretieren und konstruktiv zu beantworten. Hierin spiegelt sich die Beziehung des
Menschen zur Welt wider, wie sie schon Humboldt herausgearbeitet hat. Um diesem
Anspruch gerecht zu werden, ist es notwendig, den jungen Menschen das Wissen der
modernen Wissenschaften näher zu bringen, ohne jedoch ihre Grenzen aus den Augen zu verlieren.
2. Doch zunächst stellt sich die Frage nach den für die konstruktive und sinnvolle Weiterentwicklung der Gesellschaften notwendigen Kompetenzen, mit denen die Schule
die jungen Menschen ausstatten soll. Bei näherer Betrachtung kristallisieren sich drei
Kompetenzen heraus, die wiederum weitere vereinigen. Gemeint sind die Selbstbestimmungsfähigkeit, die Mitbestimmungs- und Verantwortungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit. Ziel der Ausbildung der genannten Kompetenzen
ist die Erlangung von Souveränität. Auch in diesem Punkt zeigen sich deutlich die
Parallelen zu den Inhalten des klassischen Bildungsbegriffes.
Die Erlangung der gerade aufgeführten Kompetenzen ist jedoch nur dann geglückt,
wenn die jungen Menschen diese nicht nur im Selbstbezug erlangt haben, sondern
auch fähig zur Verständigung und Kooperation mit anderen sind. Hier gilt es, das
noch häufig vorzufindende Konkurrenzprinzip hinter sich zu lassen und die Befähigung zu erlangen, sich mit anderen auseinanderzusetzen. Gemeint sind hier die
Richtziele der Identität, Toleranz, Kooperation, Kritik, Solidarität, Sensibilität und
Sprache.
155
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
3. Der dritte Punkt bezieht sich auf die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung, wobei der Allgemeinbildungsbegriff in dreifachem Sinne bestimmt werden kann: zunächst handelt es sich um ein organisatorisches Moment, dahingehend, dass eine
Demokratie immer wieder dafür kämpfen muss, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft, unabhängig von ihrem Status die gleichen Bildungschancen eröffnet werden.
Allgemeinbildung hat über die individuelle und gemeinschaftliche Verantwortung
hinaus auch eine ‘kosmische Verantwortung’ (Ballauff, 1989) zu übernehmen. An
diesem Punkt schließt sich die Forderung Wolfgang Klafkis nach der Vermittlung
von ‘epochalen Schlüsselproblemen’ an. Die dritte Bestimmung setzt an der Überlegung an, dass sich Allgemeinbildung vor allem durch ihr Verhältnis zum Ganzen
auszeichnet. Wissen als Ganzes ist jedoch mehr als die Erlangung von Kompetenzen
und die Einsicht in die epochalen Probleme einer Gesellschaft. Hier erkennt man
deutlich die vier Dimensionen der klassischen Bildungstheorie wieder, wenn man
sich gewahr wird, dass sich eine solche Mehrdimensionalität durch die kognitiven,
emotionalen, ästhetischen, sozialen sowie praktisch-technischen Fähigkeiten auszeichnet.
4. Der letzte Punkt, der die schulische Allgemeinbildung auszeichnet, das lebenslange
Lernen, könnte auch der erste sein. Die Schule muss die geforderten Kompetenzen so
ausbilden, dass der Mensch befähigt wird, auch die über die Schulzeit hinaus, den
Veränderungen, die die gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt, zu erkennen
und ihnen gewachsen zu sein. In einer Welt des Wandels ist es unabdinglich, neue
Qualifikationen zu erkennen und die Bereitschaft zu behalten, diese auch aufbauen
zu können
Ein Allgemeinbildungsbegriff, wie er hier vorgestellt wurde, kann nun im Folgenden der
Ausgangspunkt für die weitere Ausformulierung des Vorhabens dienen. Zum einen gelingt es nun, den Zusammenhang zu den in Teil A herausgearbeiteten schulischen Aufgaben herzustellen und aufzuzeigen, in wieweit diese sich dann aus den Forderungen der
Allgemeinbildung ableiten lassen. Zum anderen ist nun die Grundlage gelegt, fachspezifische Ableitungen nachzuweisen und aufzuzeigen, in wie weit das Schulfach Sport
dazu dienen kann, einen eigenen unverwechselbaren Beitrag zur allgemeinbildenden
Aufgabe der Schule zu leisten. Denn nur wenn dies gelingt, können in Zukunft Kritiker
in ihre Schranken verwiesen werden, die eine Ausklammerung des Schulsports zu Gun156
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
sten anderer Einrichtungen (wie zum Beispiel den Vereinen) fordern. Die folgende Abbildung verdeutlicht diese Zusammenhänge und soll die Vielzahl der Verschränkungen
aufzeigen, die sich aus den bisherigen Überlegungen ergeben.
.
157
Gesellschaftlicher
Aspekt von
Bildung
Klassische
Bildungskonzepte
Bedeutungsmomente
der
Allgemeinbildung
Zeitgemäße schulische
Allgemeinbildung
Bildung als
Zusammenhang
verschiedener
Kompetenzen
Berücksichtigung
der Dimensionen
Gemeinschaftlichkeit
berücksichtigend
Bildung für alle
Vernünftige
Selbstbestimmung
Lebenslanges Lernen
Gesellschaftliche
Realität
Teil B : Die Aufgabe der Bildung
Abbildung 1: Konzept der schulischen Allgemeinbildung im Überblick.
158
Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion
2.
DIE AUFGABEN DER ORIENTIERUNG, MITTLUNG
UND SELEKTION
Das Allgemeinbildungskonzept, wie es bisher vorgestellt wurde, gibt deutliche Hinweise darauf, wie sich die anderen in Teil A formulierten Aufgaben als ‘Komplementäraufgaben’ in das Konzept einfügen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich die implizite Ausformulierung der Mittler-, Orientierungs- und Selektionsfunktion in der Bildungsfunktion, die zusammen das Allgemeinbildungskonzept erst vervollständigen.
1.
Die Mittler- und Orientierungsfunkion
Die Schule als Brücke zwischen der Kleinfamilie, in der das Kind im Vorschulalter groß
geworden ist und „den meist massenhaft organisierten Systemen des gesellschaftlichen
Lebens“ (Hentig, 1993, S. 228 - vgl. Teil A, Kap. 5), hat die Aufgabe, die jungen
Schulabgänger zu befähigen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden.
Die Mittlerfunktion hat dort ihre eigenständige Berechtigung, wo sie den Ausgangspunkt schulischen Lernens markiert (nämlich das Kind, das bisher in der Familie aufgehoben war) und den Endpunkt vorgibt (den jungen Menschen, der sich selbstverantwortlich in der Gesellschaft zurechtfindet). Das Konzept der Allgemeinbildung zeigt
dabei den Prozess auf, den die jungen Menschen in ihrer Schulzeit durchlaufen sollen.
In der Mittlerfunktion spiegelt sich genau dieser Prozess wider. Dabei sind in allen
Schulstufen neben inhaltlichen und organisatorischen sowohl entwicklungsbedingte
Fragestellungen, wie auch Fragen aus der Sozialisationsforschung relevant104.
104
Die Entwicklungstheorie gibt dahingehend Antworten, dass sie darüber aufklärt, welche Entwicklungsphasen der Mensch durchläuft. Jede Entwicklungsphase zeigt wiederum Möglichkeiten dessen auf, was
Kinder können und wo ihre Grenzen sind. Im Bereich des Schulsports zum Beispiel ist hier insbesondere
die motorische Entwicklung von Bedeutung, die neben der Entwicklung motorischer Fähigkeiten und
Fertigkeiten auch neurophysiologische und somatische sowie umweltbedingte Aspekte thematisiert (vgl.
Baur, Bös & Singer, 1994). Kernpunkt ist dabei die motorische Entwicklung im Lebenslauf, insbesondere
die Phase von der mittleren Kindheit bis zum Jugendalter.
Der Bereich der Sozialisationsforschung gibt darüber Auskunft, wie sich Entwicklung und Sozialisation
zueinander verhalten. Neben den zentralen Dimensionen der kognitiven, sprachlichen, emotionalen, politischen, geschlechtsspezifischen Sozialisation sowie der Selbstentwicklung, sind die Erkenntnisse der Sozialisation durch die verschiedenen zentralen gesellschaftlichen Instanzen wie der Familie, des Kindergartens oder auch den Massenmedien für die Schule besonders interessant (vgl. Hurrelmann & Ulich,
1991).
159
Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion
Der Endpunkt der Schulzeit ist zunächst willkürlich festgelegt und bildet die Antwort
auf die Frage, wie lange die gesellschaftliche Institution der Schule braucht, um die jungen Menschen in die Gesellschaft einzufügen. Für eine inhaltliche und organisatorische
Ausgestaltung des Schulsports ist es wichtig, die Ziele des Allgemeinbildungskonzeptes
mit den entwicklungstheoretischen Erkenntnissen und den Aussagen der Sozialisationsforschung zu verknüpfen (vgl. Teil C, Kap. 2.4).
Die Orientierungsfunktion hingegen hebt besonders den gesellschaftlichen Aspekt der
Bildung hervor, wie bereits in Kapitel 1.1 dieses Teiles aufgezeigt wurde. Dieser hat in
dem hier vorgestellten Allgemeinbildungsbegriff einen hohen Stellenwert und muss
nicht zuletzt immer wieder betont werden, da gerade der Vorwurf des Mangels an Realitätsbezug für die Abkehr vom Bildungsdenken verantwortlich war (vgl. Kap. 1 dieses
Teiles). Die Orientierungsfunktion erfährt ihre Eigenständigkeit durch ihren Charakter
als Prüffunktion. Sie mahnt immer wieder an, den Anspruch der Allgemeinbildung kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls den sich ändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Besonders deutlich wird dies bei der Auswahl und Ausgestaltung der ‘epochaltypischen Schlüsselprobleme’. Ohne sich in Wiederholungen verlieren zu wollen, zeigt
sich, dass sowohl die Mittler- als auch die Orientierungsfunktion in einem umfassenden
Allgemeinbildungskonzept mitgedacht sind. Dass diese dennoch immer wieder von den
maßgeblichen Schultheoretikern als eigenständige Aufgaben angemahnt werden, ist ein
deutlicher Hinweis darauf, dass der schulische Bildungsbegriff bislang die hier vorgestellte Vielschichtigkeit nicht erreichen konnte. Wie anders kann eine solche Ausdifferenzierung in schulische Aufgaben erklärt werden?
2.
Die Selektionsfunktion
Etwas komplexer verhält es sich bei der Einbindung der Selektionsfunktion. Zwar
zeichnet das Allgemeinbildungskonzept auch den Weg der Selektion vor: die Institution
der Schule hat die Aufgabe, junge Menschen ihrer individuellen Begabungen gemäß zu
fördern und sie dahingehend zu beraten, in welchen Bereichen ihre jeweiligen Stärken
und Schwächen liegen. Das schließt auch die Frage der beruflichen Laufbahn mit ein.
Die Selektionsfunktion soll also jedem Schüler ein möglichst objektives Bild über die
erbrachte Leistung105 vermitteln.
105
Auf den Begriff der Leistung wird in Teil C, Kap. 1.1.5 näher eingegangen.
160
Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion
Jedoch lässt sich insbesondere in Bezug auf die Selektionsfunktion eine gewisse ‘Paradoxie’ feststellen, die sich auch (oder gerade) im Schulsport zeigt (vgl. Prohl, 1999, S.
103):
Sie wird durch die institutionalisierte Erziehung deutlich, die zwischen den Anforderungen der Gesellschaft nach Qualifikation und Selektion einerseits und dem Anspruch des
Schülers auf Anerkennung als Person und individueller Entwicklungsförderung andererseits besteht. Prohl sieht diese Spannung zwischen individuellen Ansprüchen und gesellschaftlichen Forderungen durch eine Reihe antinomischer Begriffe gekennzeichnet:
• „Auf der einen Seite sollen Schüler als Persönlichkeiten unter
Respektierung ihrer Individualität ganzheitlich gefördert werden, auf der
anderen Seite sind sie in ihrer Schüler-Rolle als Teile der Gesellschaft
sozial zu integrieren.
• Einerseits soll das pädagogische Anliegen darin bestehen, der
Interessenslage der Schüler gerecht zu werden, andererseits sind die
Lernergebnisse zu kontrollieren, so dass sie als Grundlage für selektive
Maßnahmen dienen“ (Prohl, 1999, S. 103).
In der Praxis des Sportunterrichts sieht Prohl zu allererst den Sportlehrer in der Verantwortung, denn dieser muss die erzieherische und/ oder qualifikatorische Bedeutung des
Schulsports nach pädagogischen Kriterien interpretieren und gewichten.
Bei näherer Betrachtung bildet das Zensurensystem106 die zentrale Problematik der
schulischen Selektionsfunktion, wobei die Diskussion um den Sinn und die Aussagekraft der Zensuren diese Aufgabe als Teil der Allgemeinbildung letztlich nicht in Frage
stellt.
Es geht dabei vielmehr um die Thematik der Vereinheitlichung der Notengebung, hier
verstanden als eine zahlenmäßige Bewertung, deren Eigentümlichkeit es ist, durch eine
eindimensionale Rangordnung jede Leistung mit jeder anderen vergleichbar zu machen
(vgl. Steinthal, 1983, S. 39).
Dabei wurden Zensuren im Laufe der Geschichte zunehmend zu Leistungs- und Berechtigungsnachweisen, die vom staatlichen und wirtschaftlichen Interesse viel stärker
106
Zensuren werden hier als Kurzbezeichnungen für den überlieferten und gegenwärtig immer noch praktizierten Vorgang der Feststellung und Bewertung von Schülerverhalten verstanden, in dem die Feststellung oder Messung des Verhaltens durch mündliche, schriftliche oder ‘sportliche’ Prüfungen sowie Beobachtungen erfolgt, deren meßmethodische Qualität nicht ausreichend bekannt ist, und bei dem in einem
vom Meßvorgang kaum unterscheidbaren Bewertungsakt in der Regel Ziffernzensuren vergeben werden.
Das in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschende Zensurensystem mit den Ziffernoten von 1 - 6 für
Schulzeugnisse wurde unter dem Aspekt der Vereinheitlichung von der Kultusministerkonferenz am
03.10.1968 beschlossen und gilt bis heute (vgl. Ingenkamp, 1974, S. 11ff).
161
Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion
als von pädagogischen Notwendigkeiten geprägt waren. Ingelkamp stellt dabei fest, dass
die Selektionsfunktion mit den Zensuren das falsche Instrumentarium zur Hand hat und
darüber hinaus mittlerweile so aufgesplittet ist, dass sie nichts mehr mit der ‘eigentlichen Aufgabe’ der Selektion gemein hat:
„Das gleiche Instrumentarium, an dessen Handhabung sich im letzten
Jahrhundert
nichts
Entscheidendes
geändert
hat,
soll
Berechtigungsfunktionen,
Auslesefunktionen,
Kontrollfunktionen,
Berichtsfunktionen und wie man es sonst noch nennen mag, übernehmen“
(Ingenkamp, 1974, S. 13).
Ingelkamp bemängelt diesbezüglich insbesondere, dass es die Erziehungswissenschaft
trotz heftiger Einzelkritik nicht geschafft hat, die Paradoxie aufzulösen und dem Lehrer
schließlich allein die Last bleibt, diese Aufgabe in der Praxis zu verwirklichen. Dabei
darf nicht übersehen werden, dass ein erheblicher Teil der Zensurengebung nicht aus
pädagogischen Gründen, sondern im Auftrag des Staats erfolgt (vgl. Ingenkamp, 1974,
S. 26). Dadurch entsteht ein weiterer Widerspruch, der in erheblichem Maße vom Anspruch der schulischen Selektion wegführt:
„Der Widerspruch ist auch hier wie an vielen Stellen unseres öffentlichen
Lebens nicht zu übersehen: Zensuren geben ein unrichtiges Bild der
Wirklichkeit, sind in einem tieferen Sinne unwahr, auf der anderen Seite
können wir uns ein Bildungswesen in der ganzen Welt ohne Zensuren nicht
vorstellen. Zensuren sind ein Element der Aufklärung, aber zugleich sind sie
ein ambivalentes Instrument der Kontrolle“ (Becker, 1991, S. 1).
Auch Hellmut Becker und Hartmut von Hentig wenden sich ausdrücklich gegen das
bisherige Notensystem und sprechen in diesem Zusammenhang von dem ‘Aberglauben
an die Wahrheit von Zensuren’ (vgl. Becker & Hentig, 1983, S. 10). Die Argumente
gegen eine herkömmliche Zensurengebung sind vielfältig und die Literatur über diese
Thematik unüberschaubar. Erstaunlich ist die Tatsache, dass im Allgemeinen Konsens
darüber besteht, dass
• einerseits die in irgendeiner Altersstufe festgestellten Leistungen und Fertigkeiten
nichts oder fast nichts aussagen über das, was später im Beruf, in der Praxis oder
auch nur in der Theorie geleistet wird107,
107
Becker macht beispielsweise unter Bezug auf die verschiedenen Epochen von Rousseau, Pestalozzi,
Herbart oder Schleiermacher über die idealistischen Schule deutscher Pädagogen von Nohl, Litt, Spranger, Weniger und Flitner bis hin zu neueren empirischen Untersuchungen deutlich, dass sich nirgendwo
162
Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion
• andererseits der Glaube an die Zensur als Maßstab unverändert geblieben ist.
„Die richtigen Erkenntnisse über die Fragwürdigkeit der Zensuren, [...]
reichen offenbar nicht aus, um das Bedürfnis des einzelnen nach
Bestätigungen einfach abzuweisen. Eine Welt ohne Zensuren wird es nicht
geben, weil das gegenwärtige menschliche Bewußtsein diese Kontrolle
offensichtlich verlangt. Von der Grundschule an ist die in Zahlen zu
messende und mit anderen konkurrierende Leistung dem einzelnen so
eingepaukt, er ist auf Zensuren hin derart sozialisiert, dass er schließlich im
Alter glaubt, ohne Zensuren nicht mehr arbeiten zu können“ (Becker, 1983,
S. 29).
Die Problematik der Zensuren liegt in der (bereits angedeuteten) Eindimensionalität.
Schulleistungen dagegen sind vieldimensional, wie schon einige wenige Fragestellungen
bezüglich der Kriterien deutlich machen: Soll die Anstrengung oder das Endergebnis
gewertet werden? Wie werden unterschiedliche körperliche Voraussetzungen berücksichtigt? Wie wird Kreativität bewertet? usf.
Wird dennoch an der bisherigen Notengebung festgehalten, so liegt der Schluss nahe,
dass Zensuren „gar nicht dazu dienen, Leistungen objektiv zu bewerten, sondern dass
sie in erster Linie dazu dienen, eine Leistungsskala herzustellen, auf der man die Guten,
die einigermaßen Guten, die weniger Guten und die Schlechten voneinander trennen
kann“ (Lempp, 1983, S. 68). Eine solche Leistungsskala hat wiederum nichts mehr mit
dem Gedanken der Selektion gemein. Die Sache tritt in den Hintergrund und die Zensur
erhält eine Bedeutung, die ihr nicht zukommt.
„Häufig beginnen Eltern bereits in der Volksschule, die Noten als
ausschließlichen Maßstab für Eifer und Erfolg ihrer Kinder in der Schule zu
betrachten. Sie mühen sich nicht, die Leistungen ihrer Kinder im Lesen,
Schreiben und Rechnen zu überprüfen. Lob und Tadel werden nicht nach
Leistungen, sondern nach dem Notenbild erteilt. Ist der Schüler aber bereits
in einer Hauptschule oder höheren Schule, wird diese Entwicklung
beschleunigt, weil die sachliche Einschätzung der Schülerleistungen für die
Eltern immer schwieriger wird. Es kommt zu einer einseitigen
Hochschätzung der Note. Der Schüler lernt, dass er nur zu trachten habe, auf
irgendeinem Wege, sei es auch Schwindel und Betrug, zu guten Noten zu
kommen“ (Weiss, 1974, S. 55).
ein positives Urteil über die Art findet, wie Leistungen anhand von meßbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten festgestellt werden.
163
Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion
Dennoch muss sich ein realistisches Allgemeinbildungskonzept der Aufgabe der Selektion stellen und zeigen, wie damit umgegangen werden kann. Es hilft nichts, darüber zu
klagen oder ihre Berechtigung zu leugnen: Die Hoffnung auf ihre ersatzlose Streichung
gehört zu den unerfüllten pädagogischen Träumen (vgl. Heymann, 1996, S. 30).
Die Suche nach Alternativen zu dem herkömmlichen Zensurensystem kann somit zu
einer Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn der Selektionsfunktion werden. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, wie es möglich wird, die Handhabung der
Selektionsfunktion kritisch zu überprüfen und aufzuzeigen, in welcher die Momente der
Bildung trotz, wegen oder mit ihr nicht beeinträchtigt werden.
Im Rückbezug auf das dargestellte Allgemeinbildungskonzept wird deutlich, dass eine
sinnvolle Selektion nur zu realisieren ist, wenn jedem Schüler ein möglichst hohes Maß
an Individualität zugestanden wird: das beinhaltet die Berücksichtigung des individuellen Lerntempos sowie die Möglichkeit der gezielten Auswahl von Inhalten, um Schwächen auszugleichen und Stärken weiter zu profilieren (vgl. Fend, 1980, S. 90). Dadurch
ist es möglich,
• dass die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler nicht durch starre, entwürdigende
und verletzende Formen der Leistungsbeurteilung beeinträchtigt wird,
• dass die Ungleichheit sozialer Chancen durch Selektionsmechanismen aufgefangen
wird und
• dass sinnvolle Gegengewichte gegen eine Überbetonung des Auslesegesichtspunktes
und der Leistungskonkurrenz im schulischen Alltag gesetzt werden (vgl. Heymann,
1996, S. 112).
Dabei ist die Notwendigkeit unbestritten, den einzelnen Schüler bereits über die Schuljahre hinweg über individuelle Stärken und Schwächen zu informieren. Eine solche Information hat zwei Hauptanliegen: zum Einen soll der Einzelne in das gesellschaftliche
Gesamtsystem eingegliedert werden, zum Anderen dient sie als Rückmeldung, sowohl
für den einzelnen Schüler, als auch für die Eltern. Dem Schüler sollen eigene Schwächen deutlich gemacht werden, um ihm die Möglichkeit zu geben, diese zu beheben,
aber auch Stärken aufgezeigt werden, die weiter verfolgt und ausgebaut werden kön-
164
Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion
nen108. Den Eltern dient eine solche Information dazu, angemessene Erziehungsmaßnahmen zu ergreifen, um ihre Kinder zu fördern (vgl. Weiss, 1974, S. 53).
(1)
Berichte zum Lernvorgang statt Ziffernzeugnisse.
Wenn also die schulische Aufgabe der Selektion durch das gegenwärtige Zensurensystem ad absurdum geführt wird, gilt es, nach einem Verfahren zu suchen, das die pädagogischen Absichten und Möglichkeiten der Beurteilung mit der gesellschaftlichen
Funktion verbindet und verträglich macht.
In Anbetracht der Tatsache, dass es trotz der Fragwürdigkeit der Zensuren bisher nicht
gelungen ist, diese aus dem Schulalltag zu verbannen, muss eine solche Veränderung im
Windschatten der Erfüllung des Notensystems und im Vertrauen auf die pädagogische
Überlegenheit einer nichtmessenden Beurteilung vorgenommen werden (vgl. Hentig,
1983, S. 100). Solche Versuche gibt es bereits in verschiedenen Formen, wie die Beispiele der Waldorfschulen, Montessorischulen oder der Bielefelder Laborschule zeigen.
Insbesondere die Bielefelder Laborschule hat dabei nach einer Beurteilungsform gesucht, die
• sachlich und sprachlich differenzierter ist als die herkömmliche Zensurengebung,
• entschlossen pädagogischen Gesichtspunkten folgt (und darum stark individualisiert),
• in erster Linie der geschärften Wahrnehmung des jeweiligen pädagogischen Zustands
der Schule dient und damit als Hilfe für das Handeln der Lehrer, der Eltern und der
Schüler
• und dabei doch Nachprüfbarkeit durch Dritte gewährleistet, also eine mit den genannten Merkmalen verträgliche Objektivierung zuwege bringt, soweit das geht (vgl.
Hentig, 1983, S. 102f).
Ein solches Beurteilungsverfahren muss verschiedene Merkmale aufweisen, damit es
den hohen Ansprüchen auch nur annähernd gerecht werden kann. Dazu gehört in erster
Linie, dass die zu beurteilenden Leistungen genau zu benennen sind. Im Bereich des
Schulsports kann es somit eine Gesamtbeurteilung in Form einer Ziffer nicht mehr geben. Vielmehr muss die Vielschichtigkeit des einzelnen Faches und die damit verbundenen unterschiedlichen individuellen Möglichkeiten in jeder Beurteilung Berücksichti108
An dieser Stelle spricht Rudolf Weiss von der pädagogischen Funktion der Motivation, die das Individuum dazu veranlaßt, zu lernen. Es muss jedoch angemerkt werden, dass die Meinungen bezüglich der
Lernmotivation bezüglich weit auseinandergehen. Unbestritten ist, dass ein Lernprozess ohne fortlaufende
Überprüfung des Lernerfolges wenig wirksam ist. Andererseits zeigt sich an diesem Punkt auch, dass die
165
Teil B : Die Aufgaben der Orientierung, Mittlung und Selektion
gung finden. Die nicht meßbaren, möglicherweise nicht einmal einheitlich definierbaren
Faktoren sollen ausdrücklich berücksichtigt werden.
Dazu bedarf es einer erheblichen Anstrengung dahingehend, dass die Einzelleistungen
und der gegenwärtige Entwicklungsstand der jeweiligen Person entsprechend in die Beurteilung mit einfließen. Somit kommt dem Vergleich nur eine untergeordnete Rolle zu
und es ist nicht zu erwarten, dass die herkömmlichen Ziffernoten aus den Berichten
‘ableitbar’ sind.
An der Laborschule Bielefeld, wie auch an anderen Gesamtschulen des Landes Nordrhein-Westfalen sind aus diesen Überlegungen sogenannte Berichte zum Lernvorgang
oder Berichte zum Lernprozess entstanden. Dabei zerfällt wiederum jeder Einzelbericht
in zwei Teile: eine ‘Beschreibung des Unterrichts’ und eine ‘Beschreibung des Lernverhaltens des Schülers’, wobei Standardsätze in den Berichten entfallen sollen. Zwar bezeichnet Hartmut von Hentig diese Berichte als ein ‘pädagogisches Instrument zur
Steuerung des Lernens des Schülers und des Lehrens des Lehrers’, die dazu dienen, sowohl Schüler als auch Eltern zu unterrichten, dennoch sieht er in ihnen kein Instrument
der Auslese (vgl. Hentig, 1983, S. 106).
Andererseits kommt diese Form der Berichterstattung den Forderungen der Selektionsfunktion sehr nahe, wenn diese die entsprechende Verteilung der Individuen in der Gesellschaft gemäß individuellen Neigungen und Begabungen anstrebt.
Natürlich gibt es auch bei der Beurteilung durch Lernberichte Probleme, die bedacht
sein und verbessert werden müssen. Ziffernoten kommen dem Bedürfnis der Schüler,
Eltern und Lehrer nach Einordnung entgegen. Sie geben eine soziale Sicherheit und ermöglichen eine einfache Anschauung einer sonst komplizierten Beziehung. Dazu
kommt, dass die Erfahrungen über Lernberichte nur sehr spärlich sind, zumal die Schulen, die sich für diesen Weg der Beurteilung entschieden haben, um der Anerkennung
ihrer Abschlüsse willen gezwungen werden, eine Umrechnung in die Notenskala 1 - 6
beizulegen (was nicht funktioniert, wie gerade aufgezeigt wurde). Damit ist aber auch
zu befürchten, dass die Vielschichtigkeit der Aussagen, die den Bericht gegenüber dem
Ziffernsystem auszeichnet, wieder aufgehoben wird.
Sollten sich die Berichte zum Lernvorgang gegenüber dem herkömmlichen Zensurensystem durchsetzten, so ist dies auch ein Schritt in die Richtung einer schulischen Selektion, die sich sowohl ihrer historischen als auch pädagogischen Wurzeln annähert. Dies
Frage der Lernmotivation zunächst nichts mit der Aufgabe der Selektion zu tun hat (vgl. Weiss, 1974, S.
166
Teil B : Zusammenfassung und Fazit
bedeutet, dass die Lehrenden angehalten sind, über den individuellen Bildungsstand
jedes Schülers in der geforderten Vielschichtigkeit Auskunft zu geben. Der dann fehlende Vergleich zwischen den einzelnen Schülern birgt die Chance, die derzeit bestehende
Ungleichgewichtung zwischen Qualifikation und Persönlichkeitsbildung aufzuheben
und die Selektionsfunktion als gleichgewichtigen Teil in das Konzept schulischer Allgemeinbildung einzugliedern.
3.
ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT
In der historischen Herleitung wurden vier schulische Aufgaben deutlich, wobei die
Bildungsaufgabe den zentralen schulischen Bezugspunkt für weitere Überlegungen darstellt. Die weiteren Aufgaben spiegeln sich in der Bildung wider, ohne dass sie jedoch
an Eigenständigkeit verlieren:
• Die Mittlerfunktion stellt die Spanne dar, in der sich schulische Bildung vollzieht
und zeigt sowohl den Anfang als auch das Ende der Schulzeit an.
• Die Orientierungsfunktion unterstreicht den gesellschaftlichen Aspekt zeitgemäßer
Bildung und erfährt ihre Eigenständigkeit somit als Prüffunktion. Diese ist schon allein deshalb wichtig, da der geschichtliche Rückblick immer wieder deutlich gemacht
hat, dass schulische Bildung dann in den Schulen nur noch eine untergeordnete Rolle
spielte, wenn sie als zu realtiätsfremd angesehen wurde.
• Die Selektionsfunktion schließlich hat die Aufgabe der Kenntlichmachung des jeweils individuellen Leistungsstandes der Schüler, damit diese ihre Eigenständigkeit
erkennen und ihren eigenen, unverwechselbaren Platz in der Gesellschaft finden.
Somit ist der Zusammenhang zwischen den schulischen Aufgaben zunächst geklärt. Bei
näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sich die Selektionsfunktion durch das eindimensionale Ziffernotensystem dahingehend wandelte, dass die Vergabe von Leistungs- und Berechtigungsnachweisen zu Gunsten von pädagogischen Gesichtspunkten
in den Vordergrund rückte. Durch die Notenvergabe werden vieldimensionale schulische Leistungen zu eindimensional dargestellt, was dazu führt, dass diese Form der Bewertungsskala nichts mehr mit dem Gedanken der Selektion gemeinsam hat.
53f).
167
Teil B : Zusammenfassung und Fazit
Soll die Selektionsfunktion jedoch wieder in das System der schulischen Aufgaben eingegliedert werden, so gilt es eine Möglichkeit zu finden, wie die einzelnen Schüler über
ihre individuellen Stärken und Schwächen informiert werden können, ohne dass das
Ergebnis zu sehr in den Vordergrund des Interesses rückt. Eine Möglichkeit wären Berichte zum Lernvorgang, die die Vielschichtigkeit sowohl des jeweiligen Faches als
auch die individuellen Möglichkeiten jedes Schülers berücksichtigen.
Insgesamt gesehen ist es wichtig, dass alle vier schulischen Aufgaben in einer Einheit
gesehen werden, in der jede ihre unverzichtbare Rolle spielen und die sich in der Gesamtschau um die Bildung der jungen Menschen bemüht. Sobald diese Einheit durch die
Überbetonung einer Aufgabe in ein Ungleichgewicht gebracht wird, ist das innere
Gleichgewicht gestört und es ist zu befürchten, dass Schule ihrem Auftrag nicht mehr
gerecht werden kann.
Abbildung 2: Die Schulfunktionen in ihrem Verhältnis. Wenn das Gleichgewicht gestört wird, wirkt sich
das auf das gesamte System aus.
Bildung
Mittlung
Mittlung
Bildung
Selektion
Orientierung
Orientierung
Selektion
168
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
TEIL C: DIE AUFGABEN DES SCHULSPORTS
1.
ANTHROPOLOGIE & SPORTANTHROPOLOGIE ALS
AUSGANGSPUNKT FÜR INHALTE DES SCHULSPORTS
Weder die Aufgaben der allgemeinbildenden Schule noch ihre inhaltlichen Ausführungen, die darauf hinauslaufen, dass es sich hierbei um das zentrale Anliegen der Allgemeinbildung handelt, bringen Hinweise darauf, in welcher Form das einzelne Schulfach
- im Rahmen dieser Arbeit der Sportunterricht - in das Gesamtsystem der Schule einbezogen ist.
Bisher wurde lediglich die Frage geklärt, was Schule soll und in welcher Form dies zeitgemäß geschehen kann. Welche Fächer mit welchen fachspezifischen Inhalten hierbei
Eingang finden, wurde dabei noch nicht angesprochen. Wenn der Schulsport in einem
Konzept, wie es in den ersten beiden Teilen vorgestellt wurde, berücksichtigt ist, so
kann bislang lediglich vermutet werden, dass es sich um eine kulturelle Errungenschaft,
ein gesellschaftlich relevantes Phänomen und um ein lehrbares Fach handelt.
Dabei ist es weder möglich, noch ist es sinnvoll, jede Ausprägung des Phänomens Sport
in der Schule zu thematisieren und zu unterrichten. Somit gilt es nun im Folgenden
zweierlei zu klären:
1. Welches sind die Eigenschaften des Schulsports, die ihn als Teil des schulischen Allgemeinbildungsanspruches legitimieren?
2. Wie kann daraus eine pädagogisch begründete Auswahl vorgenommen werden?
Die Kriterien können hierbei nicht im Fach immanent vorliegen, sie müssen außerhalb
zu finden sein. Somit wird deutlich, wieso eine fundierte Begründung für ein Schulfach
Sport ohne den ausführlichen Rahmen allgemeinpädagogischer Überlegungen nicht
auskommt. Diese dienen dazu, fachspezifisch zu sichten und zu bewerten und bieten
Orientierung bei der Auswahl derjenigen sportspezifischen Inhalte, die dem Allgemeinbildungsauftrag der Schule gerecht werden.
Ein gesellschaftlich etabliertes, traditionsreiches und im Alltag als wichtig anerkanntes
gesellschaftliches Phänomen wie das des Sports und letztlich auch des Sportunterrichtes
ruft gegenüber Innovationen teilweise starke Abneigungen hervor. Die gesellschaftli170
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
chen Rahmenbedingungen, unter denen Schule und Sportunterricht stattfinden, lassen
sich nicht ohne weiteres ändern. Dabei muss beispielsweise die Lehrerschaft, die zum
jetzigen Zeitpunkt in den Schulen unterrichtet, auch Veränderungen wollen und dabei
helfen, diese umzusetzen. Der Weg zu einem nach allgemeinbildenden Gesichtspunkten
fundierten Sportunterricht kann also nicht von außen an die Menschen herangetragen
werden, die für die Umsetzung verantwortlich sind, sondern kann nur einer sein, der auf
vielen kleinen Schritten beruht (vgl. Heymann, 1996, S. 131f). Dazu ist es notwendig
offenzulegen, in welchen Punkten der Schulsport in das Konzept der Allgemeinbildung
passt und an welchen Punkten keine Übereinstimmung festzustellen ist.
Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen soll die menschliche Leiblichkeit sein, da sie
die Grundlage für ein besseres Verständnis des Menschen bildet. Es soll deutlich werden, dass der Mensch ohne seinen Leib nicht denkbar ist, ebensowenig wie es möglich
ist, Sport oder Bewegung ohne den menschlichen Körper zu verstehen.
(1)
Anthropologische Grundlagen als Ausgangspunkt der Schulsportdiskussion.
Das zentrale Anliegen dieser Arbeit liegt, wie bereits in den ersten Kapiteln mehrfach
erläutert, darin, den Schulsport in den schulischen Fächerkanon einzugliedern und zu
legitimieren. Das geht nur dann, wenn es gelingt, unverwechselbare und ausschließlich
durch den Sport zu erreichende Bildungs- und Erziehungsziele zu profilieren, die kein
anderes Fach ersetzen kann.
Bevor eine Einordnung in die in Teil B erarbeiteten vier Kategorien der zeitgemäßen
schulischen Allgemeinbildung vorgenommen werden kann, sollen übergreifende Überlegungen bezüglich menschlicher Leiblichkeit angestellt werden. Dies ist notwendig, um
damit das den folgenden Überlegungen zugrunde liegende Menschenbild zu erläutern,
welches zwangsläufig die sich ergebende Erziehungspraxis beeinflusst (vgl. Prohl,
1999, S. 18).
Unter Anthropologie wird die philosophische Lehre vom Menschen verstanden. Sie
bemüht sich um die Selbstdeutung und das Selbstverständnis des Menschen und tut
dies, in dem sie die einzelwissenschaftlichen Grenzen von Beginn an übersteigt (vgl.
Meinberg, 1987, S. 23). Anthropologische Vorannahmen, wie sie sich in Form von
171
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Menschenbildern zeigen, beeinflussen alle erzieherischen Entscheidungen. Die wissenschaftliche Anthropologie versucht die Natur des Menschen und seine besonderen
Merkmale systematisch und mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen, kann allerdings die naiven und oft wertvollen Alltagserkenntnisse über den Menschen nicht
ersetzen. Beide anthropologischen Erkenntnisformen (wissenschaftliche & naive) versuchen Grundannahmen über die Freiheit des Menschen, über seine Personalität, über seine Würde und Unverletzlichkeit nachzuweisen. Hier liegt die Begründung für die Bildsamkeit und Erziehbarkeit des Menschen (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 180; Grupe,
1980, S. 89). Grupe nennt die Anthropologie in Bezug auf Bollnow deshalb einen
Schlüssel zum Verständnis von pädagogischen Systemen109.
Wenn Bollnow der Meinung ist, dass die philosophische Anthropologie unmittelbar auf
die Pädagogik zurückwirkt, zeigt sich deutlich die Wichtigkeit, die eine anthropologische Reflexion an den Beginn jeder schulpädagogischen Überlegung stellt.
„Was das Wissen vom Menschen angeht, das gilt zugleich auch für die
Wesensvermittlung des Menschen und gibt damit zugleich einen Hinweis
für die Erziehung. [...] Und so ergibt sich schlechterdings kein
anthropologisches Problem, das nicht zugleich und unmittelbar eine
pädagogische Bedeutung hat.“ (Bollnow, 1968, S. 48f).
Dabei darf aber keineswegs verkannt werden, dass das Ziel der Anthropologie nicht
primär die Veränderung von Praxis ist. Vielmehr stellt sie mehr oder weniger gesichertes Wissen über den Menschen bereit, im Falle der Sportpädagogik über den sporttreibenden, sich-bewegenden, spielenden Menschen.
Somit nimmt die Sportanthropologie im Rahmen dieser Arbeit eine Sonderstellung ein,
da aus ihr nicht nur Begründungen und Rechtfertigungen für einen eigenständigen
Sportunterricht formuliert werden können, sondern darüber hinaus auch Orientierungs109
Bollnow zeigt bezüglich der begrifflichen Verhältnisse den doppelten Sinn der pädagogischen Anthropologie auf, je nachdem, ob die Gesamtheit der Einzelwissenschaften vom Menschen oder die philosophische Anthropologie gemeint ist. „Im zweiten Fall müßte man also eigentlich strenger (wie es auch Langeveld gelegentlich getan hat) von einer pädagogischen (philosophischen) Anthropologie oder einer philosophisch-pädagogischen Anthropologie sprechen. Weil aber das zu schwerfällig ist, muss man in jedem
Fall genau angeben, welche Art von pädagogischer Anthropologie jeweils gemeint ist. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, würde ich vorschlagen, die Bezeichnung ‘pädagogische Anthropologie’ für die
unter pädagogischem Gesichtspunkt gesehene und behandelte integrale und basale empirische Anthropologie (im Sinne von Flitner) vorzubehalten und das, was bei Loch unter diesem Namen genannt wird,
unterscheidend als (philosophische) Anthropologie der Erziehung zu bezeichnen“ (Bollnow, 1968, S.
47f).
172
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
vorgaben im Hinblick auf Inhalte und Ziele (vgl. Grupe, 1985, S. 37). Dieses Bemühen
um Orientierung, Aufklärung und Beseitigung von Vorurteilen schließt zunächst jede
inhaltliche Wertung aus. Das ist nicht die Aufgabe der Anthropologie, wohl aber die der
schulsportorientierten Pädagogik.
(2)
Sportanthropologie.
Wie bereits erwähnt, liegt der besondere Schwerpunkt der Sportanthropologie bei der
Themenstellung des sporttreibenden, spielenden oder sich-bewegenden Menschen.
Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Bedeutung des eigenen Körpers für das Individuum. Dass der menschliche Körper nicht nur im Bereich sportpädagogischer Betrachtungen eine zentrale Bedeutung hat, zeigt sich an zahlreichen Stellen der inzwischen
umfangreichen Zahl von Veröffentlichungen aus dem Bereich der philosopischpädagogischen Anthropologie110. Stellvertretend soll hier Langeveld genannt werden, der
bezugnehmend auf Merleau-Ponty meint:
„Wer geringschätzig urteilt über den Körper, urteilt abschätzig über den
Menschen. Nicht weil der Körper der Mensch ist, sondern weil der Mensch
ohne seinen Körper nicht existiert und dank seinem Körper er selbst sein
kann, wenn schon das manchmal zugleich nur trotz seines Körpers gelingt.
Merleau-Ponty sagt irgendwo: ‘Der eigene Körper ist in der Welt wie das
Herz im Leibe’. Dieser Körper bildet die Grundlage meines
Identitätsbewußtseins, und die Einheit der erlebten Welt bezieht sich auf die
Einheit meines Körpers, der immer ‘als Ichselbst’ durch die Räume, um die
Gegenstände herum zu den entfernten oder nahen Grenzen meines Gehens,
Sehens oder Greifens geht“ (Langeveld, 1964, S. 125).
Neben den Themen des Körpers und der Bewegung geht es in der anthropologisch motivierten sportpädagogischen Betrachtung zentral darum, Einzelphänomene wie Gesundheit, Spiel, Leistung oder Ästhetik in ihrer Bedeutung für den Menschen zu erörtern, um damit Rückschlüsse für die Sportpädagogik zu gewinnen (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 183; Sportwissenschaftliches Lexikon, 1992, S. 423f).
„Spielen, sich bewegen, etwas leisten, mit seinem Körper umgehen und
Sporttreiben sind dabei Erscheinungsformen im Leben der Menschen, die
110
Stellvertretend sollen neben Langeveld Autoren wie Bollnow, Flitner, Gehlen und Plessner genannt
werden. Aber auch phänomenologisch orientierte Autoren wie Fouccault oder Merleau-Ponty haben die
fundierende Rolle des Leibes immer wieder betont.
173
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Hinweise zu seinem Gesamtverständnis geben können“ (Grupe & Krüger,
1997, S. 182).
Grupe & Krüger betonen, dass für den Sport zunächst die Tatsache kennzeichnend ist,
dass der Mensch in ihm vor allem in seiner Körperlichkeit und in seiner Bewegung angesprochen wird. Sporttreiben ist immer unmittelbar körper- und bewegungsbezogen,
wobei Körper und Bewegung deshalb zu den zentralen anthropologischen Bezugspunkten der Sportpädagogik zählen (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 183).
Auch Prohl unterscheidet hinsichtlich der Sportpädagogik zunächst zwei anthropologische Grundtatsachen:
• Körperlichkeit/ Leiblichkeit und Bewegung
• Bildsamkeit und Erziehungsbedürftigkeit (vgl. Prohl, 1999, S. 21).
Diese sollen im Rahmen dieser Arbeit zunächst soweit behandelt werden, wie sie für die
Einbettung in den Schulsport notwendig sind. Danach werden auch die anderen Themenbereiche - Gesundheit, Spiel, Leistung und Ästhetik -, die als Grundthemen der
Sportanthropologie gelten, behandelt. Zusammen bilden sie die Grundlage für die inhaltliche Ausgestaltung der in Teil A angesprochenen und in Teil B ausgearbeiteten
Aufgaben der Schule.
174
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
1.
Körper und Bewegung
a)
Anthropologische Grundannahmen
In Anlehnung an Helmuth Plessner und daraus folgend an Ommo Grupe (1982, 1997111)
und Robert Prohl (1999) lassen sich verschiedene anthropologische Grundannahmen
formulieren, die auch bei der schulsportorientierten Pädagogik eine grundlegende Bedeutung haben:
(1)
Der Mensch ist ein weltoffenes und handelndes Wesen.
Der Mensch als instinktentlastetes, lernfähiges Wesen charakterisiert sich zunächst dadurch, dass er entscheidungsfähig ist. Er kann sich im Rahmen situativer, körperlicher,
kultureller und sozialer Bedingungen frei entscheiden und sich - anders als das Tier unterschiedlichen Bedingungen anpassen. Er hat die Fähigkeit, rational handeln zu können.
Diese Fähigkeit ist jedoch nicht angeboren; die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung beruht vielmehr auf der Annahme, dass Menschen lernen müssen, sich in ihrem
Handeln für etwas oder gegen etwas zu entscheiden. Hier zeigt sich die Weltoffenheit:
fast zur gleichen Zeit, in der das Kind Stehen lernt und die ersten Worte nachspricht,
beginnt das, was wir einsichtiges Handeln nennen. Der Mensch öffnet sich der Welt
(vgl. Plessner, 1976, S. 48f). Dass dieses ‘sich Öffnen’ immer innerhalb eines kulturell
‘geprägten Daseinsrahmens’ (vgl. Plessner, 1976, S. 52) stattfindet, zeigt wiederum
zweierlei: die Weltoffenheit des Menschen ist eine beschränkte112 und zeigt auf, dass der
Mensch immer ein soziales Wesen ist. Das gilt auch für Erziehung im Rahmen sportpädagogischer Überlegungen.
111
Hier zusammen mit Michael Krüger. Wenn aus diesem Werk zitiert wird, aber Krüger nicht immer
explizit auftaucht, so liegt das daran, dass Grupe die Bedeutungsaspekt bereits in seiner Monographie aus
dem Jahre 1982 nennt.
112
Plessner führt die These der ‘beschränkten Weltoffenheit’ als Kennzeichen menschlicher Grundverfassung in seinen Überlegungen nach der Conditio Humana (1976) genauer aus.
175
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
(2)
Der Mensch ist ein soziales Wesen.
„Dass ein jeder ist, aber sich nicht hat; genauer gesagt, sich nur im Umweg
über andere und anders als ein Jemand hat, so heißt es, gibt der
menschlichen Existenz in Gruppen ihren institutionellen Charakter“
(Plessner, 1976, S. 61).
Der Mensch besitzt sowohl die Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit des Individuums,
als auch die Merkmale des Sozialen, Kulturellen und Gesellschaftlichen, die ihn unterscheidbar machen (vgl. Prohl, 1999, S. 21f).
Plessner spricht in diesem Zusammenhang von Mitverhältnissen, in denen der Mensch
lebt und die er - im Unterschied zum Tier - selbst gestalten kann (vgl. Plessner, 1976, S.
60). Diese Mitverhältnisse stellen nicht nur die ‘überkuppelnden Großformen’ des
Staates, der Wirtschaft und Gesellschaft dar, sondern bestehen vielmehr überall, privat
wie öffentlich. Jeder Mensch ist nicht nur das Ergebnis seiner eigenen Entwicklung und
Geschichte, sondern ebenso das der Gruppe, der er angehört. „Erst innerhalb eines kulturell geprägten Daseinsrahmens findet der Mensch sein Zuhause“ (Plessner, 1976, S.
52). Somit sind spielerische und sportliche Aktivitäten, Bewegung und Körperlichkeit,
Wahrnehmung und Einschätzung des Körpers immer auch von sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 185).
(3)
Der Mensch ist ein historisches Wesen.
„Er ist zu dem geworden, was er ist; und dieses historische Gewordensein
betrifft nicht nur seine individuelle Existenz, sondern auch die Geschichte
der sozialen Gruppe, in der er lebt. Selbst der Körper eines Menschen ist
weder nur individuell noch nur natürlich, sondern er ist sowohl sozial und
kulturell als auch historisch geprägt“ (Grupe & Krüger, 1997, S. 185).
Die Annahme des Menschen als historisches Wesen richtet sich gegen die Auffassung,
es ließe sich ein absolutes und überzeitliches (damit unhistorisches) Wesen des Menschen bestimmen. Zwar gibt es historisch invariante Faktoren des Menschseins (so hatten Menschen zu allen Zeiten einen Körper und konnten sich bewegen), diese Invarianten haben aber aufgrund historischer, kultureller und biographischer Begebenheiten verschiedene Ausprägungen (vgl. Prohl, 1999, S. 21).
176
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
„Soll die These richtig sein, dass alles was er (der Mensch, Anm. d. Verf.)
aus sich macht, geschichtlichem Wandel unterliegt, werden die Dinge, auf
die es ihm zu allen Zeiten ankommt und an denen er sich seiner Idee würdig
erweist, immer wieder anders aussehen, weil die Idee des Menschen keine
fixe Bestimmung enthält, die über gewisse Anforderungen an das Verhalten
und die Formen seiner Beurteilung hinausreicht“ (Plessner, 1976, S. 81).
Dazu kommt, dass Körper und Körperlichkeit sowie der Umgang und das Verhältnis
zum Körper neben den kulturellen Einflüssen auch von dem Faktor des Alters und der
damit verbundenen menschlichen Leistungsfähigkeit zusammenhängen113.
(4)
Körperlichkeit, Geist und Leib.
Dadurch, dass die Philosophische Anthropologie versucht, den Menschen philosophisch
vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, besonders der Biologie, Zoologie
und Ethnologie zu beschreiben, eignet sie sich für eine Standortbestimmung im Bereich
der Sportpädagogik. Die zentrale Frage lautet dabei „Was ist der Mensch?“. Neben
Scherler und Gehlen gilt Helmuth Plessner als Begründer der Philosophischen Anthropologie, die sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entfaltete.
Insbesondere Plessner hat sich mit dem Thema der Körperlichkeit/ Leiblichkeit befasst.
Dabei sieht er die Verschränkung von Körper und Geist als Schlüssel zur Philosophischen Anthropologie, womit auch das Interesse der Sportwissenschaft angesprochen ist
(vgl. Seewald, 1996, S. 24).
Plessner ist dabei der Meinung, dass den Menschen eine Doppelrolle auszeichnet, die
eine ständig zu durchlebende und zu vollziehende Verschränkung des Körpers in den
Leib bedeutet:
„Das Ziel der Beherrschung, entweder im Dienst der Bejahung körperlichen
Daseins und dann bald auf Spitzenleistung, bald auf völlige Entspanntheit,
d.h. Grazie gerichtet, oder aber im Dienst der Körperverneinung, der Askese
und Weltflucht, ist dem Menschen durch seine physische Existenz gestellt:
als Leib im Körper. Mit dieser Doppelrolle muß sich jeder vom Tage seiner
Geburt an abfinden. Jedes Lernen: zu greifen und die Sehdistanzen den
Greifleistungen anzupassen, zu stehen, zu laufen usw. vollzieht sich auf
Grund und im Rahmen dieser Doppelrolle. Der Rahmen selbst wird nie
gesprengt. Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten
mit allem, was darin ist) - auch wenn er von seiner irgendwie ‘darin’
seienden unsterblichen Seele überzeugt ist - und hat diesen Leib als diesen
Körper. Die Möglichkeit, für die physische Existenz derart verschiedene
113
Hier ist die Thematik des Körpers als ein ‘soziales Gebilde’ angesprochen, worauf hierbei vor allem
Heinemann (1990) eingeht.
177
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
verbale Wendungen zu gebrauchen, wurzelt in dem doppeldeutigen
Charakter dieser Existenz selbst“ (Plessner, 1970, S. 43).
In dieser Doppeldeutigkeit liegt der Unterschied zwischen Mensch und Tier, da dem
Tier diese Verschränkung zwischen Leib und Körper nicht bewusst wird114. Leibsein und
Leibhaben kommt dem Menschen unabhängig von Kultur und Geschichte als Gattungsmerkmal zu (vgl. Seewald, 1996, S. 27).
(5)
Leibsein - Körperhaben.
Um diese Verschränkung zu verdeutlichen, soll zunächst auf die Unterscheidung zwischen dem gelebten und dem erlebten Leib eingegangen werden.
Der gelebte Leib besagt, dass uns unser Körper und unsere körperliche Reaktionen,
Funktionen, Vollzüge in der Regel nicht bewusst und gegenwärtig sind.
„Man weiß, dass man sich bewegt, aber nicht wie. Wenn wir uns wohl
fühlen, unsere Absichten mit unserem Können und unseren Möglichkeiten
übereinstimmen, bleibt unser Körper in der ‘Anonymität’ des
Selbstverständlichen verborgen“ (Grupe & Krüger, 1997, S. 194).
Im Handeln und der gekonnten Bewegung unterscheiden wir uns nicht von unserem
Leib, uns ist unser Leib in dem beschriebenen Sinne durchweg nicht bewusst, er bleibt
unsichtbar. Im Unterschied zum Tier hat der Mensch die Möglichkeit, seinen Leib zu
beherrschen. Der Leib ist dem Menschen Instrument, mit dem er sich auseinandersetzen
muss, vom ersten Schritt bis zum letzten Atemzug (vgl. Plessner, 1976, S. 140f).
„Wir ‘sind’ unser Leib, unsere Arme, unsere Füße als die Möglichkeit zu
laufen, zu springen, mit dem Ball zu spielen“ (Grupe, 1980, S. 91).
Dieses ‘menschliche’ Vermögen etwas zu tun, wird in der anthropologischen Literatur
mit dem Wort des Leibseins bezeichnet.
Nun gibt es jedoch genügend Situationen, in denen die menschliche Bewegung durch
irgendeine Störung unterbrochen wird. Grupe/ Krüger sprechen davon, dass die Übereinstimmung und Geschlossenheit des Ich-Leib-Welt-Verhältnisses zeitweilig oder ganz
verloren geht (vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 195). Die Aufmerksamkeit richtet sich
zwangsläufig von der Umgebung auf den eigenen Körper. Dazu kommen Situationen, in
178
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
denen wir unsere Aufmerksamkeit bewusst und absichtlich auf den eigenen Körper bzw.
körperliche Prozesse richten, wie beispielsweise auf die Spannung oder Entspannung
einzelner Muskelgruppen. Ebenso ist der Mensch in der Lage, ohne zu Handeln in der
Umgebung aufzugehen, wie zum Beispiel bei der versunkenen Betrachtung einer Landschaft (vgl. Prohl, 1999, S. 224). Es zeigt sich, dass es nicht immer möglich ist, positive
und negative Aspekte des Körpererlebens klar zu trennen. Oftmals ist zum Beispiel bei
sportlicher Anstrengung die Erschöpfung nach Erreichen des Zieles vergessen.
In Abgrenzung von dem Begriff des Leibseins, wird für die bewusste körperliche Wahrnehmung, also für den erlebten Leib, der Ausdruck des Körperhabens benutzt. Plessner
spricht davon, dass ich ‘Leib bin’ und ‘Körper habe’ (vgl. Plessner, 1970, S. 43).
Leibsein und Körperhaben zeigen die menschliche Doppelnatur, die „eine ständig zu
durchlebende und zu vollziehende Verschränkung des Leibes in den Körper bedeutet“
(Plessner, 1976, S. 195).
Grupe & Krüger (1997, S. 195) fassen die Unterscheidung zwischen Leibsein und Körperhaben mit Bezug auf Sartre prägnant zusammen:
„Leibsein bezeichnet Situationen, in denen im Unterschied zum
Körperhaben der Körper nicht bewußt wahrgenommen wird, weil er mit der
Person verschmolzen zu sein scheint. Der Begriff des Körperhabens oder
Leibhabens bezieht sich in besonderer Weise auf das unmittelbare Erleben
und Wahrnehmen des Körpers.
Allerdings ist dieser Begriff ungenau, weil die mit dem Wort ‘haben’
nahegelegte Schlußfolgerung, nach der wir unseren Körper als eine Art
Besitz ansehen können, der Auffassung widerspricht, wie sie von der
neueren Anthropologie vertreten wird: Danach ‘besitzt’ der Mensch seinen
Körper nicht eigentlich; denn was er ‘besitzt’, ist er ja auch selbst. ‘Das
Werkzeug, das mein Leib ist’, lautet deshalb ein Satz von Sartre,
‘gebrauchen wir nicht. Wir sind es.’115“
114
Plessner ist also nicht der Ansicht, dass das Tier seinen Leib und der Mensch auch seinen Körper hat,
sondern sagt, dass die Unterscheidung in der Bewusstwerdung liegt.
115
Vgl. Sartre (1962). Das Sein und das Nichts (S. 463). Hamburg.
179
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
(6)
Die Wandelbarkeit des Leibverhältnisses in der menschlichen Entwicklung.
Die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben schließt auch die Wandelbarkeit des
Leibverhältnisses mit ein, wobei Prohl (1999, S. 226) in zeitlicher Hinsicht drei Dimensionen unterscheidet:
1. In aktueller Hinsicht kann sich das Leibverhältnis im Handlungsvollzug derart verändern, dass eine ‘automatisierte Bewegungshandlung’ plötzlich misslingt. Wenn ein
geübter Tennisspieler beispielsweise den Ball mit dem Rahmen des Tennisschlägers
trifft.
2. In überdauernder Hinsicht kann sich das Leibverhältnis im Verlaufe von Bewegungslernen verändern. Zum Beispiel auf dem Weg vom Nicht-Können zum Können.
3. In biographischer Hinsicht verändert sich das Leibverhältnis über die verschiedenen
Lebensphasen des Menschen in einschneidender Weise. „So ist zum Beispiel das
Kind wesentlich stärker mit seinem Leib identisch als der Erwachsene, es weiß buchstäblich nicht, dass es einen Körper hat. Im Alter hingegen steht das Körper haben
gegenüber dem Leib sein eher im Vordergrund“ (Prohl, 1999, S. 234).
Dass das Leibliche im Laufe der biographischen Entwicklung immer wieder in neuer
Weise erlebt wird, spielt gerade in schulpädagogischen Überlegungen, insbesondere im
Bereich der Vorbereitung auf das lebenslange Lernen, eine bedeutende Rolle. Schon
Andreas Flitner (1963) weist darauf hin, dass das Kind zum einen stärker mit seiner
Leiblichkeit verbunden ist als der Erwachsene, da es in der Regel seinen Leib nicht
kennt (vgl. Kap. 2.5 dieses Teiles).
„Es hat noch viel von der Fähigkeit, die sich beim Säugling so gut
beobachten läßt: sich so zu freuen, zu erschrecken, einem Gegenstand oder
einer Person zuzuwenden, dass kein Körperteil davon unaffiziert zu bleiben
scheint. Die Distanz wächst erst im Ertasten der Welt und im Ertasten des
eigenen Leibes“ (Flitner, 1963, S. 236).
Zum anderen erlebt das Kind seinen Leib intensiver als der Erwachsene, denn im Kriechen, Hüpfen, Klettern gewinnt es ihm Erlebnisse und Erfahrungen ab, in denen es sich
als Individuum entdeckt und seine Möglichkeiten entwickelt. In diesen leiblichen Entdeckungen findet das Kind nicht nur seinen persönlichen Entdeckungs- und Erfahrungs180
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
spielraum, sondern es erschließt sich dadurch auch seine Welt. Der Leib wird für das
Kind zum Medium des Großwerdens (vgl. Grupe, 1980, S. 95ff).
„Die frühen Leibeserfahrungen des Kindes sind im Wechsel solche der
Abhängigkeit und solche des wachsenden Eigenvermögens. [...] Im Leibe
erlebt das Kind seine Grenzen und sein Angewiesensein auf die
fortwährende Hilfe und Obhut des Erwachsenen. Aber auch fast alle seine
Erfolge tragen ihm sein wachsendes leibliches Vermögen ein: die Bewegung
und Fortbewegung, die zunehmende Kraft und Geschicklichkeit, das
instrumentelle Vermögen und schließlich das Sprechen als der Schlüssel zur
ganzen geistigen und sozialen Welt“ (Flitner, 1963, S. 237)116.
Erst mit zunehmender Differenzierung seines Ichs kann der mögliche Abstand von der
eigenen Leiblichkeit wachsen und damit auch die mögliche Distanz zur Umwelt117.
In der Pubertät tritt dem jungen Menschen das Körperliche besonders deutlich entgegen.
Die körperlichen Veränderungen und die damit oftmals verbundenen unkoordinierten
und unharmonischen Bewegungen, aber auch die äußerlichen körperlichen Veränderungen lassen das Leibliche in den Vordergrund seines Erlebens treten. Diese Veränderungen verlangen gleichzeitig auch eine neue Bewertung und Sinngebung (vgl. Grupe,
1980, S. 97ff).
Neben diesen natürlichen Wachstums- und Reifungsvorgängen ist das Verhältnis zum
Leiblichen sowohl auf individuelle Voraussetzungen als auch auf gesellschaftlich bedingte Konventionen, Rollenerwartungen, Werte und Normen bezogen, die historischen
Wandlungen unterzogen sind.
Mit zunehmendem Alter prägen sich Erfahrungen, Erlebnisse und Einstellungen aus und
verändern das leibliche Erleben.
„Unser Leib ward uns immer mehr zu eigen und zugleich ward er uns immer
weniger ein Eigentum. Es kommt die Zeit, dass er völlig zurückgenommen
wird: dann treten wir zurück und sterben. [...] So wird der Erzieher unter die
Menschen treten, seinen Kindern Begegnung zu sein, seinen Kindern
Bedeutung zu zeigen, seinen Kindern das Werkzeug in die Hand zu legen,
seinen Kindern dazu zu helfen, dass sie lernen, wie der Mensch das Glück
116
Andererseits machen Bewegungseinschränkungen es unmöglich, bestimmte altersspezifische Erfahrungen zu machen. Umgekehrt konnte bereits Langeveld (1964) aufzeigen, dass das Erlebnis des körperlichen
Gebrechens durch eine Umstimmung der äußeren Bedingungen verändert werden kann. Hier haben bewegungstherapeutische, heil- und sonderpädagogische Maßnahmen ihren Ausgangspunkt.
117
An dieser Stelle soll auf die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse verwiesen werden, die auf die
Bedeutung des Leiblichen für das Kind hinweisen (vgl. bspw. Oerter, R. (Hrsg.) (1998). Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. Weinheim: Beltz.).
181
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
erlebt. [...] Es ist der Gott in uns, der den Körper zum Leib machte.“
(Langeveld, 1964, S. 141).
Eine schulsportorientierte Pädagogik, die sich als ein zentrales Ziel das lebenslange
Lernen vornimmt, muss solche biographischen Entwicklungen in ihrer Konzeption berücksichtigen (vgl. Kapitel 2.5 dieses Teiles).
(7)
Der Körper als Vermittler und Medium.
Es hat sich gezeigt, dass der Leib den Zugang zu unserer Welt bedeutet. Grupe/ Krüger
machen deutlich, dass das Person-Leib-Verhältnis somit als Person-Leib-WeltVerhältnis verstanden werden kann. Eine Veränderung des Leibverhältnisses beeinflusst
in der Regel auch die Wahrnehmung der Umwelt.
„Gesundheit und Wohlbefinden, Reifung, Altwerden und Geschlechtlichkeit
bestimmen nicht nur unser unmittelbares Verhältnis zum Körper, sondern
auch das zu unserer sozialen und naturhaften Umwelt“ (Grupe & Krüger,
1997, S. 197).
Diese Mittlerfunktion des Leibes zwischen Ich und Welt ist für Grupe entscheidend. Da,
wie bereits beschrieben, Person und Leib ineinander verschränkt sind und sich in ständiger Spannung zwischen Identität und Lösung befinden, ist das Ich-Leib-Verhältnis
‘vieldeutig’ (vgl. Grupe, 1984, S. 62). Diese Vieldeutigkeit ist jedoch nicht nur auf individuelle Gestaltung hin ausgerichtet, sondern unterliegt gleichzeitig sozio-kultureller
Prägung. So verbinden und durchdringen sich Wachstums- und Entfaltungsprozesse mit
Lernprozessen, Reifungsprozessen, Alterungsprozessen, sozialen Prägungen und determinierenden Bedingungen, die wiederum von Erziehung und Bildung abhängig sind.
Der Leib bildet dabei „den Zugang zu unserer Welt, zu den anderen Menschen und zu
den Dingen, und umgekehrt erreichen diese uns ‘über’ unseren Leib. Wie wir auf unseren Leib gerichtet sind, so sind wir auf die Welt gerichtet; dass wir ihr ausgesetzt sind,
geschieht über unseren Leib“ (Grupe, 1984, S. 62). Leibsein bedeutet demnach nicht nur
Ichsein, sondern auch Welthaben118.
Wie bereits angedeutet (vgl. ‘Der Mensch als historisches Wesen’), ist der menschliche
Körper nicht nur als individuelles Gebilde zu verstehen, sondern er hat auch immer eine
118
Hier wiederum wird auf Langeveld (1964, S. 130) bezug genommen, der diese Verhältnisse in seinen
‘Studien zur Anthropologie des Kindes’ beschreibt: „Leib-sein heißt Ich-sein und Leib-sein heißt Du-sein.
Aber Leibsein bedeutet also auch: Welt haben und für andere in der Welt sein und Leib sein. Leib-Sein
bedeutet in der Welt aber auch ein mit der Welt Sein, mit und zu den Dingen Reichen, Sehen, Dienen.“
182
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
‘soziale Verwendung’ (vgl. Grupe & Krüger 1997, S. 199). In diesem Zusammenhang
wird der Begriff des Körpers dem des Leibes vorgezogen und steht für die kulturelle
Bedingtheit und die soziale Beeinflussung, die die Beziehung des Menschen zu seinem
Leib in erheblichem Maße mitbestimmen.
Der Körper ist Ausdruck ‘gesellschaftlicher Tatbestände’, die festlegen, wie er wahrgenommen und kontrolliert wird, wie er als expressives Ausdrucksmedium Verwendung
findet, wie man mit ihm umgeht und zu ihm eingestellt ist (vgl. Heinemann, 1992, S.
254). Er ist ein soziales Gebilde, wenn auch nur eine grobe Formel für unterschiedliche
körperliche Phänomene oder unterschiedliche Umgangsformen mit dem Körper. Differenzierter könnte er unter den Gesichtspunkten von Haltung, Bewegung, Gesundheit,
Krankheit, Ernährung, Sexualität, Bekleidung, Schmuck, Ausdruck, Gestik, Schönheit,
Scham, Alter, Geschlecht und eben auch Sport betrachtet werden. Gerade im Sport prägen sich verschiedene soziale und kulturell bestimmte Formen aus. Körper- und Bewegungstechniken unterliegen historischen Veränderungen und sind von Kultur zu Kultur
verschieden. Dazu kommen Unterschiede zwischen sozialen Gruppen und Schichten
sowie zwischen der Art und Weise, wie Männer beispielsweise im Unterschied zu Frauen oder Kinder im Vergleich zu Jugendlichen mit ihrem Körper umgehen, ihn erleben
und wahrnehmen oder sich bewegen (vgl. Grupe & Krüger 1997, S. 199f).
Der Sport stellt unter einer solchen Perspektive eine soziale und kulturelle Objektivation
und historische Realisierungsform möglicher Bewegungen dar (vgl. Kap. 2.2 dieses
Teiles). Das zeigt sich unter anderem daran, dass der Mensch bestimmte Situationen erst
dann als sportliche Situationen und die in ihnen sich ereignenden Handlungen als sportliche Handlungen wahrnimmt, wenn er sie entsprechenden regelgeleiteten sportlichen
Kontexten zuordnen kann.
183
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
b)
Bedeutungen von Körper und Bewegung im Hinblick auf den Sport
In Bezug auf sportliche Bewegung unterscheidet Grupe vier unterschiedliche Bedeutungen des Körpers, die sich aus dem bisher Gesagten ergeben. Diese hängen zusammen
und verschmelzen miteinander, können aber durchaus auch unterschiedliche Akzente
darstellen (vgl. Grupe, 1982, S. 87ff).
(1)
Die instrumentelle Bedeutung.
Die instrumentelle Bedeutung des Körpers meint, dass der Körper in Bezug auf die Bewegung als eine Art Werkzeug benutzt werden kann: Fahrrad fahren, Tanzen, Rennen,
... . Der instrumentelle Umgang mit dem Körper geschieht in der Regel unauffällig und
wird erst dann genauer sichtbar, wenn wegen einer Verletzung oder altersbedingter Beschwerden bestimmte Bewegungen nicht mehr (oder nur eingeschränkt) ausgeführt werden können. Mit dem Körper umgehen zu können, bedeutet die Befreiung von körperlichen Beschränkungen.
„Für die Erfahrung der Welt und für die Erfahrung des Unterschieds von
Mensch und Welt und zugleich ihre unaufhebbare Verbundenheit ist dies
von entscheidender Bedeutung. Die Entdeckung des eigenen Körpers, die
Differenzierung der Motorik führt zur Erschließung und Bewältigung der
Welt. Die ‘Beherrschung des Leibes’ - so Caruso (1963, 225) - wird zum
Modell der ‘Beherrschung des Kosmos’; die ‘Objektivierung des eigenen
Körpers’ wird zu jener entscheidenden und größten Entdeckung, die den
Menschen als Menschen konstituiert“ (Grupe, 1982, S. 86).
Im Gegensatz dazu bedeutet diese Instrumentalität immer auch Abhängigkeit und Begrenzung durch die Differenz zwischen Wollen und Können, die sich durch Gelingen
und Misslingen ausdrückt. Diese Gegensätzlichkeit hat eine wichtige Funktion für die
Entwicklung von Selbstbewusstsein und Identität. Die instrumentelle Bedeutung des
Körpers kann somit als eine grundlegende angesehen werden; historisch betrachtet hat
sie immer eine dominante Rolle gespielt.
184
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
(2)
Die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung.
Sporttreiben bietet vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten119, wobei Erfahrungen des Körpers und über den Körper dabei eine zentrale Rolle spielen. Grupe unterteilt diesen Bedeutungstyp in dreifacher Hinsicht:
1. In Richtung auf das Körperlich-Leibliche und die Bewegung selbst (leibliche Erfahrungen).
2. In Richtung auf die materiale Umwelt (materiale Erfahrungen).
3. In Richtung auf soziale Beziehungen und Interaktionen (soziale Erfahrungen).
Leibliche Erfahrungen richten sich zunächst auf das Leibliche und die Bewegung selbst.
Der Mensch erlebt, was sein Körper leisten kann und was nicht. Er kann die Erfahrung
machen, was konstantes Üben bewirkt, kann die wohltuende Entspannung nach körperlicher Anstrengung als positiv empfinden. Andererseits bemerkt der Mensch auch, dass
es keine Sicherheit für das Gelingen von Bewegungen gibt, denn was heute sicher beherrscht wurde, kann morgen misslingen.
„Über solche leiblichen Erfahrungen und Einsichten entwickelt sich ein Bild
des eigenen Körpers, so etwas wie Körpergefühl oder auch leibliche
Identität. Man befindet sich mit seinem Leib in einer Art Dialog, kann seine
‘Botschaften’ hören und entschlüsseln, auf sie eingehen, ist sensibel für
seine Reaktionen und Signale“ (Grupe, 1982, S. 90).
Die angemessene Einschätzung eigener Körper- und Bewegungserfahrungen ist von
großer Bedeutung für den Aufbau des Körper- und Selbstbildes. Körperidentität wird
deshalb auch als eine wichtige Grundlage personaler Identität gesehen.
Für die Schulsportpädagogik ist von besondere Bedeutung, dass im Kindes- und Jugendalter personale Erfahrungen, insbesondere Körpererfahrungen, wie sie soeben beschrieben wurden, eine tragende Rolle spielen (vgl. Kap. 2.4 dieses Teiles).
Die über sportliche Aktivitäten gewonnenen Erfahrungen des Körpers können jedoch
nicht isoliert gesehen werden:
„Sie sind zumeist verbunden mit der Erfahrung der Dinge, zwischen denen
wir uns bewegen und die wir bewegen, und die wiederum, indem sie bewegt
werden, ihre besonderen Eigenschaften aufzeigen“ (Grupe, 1995, S. 23).
119
Zum Erfahrungsbegriff siehe die näheren Ausführungen in Kap. 2.3 dieses Teiles.
185
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Eine Erfahrung der Bewegung ist immer auch mehr als die Erfahrung einer abstrakten
Bewegung und einer leiblichen Erfahrung. Sie ist immer eine Erfahrung des Leiblichen
im Zusammenhang der Dinge und Situationen, zwischen denen sich der Mensch bewegt
und die er bewegt: Erfahrungen von Gegenständen, Dingen und ihrer Beschaffenheit
sowie die Erfahrungen von Umwelt und Natur nennt man materiale Erfahrungen.
Trampolin, Schaukelringe und Kletterseile können auf je verschiedene Weise erfahren
werden; verschiedene Schneearten, Wassertiefen und - temperaturen sowie unterschiedliche Gewichte verschiedenster Materialien beeinflussen das Körperempfinden bei
sportlichen Bewegungen.
Nach Scherler (1975, S. 153) sind solche Erfahrungen grundlegend für die sensomotorische Entwicklung im Kleinkind- und Kindesalter. Die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung meint somit die Exploration und Erkundung, indem wir durch unsere Körperlichkeit, über die materiale Beschaffenheit der Dinge, über die Natur und über andere
Menschen erfahren, wobei wir unsere Bewegung zu diesem Zweck der Erkundung und
der Erfahrungsgewinns auch ausdrücklich instrumentell einsetzen können (vgl. Grupe &
Krüger, 1997, S. 208).
Schließlich sind Bewegungserfahrungen immer an Erfahrungen mit der sozialen Wirklichkeit, in der wir leben, geknüpft. In der Auseinandersetzung im Spiel, im Sieg und der
Niederlage, in der Rolle, die der einzelne in einer Mannschaft einnimmt, zeigen sich
gleichsam soziale Beziehungen.
„Ohne Bewegungen würden wir nur wenig von alledem bemerken, und wir
erfahren das alles zumeist auch nicht in einer dramatischen Weise, sondern
so, wie der ‘Seiltänzer das Gleichgewicht auf einem Seil’ erwirbt, ‘das in
der Höhe von einem Meter gespannt ist’ (Musil 1955)“ (Grupe, 1982, S.
91f).
(3)
Die soziale Bedeutung.
Neben den sozialen Erfahrungen, die Bewegung dem Menschen liefert, ist sie das Medium sozialer Beziehungen. Dadurch, dass sie solche Beziehungen vermittelt und sie
herstellt, hat sie eine soziale Bedeutung.
Soziale Erfahrungen über Körper und Bewegung können im Sport auf unterschiedlichen
Ebenen gemacht werden:
186
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
• In Bezug auf andere Menschen (interaktional-kommunikativ);
• in Bezug auf die Möglichkeit, sich selbst gegenüber seiner sozialen Umwelt auszudrücken (expressiv-ausdrückend);
• in Bezug auf die Verständigung ohne Worte durch Gesten und Symbole (darstellendrituell).
Grupe (1982, S. 92f) zeigt am Beispiel des Fußballspiels auf, dass in allen Bewegungshandlungen auch eine soziale Wirklichkeit in Form von verschiedenen Bedeutungszuweisungen hergestellt wird. Denn die soziale gesellschaftliche Realität macht nicht Halt
vor ‘sportspezifischen Bewegungen’, sondern „durchdringt sie bis in ihre feinste Verästelungen, wird aber auch selbst von ihr bestimmt“ (Grupe, 1982, S. 95).
Fußball, längst eine ‘gesellschaftliche Institution’ geworden, hat seinen Anhängerkreis,
seine Einrichtungen, seine Vereine, Organisationen und Plätze. Viele Bedeutungen, die
ihm zugesprochen werden, haben mit seinen ursprünglichen Bewegungen längst nichts
mehr zu tun und zeigen deutlich die jeweilige gesellschaftliche Realität in der er gespielt
wird auf: Leistung, Wettbewerb, Kooperation, Spielsystem und vieles mehr. „Ein Ball,
der über die Torlinie gelenkt wird, berührt die einen nicht, weil sie von solchen Bedeutungen nichts wissen, für die anderen ist es gleichsam das ‘Leben’“ (Grupe, 1982, S.
93).
Die sozialen menschlichen Beziehungen sind in Formen der Verständigung über Zeichen verbunden, Übereinkünfte, die das Zusammenleben sichern: im Straßenverkehr
sollen möglichst alle bei Grün anfahren und zwar in die gleiche Richtung. Auch sportliche Handlungen sind ohne solche gemeinsame Zeichen nicht denkbar. Voraussetzung
dafür, dass das Zusammenleben über diese Zeichen funktioniert, ist zum Einen, dass es
schon feststehende soziale Verhaltensregeln gibt und zum Anderen das gemeinsame
Wissen um Zeichen, Regeln und Bedeutungen, die zuvor gelernt werden müssen120. Besonders deutlich wird hier das gesellschaftliche Phänomen der Institutionalisierung der
Bewegung: sie meint sowohl die Schaffung eines sozialen Bezugsrahmens für die Bewegung (die Bedeutung eines Elfmeters beispielsweise kennt man auf allen Kontinenten
dieser Erde) als auch eine bessere Lernbarkeit der Bewegung. Viele Bewegungen werden durch eine Institutionalisierung erst sinnvoll.
120
Grupe weist darauf hin, dass soziale Bedeutungen oft auch ambivalent und mehrdeutig sind. Sie können
missgedeutet werden und falsche oder unerwartete Reaktionen auslösen je nach Grad des Verstehens oder
des gemeinsamen Wissens der Beteiligten.
187
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Wer umgekehrt nicht in die Bedeutungen der stattfindenden Bewegungen eingeweiht ist,
wer den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt von Situationen nicht erkennt, dem bleibt
nicht nur die Teilnahme an solchen Ereignissen versperrt, sondern kann auch nicht die
spezifischen Reaktionen der anderen verstehen121.
„Mit dem Sich-Bewegen werden also soziale Bedeutungen vermittelt, die
teils selbstgesetzt, teils von der Situation bestimmt, teils von
intersubjektiven Bedeutungszuweisungen abhängig sind oder die ihnen
aufgrund partieller oder globaler Traditionen, Übereinstimmungen und
Regelungen zuteil werden“ (Grupe, 1982, S. 94).
Die soziale Bedeutung von Körper und Bewegung zeigt, dass Bewegungen niemals völlig natürlich sein können, denn die Natürlichkeit ist selbst eine soziale und kulturelle
Norm. Grupe macht vielmehr deutlich, dass die Bewegung mit ihrer ursprünglichen
Natürlichkeit in die soziale Welt des Menschen eingebunden ist. Und dadurch, dass die
gesellschaftliche Realität immer einem Wandlungsprozess unterzogen ist, muss berücksichtigt werden, dass sich die soziale Bedeutung von Bewegungen ebenso ändern kann.
(4)
Die personale Bedeutung.
Die personale Bedeutung liegt darin, dass bestimmte Situationen, biologische Begrenzungen, individuelle Erfahrungen und Gewohnheiten, soziale und kulturelle Regeln unserer Bewegung nie vollständig festgelegt werden können, sondern immer mit persönlichen Empfindungen und Entscheidungen verbunden sind. „Jede Bewegungshandlung,
auch die automatisierte und ganz und gar selbstverständlich gewordene, beinhaltet in
diesem Sinne sozusagen die Entscheidung für diese oder gegen eine andere“ (Grupe,
1982, S. 99).
Die Erfahrung der leiblichen Wirklichkeit ist immer verknüpft mit einer Erfahrung des
Menschen über sich selbst und der Möglichkeit, Maßstäbe zu gewinnen, um sich realistisch zu beurteilen.
Grupe sieht im Sport mit seinen vielfältigen Möglichkeiten und Aufforderungsebenen in
diesem Sinne eine große Anregung. Sport ist der Inbegriff von Situationen, die nicht von
Natur aus gegeben sind, sondern künstlich geschaffen wurden. Dadurch kann Sport den
Menschen immer wieder in die Lage versetzen, seinem Leben Spannung zu geben, sich
121
Hier lässt sich die bewusste Ausgrenzung mit einbeziehen. Gruppen, die sich bewusst abgrenzen wollen, entwickeln oftmals Bewegungsmuster, die als Erkennungszeichen oder auch als Barrieren dienen
(zum Beispiel bestimmte Marschformen).
188
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
zu erproben und freiwillig nach seinen Grenzen zu suchen. Wie schon durch die anderen
Bedeutungen deutlich geworden ist, steht die persönliche Identität mit unserem Bewegungsempfinden im Zusammenhang.
„Bewegung bezieht sich auf die Möglichkeit und Fähigkeit des Menschen,
im Rahmen von Begrenzungen und Regelungen biologischer,
lebensgeschichtlicher, situativer und sozialer Art steuernd, regulierend,
leistend, gestaltend tätig zu werden. Sie wird damit zu einer spezifischen
Weise menschlichen Selbstvollzugs angesichts von Gegebenem, Erstrebtem
und Gefordertem. Dass dies nicht konfliktfrei, widerspruchslos, glatt vor
sich geht, auch nicht vollständig autonom ist, vielmehr eingesponnen in das
Netzwerk sozialer Normen, institutioneller Regelungen, frühkindlicher
Prägungen, individueller Erfahrungen, momentaner und dauernder
Bedürfnisse und Gewohnheiten, aktueller Antriebe und Gefühle, von Reifen
und Altwerden, Konstitution und Geschlecht, ist leicht einzusehen. Aber
darin besteht die Wirklichkeit unserer Bewegungen“ (Grupe, 1982, S. 102).
Es zeigt sich also, dass sich der Mensch durch seine Bewegung seine kulturelle und soziale Welt erschließt. Durch die Bewegung ergreift, erfasst, erfährt er sie, findet Zugang
zu ihr. Die menschlichen Bewegungen erhalten ihre Bedeutungen letztlich im Zusammenhang mit dieser Welt. Einerseits sind menschliche Bewegungen ohne das Verständnis für gesellschaftliche Realitäten nicht zu verstehen, andererseits ist die Bedeutung
eben jener Bewegung für das Individuum nur von Fall zu Fall beschreibbar. „Wäre unsere Bewegung nicht individuell und gesellschaftlich gleichermaßen bestimmt, hätte sie
nicht ihre sozialen Gütemaßstäbe und kulturellen Wertbestimmungen, könnte man nicht
wissen, wie und wann und wobei sie ihre Erfüllung und Befriedigung finden kann und
darf“ (Grupe, 1982, S. 104). So ist es zu erklären, dass Bewegung letztlich erst im Vollzug ihre endgültige Gestalt gewinnt. Aber auch hier bleibt immer ein Rest von Rätselhaftigkeit in ihr.
Wenn Grupe aufzeigt, dass der Mensch alle vier Bedeutungen braucht, um sich selbst in
seiner Identität zu finden, so spielt die Thematisierung dieser Bedeutungen in einem
Schulsport mit bildendem Anspruch eine erhebliche Rolle.
c)
Fazit
Um eine Einordnung des Schulsports in die Aufgabenbereiche der Schule und insbesondere aus bildungstheoretischen Gesichtspunkten vorzunehmen, müssen zunächst einmal
übergreifende Überlegungen bezüglich menschlicher Leiblichkeit vorgenommen wer189
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
den, da diese nicht zuletzt Ausgangspunkt für die sich ergebende Erziehungspraxis ist.
Wichtig festzustellen ist dabei, dass anthropologische Vorannahmen, die Aussagen über
die Freiheit des Menschen, seine Personalität, seine Würde und Unverwechselbarkeit
machen, alle erzieherischen Entscheidungen beeinflussen. Da hier die Begründung für
die Bildsamkeit und Erziehbarkeit des Menschen liegt, wird die Anthropologie als
Schlüssel zum Verständnis von pädagogischen Systemen bezeichnet.
Die Sportanthropologie, deren besonderer Schwerpunkt der sporttreibende, spielende
oder auch sich bewegende Mensch ist, beschäftigt sich mit der Körperlichkeit des Menschen. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass der Mensch ohne seinen Körper nicht
leben kann und dass er nur dank seines Körpers er selbst sein kann. Somit bildet der
menschliche Körper die Grundlage seiner Identität.
Für den Sport ist die Tatsache kennzeichnend, dass der Mensch durch ihn vor allem in
seiner Körperlichkeit und in seiner Bewegung angesprochen wird, weshalb der Bereich
‘Körper und Bewegung’ zu den zentralen Themen der Sportanthropologie zählt. Zusammen mit den anderen Themen (Gesundheit, Spiel, Leistung und Ästhetik) bildet er
die Grundlage einer Schulsporttheorie.
In Anlehnung an das Werk Helmuth Plessners haben insbesondere Ommo Grupe (1982,
1997) und in seiner neuesten Monographie Robert Prohl (1999) drei für die Sportanthropologie grundlegende Bedeutungen formuliert:
1. Der Mensch als offenes und handelndes Wesen;
2. der Mensch als soziales Wesen;
3. der Mensch als historisches Wesen.
Diese drei Grundannahmen, verbunden mit der Thematik der Körperlichkeit ergeben das
Fundament der Sportanthropologie. Besonders Plessner hat immer wieder auf die Verschränkung von Körper und Leib hingewiesen, die dem Menschen, im Unterschied zum
Tier, sehr wohl bewusst ist. Diese Verschränkung, verdeutlicht durch die Terminologie
des Leibseins und des Körperhabens, weist darauf hin, dass der Leib für den Menschen
den Zugang zur Welt bedeutet. Eingeschlossen hierin ist das Verhältnis des Leiblichen
in Bezug sowohl auf individuelle als auch gesellschaftliche Faktoren, die historischen
Wandlungen unterzogen sind. Somit kann von einem Person-Leib-Welt-Verhältnis gesprochen werden.
In Bezug auf den Sport unterscheidet Grupe (1982) nun vier unterschiedliche Bedeutungen der Bewegung, die sich aus dem bisher Gesagten ergeben. Diese Bedeutungen kön190
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
nen zwar von einander abgegrenzt werden, hängen jedoch zusammen und verschmelzen
ineinander:
1. Die instrumentelle Bedeutung der Bewegung;
2. die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung;
3. die soziale Bedeutung und die
4. personale Bedeutung.
Soll eine schulsportorientierte theoretische Fundierung aufzeigen, in welchen Bereichen
der Sport seine unverwechselbaren Aufgaben hat, so müssen die hier genannten Bedeutungen, die sich aus dem vorher Gesagten ergeben, unbedingt mit berücksichtigt werden. Die anthropologischen Grundannahmen in Bezug auf die Themenstellung des Körpers und der Bewegung sind somit umrissen und dienen als Grundpfeiler für die Einbettung in die schulsporttheoretischen Überlegungen, die aus den ersten beiden Teilen
abgeleitet werden.
191
instrumentelle
Bedeutung
sporttreibender, sich-bewegender Mensch
Körper als Grundlage menschl. Identität
Sportanthropologie
Mensch als soziales
Wesen
wahrnehmenderfahrende Bedeutung
Mensch als offenes
und handelndes Wesen
Schlüssel zum Verständnis
pädagogischer Systeme
Anthropologische Grundannahmen
Mensch als historisches
Wesen
personale
Bedeutung
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Abbildung 3: Körper und Bewegung.
192
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
2.
Gesundheit und Wohlbefinden
Der Zusammenhang zwischen Leibes- und Gesundheitserziehung hat eine lange Tradition, die sich in verschiedenen Ausprägungen bis in die Antike zurückverfolgen lässt (vgl.
Prohl, 1999, S. 165). So erkannte schon der griechische Schriftsteller Plutarch122 die
krankmachende Wirkung von Trägheit und Bewegungslosigkeit. Ein historischer Rückblick macht deutlich, dass Förderung der Gesundheit nicht über alle Epochen in gleicher
Weise ein zentrales Legitimationsmuster und Erziehungsziel der Leibesübungen und des
Sports gewesen ist. Dennoch wurde die Hoffnung auf gesundheitliche Wirkungen durch
Sport als ein Beleg für die individuelle, gesellschaftliche und pädagogische Legitimation
des Sports immer wieder als ein wesentliches Argument genannt. Spätestens seit der
Einführung des Preußischen Schulturnens im Jahre 1844 gilt die ‘Gesunderhaltung der
Jugend’ jedoch als ein wesentliches bildungspolitisches Argument für Leibesübungen
und Sportunterricht an Schulen123 (vgl. Balz, 1995, S. 21; Prohl, 1999, S. 165f).
Dass in der letzten Zeit das Gesundheitsmotiv eine bisher nicht gekannte Bedeutung
erhalten hat und zu einer wesentlichen Leitkategorie der Sportdidaktik geworden ist,
liegt nicht zuletzt daran, dass Gesundheit zu den akuten Problemen an der Schwelle zum
dritten Jahrtausend zählt (vgl. Balz, 1995, S. 7). Ralf Erdmann bemerkt diesbezüglich in
seinem Beitrag ‘Wege zur Spitzengesundheit’, dass die Beschäftigung mit der Gesundheit ‘Hochkonjunktur’ hat (vgl. Erdmann, 1991, S. 127). Entsprechend spielt das Gesundheitsmotiv auch in den Bildungsplänen eine bedeutende Rolle. So heißt es in allen
Bildungsplänen für das Land Baden-Württemberg, dass sowohl der unterrichtliche, wie
auch der außerunterrichtliche Sport zu Gesunderhaltung und Wohlbefinden beizutragen
haben. Während in der Grundschule durch eine ‘vielseitige und breitgefächerte Bewegungserziehung umwelt- und gesundheitsbewusste Einstellungen und Gewohnheiten
entwickelt’ werden sollen (vgl. Bildungsplan für die Grundschule, 1994, S. 28), spricht
der Bildungsplan in den anderen Schulstufen von insgesamt fünf zentralen Aufgaben
des Faches, wobei eines davon der Beitrag zur Gesundheitserziehung ist (vgl. Bildungs122
Geboren im Jahre 46 nach Chr. bezeichnet ihn Hans-Erhard Bock (1975, S. 247) als den ersten ‘Präventivmediziner’.
123
Balz (1995) weist darauf hin, dass schulische Leibesübungen, die sich an gesundheitlichen Zielen ausrichten, schon vor diesem Datum verbreitet sind und eine lange Tradition haben. So beinhalten beispielsweise die gymnastischen Übungen im Rahmen einer harmonischen Gesamtausbildung bei den Griechen,
die Übungen zur körperlichen ‘Behendigkeit’ aus der ritterlichen Exerzitien-Erziehung im Mittelalter oder
auch die Leibesübungen zum Zwecke einer allgemeinen Körper- und Gesundheitspflege im Geiste von
Humanismus und Renaissance sowie die Ideen der Philanthropen gegen Ende des 18. Jahrhunderts gesundheitspädagogische Motive (vgl. Balz, 1995, S. 21).
193
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
plan für die Hauptschule, 1994, S. 26; Bildungsplan für die Realschule, 1994, S. 26;
Bildungsplan für das Gymnasium 1994, S. 34).
Wie bereits angedeutet, spielt der Gesundheitsaspekt besonders in den neueren didaktischen Konzepten eine zentrale Rolle124. Zwar ist er nicht der ursprüngliche und eigentliche Sinn von Spiel und Sport, dennoch wird in den verschiedenen Beiträgen immer
wieder von einem gesundheitlich bestimmten Bildungsmotiv ausgegangen. Gemeint
sind zunächst die gesundheitlichen Wirkungen therapeutischer, rehabilitativer und prophylaktischer Art. Dieser Gesundheitsboom ist eine Konsequenz aus den gesellschaftlichen Veränderungen. Prävention als Mittel gegen die sogenannten Zivilisationskrankheiten lautet hier das Schlagwort (vgl. Prohl, 1999, S. 166).
a)
Gesundheit - was ist gemeint?
Bevor nun weiter auf die Möglichkeiten einer Gesundheitserziehung im und durch den
Schulsport näher eingegangen wird, muss der Gesundheitsbegriff geklärt werden. Nach
Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfasst der Begriff neben physischer Gesundheit oder dem Freisein von körperlichen Beschwerden auch psychisches
und soziales Wohlbefinden. In der Ottawa-Deklaration von 1986 wurde dieser Passus
insofern erweitert, dass nun auch die Eigenverantwortung des Individuums für seine
Gesundheit durch eine gesunde Lebensführung und der Einfluss von sozialen und ökologischen Bedingungen berücksichtigt werden. Gesundheit ist demnach auch eine öffentliche Aufgabe.
Wie die Kommission Gesundheit im Deutschen Sportbund und des Deutschen Sportärtzebundes [Kommission Gesundheit]125 in diesem Zusammenhang feststellt, werden die
Begriffe ‘Gesundheit’ und ‘Wohlbefinden’ zunehmend gleichgesetzt, wobei der Begriff
des Wohlbefindens gleichermaßen unscharf definiert wird (vgl. Kommission Gesundheit, 1993, S. 197). Unter Berücksichtigung einer spezifischen Kennzeichnung zwischen
124
Kurz (1990) unterscheidet in seinem Konzept insgesamt sechs Sinnrichtungen, wobei er das vierte mit
Fitness und Gesundheit umschreibt. Auch in einem etwas älteren, von Brodtmann, Dietrich, Jost und anderen veröffentlichten Beitrag in der Zeitschrift für Sportpädagogik (1977) sehen die Autoren in der Gesundheitserziehung einen wichtigen Beitrag des Sports. Auch Grössing (1997) sieht in der Gesundheitserziehung das Medium zur Festigung oder Wiederherstellung des Wohlbefindens. Darüber hinaus lässt sich
die Liste der Veröffentlichungen zu diesem Thema fast beliebig verlängern: angefangen von der Gesundheitsdiskussion im Bereich der verschiedenen Trainingskonzepte bis hin zu den Körpererfahrungskonzepten nimmt dieser Bereich eine zentrale Stellung ein.
125
Mitglieder dieser Kommission, die in der Juniausgabe 1993 einen Vorschlag zur Definition des Begriff
Gesundheitssport vorlegten, waren auf Seiten der Gesundheitskommission Prof. Dr. Kindermann, Prof.
Dr. Jüngst, Prof. Dr. Philipp, Prof. Dr. Rosemeyer, Prof. Dr. Rost, Prof. Dr. Schwenkmezger und Prof. Dr.
Zimmermann.
194
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Präventionssport, Bewegungstherapie, Sporttherapie und Rehabilitationssport schlägt
die Kommission einen übergeordneten Begriff ‘Gesundheitssport’ vor, den sie wie folgt
definiert:
„Gesundheitssport ist eine aktive, regelmäßige und systematische
körperliche Belastung mit der Absicht, Gesundheit in all ihren Aspekten,
das heißt somatisch wie psychosozial, zu fördern, zu erhalten oder
wiederherzustellen. Gesundheitssport umfasst den Präventivsport, die
Bewegungs- und Sporttherapie sowie den Rehabilitationssport. Da Sport
auch mit gesundheitsbezogenen Risiken verbunden sein kann, müssen die
Inhalte dosiert und in Anlehnung an die individuellen Voraussetzungen
ausgewählt werden“ (Kommission Gesundheit, 1993, S. 197).
In kontroversen Beiträgen weisen Balz, Beckers & Brux und Tischbier diesen Vorschlag
als zu einseitig zurück. Insbesondere Balz mahnt an, dass, wenn die funktionale Auslegung im Schulsport Anwendung fände, dieser eindimensional, langweilig und letztlich
auch in gesundheitlicher Hinsicht unfruchtbar wäre (vgl. Balz, 1993, S. 310). Grund
dieser Verengung sei die Tatsache, dass die vorgeschlagene Definition den Gesundheitssport als Oberbegriff für die Bereiche Präventions- und Rehabilitations sowie Bewegungs- und Sporttherapie nimmt. Da hier ein ausschließlich naturwissenschaftlicher
Zugang gewählt wird - soziologische, historische oder pädagogische Motive werden
ganz ausgeblendet -, kann die genannte Definition jedoch keinen, die ganze Sportwissenschaft betreffenden Anspruch haben. Aus pädagogischer Sicht kann das Gesundheitsmotiv nur eingebettet in ein Gesamtkonzept gesehen werden, das andere erzieherische Aufgaben gleichwertig mit einbezieht.
„Die pädagogische Kritik am sogenannten Gesundheitsmodell erhärtet sich
demnach in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist die stringente Orientierung
des Sports an gesundheitlichen Zwecken fragwürdig, da ein solches
Gesundheitsprogramm die Sache verbiegen, den mehrperspektivischen Sinn
unzulässig reduzieren und die Freude am eigentlichen zweckentlasteten Tun
verderben kann, Instrumentalisierung des Sports müßte die Diagnose lauten.
Zum anderen sind pädagogisch wünschenswerte Folgen - über die
unmittelbaren Programmeffekte hinaus - wenig bedacht, was jedoch im
Sinne einer Gesundheitserziehung, die auch eine individuelle Vermittlung
der Sorge um gesunde Lebensführung und ihrer Stärkung insgesamt im
Blick hat, zu kurz greift; Reduzierung der Ansprüche wäre die unliebsame
Konsequenz“ (Balz, 1993, S. 309).
195
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Gesundheitserziehung muss demnach, einem umfassenden pädagogischen Verständnis
zufolge, ganzheitlich angelegt sein. Dieser Meinung schließt sich auch Peter Kapustin
an, wenn er meint, dass Erziehungserfolge nur dann zu erwarten sind, wenn die zur gesundheitsbewussten Lebensführung notwendigen Kenntnisse und Einsichten durch einen positiven Erlebnisgehalt eines gesundheitsgerechten Handelns zu stabilen Werthaltungen führen (vgl. Kapustin, 1985, S. 102).
Kottmann & Küpper126 (1991) legen schließlich einen Gesundheitsbegriff vor, in dem unter Berücksichtigung der Ganzheitlichkeit menschlichen Handelns und Erlebens „die Dynamik in Form wechselseitiger Beeinflussung körperlicher, seelischer und sozialer Prozesse bedeutsam ist (Kottmann & Küpper, 1991, S. 143). Gesundheit ist dann
als ein In- und Miteinander physischer, psychischer, sozialer und ökologischer Faktoren
zu verstehen. Medizinische Parameter haben dabei zwar auch ihre Bedeutung für das
Wohl jedes Menschen, sie bedürfen jedoch der Erweiterung um psychische, soziale und
ökologische Aspekte.
Aus dieser Sicht formulieren sie insgesamt vier Kennzeichen einer erweiterten Sichtweise von Gesundheit:
1. Gesundheit ist je individuell und subjektiv zu bewerten; damit gewinnen Faktoren
wie Wohlbefinden, Spaß und Lustgewinn als individuelle und subjektive Normen
zumindest die gleiche Wertigkeit wie medizinische Parameter.
2. Gesundheit ist das Ergebnis aktiven Bemühens; sie stellt sich weder automatisch ein,
noch bleibt sie ohne individuelle Beeinflussung in ihrem Status erhalten. Da es keine
optimale Gesundheit gibt, die das Individuum eine Weile passiv genießen kann, gilt
es, sich kontinuierlich um das notwendige und angemessene Maß an Gesundheit zu
bemühen.
3. Gesundheit ist abhängig von der jeweiligen Lebenswelt und dem jeweiligen Lebensstil des Individuums.
4. Gesundheit erweist sich als ein Balancezustand, in dem das Gleichgewicht zwischen
subjektiven und sozialen Dimensionen immer aufs neue hergestellt werden muss.
Dieser Balancezustand ergibt sich aus dem Prozess der permanenten Auseinanderset-
196
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
zung mit den individuellen Bedürfnissen, wechselnder Befindlichkeit und wechselnden Lebensbedingungen (vgl. Kottmann & Küpper, 1991, S. 142).
b)
Gesundheit in Abgrenzung zu Wohlbefinden
Gesundheit wird also zunächst einmal positiv bestimmt und dabei in der Regel mit
Wohlbefinden gleichgesetzt. Das geschieht nicht zuletzt dadurch, dass die Dreiteilung
des Wohlbefindens (körperlich, psychisch, sozial) die Mehrdimensionalität betont und
damit die einseitige Bindung an körperliche Vorgänge löst (vgl. Schlicht, 1995, S. 24).
Grupe (1994, S. 27) bezieht diese Mehrdimensionalität auf drei Ebenen und betont, dass
Wohlbefinden „nicht oder nur zum Teil identisch mit Gesundheit“ sei.
Auf einer ersten Ebene unterscheidet er körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden.
Die zweite Ebene betrifft die zeitliche Erstreckung des Wohlbefindens, bei der zwischen
einem aktuellen und einem langfristigen Zustand unterscheidet. Während die ‘neuen
Sportmoden’ - sogenannte Fun- oder Spaßsportarten geeignet erscheinen, aktuelles
Wohlbefinden auszulösen, bedarf es für das langfristige Wohlbefinden ein intensives
Training, verbunden mit der Erfahrung der eigenen Leistungs- und Belastungsfähigkeit
sowie der zeitweiligen Toleranz körperlich unangenehmer Zustände.
Auf der dritten Ebene schließlich trennt Grupe richtiges und falsches Wohlbefinden.
Das falsche Wohlbefinden wird durch gesundheitlich riskantes Verhalten (Doping,
Völlerei, ...) erreicht, ist jedoch in der Regel nur von kurzer Dauer. Das pädagogisch
richtige Wohlbefinden ist ein aktives Wohlbefinden, das aus einer aktiven Gestaltung
des eigenen Körperverhältnisses und der Umwelt besteht (vgl. Grupe, 1994, S. 25).
Grupe ist dabei der Überzeugung, dass nur das aktive Wohlbefinden gesundheitlich bedeutsam ist.
Schlicht (1995, S. 26) sieht das Wohlbefinden als ein konstitutives Merkmal der psychischen Gesundheit: ein anderes Merkmal ist die Überzeugung, den Alltag nach seinen
eigenen Ideen und Wünschen gestalten zu können, von Schlicht als Bewältigungskompetenz bezeichnet. Weitere Bestimmungsstücke sind darüber hinaus die Selbstbejahung
126
Der Beitrag steht am Ende eines Herausgeberbandes mit dem Titel ‘Sport und Gesundheit’. In diesem
Band wurde das Thema zuvor unter Berücksichtigung pädagogischer, medizinischer, trainingswissenschaftlicher, soziologischer und psychologischer Sichtweisen diskutiert.
197
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
und die Sinnerfülltheit, wobei das Wohlbefinden und die Bewältigungskompetenz die
bestimmenden Merkmale der psychischen Gesundheit sind.
Aktives Wohlbefinden hat zu berücksichtigen, dass es im Missbefinden seine Kehrseite
hat. Somit muss auch dieses Missbefinden in Kauf genommen werden, um langfristiges
Wohlbefinden zu erreichen.
„Pädagogisch gesehen ist es wichtig zu lernen, mit Mißbefindenszuständen
umgehen zu können, sie zu akzeptieren, statt ihnen in Spaß und Vergnügen
auszuweichen. Pädagogisch, das heißt im Bewußtsein für einen
verantwortungsbewußten Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen
Gesundheit, ist es auch nicht sinnvoll, sich nur am Wohlbefinden zu
orientieren, sozusagen, von dem Prinzip des Lustgewinns und der
Mißbefindens-Vermeidung auszugehen. Das pädagogische Ziel des
Wohlbefindens ist ein Weg, der auch über Hindernisse, die man sich selbst
stellt, und letztlich zu keinem Ende führt. Um diesem Weg in befriedigender
Weise gehen zu können, müssen auch Zustände des Mißbefindens in Kauf
genommen werden, um langfristig Wohlbefinden und Gesundheit erreichbar
zu machen“ (Grupe & Krüger, 1997, S. 226).
Wie sich gezeigt hat, ist Wohlbefinden ein Merkmal der Gesundheit, wobei es noch
nicht gesichert ist, dass die sportliche Aktivität, die Wohlbefinden hervorruft, auch
gleichzeitig gesundheitlich wirksam ist.
In dem Verständnis der aktiven Auseinandersetzung sieht Beckers die Analogie zwischen Gesundheit und Bildung: „Beide bestehen in einem Prozeß der aktiven Auseinandersetzung, beide ereignen sich in einem dynamischen Wechselverhältnis von Person
und Welt“ (Beckers, 1987, S. 29). Beckers ist der Ansicht, dass Sport dann im Bereich
der Gesundheit eine wichtige Rolle spielen kann, wenn nicht das Produkt sportlicher
Leistung, sondern das Subjekt in den Mittelpunkt gerückt wird. In diesem Sinne stelle
Sport kein Mittel zur Vermeidung von Krankheit dar, sondern sei ein eigenständiges
Kulturphänomen, das „durch die Betonung von Wahrnehmung, Bewegung und Erfahrung einen Beitrag zur individuellen Sinnfindung leistet“ (Beckers, 1987, S. 33).
Auch Kurz (1995) kommt nach seinen umfangreichen Studien zu einem ‘Modell gesunder Lebensführung’, das medizinische und pädagogische Überlegungen zu integrieren
versucht. Das von ihm favorisierte Konzept der Diätik beinhaltet als wesentliche Merkmale ‘Selbstbestimmung, Verantwortung, Rhythmisierung, Mäßigung’, wobei er betont,
dass aus pädagogischer Sicht diese Merkmale entscheidend dafür sind, „wie die Sorge
um unsere Gesundheit - als eine Bedingung der Möglichkeit sinnerfüllten Lebens - und
198
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
die Fähigkeit ihrer Stärkung gedeihen. Dort muss Gesundheitserziehung ansetzen, Voraussetzungen berücksichtigen und notwendige Kompetenzen vermitteln, Bedingungen
verbessern und Wege erschließen“ (Kurz, 1995, S. 196f). In Bezug auf den Schulsport
ist er der Ansicht, „dass Kinder und Jugendliche einen vielseitigen und freudvollen aber keinen vordergründig gesundheitlich spezialisierten - Sportunterricht brauchen,
eher also ein Fach, das Gesundheitserziehung als eine pädagogische Aufgabe neben anderen pflegt und zunächst seinen Ausgleichscharakter betont, [...]“ (Kurz, 1995, S. 197).
Zusammenfassend scheint Gesundheit dann als ein wichtiger Teil der sportanthropolgisch motivierten Schulpädagogik zu sein, wenn ein sinn- und lebensweltorientiertes
Verständnis von Gesundheit zugrundeliegt. Das bedeutet dann, dass Gesundheit weder
herstellbar, noch durch Erziehungsmaßnahmen direkt anzusteuern ist, sondern sich dadurch kennzeichnet, dass es sich bei der Sinnfindung der eigenen Identität um ein aktives Bemühen um körperliches Wohlbefinden handelt.
c)
Fazit
Das Gesundheitsmotiv als Bestandteil sportanthropologischer Überlegungen hat eine
lange Tradition. Die Hoffnung auf eine gesundheitliche Wirkung durch Sport war immer wieder ein wesentliches Legitimationsargument, insbesondere in der neueren
Schulsportgeschichte, wobei das Gesundheitsmotiv gerade in der letzten Zeit eine bisher
nicht gekannte Bedeutung erlangt hat und zu einer wesentlichen Leitkategorie der
Sportdidaktik geworden ist. Entsprechend spielt das Thema der Gesundheit in den Bildungsplänen eine bedeutende Rolle.
Der Versuch einer näheren Bestimmung des Begriffes zeigt, dass es - je nach Sichtweise
und Forschungsgegenstand - große Unterschiede in der Beurteilung dessen gibt, was
unter Gesundheit verstanden wird. Aus pädagogischer Sicht muss die Gesundheitserziehung ganzheitlich sein und kann nur eingebettet in einem Gesamtkonzept gesehen werden, das andere erzieherische Aufgaben gleichwertig mit einbezieht.
Diesem Verständnis zu folge ist unter Gesundheit ein In- und Miteinander physischer,
psychischer, sozialer und ökologischer Faktoren zu verstehen, wobei medizinische Parameter lediglich ein Faktor sind. Hieraus ergeben sich wiederum vier Kennzeichen eines erweiterten Verständnisses von Gesundheit:
199
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
1. Sie ist individuell und subjektiv,
2. das Ergebnis eines aktiven Bemühens (während eines längeren Zeitraumes),
3. abhängig von der jeweiligen Lebenswelt und dem jeweiligen Lebensstil des Individuums,
4. ein Balanceakt zwischen subjektiven und sozialen Dimensionen, der immer wieder
hergestellt werden muss.
Diesem Verständnis zufolge wird Gesundheit zunächst einmal positiv bestimmt und mit
Wohlbefinden gleichgesetzt, welches durch seine Dreiteilung (körperlich, psychisch,
sozial) ebenfalls die Mehrdimensionalität herausstellt. Besonders Grupe (1994) betont
jedoch, dass Wohlbefinden allenfalls zum Teil identisch mit Gesundheit sei. Er sieht
Wohlbefinden - neben der individuellen Überzeugung, den Alltag nach seinen eigenen
Ideen gestalten zu können, der Selbstbejahung und der Sinnerfülltheit - vielmehr als ein
konstitutives Merkmal der psychischen und physischen Gesundheit.
Gesundheit als Teil des Schulsports kann dann im schulischen Rahmen eine Rolle spielen, wenn nicht das Produkt, sondern das zu bildende Individuum in den Mittelpunkt der
didaktischen Überlegungen rückt, eingebettet in ein pädagogisches Gesamtkonzept.
Abbildung 4: Gesundheit.
Gesundheit
ganzheitlich:
physisch, psychisch, sozial
individuell,
subjektiv
3.
abhängig von der
Lebenswelt
Ergebnis eines
aktiven Bemühens
Balanceakt zwischen
subjektiven & sozialen Dimensionen
Spiel, Spiele, Spielen
Hinter den Worten ‘Spiel’, ‘Spiele’ und ‘Spielen’ steckt ein vielgestaltiges Phänomen
menschlichen Lebens. Seit alters gehören sie zu den faszinierenden Erscheinungen unseres Lebens, so dass Wissenschaftler der verschiedensten Fachrichtungen immer wieder
200
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
zu Betrachtungen angeregt werden. Dabei spielen die Menschen127 auf sehr verschiedene
Weise, wobei gerade das Kinderspiel auch immer im Zusammenhang mit Bildungsdiskussionen zu finden ist: Frühkindliche Sozialisation und Vorschulerziehung vollziehen
sich im Wesentlichen durch das Medium des Spiels (vgl. Scheuerl, 1975, S. 189). Für
einen Außenstehenden ist oft nicht zu erkennen, welche Form des Spiels in den vielfältigen Gebrauchsweisen jeweils gespielt wird.
Auch oder gerade im Bereich der Sportpädagogik diente und dient das Spiel als eine
wichtige und oft benutzte Rechtfertigung. Dabei wird davon ausgegangen, dass beim
sportlichen Spiel besondere Erfahrungen verschiedenster Art gemacht werden können,
die einen notwendigen Teil der kindlichen und jugendlichen Entwicklung beinhalten
(vgl. u. a. Bernett, 1975; Sutton-Smith, 1978; Flitner, 1988; Scheuerl, 1994; Grupe,
1982, 1984, 1992, 1997; u.a.).
Bevor jedoch näher auf das sportliche Spiel eingegangen wird, muss geklärt werden was
Spiel ist, in welchen Erscheinungsformen es den Menschen begegnet und welche Konsequenzen sich für die Pädagogik ergeben (vgl. Scheuerl, 1994, S. 12).
a)
Beiträge der Spieltheorien zur Wesensbestimmung des Spiels
Wenn von den Spieltheorien die Rede ist, darf nicht übersehen werden, dass die Mehrzahl dieser Theorien zunächst keinen nennenswerten Einfluss auf die praktische Ausgestaltung hat. Dennoch ist es wichtig, der Frage nach dem Wesen des Spiels und den
Antworten, die die Spieltheorien darauf geben, nachzugehen. Hans Scheuerl hat in seinen Untersuchungen128 bezüglich der Frage nach dem, was Spiel ist, 6 Wesensmomente
herausgearbeitet, die den Kanon dessen bilden, was verschiedene Spieltheoretiker trotz
ihrer verschiedensten Standorte und Denkstile eint129 (vgl. Scheuerl, 1975, S. 203ff;
1994, S. 66ff).
(1)
Das Moment der Freiheit.
127
Dass natürlich auch Tiere spielen, soll hier nur am Rande angemerkt werden. Das Spiel der Tiere ist im
Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht interessant.
128
Sein grundlegendes Buch ‘Das Spiel - Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen’ wurde erstmals im Jahre 1954 veröffentlicht. Bei dem hier zitierten Werk handelt
es sich um die Ausgabe von 1994.
129
Scheuerl bezieht sich in seiner Wesensbestimmung auf ‘klassische Autoren’ wie etwa Kant, Schiller,
Hegel, Schleiermacher u.a. bis hin zu jüngeren Autoren wie Plessner oder Buytendijk. Wie sich im Folgenden zeigen wird, sind auch die Ähnlichkeiten zu Huizinga (1987) nicht zu übersehen.
201
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
„Alles Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Befohlenes Spiel
ist kein Spiel mehr. Höchstens kann es aufgetragenes Wiedergeben eines
Spiels sein“ (Huizinga, 1987, S. 16).
Eines der auffälligsten Merkmale des Spiels bezeichnet Scheuerl als zunächst rein negativer Natur: Spiel verfolgt keinen außerhalb seiner selbst liegenden Zweck (vgl.
Scheuerl, 1994, S. 67). Zunächst scheint der Spieler nach außen frei zu sein, innerhalb
des Spieles ist er jedoch an bestimmte Regeln gebunden, denen er folgen muss. Das
Spiel ist „nicht Ernst im gewöhnlichen Sinne“ (Scheuerl, 1994, S. 69), es ist ohne Verantwortung und ohne Konsequenz und nicht auf irgendeinen Zweck gerichtet. Wobei
dies nicht bedeutet, dass das Spiel nicht ernsthaft gespielt werden oder zweckvolle Zusammenhänge130 enthalten kann.
Diese Kriterien gelten für alle Formen des Spiels131, besagen jedoch nur, was das Spiel
nicht ist. „Sie besagen nicht mehr und nicht weniger, als dass man sich zum Spielen erst
frei machen müsse von allen möglichen Behinderungen. Was das Spiel selbst ist, bleibt
noch im Dunkeln“ (Scheuerl, 1994, S. 69).
(2)
Das Moment der inneren Unendlichkeit.
Scheuerl konstatiert in seinen Untersuchungen, dass es einerseits zwar einen Zwang
zum Spiel gibt, denn Kinder und Tiere müssen in bestimmten Situationen spielen, wenn
sie nicht neurotisch werden sollen; andererseits ist im erreichten Zustand des Spiels dieser Zwang nicht mehr zu spüren. Der Mensch, wäre er frei von Bedürfnissen, Nöten,
Verpflichtungen jeglicher Art, würde das Spiel nicht mehr beenden. Der Mensch wird
zum ‘homo ludens’:
„In der Sphäre der inneren Unendlichkeit haben die Gesetze und Gebräuche
des gewöhnlichen Lebens keine Geltung. Wir ‘sind’ und wir ‘machen’ es
‘anders’. Diese zeitweilige Aufhebung der ‘gewöhnlichen Welt’ ist bereits
im Kinderleben völlig ausgebildet, ebenso deutlich sieht man sie aber bei
den großen, im Kult verankerten Spielen der Naturvölker“ (Huizinga, 1987,
S. 21).
130
Bei der Planung und Durchführung im Rahmen von erzieherischen/ schulischen Zwecken beispielsweise kann das Spiel durchaus zweckorientiert eingesetzt werden, da Lern- und Erziehungsziele zugleich
angestrebt werden. Somit kann ein Spiel zweckorientiert und zweckfrei zugleich sein (vgl. Kapustin,
1986, S. 128). Andererseits geht eine solche Auslegung am Phänomen des Spieles vorbei, das in seinem
‘zweckfreien Wesen’ keinen erzieherischen Wert hat.
131
Gemeint sind in diesem Zusammenhang etwa das Kinderspiel, das Gesellschaftsspiel der Erwachsenen,
das Tierspiel, wie die verschiedenen Spiele der Kunst.
202
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
In diesem Punkt leitet Scheuerl die negative Bestimmung des Spiels zu einem positiven
Gedanken: „Das Spiel kann innerhalb seines Freiraums gekennzeichnet werden als
‘Bewegung von innerer Unendlichkeit’“ (Scheuerl, 1994, S. 73f).
(3)
Das Moment der Scheinhaftigkeit.
Das Moment der Scheinhaftigkeit bezeichnet die eigene Wirklichkeit, der das Spiel unterliegt.
„Spiel ist nicht das ‘gewöhnliche’ oder das ‘eigentliche’ Leben. Es ist
vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität
mit eigener Tendenz. Schon das Kind weiß genau, dass es ‘bloß so tut’, dass
alles ‘bloß zum Spaß’ ist“ (Huizinga, 1987, S. 16).
In der Formulierung ‘bloß zum Spaß’ zeigt sich die Bezeichnung des Scheins: das Gespielte wird als Nicht-Wirklich bezeichnet, wobei damit sowohl eine negative Formulierung (im Sinne einer Illusion, Täuschung oder gar minderwertigen Situation) als auch
eine positive Aussage (eine die Wirklichkeit bereichernde Situation) verbunden werden
kann.
(4)
Das Moment der Ambivalenz.
Die Doppelseitigkeit des Spieles meint, dass Spiele einer maßvollen Spannung bedürfen:
„Spannungslosigkeit wäre der Tod für das Spiel. Anderseits würde eine zu
hohe Spannung sogleich auf Beendigung der Spannung gerichteten
Befriedigungswunsch hervorrufen, der die Ambivalenz überwältigen müßte“
(Scheuerl, 1994, S. 88).
Es bedarf also einem mittleren Spannungsniveau, das einen offenen Ausgang garantiert,
aber weder zu groß, noch zu langandauernd sein darf, um das Spiel nicht zusammenbrechen zu lassen. Scheuerl spricht davon, dass die Souveränität des Spielers immer wieder
auf Schranken stößt, da das Spiel immer zugleich vertraut und fremd, bekannt und unbekannt ist. Das völlig Bekannte ist genauso ungeeignet für das Spiel wie das völlig
Unbekannte. Hier zeigt sich das Moment des Abenteuers, das zwar nicht fehlen darf,
aber zugleich auch immer den Schwebezustand des Spiels gefährdet.
203
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Auch in der psychischen Haltung des Spielers zeigt sich die Ambivalenz des Spiels: er
kann ‘unernst’, also ‘zum Spaß’ oder ‘mit größten Ernst’ spielen.
Zusammenfassend spricht Scheuerl davon, dass Spielen immer ein Sich-Halten im Zwischen ist:
„Spielen ist immer ein ‘Spielen - zwischen’. Wer von einem Wesen, einem
Ding, einem Geschehnis sagt, ‘es spielt’, der sagt formal nichts anderes aus,
als dass es nicht entschieden festgelegt sei, - weder auf ein eindeutiges Ziel,
noch auf einen eindimensionalen ‘Aktionstunnel’, - sondern dass es sich
allen Richtungspolen gegenüber in einem kreisenden, pendelnden,
schwebenden Zwischen befinde“ (Scheuerl, 1994, S. 90).
(5)
Das Moment der Geschlossenheit.
Spiele brauchen Regeln, Grenzen, Räume und Plätze, die sie von Nicht-Spielen unterscheiden:
„Es spielt sich innerhalb von bestimmter Grenzen von Zeit und Raum ab. Es
hat seinen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst“ (Huizinga, 1987, S. 18).
So kennzeichnet das Spiel auch, dass es einerseits frei und undeterminiert ist, andererseits jedoch nur innerhalb eines bestimmten Rahmens gespielt werden kann. Ein Minimum von Gesetzlichkeiten gehört zu jedem Spiel132. Nur weil das Spiel geschlossen ist,
kann es Formen annehmen, die sich über die Köpfe der „tragenden Subjektivitäten hinweg erhalten“ (Scheuerl, 1994, S. 94): Wenn es einmal gespielt worden ist, bleibt es als
geistige Schöpfung in der Erinnerung haften und kann jederzeit wiederholt werden. In
dieser Geschlossenheit zeigen sich noch zwei weitere Merkmale: zum Einen nimmt das
Spiel eine feste Gestalt als Kulturform an, es wird zum Kulturgut133, zum Anderen zeigt
sich in der Wiederholbarkeit eines der wesentlichsten Merkmale des Spiels (vgl. Huizinga, 1987, S. 18).
(6)
Das Moment der Gegenwärtigkeit.
132
Scheuerl lässt dabei nicht außer Acht, dass es in diesem Punkt sehr wohl unterschiedliche Auffassungen
bezüglich der Geschlossenheit gibt. So führt er beispielsweise Georg Kerschensteiner an, der das ‘hemmungslose Moment’ des Spiel betont, zeigt hierbei jedoch auf, dass es sich bei der Gegensätzlichkeit um
verschiedene Phänomene der Betrachtung handelt: während Regeln, und Gesetze als umgrenzende Normen in der scheinhaften Ebene der Spielphänomene selbst angetroffen werden, lassen sich hemmungslose
Prozesse nur von außen betrachten und sind somit auf einer anderen Ebene angesiedelt, da sie das Verhältnis des Spielers zum Spiel, nicht aber das Wesen des Spiels thematisieren (vgl. Scheuerl, 1994, S. 93).
133
Da das Spiel zum Kulturgut wird, weil es eine objektive Form hat, kann die Geschichte des Spiels
ebenso sinnvoll geschrieben werden, wie die Geschichte anderer Brauchtümer, letztlich der Kultur überhaupt.
204
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Spiele sind unmittelbar auf die Gegenwart bezogen, sind aber über den Augenblick hinaus offen, so dass der Ausgang des Spiels nicht vorherzusagen ist. Das Spiel ist nicht
zukunftsbezogen, sondern läuft in sich selbst zurück.
„Die Bewegung des Spiels fällt damit gleichsam aus der geradlinigen
Zeitreihe des Alltags heraus und will nichts erreichen. Keine ihrer Phasen
determiniert die folgende schon eindeutig, wie es bei gradlinig
fortschreitenden Bewegungsverläufen der Fall wäre. Sondern jede
Ablaufphase, jeder Moment birgt seine eigenen Überraschungen und
überläßt den folgenden die ihre“ (Scheuerl, 1975, S. 205).
Im Rahmen dieser Arbeit, die die anthropologischen Überlegungen, wie sie im Bereich
der Sportpädagogik beschrieben werden, als Grundlagen für die weitere theoretische
Fundierung des Schulsports nimmt, eignen sich die von Scheuerl zusammengetragenen
Merkmale deshalb besonders gut, weil sie zum Einen eine Synopse vieler Spieltheorien
darstellen und somit zum anderen auch Ausgangspunkt fachspezifischer Überlegungen
sind, wie sie etwa Kapustin (1986), Grupe & Krüger (1997) oder andere, nicht weniger
wichtige, Autoren134 anstellen.
b)
Die Bedeutung des Spiels und der Spiele
Wie schon anfangs erwähnt, gehören Spiele, Spiel und Spielen zu den primären
menschlichen Eigenschaften. Wurden bisher die übergreifenden Merkmale dieses vielgestaltigen Phänomens erfasst, so bedarf es nun jedoch einer Klärung der Bedeutung des
Spiels für die Menschen. Dabei steht in dieser Arbeit die sich hieraus ergebende Frage
der pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen bezüglich der Spieleerziehung im Mittelpunkt, so dass nicht auf Erscheinungen wie die Olympischen Spiele (mit ihren Berufsspielern) eingegangen wird, da sie nicht zu den Spielen in obengenanntem Sinne zu
zählen sind (vgl. Huizinga, 1987, S. 213ff).
Unter der Berücksichtigung der oben genannten sechs Merkmale kommt man bei der
Frage nach dem Spiel als menschliches Grundverhalten allenfalls zu dem Schluss, dass
134
Insbesondere Sutton-Smith, der mit seiner dialektischen Darstellung des Spiels zu etwas anderen
Merkmalsbeschreibungen gekommen ist, wird hier nicht näher beschrieben. Andererseits zeigt die von
ihm vorgeschlagene Definition, resultierend aus seinem theoretischen Ansatz, dass sich auch hier viele
Punkte erkennen lassen: „Spiel ist diejenige freiwillige Aktion, die eine dialektische Struktur hat und
reversible Handlungen ermöglicht“ (Sutton-Smith, 1978, S. 98). In der näheren Erklärung dieser Definition werden die Parallelen zu der Darstellung Scheuerls deutlich, so dass sich auch hier sein Anspruch
bestätigt, mit den sechs vorgeschlagenen Merkmalen des Spiels eine Bewegungsgestalt zu charakterisieren, die dem Menschen in allen möglichen Erfahrungsbereichen als Spiel begegnen kann und in dieser
bezeichnenden Konfiguration ein Ganzes bildet (vgl. Scheuerl, 1975, S. 206).
205
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
die Motive und Einstellungen nicht einheitlich benennbar oder gar umfassend erklärbar
sind. Geklärt werden kann auch nicht die Frage, warum der Mensch spielt.
„Dass es eine erhebliche Bedeutung hat, dass es eine notwendige, zumindest
nützliche Aufgabe erfüllt, wird allgemein ohne Widerspruch als
Ausgangspunkt für jede wissenschaftliche Untersuchung und Betrachtung
angenommen. Die zahlreichen biologischen Versuche, diese biologische
Funktion des Spiels zu bestimmen, gehen jedoch sehr weit auseinander“
(Huizinga, 1987, S. 10).
Gemeinsam haben die Erklärungsversuche jedoch, dass sie die primäre Qualität in der
Regel nicht beschreiben. Huizinga mahnt in diesem Zusammenhang an, dass der ‘eigentliche Witz des Spiels’ nicht biologisch erklärt werden kann:
„Die Intensität des Spiels wird durch keine biologische Analyse erklärt, und
gerade in dieser Intensität, in diesem Vermögen, toll zu machen, liegt sein
Wesen, steckt das, was ihm ureigen ist. Die Natur, so scheint der logische
Verstand zu sagen, hätte doch alle die nützlichen Funktionen wie Entladung
überschüssiger Energie, Entspannung nach Kraftanstrengung, Vorbereitung
für Forderungen des Lebens und Ausgleich für Nichtverwirklichtes ihren
Kindern auch in der Form rein mechanischer Übungen und Reaktionen mit
auf den Weg geben können. Aber sie gab uns gerade eben das Spiel mit
seiner Spannung, seiner Freude, seinem Spaß“ (Huizinga, 1987, S. 10f).
Gerade dieser ‘Witz des Spiels’ bestimmt das Wesen des Spiels; es wird von Huizinga
als die primäre Lebenskategorie bezeichnet, die es in seiner Ganzheit zu betrachten gilt.
Das Spiel ist an keine Kulturstufe gebunden und auf keinen rationalen Zusammenhang
zurückzuführen. Mit ihm erkennt man „den überlogischen Charakter unserer Situation
im Kosmos. Die Tiere können spielen, also sind sie bereits mehr als mechanische Dinge. Wir spielen und wissen, dass wir spielen, also sind wir mehr als bloß vernünftige
Wesen, denn das Spiel ist unvernünftig“ (Huizinga, 1987, S. 11f).
So ist es auch zu erklären, dass die ursprünglichen Betätigungen des menschlichen Zusammenlebens alle vom Spiel beeinflusst sind: am Beispiel der Sprache - das Kommunikationsmittel zwischen den Menschen überhaupt -, zeigt sich, wie der sprachschöpfende Mensch immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten springt, wie er für viele
Ausdrücke auch eine Metapher finden kann und wie hinter jeder Metapher ein Wortspiel
steckt. Aus diesen Überlegungen könnte man nun ableiten, dass Spielen eine (Vor)Form des Lernens sei. Scheuerl zeigt hingegen, dass dies nicht so ist, sondern, im Ge206
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
genteil, das Spiel selbst ein Lernen voraussetzt: das Spielen-Lernen. Spieltätigkeiten
bedürfen, da sie zielgerichtete, sinnvoll koordinierte Handlungen sind, immer auch minimaler Kenntnisse und Fertigkeiten, die außerhalb des Spiels erlernt oder in früheren,
einfacheren Spielen bereits erworben sein müssen. In der Spieltätigkeit selbst werden
diese Kenntnisse und Fertigkeiten nur rekapituliert und verfügbar gemacht. Das Spiel ist
in diesem Sinne mehr Nachübung als Vorübung135 (vgl. Scheuerl, 1994, S. 180).
c)
Erscheinungsformen des Spiels
Trotz der gemeinsamen Wesensmerkmale des Spiels als der ‘primären Lebenskategorie’
zeigt sich, dass die Art des jeweiligen Spiels immer von individuellen, kulturellen und
sozialen Einflüssen abhängt. Roger Caillois (1960) hat angesichts der Menge und der
Verschiedenheit der Spiele ein Ordnungsprinzip entwickelt, mit dessen Hilfe man vier
Grundtypen von Spielen unterscheiden kann, je nachdem, ob innerhalb des jeweiligen
Spiels das Moment des Wettstreits136 (agon), des Zufalls137 (alea), der Maskierung138
(mimicry) oder des Rausches139 (ilinx) vorherrscht (vgl. Caillois, 1960, S. 18f). Dazu
kommt, dass sich alle vier Grundtypen wiederum zwischen der Improvisation (paida)
und der Regelhaftigkeit, dem Hang zur Meisterung künstlicher Schwierigkeiten (ludus)
befinden. In vielen Fällen erscheint dabei ‘ludus’ als Weiterentwicklung der ‘paida’, die
sie diszipliniert und bereichert (vgl. Caillois, 1960, S. 39).
135
Es kann diese Nachübung dann aber auch eine notwendige und unentbehrliche Vorübung für gesteigerte, schwierigere Handlungen sein.
136
Hierbei handelt es sich um Spiele, die als Wettkampf erscheinen und bei denen einer künstliche
Gleichheit der Chancen geschaffen wird, damit sich die Wettkämpfer unter idealen Bedingungen miteinander messen können. Kennzeichnend für dieses Moment sind die gleichen Anfangschancen und die Rivalität, sowie der Wunsch, den Mitspieler in den vorher festgelegten Grenzen zu überbieten (vgl. Caillois,
1960, S. 21 - 24).
137
Abgeleitet vom lateinischen Wort für Würfel, handelt es sich hierbei um Spiele, bei denen der Spieler
nicht den geringsten Einfluss auf den Ausgang des Spieles hat. Somit geht es bei diesem Moment weniger
darum, den Mitspieler zu besiegen, als vielmehr das eigene Schicksal zu bezwingen. Da der eigentliche
Antrieb des Spieles die Willkür des Zufalls ist, setzt der Spieler weder sein Können noch seine Talente
ein, bedient sich weder seiner Geschicklichkeit noch seiner Muskelkraft oder Intelligenz. Manche Spiele
verbinden agon und alea miteinander (wie zum Beispiel die meisten Kartenspiele): der Zufall leitet das
Spielgeschehen, die Spieler versuchen dann, dieses Schicksal positiv für sich zu wenden. Glücksspiele
gehören zu den nur vom Menschen betriebenen Spielen, Tiere kennen nur Kampfspiele, Maskierung und
Rausch (vgl. Caillois, 1960, S. 24 - 27).
138
Bei diesem Moment besteht das Spiel nicht darin, eine Tätigkeit zu entfalten oder in einem imaginären
Milieu ein Schicksal über sich ergehen zu lassen, sondern darin, selbst zu einer illusionären Figur zu werden und sich dementsprechend zu verhalten. Mimik und Travestie sind die auslösenden Antriebe für diese
Art von Spielen und das Vergnügen besteht darin, dass man ein anderer ist oder dass man für einen anderen gehalten wird (vgl. Caillios, 1960, S. 27 - 32).
139
Schließlich fasst die letzte Kategorie alle jene Spiele zusammen, „die auf dem Begehren nach Rausch
beruhen und deren Reiz darin besteht, für einen Augenblick die Stabilität der Wahrnehmung zu stören und
dem klaren Bewusstsein eine Art wollüstiger Panik einzuflößen“ (Caillios, 1960, S. 32). Dieser Rausch
wird in der Regel lediglich um seiner selbst Willen gesucht.
207
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
(1)
Verteilung der Spiele (vgl. Caillois, 1960, S. 46).
In jeder senkrechten Rubrik sind die Spiele annähernd so in einer Ordnung klassifiziert,
dass das Element ‘paida’ ständig abnimmt, während das Element ‘ludus’ ständig
wächst.
PAIDA
(Improvisation)
Lärm
Agon
Alea
Mimicry
Ilinx
(Wettkampf)
(Chance)
(Verkleidung)
(Rausch)
Nichtgeregelter
Wettlauf, Kampf
usw.
Auszählspiele ‘Zahl
oder Adler’
Kindliche Nachahmung,
kindliche Drehspiele, Zirkus,
Schaukel, Walzer
Illusionsspiele,
Puppe, Rüstung,
Maske, Travestie
Bewegung
Gelächter
Athletik
Drachen, Patiencen
Boxen, Billard,
Fechten, Damespiel,
Fußball, Schach
Wette, Roulette
Kreuzworträtsel
Sportwettkämpfe im
Allgemeinen
Lotterien
LUDUS
(Regelhaftigkeit)
Jahrmarktattraktionen
Theater
Ski
Schaukünste im
Allgemeinen
Kunstsprünge
Alpinismus
208
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
(2)
Regeln.
Für das Zustandekommen von Spielen sind Regeln konstitutiv, jede Spielgemeinschaft
hat ihre Regeln. Die Regeln, die bestimmen, was innerhalb der zeitweiligen Spielwelt
gelten soll, sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel. „Sobald die Regeln
übertreten werden, stürzt die Spielwelt zusammen“ (Huizinga, 1987, S. 20). Der Spieler,
der sich den Regeln entzieht oder sich ihnen widersetzt, nimmt dem Spiel die ‘Illusion’,
zerbricht die ‘Zauberwelt’ und gilt als Spielverderber.
Dennoch scheint es, wie oben auch in der Darstellung von ‘paida’ und ‘ludus’ deutlich
wird, dass viele Spiele keiner Regeln bedürfen. Hier ersetzen sie dann die Fiktion, die
besondere Situation, die der Spieler akzeptiert und erfüllen genau die gleiche Rolle. So
erschafft sich die Regel eine Fiktion und die Fiktion wird zur Regel (vgl. Caillois, 1960,
S. 14f).
d)
Pädagogische Konsequenzen
Ausgehend vom Wesen und von den Merkmalen des Spiels, erscheint es zunächst fragwürdig, ob normative Forderungen im Bereich der Spielpädagogik sinnvoll erscheinen.
Zunächst einmal gehört Freiheit zu den konstitutiven Wesensmerkmalen des Spiels. So
kann das freie Spiel auch ein Spielen-Lassen bedeuten. Der Erzieher beschränkt sich
zunächst darauf, das Spiel der Kinder zu beobachten. Ob innerhalb eines solchen Spielraumes gespielt wird oder nicht, sei dahin gestellt.
„In diesem Sinne ist auch die oft vertretene Auffassung berechtigt, daß das
freie Spiel der Mutterschoß aller künftigen Betätigungsweisen des Kindes
sei: Nicht das Spiel-Betreiben als zielgerichtetes Handeln ist dieser
Mutterschoß, sondern das ‘anome’ Umherspielen, aus dem sich jede
gerichtete Handlung erst herausentwickeln muß“ (Scheuerl, 1994, S. 182).
Alles Handeln muss sich aus diesem anomen Umherspielen entwickeln, so dass Scheuerl das Gewähren dieses Spielraums als einen Akt bezeichnet, der Erziehung erst möglich macht (vgl. Scheuerl, 1994, S. 183). In dieser Ermöglichung bleibt die Pädagogik
notwendigerweise negativ, wobei sie durch das Schaffen der Atmosphäre einer solchen
Spielkultur nicht ohne das positive Moment des Eingriffs bleibt140. Wesentlich ist, dass
140
Diese Negativität erzieherischen Handelns (Rousseau) darf also nicht so verstanden werden, als solle
der Erzieher gänzlich darauf verzichten, auf die Schüler pädagogisch einzuwirken. Es geht nicht darum,
209
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
dieser freie Spielraum in die Schule mit hineingenommen wird141 (vgl. Kap. 2.4 dieses
Teiles).
Erziehung ist jedoch mehr als die bloße Befreiung. Dies muss auch die Spielpädagogik
berücksichtigen. In dieser Hinsicht muss die Spielpädagogik dem Kind die Möglichkeiten eines ‘gebundenen Spieles’ geben, möglichst im fließenden Übergang ausgehend
vom freien Spiel. Sport bietet hierbei eine besondere Chance, wenn man beispielsweise
nur einmal an die Möglichkeiten der Bewegungslandschaften denkt. Aber auch allgemein sind Regel-, Wettkampf- und Sportspiele soziale, interaktive und kommunikative
Ereignisse, die sich durch mehr oder weniger verbindliche, entweder kurzfristig vereinbarte oder meistens relativ überdauernde Regeln auszeichnen (vgl. Grupe & Krüger,
1997, S. 240).
„Es ist ein Vorurteil zu meinen, Spieltätigkeiten müßten immer spontan
entstehen, und ein aufgegebenes Spiel sei schon kein Spiel mehr. Dieses
Vorurteil resultiert aus einem zu engen und einseitigen Spielbegriff. Die
Freiheit des Spiels ist nicht eine Freiheit der Spieltätigkeit, sondern eine
Freiheit des Spielgeschehens“ (Scheuerl, 1994, S. 191).
In enger Nähe zum Spiel (und zum Lernen) und doch als eigenes Phänomen sieht
Scheuerl das Experiment. Im Gegensatz zum Spiel wird das Experiment jedoch nicht
um seiner selbst, sondern um des Lernens willen angestellt. Kinder experimentieren und
vermehren dadurch zielgerichtet ihren Planungsschatz. Dennoch bleibt die tendenzielle
Nähe erhalten, da jedes Experiment als Phänomen gewisse Ähnlichkeiten zum Spiel hat:
zwar ist es durch seine Anfangs vorhandene Fragestellung auf ein Ergebnis gerichtet,
das Ziel selbst ist jedoch ungewiß. Besonders für das sportliche Experiment ist wichtig,
dass es selbst ein Spiel sein kann. Konkret meint dies, dass Kinder mit Spielmöglichkeiten experimentieren können, beispielsweise dann, wenn Kinder Spielregeln so lange
verändern, bis das ‘eigene Spiel’ erfunden ist (vgl. Scheuerl, 1994, S. 197).
Schließlich bleibt das Lern-Spiel zu erwähnen, das aber in vielen Fällen die Tendenz
hat, zu formalen Abkürzungen und Mechanisierungen des Wissens zu tendieren. Natürlich muss das Lernspiel nicht nur negativ sein, seine eng begrenzten Möglichkeiten set-
jegliche Erziehung abzulehnen oder gar den Erzieher/ Lehrer überflüssig zu machen. Vielmehr sollen so
die Anlagen des Kindes zu ihrem Recht kommen (vgl. Prohl, 1999, S. 17).
141
In der Arbeitsschule Hugo Gaudigs oder in der ‘offenen Werkstatt’ der Jena-Plan-Schule ist das Moment des freien Spiels berücksichtigt.
210
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
zen jedoch eine Fülle von Stoffkenntnissen voraus, die es selbst nicht vermitteln kann
(vgl. Scheuerl, 1994, S. 201 - 204).
e)
Leibeserziehung als Spiel
Das Spiel ist ein fester Bestandteil im Schulsport: angefangen über spielerische Erfahrungen, etwa in einer Bewegungslandschaft über die Vermittlung von kleinen Spielen
bis hin zu den großen Spielen wird in den Schulen im (Sport)Unterricht in vielfältigen
Variationen gespielt. Andererseits darf die Gefahr nicht übersehen werden, dass die in
der Schule ausgeübten Spiele nicht einem planmäßigen Lernen so sehr untergeordnet
werden, dass sie um ihre Möglichkeiten gebracht werden. Hans Schöneberg (1975) kritisiert eben diese Unterordnung, wenn er bemerkt, dass das Spiel in den Dienst des Lernens und Übens gestellt und somit zur ‘Magd der Wissensvermittlung’ oder aber der
‘Muskel- bzw. Sozialertüchtigung’ degradiert wird (Schöneberg, 1975, S. 181). Seiner
Ansicht nach gehört das Spiel jedoch unbedingt in die Schule: „Muskelkräftigung, Bewegungsschulung, Leibeserziehung sind mit einem so wesentlichen menschlichen Phänomen wie dem Spiel überhaupt nicht vergleichbar: Sie sind ihm geradezu belanglos“
(Schöneberg, 1975, S. 182). Gemeint ist jedoch das Spiel, das frei von fremden Absichten ist:
„Der Wettlauf, das Springen und Ballwerfen: Alle diese Tätigkeiten sind nur
aus dem Spielerischen zu erklären und ursprünglich durchaus nicht als eine
Muskelübung oder dergleichen gemeint. Und es kommt darauf an, sie in
diesem Sinne wieder sehen zu lernen und in Gang zu setzen. [...] Der Ruf
nach dem Spiel ist immer ein Ruf nach vorn, nach dem jeweils
Menschlicheren des Menschen“ (Schöneberg, 1975, S. 182).
Auch Huizinga (1987) mahnt an, dass das sportliche Spiel durch die immer ernsthaftere
Regelhaftigkeit zunehmend an reinem Spielgehalt verliert. „Der Sport ist vollkommen
weihelos geworden und hat keine organische Verbindung mehr mit der Struktur der
Gemeinschaft, auch nicht, wenn eine Regierungsgewalt seine Ausübung vorschreibt“
(Huizinga, 1987, S. 213). Somit bleibt der Sport, wie bedeutsam er für die Sportler und
Zuschauer auch immer ist, eine „unfruchtbare Funktion, in der der alte Spielfaktor zum
großen Teil abgestorben ist“ (Huizinga, 1987, S. 213f).
f)
Fazit
211
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Das Spiel, ‘primäre Lebenskategorie’ des Menschen, ist ein vielgestaltiges Phänomen,
das immer von individuellen, kulturellen und sozialen Einflüssen abhängt. Da es in der
menschlichen Entwicklung immer eine bedeutende Rolle gespielt hat, war es zeitlebens
Gegenstand vielfältiger wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Ergebnisse der verschiedensten Spieltheorien hat Scheuerl (1994) in sechs Wesensmerkmale zusammengefasst, die ihre Gemeinsamkeiten beinhalten:
1. Das Spiel ist frei von äußeren Ziel- und Zwecksetzungen; es genügt sich selbst. Immer dann, wenn diese Freiheit missbraucht wird, geht ein wichtiges spielerisches
Element verloren. Das beinhaltet auch die Freiheit der Spieler, was bedeutet, dass
niemand zum Spiel gezwungen werden kann.
2. Die innere Unendlichkeit meint, dass das Spiel im Unterschied zu Zweckhandlungen
seine eigenen Gesetze und Gebräuche hat. Die ‘gewöhnliche Welt’ wird im Spiel
zeitweise aufgehoben, es richtet sich nicht nach einem ‘von außen’ vorgegebenen
Zeitplan, sondern nach seiner eigenen ‘inneren Uhr’.
3. Das Moment der Scheinhaftigkeit meint, dass Spiele ihre eigene Wirklichkeit erzeugen.
4. Das Moment der Ambivalenz bedeutet, dass Spiel einer maßvollen Spannung bedürfen: sowohl Spannungslosigkeit als auch ein zu großes Erregungsniveau lassen das
Spiel zusammenbrechen.
5. Durch das Moment der Geschlossenheit wird ausgedrückt, dass Spiele ihre eigenen
Regeln, Grenzen, Räume und Plätze brauchen, durch die sie sich von Nicht-Spielen
unterscheiden können.
6. Das Moment der Gegenwärtigkeit bedeutet schließlich, dass das Spiel über den Augenblick hinaus offen und im Ausgang nicht vorherzusagen ist.
Trotz dieser Wesensmerkmale ist es zunächst nicht geklärt, warum gespielt wird. Huizinga kommt zu dem Schluss, dass Spiele den überlogischen Charakter im Kosmos aufzeigen, weshalb er auch von einer ‘primären Lebenskategorie’ spricht. Dazu gibt es eine
Fülle verschiedenster Spiele, die Caillois (1960) in ein Ordnungsschema bringt, das vier
Grundtypen von Spielen unterscheidet: das Moment des Wettstreits (agon), das des Zufalls (alea), der Maskierung (mimicry) und des Rausches (ilinx). Diese befinden sich
wiederum in ihrer Ausgestaltung zwischen der Improvisation (paida) und der Regelhaftigkeit (ludus), wobei das Spiel ohne konstitutive Regeln nicht denkbar ist.
212
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Abbildung 5: Das Spiel.
Das Spiel
6 Wesensmerkmale
Scheinhaftigkeit
Freiheit
innere
Unendlichkeit
Geschlossenheit
Ambivalenz
Gegenwärtigkeit
Ordnungsschema
nach Caillois
Auch in der pädagogischen Konsequenz sollten die Wesenszüge und die sich aus der
Vielzahl der verschiedenen Spiele ergebenden Möglichkeiten bedacht werden. Der Ursprung liegt im bloßen anomen Umherspielen, aus dem sich Regelhaftigkeiten mehr und
mehr entwickeln können. In diesem Punkt liegen auch die Möglichkeiten der Sportspiele, die soziale, interaktive und kommunikative Ereignisse sein können. Verbunden
mit dem Experiment, bietet das Spiel eine Fülle von Möglichkeiten, die es in den Bildungsprozess hervorragend einbinden. Dennoch darf - gerade im Sport - nicht übersehen
werden, dass die modernen Spielerscheinungen nicht viel mehr als den Namen mit seinem ursprünglichen Wesen gemein haben. Dass Sportspiele ‘weihelos’ (Huizinga, 1987,
S. 213) geworden sind und kaum noch Verbindung mit der Struktur der Gemeinschaft
haben, muss in der Schule aufgezeigt und kritisch betrachtet werden. Auch dies ist ein
wesentlicher Bestandteil eines zeitgemäßen Bildungsprozesses.
4.
Leistung
Die menschliche Fähigkeit, sich selbst Handlungsziele zu setzen, um sich dann um die
Erreichung dieses Zieles zu bemühen, wird mit ‘Leistung’ umschrieben. Dies gilt be213
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
sonders dann, wenn das Handeln mit Anstrengung verbunden ist und dem Handelnden
nicht klar ist, ob er sein Ziel erreicht (vgl. Hecker, 1985, S. 133).
Heckhausen (1974, S. 11ff) verbindet den Leistungsbegriff aus der Sicht der Psychologie mit fünf Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit der Mensch Leistung bei sich
oder anderen erfahren, begreifen und beobachten kann:
1. Leistungen müssen Handlungen sein, die ein erzieltes oder erzielbares Resultat haben.
2. Die Aufgabentätigkeit muss auf eine Schwierigkeitsskala beziehbar sein. Man muss
das Ergebnis mit einem Maßstab beziehungsweise mit einer Bezugsnorm beurteilen
können.
3. Die Leistung muss gelingen oder misslingen können: was entweder zu leicht oder zu
schwer ist, ist keine Leistung142.
4. Die Schwierigkeitsskala der Aufgabe muss mit dem Gütemaßstab korrespondieren,
der für den Handelnden selbst verbindlich ist, die Aufgabe muss also selbstwertrelevant sein und der vorhandenen Tüchtigkeit entsprechen.
5. Das Handlungsergebnis muss vom Handelnden selbst verursacht sein, es muss beabsichtigt und darf nicht durch Zufall zustandegekommen sein. Es darf nicht von äußerer Hilfe oder äußerer Behinderung abhängig sein.
Wenn alle genannten fünf Bedingungen vorliegen, spricht der Psychologe von ‘leistungsthematischen Grundsituationen’143, die von anderen Grundsituationen abgegrenzt werden können und eine menschliche Grundbefindlichkeit darstellen, die zur Daseinsfindung der Lebensbedingungen notwendig sind.
Hier wird die Überschneidung mit der philosophischen Anthropologie deutlich, denn die
menschliche Fähigkeit, etwas leisten zu können, selbst das Maß der Leistung festzulegen und dabei das Wofür zu berücksichtigen, wird als ursprünglich anthropologisches
Merkmal des Menschen angesehen: „Man wird nun mit Recht bemerken, dass es keine
einzige menschliche Handlung gibt, die nicht zugleich Leistung wäre“ (Hecker, 1985, S.
134, zitiert nach Buytendijk).
142
Heckhausen unterscheidet hier noch einmal zwischen einem fähigkeits- und einem anstrengungszentrierten Leistungsbegriff. Es gibt Leistungen, die wir weitgehend kausal auf ein bestimmtes Fähigkeitsniveau des Handelnden zurückführen, sei es, dass es vorhanden ist oder fehlt. Andererseits gibt es Tätigkeiten, wo es lediglich auf Anstrengung, Energie und Kraftaufwand ankommt. Die Regel ist eine Mischung
zwischen beiden Zentrierungen, denn häufig kann man mangelnde Fähigkeiten durch erhöhte Anstrengung
ausgleichen oder umgekehrt mangelnde Energie durch größere Fähigkeiten (vgl. Heckhausen, 1974, S.
12).
143
Andere Grundsituationen sind beispielsweise der soziale Anschluss, die Macht oder die Aggression.
214
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Anknüpfend an die Bemerkung Buytendijks wird diese neutrale Formulierung jedoch
pädagogisch erst interessant, wenn es gelingt, die subjektive Bedeutung der Leistung
herauszuarbeiten:
„Der Begriff der Leistung wird erst dadurch zu einer Kategorie, die uns
pädagogische Zusammenhänge aufzuschließen vermag und uns gültiges
Richtmaß pädagogischen Handelns - auch und gerade in der
Leibeserziehung - zu werden vermag, dass wir ihn als Inbegriff
individuellen Könnens interpretieren“ (Klafki, 1975a, S. 137).
Andererseits kann die subjektive Leistung erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn
sie im Bezug zu von außen herangetragenen Leistungsanforderungen gesehen wird. Das
heißt, dass sich die individuelle Leistungsfähigkeit und der Leistungswille eines Menschen erst angesichts objektiv vorgegebener Leistungsforderungen und -erwartungen
entwickelt144. Die individuelle Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft ist also immer ein gesellschaftlich vermitteltes Phänomen, wobei dies nicht bedeutet, dass individuelle Leistung nichts anderes als ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Dennoch bestimmt das, was in unserer Gesellschaft als Leistung höherer oder niederer Qualität Anerkennung findet, den sozialen Rang, die soziale Geltung und damit auch das
individuelle Selbstbewusstsein jedes Menschen.
„Einerseits kann sich der Einzelne durch Leistung eine Position in der
Gesellschaft schaffen, die es ihm ermöglicht, in kleinerem oder größerem
Maße nach eigenen Vorstellungen und im Zusammenwirken mit
gleichgesinnten Menschen verändernd auf die gegebene Gesellschaft
einzuwirken; andererseits kann sich der Einzelne durch seine Leistungen in
der Gesellschaft und für sie jenen Raum schaffen, in dem er relativ frei von
und gegenüber der Gesellschaft, in der er sein eigener Herr ist oder sein
könnte“ (Klafki, 1975a, S. 140f).
Wenn Leistung in diesem Sinne aufgefasst und gefordert wird, dann kann sie dem Individuum in Form einer Herausforderung und Bestätigung helfen, Selbstbefangenheit und
Subjektivität zu überwinden und wird somit zu einem wichtigen Teil erzieherischer
Überlegungen145.
Klafki (1975a, S. 138) führt dazu aus, dass das Leistungspotential, mit dem jeder Mensch ausgestattet
ist, individuell verschieden und nicht unbegrenzt bildbar ist. Dennoch schließt er aus zahlreichen Untersuchungen pädagogischer, soziologischer und psychologischer Art, dass das Ausmaß der menschlichen
Leistungsfähigkeit viel größer ist, als das gewöhnlich angenommen wird.
145
Eine solche Auffassung von Leistung scheint nach Ansicht Krockows zunächst jedoch unüblich, da sie
nicht konkurrenzorientiert auf das ‘Überbieten’ angelegt sind (vgl. Krockow, 1972, S. 16; 1974, S. 12).
144
215
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Auch Haag (1995, S. 83 - 111) zeichnet aus sportphilosophischer Sicht einen Leistungsbegriff, der die besagte Zweiseitigkeit aufgreift, wenn er durch seine verschiedenen
Momente die Spannung zwischen individueller und gesellschaftlicher Relevanz deutlich
macht.
Güldenpfennig (1996), der durch ein Resumée verschiedener Beiträge der letzten 25
Jahre die gleiche Zweiseitigkeit des Leistungsbegriffs herausarbeitet, stellt sich die Frage nach dem primären Motiv der sportlichen Leistung, das entweder eine ‘Erscheinung
sui generis’ oder ein ‘Ausdruck gesellschaftlicher Erscheinungen’ sein kann (vgl. Güldenpfennig, 1996, S. 192)146. Dabei sieht er seinen Beitrag als eindeutiges Plädoyer für
die erste Variante, die sich zwangsläufig einstellt, wenn der wissenschaftliche und philosophische Diskurs sich der ‘legitimen Autonomie’ des Sports zuwendet, statt auf die
‘strukturellen Analogien des Sports zu anderen gesellschaftlichen Erscheinungen’ zu
verweisen (vgl. Güldenpfennig, 1996, S. 195).
An dieser Stelle soll noch einmal auf die Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie zurückgegriffen werden. Der Mensch als weltoffenes und auf Lernen hin angelegtes
Wesen muss sich seine Möglichkeiten der Leiblichkeit erarbeiten: Laufen, Werfen,
Klettern, Fangen usw. müssen gelernt, also geleistet oder erleistet werden. Diese Leistungen werden von den jungen Menschen jedoch nicht als Last oder bittere Notwendigkeit erfahren, sondern im Gegenteil als sinnvolle Erfüllung, freudvolles Tun und Erprobung des eigenen Könnens, der eigenen Leistung (vgl. Klafki, 1975a, S. 143f).
Unter diesem Gesichtspunkt - nämlich, dass das Leisten ein konstitutives Moment allen
menschlichen Lernens ist - liegt der Sinn der Leistung darin, dass sie als der Weg zum
Können und das Medium des ‘freudigen Könnensbewußtseins’ ist.
„Allen skeptischen Deutungen des modernen Sports gegenüber, soviel
Richtiges sie im einzelnen treffen mögen, behaupte ich, dass diese Freude an
der eigenen Leistung, am eigenen Können oder am Können einer Gruppe
immer noch das zentrale Motiv des Sports ist“ (Klafki, 1975a, S. 144).
Bezogen auf Sport ist es nicht sinnvoll, Leistung allein als Kriterium derjenigen Vollzüge zu betrachten, deren Ergebnisse sich punktuell objektivieren und durch Längen-,
Gewichts- und Zeitmaße oder durch Punktwertungen fixieren lassen. Leistung bedeutet
146
Hier erkennt man den Rückgriff Rousseaus Emile, wenn dieser sagt: „Es besteht ein großer Unterschied
zwischen dem natürlichen Menschen, der im Naturzustande lebt, und dem natürlichen Menschen, der in
der Gesellschaft lebt. ... Man darf nicht verwechseln, was im Naturzustande natürlich ist und was im Gesellschaftszustand natürlich ist.“ (Rousseau (1991). Emile oder Über die Erziehung. Paderborn, S. 205).
216
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
zunächst einmal die Überwindung von Schwierigkeiten, die Bewältigung eines selbstgesetzten Bewegungszieles und kann als das objektive Maß eines individuellen Könnens
verstanden werden.
„Das Leistungsmoment ist in sich selbst sinnvoll, weil und soweit es ein
Element freudigen Könnensbewußtseins des Heranwachsenden bzw. des
Erwachsenen darstellt“ (Klafki, 1975a, S. 148).
Dieses ‘freudige Könnensbewußtsein’ bedeutet, dass die sportliche Leistung um ihrer
selbst willen betrieben werden soll, aus Freude an den zahlreichen Möglichkeiten des
Sich-Bewegens. Ein konstitutives Moment solcher Freude ist das Leisten-Können, ohne
Leisten zu müssen (vgl. Klafki, 1975b).
Leistung hat somit einen festen Platz bezüglich des sportlichen Tuns. Insofern ist die
häufig anzutreffende Klage über die Entseelung des Sports durch das Leistungsstreben
irreführend. Auch die Warnung vor der sogenannten Rekordsucht, vor dem Streben nach
Höchstleistung - dies kann sich durchaus auch auf den Klassenverband beziehen - ist
nicht gerechtfertigt. Denn nicht im Leistungswillen oder im Rekordeifer liegt die Gefahr, sondern darin, dass sich der Wille zur hohen Leistung mit problematischen Motiven ganz anderer Herkunft verbindet. Dies betont auch Güldenpfennig, wenn er anmerkt, dass die spezifische Struktur des sportlichen Leistungshandeln in seinem reflexiven, nach innen gerichteten Charakter liegt:
„Sportliches Handeln folgt primär gar nicht der Intention der Überbietung
eines außerhalb des sporttreibenden Individuums ansässigen Gegners. Es
folgt primär vielmehr der Intention der Selbst-Überbietung, der Steigerung,
zumindest der Ausschöpfung, Ausreizung der eigenen sportlichen
Leistungsmöglichkeiten -bzw. noch genauer, da die letztlichen Grenzen der
eigenen individuellen Möglichkeiten nicht überboten, überschritten, sondern
nur asymptotisch schrittweise angenähert und erreicht werden können: der
Selbst-Vervollkommnung“ (Güldenpfennig, 1996, S. 197).
Andersherum ist es das verfehlte Resultat einer sportlichen Leistung (oder der Darstellung einer sportlichen Leistung), wenn sie dazu führt, dass Niederlagen nicht ertragen
werden, Anerkennung anderer Leistungen versagt bleiben oder die Mitarbeit im sportlichen Spiel verweigert wird. „Die wahre Freude an der eigenen sportlichen Leistung
217
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
schließt immer die Freude über die Leistung des anderen mit ein“ (Klafki, 1975a, S.
158).
In diesen Überlegungen zeigen sich jedoch auch gewisse Widersprüche bezüglich der
Ermittlung verschiedener Motive, die den Einzelnen anregen, Leistung zu erbringen.
Grupe & Krüger (1997, S. 257ff) unterscheiden zunächst einmal zwischen normiertem
disziplin- und wettkampforientiertem Sport und solchem, der diese Merkmale nicht hat.
• In Bezug auf einen sportlichen Wettkampf ist es das Ziel, die Leistungen der verschiedenen Sportler miteinander zu vergleichen. Durch die Herstellung der formalen
Chancengleichheit zu Beginn des Wettkampfes sollen gleiche Bedingungen für die
Wettkämpfer geschaffen werden. Damit soll auch erreicht werden, dass die vom
Wettkampf erhoffte Spannung und Dramatik im Verlauf des Wettkampfes erhalten
bleibt oder gesteigert werden kann. Die Spannung eines Wettkampfes löst sich erst,
wenn der Sieger ermittelt ist. Die Motive, die dieser Form des Sporttreibens zu
Grunde liegen, sind ‘äußere Beweggründe’, nämlich eine bessere Leistung zu erbringen, als die ‘sportlichen Gegner’.
• Im Bereich des weniger normierten Sports steht die Ermittlung eines Siegers und
seiner Leistung nicht im Vordergrund.
Ob eine solche Unterscheidung aus pädagogischen Gesichtspunkten sinnvoll ist, scheint
fraglich. Zumindest dann, wenn die Grundlage der Überlegungen die hier thematisierten
anthropologischen Gesichtspunkte des weltoffenen und auf Lernen hin angelegten Menschen sind.
Das wettkampfbezogene Leistungsmotiv führt direkt auf das Problem der Leistungsbewertung hin, das im Rahmen dieser Arbeit im schulischen Kontext von besonderer Bedeutung ist. Die Lehrenden haben die Aufgabe, die individuellen Leistungen der Schüler
zu bewerten. Hierbei sollten sie nicht nur die messbaren Ergebnisse der sportlichen Leistungen, sondern auch pädagogische und psychologische Aspekte der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen147 (vgl. Teil B, Kap. 2)
a)
Fazit
Aus psychologischer Sicht ist Leistung eine von verschiedenen menschlichen Grundbefindlichkeiten, die zur ‘Daseinsfindung der Lebensbedingungen’ (Heckhausen, 1974, S.
218
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
12) notwendig ist. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zur philosophischen Anthropologie, die ihrerseits die menschliche Fähigkeit, etwas leisten zu können, selbst das Maß
der Leistung festzulegen und dabei das Wofür zu berücksichtigen, als ursprünglich anthropologisches Merkmal des Menschen ansieht. Andererseits kann die subjektive Leistung erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn sie im Bezug zu von außen herangetragenen - also gesellschaftlich bedingten - Leistungsanforderungen gesehen wird. In
diesem doppelten Bezug wird Leistung pädagogisch interessant, da sie als Mittel dienen
kann, freudiges Könnensbewußtsein (Klafki, 1975a, S. 144) zu vermitteln. Ein solches
Können hilft dem Individuum, gesellschaftliche Herausforderungen leichter zu meistern.
Da Sport vielfältige Möglichkeiten bietet, Leistung zu erbringen, ist er ein geeignetes
Feld, sie für pädagogische Zwecke fruchtbar zu machen. Dabei ist es aus Sicht der philosophischen Anthropologie notwendig, den sportlichen Wetteifer so zu gestalten, dass
nicht das Motiv der Fremd-Überbietung im Vordergrund steht, sondern die Aspekte des
Selbstbezuges. In diesem Falle wird der Leistungsbegriff als eine Erscheinung ‘sui generis’ interpretiert und ist ein weiterer Baustein im Kontext einer bildungstheoretischen
Schulsporttheorie.
147
An dieser Stelle möchte ich jedoch auf den Beitrag von Meinhard Volkamer (1978) hinweisen, der
anschaulich auf das Problem der Leistungsbewertung im Sportunterricht eingeht.
219
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Abbildung 6: Die Leistung.
5.
Ästhetik und Gestaltung
Die Begriffe der Ästhetik und Gestaltung beinhalten musische, künstlerische und emotive Komponenten der menschlichen Bewegung. Besonders die ästhetische Dimension
spiegelt den Teil des Allgemeinbildungskonzeptes wieder, der als Kernbegriffe die Bildung der Empfindsamkeit des menschlichen Ausdrucks, die Entwicklung der Einbildungskraft oder Phantasie, die Entwicklung der Genussfähigkeit und der ästhetischen
Urteilskraft sowie die Befähigung zum Spiel und zur Geselligkeit hat (vgl. Teil B, Kap.
1.1.).
Diese Bedürfnisse des Menschen, von Röthig148 als Form, Ordnungs- und Schönheitsempfinden charakterisiert, müssen in eine ganzheitliche menschliche Betrachtung
gleichrangig mit den anderen anthropologischen Grundthemen mit einbezogen werden
(vgl. Röthig, 1990, S. 85). Borgeest unterstreicht diese Annahme, wenn er in seiner
‘Theorie des Schönen’ davon spricht, dass der menschliche Schönheitssinn alle seine
Handlungen und Entscheidungen beeinflusst: „Alle Entscheidungen sind unter anderem
auch ästhetische Entscheidungen“ (Borgeest, 1977, S. 33).
Hinsichtlich der Frage, was die verschiedenen Ästhetikphänomene mit sport- und bewegungspädagogischen Themen zu tun haben, kann aufgezeigt werden, dass der Anspruch,
148
Röthig bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Maslow (1943) (A Theory of Human Motivation, in:
Psychological Review 50, 370 -396).
220
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
über eine Bewegungserziehung auch eine ästhetische Erziehung zu realisieren, keineswegs neu ist.
„Er ist bereits in der antiken Gymnastik - und dort wohl am eindeutigsten entwickelt worden, er taucht in fast allen ernstzunehmenden Entwürfen der
Körpererziehung und Leibeserziehung auf, er hat in den musischen und
rhythmischen Erziehungsrichtungen seit jeher eine zentrale Bedeutung
gehabt. Die sog. musische Erziehung, die am Beginn des Jahrhunderts eine
Renaissance erfuhr und die die Leibeserziehung stark beeinflusste, hat
Perspektiven einer ästhetischen Erziehung herausgestellt“ (Röthig, 1993, S.
15).
Kossolapow sieht solche Perspektiven vor allen Dingen in der Selbstverwirklichung, das
heißt in der Entfaltung aller schöpferischen Kräfte und im Sichfreimachen gegenüber
den Verführungen der Gesellschaft. Dabei steht an erster Stelle die Forderung an den
Menschen, „sein Wesen schöpferisch zu gestalten“ (Kossolapow, 1975, S. 122). Eine
solche Befreiung enthält auch das Element der ‘körperlichen Zucht’. Dazu zählt er „Atmen, Schweigen, Fasten, Enthaltsamkeit und tägliche Gymnastik. [...] Körperliche
Zucht ist aber nur die eine Seite, eng damit zusammen hängt die ‘geistige Zucht’“
(ebd.). Und an anderer Stelle geht er näher auf den Stellenwert der individuellen Sinngebung von Bewegungsvollzügen ein, wobei er am Beispiel des Rhythmus zeigt, dass die
‘Individualbewegung’ (Kossolapow, 1975, S. 98) eine weitere Komponente dieser Befreiung ist. „Das Leben ist Bewegung, und nur an der Bewegung erkennen wir das Leben. Die künstlerische Bewegung heißt Rhythmus“ (Kossolapow, 1975, S. 95 zitiert
nach Walden, 1921).
Wie sich bereits in Teil B gezeigt hat, sind die hier angesprochenen Perspektiven ein
unverzichtbarerer Beitrag zur Identitätsbildung und müssen somit unbedingt in einem
zeitgemäßen Allgemeinbildungskonzept mitgedacht werden.
Dabei ist dieser musisch-ästhetische Anspruch in der Sporterziehung keineswegs neu
und bis heute nicht abgelöst oder aufgegeben (vgl. Röthig, 1993, S. 15). Wenn er dennoch in heutigen Schulsportüberlegungen oder im Schulalltag kaum aufzufinden ist,
liegt das vielmehr daran, dass die sportbezogenen Ansprüche so dominant sind, dass
ästhetische Momente keine Berücksichtigung finden. „Wer auf der Jagd nach Punkten,
Toren, Metern, Sekunden, Gewichtseinheiten, nach Siegen und Rekorden ist, der wird
durch die in Gang gesetzten Vollzüge im Sport so auf diese Leistungsnormen hin orientiert, dass nahezu ausschließlich Effizienz- und Optimierungsprobleme im Vordergrund
221
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
stehen“ (Röthig, 1993, S. 15). Dazu kommt, dass in der Schule eine solche Auslegung
viel besser geeignet ist, um nach den derzeitigen Maßstäben der Selektion eine Beurteilung für die Schüler zu finden (vgl. Teil B, Kap. 2).
Wendet man sich dem Begriff der Ästhetik jedoch genauer zu, wird deutlich, dass die
Aussagen über das, was gemeint ist, keineswegs einheitlich sind149 (vgl. Röthig, 1993, S.
13). Im Rahmen der Ästhetikdiskussion in der Sportpädagogik zeigt sich eine Dichotomie zwischen
• einem auf motorische Sporttechniken angewandtes Ästhetikverständnisses, das mehr
einer Normorientierung folgt, welches ein bestimmtes, sich wandelndes Verständnis
von Körperbildern und Bewegungsstilen als Maßstab ästhetischer Anschauung heranzieht und
• einer mehr anthropologisch-pädagogisch motivierten Betrachtungsweise, welche das
Ästhetische im Körper- und Bewegungshandeln als einen spezifischen vom Individuum gestalteten, geprägten und hervorgebrachten Ausdruck betrachtet (vgl. Röthig,
1990, S. 86).
Bezüglich der ersten Betrachtungsweise haben verschiedene Körper- und Bewegungstheorien die Merkmale, die für die ästhetische (hier: schöne) Gestalt oder Bewegung
maßgeblich sind, sehr differenziert herausgearbeitet. „Für das, was im Sport als schön
gilt, besteht eigentlich kein großer Mangel an eindeutiger Attribuierung. Wo gepunktet
und gewertet wird, ist auch das ästhetisch Vollkommene, das was als Schön gilt, bis in
Zehntelpunkte hinein codiert“ (Röthig, 1993, S. 14).
Wendet man sich der zweiten Betrachtungsweise zu, zeigt sich, dass eine ästhetische
Theorie darauf angewiesen ist, „ihre Begriffe im Medium der Erfahrung150 zu bilden“
(Röthig, 1990, S. 88 zitiert nach Nibbrig 1978). Es muss betont werden, dass ästhetische
Erfahrungen sehr wichtig bezüglich des individuellen menschlichen Bewegungshandelns sind. Als Zusammenschau verschiedener Beiträge, die sich mit ästhetischen Phänomenen befasst haben, lassen sich hierbei drei wesentliche Merkmale herausfiltern, die
das Phänomen der Körper- und Bewegungsästhetik kennzeichnen und insbesondere für
das hier vorgestellte Allgemeinbildungskonzept von Bedeutung sind:
149
Röthig zeigt an dieser Stelle auf, dass sich ästhetisches Empfinden und Denken beispielsweise in der
Antike auf das Nützliche, im Mittelalter auf das Gute, in der Spätrenaissance auf das Individualistische, in
der Aufklärung auf das Wahre, in der Gründerzeit auf das Erotische und Mächtige bezogen hat.
222
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
a) Die Schönheit
b) Die Mimesis
c) Die Gestaltung
a)
Die Schönheit
Die Erfahrung von Schönem in der Körperlichkeit und der Bewegung hat den Menschen
zu allen Zeiten bewegt.
„Im Schönen auch das Edle, Reine, Echte, Wertvolle und das ewig Wahre
zu erblicken, ist seit der griechischen Antike eine Vorstellung, die sich
besonders in Körper- und Bewegungsideologien beharrlich festmachte.
Nicht nur in der Wohlgestaltetheit des Körpers und der Harmonisierung der
Bewegungen begrenzen sich die Schönheitsideale, sondern in einer Art von
Vollkommmenheitsdenken, durch das die bloße materiale Schönheit
überstrahlt wird. So verbindet man mit der Schönheit auch Vorstellungen
über Gesundheit, Frische, Leistungsfähigkeit, über das Gute, die reine Seele,
die Gewandtheit, Ausdauer, Kraft und Gestaltetheit“ (Röthig, 1990, S. 89).
Dass diese Auffassung bis heute einen beträchtlichen Stellenwert besitzt, sieht man
schon allein daran, dass der ständig expandierende Markt der Fitness-, Body- und Gesundheitsstudios mit einem vermeintlichen Schönheitsbild wirbt, das durch das Medium
eines ‘schönen Körpers’ unzählige soziale und individuelle Glückseeligkeitsversprechungen bereithält.
Demgegenüber steht ein Schönheitsideal, das aus der sinnlichen Erkenntnis hergeleitet
werden kann: „Jene zweite Schönheit ermöglicht, dass auch häßliche Dinge schön gedacht werden können und vice versa“ (Röthig, 1990, S. 89). Hier zeigt sich die mehr
gestalterische Komponente, beispielsweise im tänzerischen Ausdruck, wobei deutlich
wird, dass schön ist, was in der subjektiven, sinnlichen Erkenntnis als solches empfunden wird. Auch bei Grupe findet sich diese Auffassung, wenn er davon spricht, dass
Bewegungen auf eine eindrucksvolle Weise ästhetisch sein können, „wie sich in den
Tänzen und Vorführungen der großen Turnfeste, in den Übungen des Turnens und der
Gymnastik, in den langen Bällen, die Fußballspieler spielen, in der Harmonie der Bewegungen bei den Eisläufern, in den ausgreifenden Bewegungen der Skilangläufer, dem
bunten Bild der Segelboote auf dem Wasser, der scheinbaren Mühelosigkeit, mit der
150
Der Begriff der Erfahrung wird in Kapitel 2.3dieses Teiles näher erläutert.
223
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Bergsteiger Wände durchklettern, den farbigen Drachenfliegern über den Tälern zeigt“
(Grupe, 1987, S. 73).
Das Empfinden der Schönheit wird demnach von unterschiedlichen Prämissen bestimmt, wobei Borgeest zwischen dem attributiven Schönen151 (das Erscheinungsbild des
Körpers in einem gesellschaftlichen Zusammenhang), dem metaphysisch Schönen152 (der
sinnlichen Erkenntnis) und dem subjektiv Schönen153 (die individuelle Empfindung) unterscheidet. Dabei kommt für ihn besonders der letzten Komponente eine große Bedeutung zu, denn aus dieser Perspektive heraus ist Ästhetik nicht eine bestimmte, sozial
vereinbarte Merkmalskonstellation (wie die Betrachtung eines Bewegungsablaufes hinsichtlich Dynamik, Rhythmus, Fluss, Harmonie, usf.), sondern eine subjektive Gefühlsqualität, die sich mit Begriffen wie Genuss, Hingabe, Entzückung, Beseelung, Ver- und
Bezauberung, Entrücktheit, Taumel, Passion u.a.m. beschreiben lassen (vgl. Borgeest,
1977, S. 37ff; Röthig, 1993, S. 14).
„Der als schön empfundene Körper oder die schöne Bewegung ist nicht das
Ergebnis der Zuordnung von mehr oder weniger objektiven Merkmalen oder
Merkmalkonstellationen wie Harmonie, Wohlgestaltetheit, Dynamik,
Rhythmus u.a.m., sondern eine höchst subjektive Affektion positiver
Gefühle“ (Röthig, 1990, S. 91).
Es handelt sich auch nicht um bloßen Lustgewinn, der keine zusammenhängende Erfahrungen ermöglicht, sondern um die Ausbildung eines sinnlichen Empfindungsvermögens, das die Basis für ein freudvolles und lustvolles Erleben von Körper und Bewegung
ist. „Als schön erscheint, was dem Menschen in seiner soziohistorischen und individuellen Situation jeweils zuträglich ist. [...] Die Tatsache labyrinthischer Unbestimmbarkeit des Schönen ist das Ergebnis menschlichen Nichtfestgestelltseins. Und es ist nicht
einmal möglich, das ästhetische Empfinden und Denken auch nur historisch eindeutig
151
Der attributive Charakter verweist auf objektive Eigenschaften, die das Schöne kennzeichnen. Boorgest
versucht an dieser Stelle das Wesen des Schönen genau zu bestimmen und zeigt an Hand verschiedener
Epochen auf, das gerade eine solche objektive Zuordnung nicht möglich ist (vgl. Borgeest, 1977, S. 37ff).
152
Gemeint ist damit, dass das Schöne in der Vorstellung des Betrachters ruht: „Ein Wesen oder Ding ist
dann schön, wenn es unserer Vorstellung von ihm entspricht“ (Borgeest, 1977, S. 40). Nach Baumgarten
ist Schönheit die Vollkommenheit des sinnlichen Erkennens (vgl. Assunto, 1996, S. 65 zitiert nach Baumgarten).
153
Borgeest entwickelt das subjektiv Schöne aus der Überlegung heraus, dass, wenn das Schöne attributiv
oder metaphysisch festlegbar ist, Urteilsdifferenzen nicht zu erwarten sind. Aus der Tatsache heraus, dass
es sie trotzdem gibt, kommt er zu folgendem Schluss: „Schönheit ist also keine den Dingen (und Wesen)
eigene Qualität; sie existiert nur im Gemüt, im Bewußtsein, in der Vorstellung dessen, der sie betrachtet,
und jeder nimmt eine andere Schönheit wahr. [...] Das heißt, das Schöne oder Häßliche ist nicht - wie es
224
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
und ausschließlich festzulegen, [...]“ (Borgeest, 1977, S. 100ff). Damit wird eine individuelle Verfaßtheit beschrieben, die solche Erfahrungen ermöglicht, die einen weiteren
Teil zur Identitätsentwicklung beitragen. Schön in diesem Sinne meint: angenehm, zuträglich, gut für mich (vgl. Borgeest, 1977, S. 204). Dennoch zeigt das Merkmal des
attributiven Schönen auch, dass der Mensch sein Schönheitsideal in den Dienst seines
gesellschaftlichen Ansehens stellt. Es wird deutlich, dass es in jeder Gesellschaft
Schönheitsideale gibt, die es zu erreichen gilt, unabhängig von der individuellen Zuordnung; das Schöne wird somit zu einem sozialen Unterscheidungsinstrument:
„Ein Schönes, das infolge wohlgemeinter, dem humanitären
Solidaritätsprinzip dienender pädagogischer Einwirkung von den
nachdrängenden Schichten erreicht wurde (als Besitzanspruch oder
Geschmacksrichtung), ist im gleichen Augenblick schon überwunden, wird
fallengelassen oder verliert die Anerkennung der Geschmackselite. [...]
Wenn man also das Schöne nicht länger als nur schön ansehen kann, wenn
es sich statt dessen als ein gesellschaftliches Absonderungsinstrument
erweist, das wir selbst handhaben zu dem einzigen Zweck, uns von anderen
zu unterscheiden um des Unterscheidens willen, so bleiben dem
gewissenhaften Menschen [...] zwei mögliche Einstellungen: Entweder er
weigert sich soziale Unterschiede anzuerkennen, [...] oder aber er bejaht
soziale Unterschiede mit Berufung auf menschliche Ungleichheit und hält
das Bedürfnis nach sozialem Wettbewerb für ein auch dem Menschen
eigentümliches Naturbedürfnis“ (Borgeest, 1977, S. 206ff).
Neben dem individuellen Schönheitsempfinden kann sich der Mensch seiner gesellschaftlichen Umgebung und den damit verbundenen Wertvorstellung nicht verschließen.
Somit ist Schönheit in dem hier behandelten Sinne auch immer doppelt zu betrachten:
einmal in Hinsicht auf die individuelle, unverwechselbare Identität jedes Individuums
und auf der anderen Seite als Ausdruck gesellschaftlicher Realität. Gerade im erzieherischen und insbesondere im schulischen Kontext muss diese Doppelseitigkeit berücksichtigt werden (vgl. Teil B, Kap. 1.2 & Kap. 2 dieses Teils).
„Nicht ernstzunehmen wäre eine Haltung, die sich zum humanitären
Solidaritätsprinzip bekennt und es gleichzeitig durch eine ästhetisch betonte
Lebensform hintergeht in der gedankenlosen Annahme, das Schöne sei nur
schön und die Befriedigung eines sogenannten ästhetischen Bedürfnisses sei
ein politisch und ethisch unschuldiges Recht des einzelnen. Die Behauptung,
über Geschmack lasse sich nicht streiten, weil das Schöne grundsätzlich im
scheint - dem Ding oder Wesen eigen, sondern abhängig vom Bewußtsein des Wahrnehmenden“ (Borgeest, 1977, S. 48).
225
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Ermessen einer subjektiven Urteilskraft stehe und politisch, gesellschaftlich
und ethisch neutral sei, ist nichts als der Versuch, sich der Kritik - auch der
Selbstkritik - zu entziehen“ (Borgeest, 1977, S. 208).
b)
Die Mimesis
Unter der mimetischer Fähigkeit wird die sinnlich-ästhetische Entschlüsselung von Bedeutungszusammenhängen verstanden. Im Gegensatz zu technischen Orientierungen
beim Sporttreiben, die sich auf die bloße Reproduktion von vorgegebenen Bewegungsabläufen beziehen, hat diese Form ästhetischer Ausbildung den Anspruch, die je individuellen motorischen Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen in einen Bedeutungsund Verständnisrahmen zu bringen, der den eigenen Körper und die damit verbundenen
subjektiven Bedeutungszuweisungen in das Bewegungsempfinden integriert.
Die Bedeutung des Wortes Mimesis macht deutlich, dass es sich um eine nachahmende
Darstellung von etwas Erlebtem handelt (vgl. Cassirer, 1953, S. 139) 154. Dabei geht es
nicht um den reproduktiven Nachvollzug, sondern um die Gabe, eine „innere Verwandtschaft zwischen Wahrnehmung und Welt herzustellen, gewissermaßen Ähnlichkeiten
hervorzubringen, nicht als bloße Imitation, sondern im Sinne von wesenhaften Verdeutlichungen“ (Röthig, 1993, S. 16). Besonders im Kinderspiel und im Tanz können dabei
Ausdrucksformen entstehen, die nicht banale Nachahmungen und Imitation sind, sondern der Wiedergabe von Beziehungen dienen. Solche Kindheitspotentiale sind für die
Ausbildung der eigenen Identität fundamental wichtig (vgl. Kap. 2.3 dieses Teiles), da
sie den jungen Menschen dabei helfen können, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Die Bedingungen der heutigen Lebenswelt (vgl. Kap. 2.1 dieses Teiles) und die vorherrschende unterrichtliche Realität in den Schulen (vgl. Kap. 2.2 dieses Teiles) gestatten es
Kindern und Jugendlichen jedoch oft nicht mehr, die Fähigkeit zu solchen sinnlichästhetischen Entschlüsselungen zu entwickeln (vgl. Röhtig, 1993, S. 16f).
c)
Die Gestaltung
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass das menschliche Schönheitsempfinden durch
zwei Komponenten gekennzeichnet ist: zum Einen handelt es sich um eine höchst subjektive Affektion von bestimmten Gefühlen, zum Anderen ist es abhängig von gesell154
Das Duden-Fremdwörterbuch nennt insbesondere 1. die nachahmende Darstellungen der Natur im
Bereich der Kunst und 2. in der antiken Rhetorik die spottende Wiederholung oder die treffende Kennzeichnung eines anderen Menschen (vgl. Duden, 1982, S. 494).
226
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
schaftlichen Attribuierungen. Beide Zuordnungen sind für die Ausbildung einer unverwechselbaren Identität von großer Bedeutung. Bezüglich der subjektiven Sinnfindung
ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche das eigene Schönheitsempfinden entwikkeln:
„Zur Merkmalsbeschreibung ästhetischer Phänomene gehört jene
gedankliche Figuration, die sich auf die eigentümliche Art des
Hervorbringens oder Mitvollziehens ästhetischer Anmutungen oder
Wahrnehmungen bezieht. Dabei handelt es sich um jenes energetische
Potential, wodurch Menschen imstande sind, Empfundenes oder
Wahrgenommenes gleichsam bildhaft zu übertragen und in Handlungen
auszudrücken (Röthig, 1990, S. 91).
Gemeint sind Kompetenzen, die über die technisch-funktionale Reproduktion der Bewegung hinausgehen. Das Technische einer Bewegung tritt hier zurück und weicht einem andern Sinn. Vielmehr soll die Einbildungskraft handlungsgestaltend wirken, wobei damit nicht die Flucht in die Passivität der Illusionen gemeint ist. Vielmehr können
über diese ästhetischen Phänomene der Phantasie entsprungenen Bewegungsinhalte
ausgedrückt werden, die ihr (der Bewegung) eine spezielle individuelle Formgebung
und einen Ausdruck verleihen und somit einen weiteren wesentlichen Beitrag zur körperlichen Identitätsbildung darstellen. Damit steht eine solche Bewegungsdarstellung im
deutlichen Gegensatz zu jenen Bewegungen, die durch die geregelten sportmotorischen
Abläufe eingeschränkt, wenn nicht sogar unterbunden werden.
„In den meisten Fällen verbleibt der Versuch, sportliche Bewegungsabläufe
zu realisieren, in der Reproduktion des Musters stecken; die
Auseinandersetzung mit den technischen Schwierigkeiten bestimmt also die
Szene. [...] Wissenschaft und Erziehungspraxis im Sport müssen jedoch
mehr einfordern, das heißt, sie müssen durch die Formulierung sportlicher
Zielperspektiven dazu beitragen, dass es dem einzelnen potentiell gelingen
kann, sich von der äußeren Verzweckung seines motorischen Handelns
unabhängig zu machen“ (Röthig, 1990, S. 92).
Durch die Einbeziehung der Erlebniskraft kann es gelingen, den Erlebnisumfang und die
Erlebnistiefe von sportlichen Handlungen erheblich zu erweitern. Auch in dieser Hinsicht kommt der die subjektiven Ausgestaltung einen besonderen Stellenwert.
227
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Für die konkrete Umsetzung in die je individuelle Bewegungshandlung schlägt Röthig
den Terminus der Gestaltung155 vor, die er als subjektive Gefühlsqualität umschreibt.
Auch Größing wählt hierfür den gleichen Ausdruck und sieht in ihr die Möglichkeit,
dem musisch-ästhetischen Anspruch eines allgemeinbildenden Sportunterrichtes gerecht
zu werden: „Durch die Auslösung und Entfaltung der Bewegungsphantasie wird die
Bewegungsgestaltung zu einem schöpferischen Akt“ (Größing, 1997, S. 146). Die Gestaltung kennzeichnet sich dadurch, dass es bei der Bewegungshandlung mehr auf die
subjektive Stimmigkeit ankommt, als auf eine objektive Richtigkeit der Bewegungsausführung. Dabei warnt er vor der zu frühen Festlegung auf normierte Bewegungen, da so
der Gestaltungsdrang rasch versiegen und unter Umständen verkümmern kann (vgl.
Größing, 1997, S. 146). Erst wenn sich die Fähigkeit zum individuellen Gestalten ausgebildet hat, kann auch die gesellschaftliche Komponente des Schönheitsempfindens
thematisiert werden. Wie bereits in Teil B, Kap. 1.2 deutlich wurde, ist diese Herangehensweise unter allgemeinbildenden Gesichtspunkt erst dann sinnvoll, wenn sich die
jungen Menschen mit ihrer gesellschaftlichen Realität kritisch auseinandersetzen können (vgl. auch Kap. 2 dieses Teiles).
d)
Fazit
Kernbegriffe der ästhetischen Dimension sind die Empfindsamkeit des menschlichen
Ausdrucks, die Entwicklung der Einbildungskraft, Genussfähigkeit und ästhetischen
Urteilskraft. Ein Allgemeinbildungskonzept, das die ganzheitliche Ausbildung des Menschen zum Ziel hat, darf diese Komponente nicht vernachlässigen, da die Entfaltung der
schöpferischen Kräfte immer auch Selbstverwirklichung bedeutet (Kossolapow, 1975).
Dadurch dass die ‘Individualbewegung’ des Menschen Ausdruck dieser Selbstverwirklichung ist, können Forderungen an den Schulsport insofern herangetragen werden, dass
er dabei helfen kann, ästhtetische Empfindungen zu wecken und auszubilden.
Zunächst einmal zeigen sich in der sportpädagogischen Ästhetikdiskussion zwei unterschiedliche Verständnisse, wobei zwischen einer motorischen und einer pädagogischanthropologischen Betrachtungsweise unterschieden werden kann. Insbesondere die
zweite Betrachtung fordert die Thematisierung der ästhetischen Erfahrung, die sich auf
verschiedene menschliche Bewegungshandlungen bezieht. Dabei kann das menschliche
155
Den erkenntnistheoretischen Ursprung dessen, was gestaltet werden soll, sieht er in den kunsttheoretischen Diskussion sowie in den philosophischen Beiträgen der griechischen Antike (Aristoteles, Platon,
228
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Bewegungshandeln unter dem ästhetischen Aspekt durch drei Merkmale kennzeichnet
werden. Es ist
1. Ausdruck des zu Grunde liegenden Schönheitsempfindens, wobei
2. die Mimesis die sinnlich-ästhetische Entschlüsselung von zuvor Erlebtem darstellt
und
3. die Gestaltung den subjektiven Ausdruck kennzeichnet, der die Bewegungshandlung
zu einem schöpferischen Akt macht (vgl. Größing, 1997).
Entscheidend für das Schönheitsempfinden ist die Doppelseitigkeit, die hinter diesem
Ausdruck steckt: zum einen ist es eine subjektive Gefühlsqualität, die abhängig vom
Bewusstsein des Wahrnehmenden ist, zum anderen jedoch auch untrennbar verbunden
mit gesellschaftlichen Attributierungen, denen sich der Mensch nicht verschließen kann.
Ein Schulsport, der den Anspruch der ganzheitlichen Bildung verfolgt, muss diese Doppeldeutigkeit thematisieren, wobei insbesondere bei der Thematisierung dessen, was als
gesellschaftlich schön gilt, eine kritische Hinterfragung nicht fehlen darf.
Plotin) und ihren Fortführungen der europäischen Philosophie, wie etwa bei Giordano Bruno, Kant oder
Hegel.
229
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Abbildung 7: Ästhetik und Gestaltung.
Ästhetik und Gestaltung
‘alle Entscheidungen sind ästhetischer Art’
Gestaltung
Mimesis
Schönheit
Umwandlung in
individuelle
Bewegungshandlungen
sinnlich-ästhetische
Entscheidungen
attributiv, metaphysisch,
subjektiv
Doppeltes
Ästhetikempfinden
subjektiv
‘Erfahrung’
6.
gesellschaftlich
kritische Reproduktion
Zusammenfassung und Fazit
Um sich der Frage zu nähern, wie eine Einbindung des Schulsports in den schulischen
Kontext so geschehen kann, dass dieser bildend ist, sollten zunächst anthropologische
Voraussetzungen erläutert werden.
Anthropologische Erkenntnisse, die Aussagen über das Selbstverständnis des Menschen
zulassen, beeinflussen in erheblichem Maße alle erzieherischen Entscheidungen. Sie
sind der Schlüssel zum Verständnis von pädagogischen Systemen und stellen - im Bereich der Sportpädagogik - mehr oder weniger gesichertes Wissen über den ‘sporttreibenden’, ‘sich bewegenden’ Menschen bereit. Damit gelingt es, einen Orientierungsrahmen im Hinblick auf Inhalte und Ziele eines ‘bildenden’ Sportunterrichtes zu schaffen, zunächst jedoch noch ohne jede Wertung.
Im Bereich der Sportanthropologie steht die Betrachtung des menschlichen Körpers im
Mittelpunkt, wobei zwischen den Einzelphänomenen Körper und Bewegung, Gesundheit, Spiel und Leistung unterschieden werden kann.
230
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Als übergreifende Grundannahmen stehen zu Beginn die im Wesentlichen von Helmuth
Plessner formulierten Thesen des Menschen als weltoffenes, handelndes, soziales und
historisches Wesen. Neben diesen Annahmen ist es von Bedeutung, dass den Menschen
eine Doppelrolle auszeichnet, die in der Verschränkung von Körper und Geist liegt und
mit Leibsein beziehungsweise Körperhaben umschrieben wird. Hierin ist auch die
Wandelbarkeit des menschlichen Leibverhältnisses mitgedacht, welche in Bezug auf
Prohl (1999) in drei Dimensionen unterschieden werden kann: aktuell, überdauernd und
biographisch. Diese Dimensionen spielen im Schulsport insofern eine gewichtige Rolle,
dass sie den jungen Menschen helfen, ihren eigenen Leib kennenzulernen und lernen,
mit ihm in verantwortlicher Weise umzugehen.
Das menschliche Verhältnis zum eigenen Leib bestimmt jedoch nicht nur das unmittelbare eigene Körperverhältnis, sondern auch das zu der sozialen und naturhaften Umwelt. Der Leib hat somit eine Mittlerfunktion zwischen Ich und Welt. Dabei verbinden
sich Wachstums- und Entfaltungsprozesse mit Lern-, Reifungs- und Alterungsprozessen, sozialen Prägungen und deterministischen Bedingungen: eine Veränderung des
Leibverhältnisses beeinflusst auch die Wahrnehmung der Umwelt. Wie der einzelne
Mensch jedoch seine Umwelt wahrnimmt, hängt wiederum maßgeblich von Erziehung
und Bildung ab.
Aus diesen Überlegungen heraus unterscheidet Grupe (1982) vier unterschiedliche Bedeutungen des Körpers, die miteinander verschmolzen sind und dennoch verschiedene
Akzente hervorheben: die instrumentelle Bedeutung, die wahrnehmend-erfahrende Bedeutung, die soziale Bedeutung und die personale Bedeutung.
Das Wesen des Menschen, die Verschränkung von Körper und Geist, die Wandelbarkeit
des menschlichen Leibverhältnisses, die Mittlerfunktion des Leibes zwischen Ich und
Welt und die sich aus diesen Überlegungen abzuleiteten Bedeutungen des Körpers umschreiben das menschliche Phänomen des Körpers und der Bewegung.
Die Bewegung ist auch der Ausgangspunkt für den Zusammenhang zwischen der Leibes- und der Gesundheitserziehung. Immer wieder wurde die Hoffnung auf die gesundheitliche Wirkung als ein zentrales Argument des Schulsports genannt, weshalb es auch
nicht verwunderlich ist, dass das Gesundheitsmotiv in den Bildungsplänen eine bedeutende Rolle spielt.
Bei der näheren Bestimmung dessen, was Gesundheit meint, kristallisiert sich aus pädagogischer Sicht ein ganzheitliches Gesundheitsmodell heraus, das in ein Gesamtkon231
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
zept eingebettet ist, das andere erzieherische Aufgaben gleichwertig miteinbezieht. Somit ist Gesundheit als ein In- und Miteinander physischer, psychischer, sozialer und
ökologischer Faktoren zu verstehen, in denen auch die medizinischen Parameter ihren
festen Platz haben. Kottmann & Küpper (1991) formulieren aus dieser Sicht heraus vier
Kennzeichen eines erweiterten Gesundheitsbegriffes: Danach ist Gesundheit individuell
und subjektiv, als Ergebnis eines aktiven Bemühens zu bewerten, abhängig von der jeweiligen Lebenswelt und dem Lebensstil des Individuums und erweist sich schließlich
als Balancezustand, in dem das Gleichgewicht zwischen subjektiven und sozialen Dimensionen immer wieder hergestellt werden muss. In der Unterscheidung zur Gesundheit zeichnet sich Wohlbefinden durch seine Dreiteilung (körperlich, psychisch, sozial)
aus und löst sich somit von körperlichen Vorgängen. Grupe (1994) bezieht diese Dreiteilung auf mehrere Ebenen, wobei nur die Ebene des ‘pädagogisch richtigen Wohlbefindens’, das ‘aktive Wohlbefinden’ gesundheitlich bedeutsam ist. In dieser aktiven
Auseinandersetzung liegt das bedeutende Moment der Gesundheit, denn hier wird nicht
das Produkt der sportlichen Leistung in den Mittelpunkt gerückt, sondern das handelnde
Subjekt. Damit liegt dem anthropologisch motivierten Bild der Gesundheit ein sinn- und
lebensweltorientiertes Verständnis von Gesundheit zu Grunde, das sich dadurch auszeichnet, dass diese weder herstellbar noch durch Erziehungsmaßnahmen zu erreichen
ist, sondern dass es sich um ein aktives Bemühen bezüglich der Sinnfindung der eigenen
Identität und des körperlichen Wohlbefindens handelt.
Ähnlich wie die Gesundheitsthematik gehört die Erscheinung des menschlichen Spiels
schon immer zu den zentralen Motiven der Schulsportpädagogik. Bei der Frage nach
dem Wesen des Spiels nennt Scheuerl (1975; 1994) sechs Wesensmomente, die den
Kanon dessen bilden, was verschiedene Spieltheoretiker der unterschiedlichsten Standorte und Denkstile eint. Neben dem Moment der Freiheit stehen die Momente der inneren Unendlichkeit, der Scheinhaftigkeit, der Ambivalenz, der Geschlossenheit und der
Gegenwärtigkeit.
Zwar umschreiben diese Momente das Wesen des Spiels, lassen jedoch keinerlei Rückbezüge auf die Bedeutung für den Menschen zu. Huizinga (1987) spricht von einer
‘primären Lebenskategorie’, die an keine Kulturstufe gebunden und auf keinen rationalen Zusammenhang zurückzuführen ist. Die Art des Spieles hängt jedoch immer von
individuellen, kulturellen und sozialen Einflüssen ab, die wiederum eine Vielzahl verschiedener Erscheinungsformen hervorbringt. Nach Caillois (1960) lässt sich aus dieser
232
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Vielfalt ein Ordnungsschema entwickeln, das einerseits zwischen verschiedenen
Grundtypen, andererseits nach Art der Regelhaftigkeit unterscheidet. Aus diesem Schema lassen sich nun pädagogische Konsequenzen ableiten, die das Spiel in den Bildungsprozess des Menschen als unverzichtbaren Bestandteil einbinden.
Als viertes Grundphänomen ist das der Leistung zu nennen, anthropologisch gesehen
ein weiteres ursprüngliches Phänomen menschlichen Daseins, die sich durch einen doppelten Bezug auszeichnet: einerseits ist die Fähigkeit gemeint, selbst etwas leisten zu
können, selbst das Maß dabei festzulegen und das ‘Wofür’ zu berücksichtigen, andererseits kann diese individuelle, subjektive Leistung erst dann richtig eingeschätzt werden,
wenn sie im Bezug gesellschaftlich bedingter Leistungsanforderungen gesehen wird.
Durch diese Zweiseitigkeit kann Leistung zu einem Mittel werden, ‘freudiges Könnensbewußtsein’ zu erfahren, um damit gesellschaftliche Herausforderungen leichter meistern zu können. Im sportlichen Kontext kann sie dann sinnvoll zu einer Bereicherung
werden, wenn es gelingt, das Motiv der Selbst-Überbietung vor das der FremdÜberbietung zu setzen.
Ästhetische Empfindsamkeit, als letztes Phänomen, schließt die Entwicklung der
menschlichen Einbildungskraft, Genussfähigkeit und ästhetischen Urteilskraft ein und
geht davon aus, dass alles menschliche Handeln gleichzeitig auch ästhetisches Handeln
ist. Im Zentrum der ästhetischen Empfindsamkeit steht dabei die Wahrnehmung des
Schönen, die sowohl individuell als auch gesellschaftlich bestimmt ist. Pädagogisch
bedeutsam sind dabei auch die Mimesis, die die sinnlich-ästhetische Entschlüsselung
von zuvor Erlebten bedeutet und die Gestaltung, die die Umwandlung des ästhetischen
Empfindens in die konkrete Bewegungshandlung meint.
Mit diesen fünf Grundphänomenen sind nun Aussagen möglich, die die Einbindung des
Sports in die Schule so rechtfertigen, dass er einen wichtigen bildenden Beitrag leistet:
„Die Einbindung der besonderen Bildungsmöglichkeiten des Sports und die Beurteilung
seiner Bedeutung für die Gesamterziehung ist - neben anderen - immer auch von anthropologischen Voraussetzungen abhängig“ (Grupe, 1980, S. 89). Zusammen bilden
die Einzelphänomene einen Komplex, der tiefere Einsichten über den Menschen als
körperliches und sich bewegendes Wesen ermöglicht. Der Bereich, der den Körper und
die Bewegung thematisiert, hilft bei der Wahrnehmung des menschlichen Wesens in
seiner doppelten Verschränkung der Leiblichkeit. Er lässt Aussagen zu über die Funkti233
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
on und Bedeutung des Körpers. Gesundheit als umfassend zu erreichendes Ziel dient als
Grundlage für die weitere Bildsamkeit. Das Spiel als Ausdruck einer primären Lebenskategorie ist eine Grundlegung für ein gelingendes Leben, die Leistung, verstanden als
‘freudiges Könnensbewußtsein’, dient dafür, ‘gesellschaftliche Herausforderungen’ besser meistern zu können und die Ästhetik schließlich beinhaltet die Empfindsamkeit des
menschlichen Ausdrucks.
Wenn es nun gelingt, diese Einzelphänomene mit dem Konzept der zeitgemäßen schulischen Allgemeinbildung so zu verbinden, dass sie in den einzelnen Aspekten wiederzuerkennen sind, dann hat man den bildenden, unverwechselbaren Beitrag des Schulsports
herausgestellt und kann einzelne Inhalte immer wieder an dem Anspruch der ‘Allgemeinbildung’ überprüfen.
Es deutet sich jedoch schon an dieser Stelle an, dass Sport nur in seiner Ganzheitlichkeit
bildend wirken kann, und dass ein bloßes ‘Nachahmen’ des gesellschaftlich relevanten
‘großen Sports’ nichts mit dem gemein hat, was unter der Formel einer Bildung verstanden wird, die sich als oberstes Ziel setzen, die nachfolgende Generation zu einem verantwortbaren Umgang im Gesamtzusammenhang der Umwelt zu erziehen.
Bedenkenswert ist allerdings, wenn Zitaten eine große Aktualität beschieden werden
muss, die schon vor mehr als 35 Jahren Gültigkeit besaßen:
„Es kann nicht bezweifelt werden, dass sich mit Hilfe von Gymnastik und
Turnen das Verhältnis zum Leib ändern und gerade ein spannungsreiches
Verhältnis bessern oder umstimmen läßt. Die Heilgymnastik macht davon
schon lange Gebrauch, und gute Ansätze zu einer allgemeinen, die
Kindesentwicklung begleitenden gymnastisch-rythmischen Förderung sind
seit den Zwanzigerjahren entwickelt worden. Aber unsere Schulen sind,
belastet durch den Drillsport der Vergangenheit, den Leistungssport der
gegenwärtig herrschenden Turnrichtung und die dadurch erzeugten
Aversionen gegen das Turnen im ganzen, leider meist entfernt von einer
körperlich-geistigen Gesamterziehung, wie sie den Einsichten der heutigen
Anthropologie in die leibseelische Ganzheit und Interdependenz entspräche“
(Flitner, 1963, S. 238).
234
Teil C: Anthropologie & Sportanthropologie als Ausgangspunkt für Inhalte des Schulsports
Bedeutungsmomente
der Allgemeinbildung
Gesellschaftlicher
Aspekt von Bildung
Körper und
Bewegung
Gesundheit
Bildung als
Zusammenhang
verschiedener
Kompetenzen
Spiel
Leistung
Lebenslanges
Lernen
Ästhetik und
Gestaltung
Abbildung 8: Die Darstellung macht die vielfältigen Beziehungen zwischen den Momenten der Allgemeinbildung und den sportanthropologischen Merkmalen deutlich.
235
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
2.
SCHULSPORT UNTER DER PRÄMISSE DER
ALLGEMEINBILDUNG
Wenn im Folgenden Kapitel der Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
behandelt werden soll, steht ausschließlich die Zielebene im Mittelpunkt des Interesses.
Es ist nicht die Absicht der Arbeit, ein didaktisches Konzept vorzustellen, das die drei
von Größing (1997, S. 29f) erarbeiteten didaktischen Ebenen durchleuchtet. Vielmehr
sollen Grundlagen für sich anschließende inhaltliche Entscheidungen geschaffen werden, um zu prüfen, in wieweit der Schulsport einen bildenden Anteil im Gesamtsystem
der Schule übernehmen kann. Das kann nur dadurch geschehen, dass schulische Ziele
formuliert werden.
Ob und wie diese dann umgesetzt und evaluiert werden, wäre die Aufgabe einer Folgearbeit, die dann das Allgemeinbildungskonzept als Ausgangspunkt nimmt und kritisch
fortführt. In einer solchen Arbeit darf die genaue Prüfung aller drei Ebenen nicht mehr
fehlen, hat aber im Bereich der Zielebene, die Ausgangspunkt aller didaktischen Überlegungen sein muss, schon eine Antwort gefunden.
Damit schließe ich mich der Ansicht Wolfgang Klafkis (vgl. 1996, S. 88, 135) an, der
das Primat der Lernziele betont, wobei er jedoch davor warnt, vorher festgelegte Lernziele bis ins Detail zu verplanen, um sie danach strikt zu verfolgen. Vielmehr sollen die
Schüler dazu befähigt werden, kritisch nach dem Sinn des Unterrichts und der Unterrichtsziele zu fragen, Themen des Unterrichts auf ihre außerschulischen Erfahrungen,
Interessen und Probleme beziehen zu können und eigene Fragen und Vorschläge in den
Unterricht einzubringen.
Ein solches Vorgehen wird nicht immer angestrebt. Stefan Größing (1997, S. 33) lehnt
sich in seiner Einschätzung an Blankertz (1975) an und betont die Interdependenz zwischen Unterrichtswirklichkeit und Unterrichtstheorie, die in einer Wechselwirkung stehen156.
156
Größing ist dabei der Ansicht, dass eine Theorie des Sportunterrichts, die Praxis so vollständig als
möglich erfassen will, ihre (die der Praxis) wichtigen Elemente und deren Relationen zueinander sowie
das Interaktionsgeschehen und die Rahmenbedingungen analysieren, systematisieren und beschreiben
muss. Nur so kann sie ein hochkomplexes Wirklichkeitsfeld strukturieren und es für den Praktiker überschaubar machen (vgl. Größing, 1997, S. 33f).
236
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Wenn in diesen Überlegungen das Primat der Lernziele betont wird, so bedeutet das
jedoch nicht, dass zwischen Sportpädagogik und Sportdidaktik ein hierarchisches Ableitungsverhältnis angenommen wird. Wie bereits bei Prohl deutlich wird, entwickeln
sich sportdidaktische Handlungsmodelle in der Praxis und dazugehörige sportpädagogische Reflexionen in einer eng verflochtenen Wechselwirkung, die nur zu analytischen
Zwecken aufzutrennen sind (vgl. Prohl, 1999, S. 19). Die Aufgabe der Sportpädagogik
als eine Begründungs-, Orientierungs-, Tatsachen- und Beratungswissenschaft ist es,
Fragen nach dem Sinn und der Wirklichkeit des Handelns im Rahmen der Bewegungskultur unter Berücksichtigung der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen
zu stellen (vgl. Prohl, 1999, S. 19).
Die Fragestellung dieser Arbeit ist insofern sehr stark eingegrenzt, da sie sich auf den
Problembereich der Schule beschränkt.
Dennoch bleibt das Vorhaben gleich: um eine orientierende, beratende und begründete
Hilfe für den Schulsport zu geben, mussten in einem ersten Teil die grundlegenden Aufgaben der Schule geklärt und abgegrenzt werden. Diese wurden in einem zweiten Schritt
inhaltlich näher ausgeführt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Bildungsaufgabe den zentralen Bezugspunkt bildet, wobei sich die anderen Aufgaben darin wiederfinden.
Eine Ausnahme stellt die Selektionsfunktion dar, jedoch liegt dies in erster Linie daran,
dass die heutige Form der Zensurengebung nichts mit einer im Sinne der Allgemeinbildung gemeinten Selektion gemeinsam hat.
Auf der Grundlage der schulischen Aufgaben ist es schließlich möglich, pädagogische
Ziele für einen Schulsport zu formulieren, der im Rahmen der Schulfächer einen eigenen, von keinem anderen Fach zu leistenden Beitrag zu einer zeitgemäßen Allgemeinbildung leistet. Ausgangspunkt sind hierin anthropologische Überlegungen, die zum
Einen aufzeigen, dass der Mensch ohne Körper und Bewegung nur unzureichend erfasst
wird, zum Anderen gleichzeitig das den hier gemachten Aussagen zu Grunde liegende
Menschenbild deutlich machen.
Somit bleibt die Aufgabe, die anthropologischen Grundannahmen mit den Momenten
einer zeitgemäßen schulischen Allgemeinbildung zu verbinden und festzustellen, an
welchen Stellen der Schulsport wie verwirklicht werden muss, damit er allgemeinbildend im Sinne der hier dargestellten Ansprüche wirken kann.
237
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Im Folgenden werden die vier Momente der Allgemeinbildung beschrieben und daraufhin geprüft, inwieweit sich der Bewegungsaspekt in seinen Ausprägungen in dem vorgestellten Allgemeinbildungskonzept wiederfindet. Um auch hier den Anspruch des Realitätsbezuges zu unterstreichen, beginnt das Kapitel mit einem Exkurs, der die heutigen
Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen beschreibt und auf den dann immer
wieder Bezug genommen wird.
Die ersten beiden Momente (Kap. 2.2 & 2.3) umschreiben in erster Linie mögliche Ziele, die ein solches Konzept verfolgt, das dritte Moment (Kap. 2.4) ist vor allen Dingen
inhaltlicher und organisatorischer Art. Das vierte schließlich (Kap. 2.5) soll aufzeigen,
dass ein Allgemeinbildungskonzept weit über die Schulzeit hinaus angelegt sein muss,
um wirksam zu sein.
Auch wenn die einzelnen Momente nacheinander behandelt werden, sind die für die
Bewegung maßgeblichen Bedeutungen als übergreifend zu verstehen und können sich
dabei auch wiederholen.
Eine Zusammenführung und abschließende Bewertung soll dann am Schluss dieser Betrachtungen dazu führen, dass die Verschränkungen deutlich werden.
1.
Exkurs: Zur Lebenssituation heutiger Kinder
Ein Exkurs, der die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in wenigen Sätzen zu umschreiben versucht, kann nur unvollständig sein. Thiele spricht in Bezug auf Luhmann
(1992) von Schlagworten (statt von Begriffen), die jeweils bestimmte und in der jeweiligen Perspektive dominante Merkmale der Gesellschaft herausheben (vgl. Thiele, 1996,
S. 218).
„Man mag diesen Zustand mit Luhmann kritisieren und bedauern, die
Pädagogik bleibt, will sie nicht losgelöst von gesellschaftlichen
Möglichkeiten agieren, auf solche Beschreibungen angewiesen“ (Thiele,
1996, S. 218).
Für die Pädagogik ist es zwar wichtig, sich an den Zustandsbeschreibungen der Gesellschaft zu orientieren, offen bleibt, wie sie mit solchen Zustandsbeschreibungen umgeht.
Denn den Gesellschaftsdiagnosen schließen sich ganze Bündel von Fragen an, denen
238
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
sich die Pädagogik einerseits kaum entziehen kann, die andererseits nur schwer zu beantworten sind:
• Treffen die soziologischen Beschreibungen die gesellschaftliche Realität?
• Beschreiben sie diese vollständig oder zumindest in wesentlichen Teilen?
• Beschreiben sie die Wirklichkeit nur oder fließen bereits Wertungen mit ein? usf.
(vgl. Thiele, 1996, S. 220f).
Die Konsequenzen, die sich aus diesen Fragen für die Einbettung gesellschaftlicher
Realität in ein Allgemeinbildungskonzept ergeben, liegen darin, dass ein solches Konzept sich auf möglichst allgemeingültige Aussagen beschränkt, die einen Konsens verschiedener Untersuchungen darstellen und versucht die zuvor gemachten Thesen mit der
gegenwärtigen Realität in Einklang zu bringen.
Neuere sozial- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungen gelangen in bemerkenswerter Übereinstimmung zu der Auffassung, dass sich die Bedingungen der kindlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten beträchtlich geändert haben. An den folgenden, in der Literatur immer wieder genannten Schlagworten, soll kurz aufgezeigt
werden, wie sich die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen verändert und welche
Auswirkungen dies auf einen allgemeinbildenden Schulsport hat.
(1)
Veränderte Familienformen.
Erfahrungen im familialen Kontext sind ein wichtiger Baustein in der Lebens- und Erfahrungswelt von Kindern. Einerseits ist die Familie der Ort, an dem Kinder Liebe, Geborgenheit und Zuwendung erfahren, andererseits ist sie ein bedeutender Lernort, somit
also auch grundlegend für eine erfolgreiche Bildungskarriere (vgl. Scheid & Seibel,
1999, S. 34). Gerade im familialen Kontext haben sich in den letzten Jahrzehnten Veränderungen ergeben, die sich auch auf den schulischen Bereich auswirken und somit im
Bereich der Schulpädagogik beachtet werden müssen.
• Ein Großteil der Familien hat nur noch ein Kind157. Durch den hohen Anteil an EinKind-Familien gibt es heute wesentlich mehr Einzelkinder als noch vor 25 Jahren.
Eine Folge davon ist, daß immer weniger Kinder Erfahrungen mit Geschwistern im
familiären Kontext machen können. Geschwister, wertvolle Spielpartner, mit denen
man sich nicht extra verabreden muss, sind immer weniger vorhanden, so dass sich
157
1992 hatten 10,4% der Zwei-Eltern-Familien mehr als zwei Kinder, 39,7% dieser Familien hatten nur
ein Kind (vgl. Hurrelmann, 1996, S. 6).
239
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
eine steigende Zahl von Einzelkindern aktiv um Partner bemühen muss. Eine Folge
davon ist, dass Attraktivität und Aktivität zu gefragten Komponenten im Verhaltensrepertoire von Kindern werden. Dazu kommt, dass durch diese fehlenden Spielpartner auch Erfahrungen im Umgang mit Kindern unterschiedlichen Alters fehlen (vgl.
Scheid & Seibel, 1999, S. 35).
• In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften
mehr als verdoppelt158.
• In der Bundesrepublik wird heute beinahe jede dritte Ehe geschieden159. Als Folge
dieser Entwicklung erleben heute immer mehr Kinder die Trennung eigener Elternteile oder die der Eltern guter Freunde. Solche Trennungserfahrungen können die Ursache für die reale Angst vieler Kinder sein, geliebte Erwachsenen zu verlieren und
bedeuten in der Regel Bedrohung oder eine tiefgreifende Unsicherheit. „Ihre Sehnsucht ist die Sehnsucht nach Verläßlichkeit, stabiler Liebe, Vertrauen, zugleich auch
der Wunsch nach Akzeptanz ihrer Zuwendungswünsche, ihrer Angst, ihres Leidens“
(Hentig, 1975, S. 35).
(2)
Funktionalisisierung und Terminierung.
Kinder leben heute in einer zunehmend funktionsgebundenen und spezialisierten räumlichen Umwelt. Große Teile ihres Lebensraumes sind Erwachsenenwelten, Kinder finden immer weniger freie Räume, die im nahen Wohnumfeld vielfältige Nutzungsformen
zulassen160. Mit diesen räumlichen Veränderungen wurden die Grundsteine für die ‘Inselstruktur’ der räumlichen Umwelt gelegt, die den heutigen Kinderalltag entscheidend
prägt. Die Lebensräume heutiger Kinder bestehen größtenteils aus differenten Funktionsräumen, die wie Inseln in der gesamten Wohnumgebung verstreut liegen (z.B.
158
1985 existierten nach Schätzungen im früheren Bundesgebiet 686.000 dieser Lebensgemeinschaften,
1995 waren es bereits 1.741.000. Im Jahr 1995 registrierte das Statistische Bundesamt 475.000 nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern (vgl. Statistisches Bundesamt, 1997).
159
1995 wurden im gesamten Bundesgebiet insgesamt 169.425 Anträge auf Scheidung der Ehe gestellt.
10.000 Eheschließungen stehen 3.066 geschiedene Ehen gegenüber, die eine Ehedauer bis zu 25 Jahren
verzeichnen. Somit wird heute beinahe jede dritte Ehe geschieden. Unter allen geschiedenen Ehen waren
59.664 Ehegemeinschaften mit mindestens einem Kind (vgl. Statistisches Bundesamt, 1997).
160
Die Gründe hierfür sind vielfältig: Der wachsende Autoverkehr und die damit verbundene Gefährdung
der Kinder hatten zur Folge, dass der Spielplatz ‘Straße’ immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde.
Statt dessen wurden mehr öffentliche Kinder- und Abenteuerspielplätze sowie Sportanlagen eröffnet, die
Außenbereiche erhielten spezielle Funktionen. An den Rändern der Städte entstanden Wohnsiedlungen
verschiedenster Art. Durch diese Bauweise bildete sich eine ausgeprägte Monofunktionalität der Wohngegenden heraus: Das Wohnen wurde nahezu vollständig von Orten der Freizeit und des Konsums oder
vom Arbeitsplatz isoliert, solche Siedlungen sind für viele Kinder anregungsarm. Zwar lassen sich seit den
frühen achtziger Jahren gegenläufige Prozesse feststellen (verkehrsberuhigte Straßen, Renaturierungs-
240
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Schule, Sportverein, Musikschule). Die Zwischenräume gehören zum Lebensbereich der
Erwachsenen und müssen durchquert werden, um von einer Insel zur nächsten zu gelangen. Eltern werden in ihrer Transportfunktion wichtig für das Inszenieren und Organisieren von sozialen Erfahrungsfeldern für ihre Kinder (vgl. Zeiher & Zeiher, 1994, S.
26ff). Der verinselte Lebensraum bringt auch ein neues Zeitraster moderner Kindheit
hervor. Termine sind zu einem wichtigen Bestandteil des Kinderalltages geworden (vgl.
Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 25ff). Solche Veränderungen in der Umwelt der Kinder führen dazu, dass Kindheit heute zunehmend in Binnenräume verdrängt wird. Familiale Veränderungsprozesse und die Tendenz der Institutionalisierung forcieren diese
Entwicklung. Zinnecker (1990, S. 144) bezeichnet den Kinderalltag heute allgemein als
‘verhäuslicht’.
(3)
Mediatisierung der Kindheit.
Kinder sind in ihrem Alltag auf vielfältige Weise mit Medien konfrontiert und in der
Freizeitgestaltung haben Medien einen beachtlichen Stellenwert erlangt. Von den unterschiedlichen Medienformen greift das Fernsehen am massivsten in den kindlichen Alltag ein, es ist mittlerweile zu einem zentralen Bezugspunkt im kindlichen Alltag geworden. Hurrelmann (1996, S. 6) spricht dabei vom ‘Familienmitglied Fernsehen’, da es an
zentralen Sozialisationsaufgaben der Familie beteiligt ist: Fernsehen bestimmt die Alltagsorganisation der Kinder, beeinflusst die Gestaltung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und vermittelt Informationen über die außerfamiliale gesellschaftliche
Umwelt161.
Ebenfalls einen hohen Stellenwert unter den technischen Geräten hat der Kassettenrecorder, der in vielen Familien an die Stelle des Vorlesens und Erzählens getreten ist.
Dazu kommt, dass Kassettenhören gekoppelt ist mit weiteren Tätigkeiten und als vertraute Stimme im Hintergrund dient (vgl. Diskowski, Preissing & Prott 1990, S. 101f).
Insgesamt betrachtet, zeigen Kinder im Alltag ein vielfältiges und differenziertes Me-
maßnahmen, Rasenflächen, die betreten werden dürfen, usw.), dennoch sind die Veränderungsbedingungen kindlichen Aufwachsens deutlich erkennbar (vgl. Zeiher & Zeiher, 1994, S. 19ff).
161
Hurrelmann (1996, S. 6) betont jedoch auch, dass der Stellenwert des Fernsehens und die Art des
Medienkonsums in einem Zusammenhang mit der Familienform steht und unterscheidet dabei zwischen
Familien, in denen das Fernsehen problemlos in den Alltag integriert wird und solchen, in denen auf Fernsehregeln verzichtet wird.
241
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
dienverhalten, das geprägt ist von Abwechslung, Vielfalt der Aktivitäten und Tätigkeitswechseln162.
Generell ist die Mediatisierung der Kindheit kritisch zu betrachten, denn in das Netz der
Entwicklungs- und Lebensbedingungen schieben sich die Medien und der Kinderkonsummarkt als einflussreiche anonyme Instanzen. Aus deren Sicht werden Kinder als
Konsumenten betrachtet, bewusste erzieherische Motive fehlen.
Eng verbunden mit den hier beschriebenen Veränderungen in den Lebensbedingungen
junger Menschen deuten Rolff & Zimmermann (1985, S. 135f) zusammenfassend den
Wandel bezüglich der Aneignung von symbolischer und materieller Kultur anhand dreier Entwicklungslinien:
1. Reduktion der Eigentätigkeit,
2. Mediatisierung der Erfahrungen und
3. Expertisierung der Erziehung.
Diese Entwicklungstendenzen haben auch unmittelbare Folgen bezüglich der Bewegungssozialisation. Prohl bemerkt diesbezüglich, dass - auch wenn man solche Untersuchungen kritisch betrachten muss - die Tendenz eindeutig ist: „Die Möglichkeiten primärer Bewegungssozialisation in der Kindheit, die Grundlage für alle darauf aufbauenden (z. B. sportiven) Bewegungsformen, werden ständig geringer“ (Prohl, 1999, S. 178).
Durch die sich verändernden Sozialisationsbedigungen und den damit verbundenen
Verlust traditioneller Sinngebungsinstanzen (dazu gehören unter anderem auch Familie
und Schule) sieht Prohl auch Probleme in der Identitätsentwicklung junger Menschen:
„Gerade junge Menschen stehen heute vor der existentiellen Notwendigkeit,
eigene Identität zu entwickeln und zu stabilisieren, ohne in dem Maße auf
vordefinierte soziale Sinnmuster zurückgreifen zu können, wie die
Generationen vor ihnen. Diese gesellschaftliche Entwicklung ist deshalb
ambivalent, weil dem damit verbundenen individuellen Freiheitsgewinn
gravierende Orientierungsprobleme gegenüberstehen“ (Prohl, 1999, S.
178f).
Seine zusammenfassenden Bemerkungen spiegeln bezüglich des Bewegungslebens jene
hier bereits genannten Entwicklungstendenzen wieder:
162
Dennoch ist zu betonen, dass andere Aktivitäten wie Basteln, Malen, Freunde treffen etc. keineswegs
von moderner Technik verdrängt werden (vgl. Diskowski, Preissing & Prott, 1990, S. 108).
242
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
• Reduzierung des Bewegungslebens und der Möglichkeiten des Erwerbs primärer
Erfahrungen in der Kindheit, wodurch negative Auswirkungen auf die Entwicklung
der Gesamtpersönlichkeit entstehen.
• Steigerung der Komplexität und Ausdifferenzierung der Gesellschaft, woraus eine
zunehmende Umwertung und Individualisierung des Sports resultiert (vgl. Prohl,
1999, S. 179).
(4)
Die Wertigkeit von Sport in der heutigen Kindheit und Jugend.
Wenn Kinder und Jugendliche über sich und ihr Verhalten Aussagen machen, dann
zeigt sich zunächst, dass gerade der Sport eine nicht unerhebliche Rolle im Leben der
Jugendlichen spielt. Brettschneider (1990, S. 13) kommt zu dem Schluss, dass sich
kaum ein Jugendlicher der reichen Palette von sportiven Angeboten entziehen kann,
weshalb er diesen als eine ‘jugendspezifische Altersnorm’ bezeichnet. Noch wichtiger
scheint Sport im Leben der Präadoleszenten zu sein. Zusammenfassend sprechen Zinnecker & Silbereisen (1996) von einer ‘Versportung der Kindheit’:
„Die Präadoleszenten unterscheiden sich von den Jugendlichen bzw. von
jungen Erwachsenen durch die größere Verbreitung sportiver Praxen ebenso
wie durch die von ihnen favorisierten Sportarten.
Wir sind demzufolge berechtigt, von einer ’Versportung’ der Kindheit - als
Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses dieser Altersphase - zu
sprechen, die die ‘Versportung’ der Jugendphase deutlich übersteigt163“
(Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 107).
Brinkhoff spricht diesbezüglich von einem steigenden Sportinteresse bei Kindern bis
zum 14. Lebensjahr, danach verliert es an Bedeutung (vgl. Brinkhoff, 1990, S. 64). Insbesondere das Kinderspiel scheint sich im Zuge versporteter Kindheit zu wandeln, wobei Mädchen in gleicher Weise wie Jungen am Kindersport teilnehmen164 (vgl. Büchner,
1994; Zinnecker & Silbereisen, 1996).
Für den in dieser Arbeit betrachteten Zusammenhang des Schulsports ist von Bedeutung, dass Sport als Hobby offensichtlich die schulische und außerschulische Handlungsebene verbindet. Ein wichtiger Bezugspunkt im Bereich des außerschulischen
163
Die Untersuchung von Zinnecker/ Silbereisen zeigt, dass bei den 10-13jährigen 80% sportbezogene Hobbys angeben. Dies sind deutlich mehr als bei Jugendlichen (48%) und Erwachsenen
(40%) der Jugendstudie ’91.
164
Es muss bemerkt werden, dass es immer noch geschlechtsspezifische Sportarten gibt.
243
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Sports ist immer noch der Verein (vgl. Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 113). Andererseits scheinen neben der sozial-integrativen Komponente der Mannschaftssportarten, die
besonders in Vereinen zum Tragen kommen, den ‘individualisierten und ästhetisierten
Körpermodellierungen’, wie sie in Fitnesstudios vermittelt werden, eine besondere
Rolle zuzukommen: „Individualität und Kollektivität sind sozusagen die Pole einer
breiten Palette sozialer Modelle, die über den Sport vermittelt werden können“ (Zinnekker & Silbereisen, 1996, S. 137).
Diesbezüglich zeigt jedoch die Shell-Jugendstudie 1997165 deutliche Abgrenzungsversuche von Jugendlichen gegenüber gesellschaftlichen Strukturen, die sich unter anderem
an der Absage gegenüber längerfristigen Verbindlichkeiten zeigen. Explizit wird in diesem Zusammenhang auch die formelle Vereinsmitgliedschaft genannt (vgl. Jugendwerk
der Deutschen Shell, 1997, S. 20), die sich einer immer geringeren Beliebtheit erfreut:
„Die jungen Leute bevorzugen Gruppenstile, die Spaß machen, Zerstreuung
und Unterhaltung bieten, die unkomplizierten Umgang mit Gleichgesinnten
ermöglichen, ohne dass man dabei längerfristige Verpflichtungen eingehen
muß. [...] Die bereits in den 80er Jahren konstatierte abnehmende
Kontrollfunktion tradierter sozialer Milieus zugunsten der ‘Szene’ geht mit
den sinkenden Mitgliederzahlen in den traditionellen Vereinen und anderer
Organisationen einher. [...] Dabei spielen noch immer Sportvereine die
wichtigste Rolle“ (Jugendwerk der Deutschen Shell, 1997, S. 21f).
In Bezug auf Sport als Schulfach kristallisiert sich deutlich heraus, dass es das mit Abstand am meisten genannte Lieblingsfach ist. Dabei ist es auch das einzige Schulfach,
über das sich die Mehrheit der Schüler einig ist, wobei die Sympathie für Sport als
Schulfach offensichtlich eng verzahnt ist mit der Sportnote166 (vgl. Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 124).
b)
Fazit
Neben schulischen Erfahrungen sind solche im familialen Kontext von großer Bedeutung für die Entwicklung von Kindern. Die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogenen
165
Auch die Shellstudie bestätigt, dass die Freizeit für Jugendliche (untersucht wurden hier Personen im
Alter zwischen 13 und 29 Jahren) nach wie vor eine große Rolle spielt.
166
Nach Zinnecker & Silbereisen (1996, S. 124ff) zählen etwa 2/3 der Schüler Sport zu ihrem Lieblingsfach. Es zeigt sich jedoch auch, dass das Schulfach Sport um so beliebter ist, je besser die Sportnote ausfällt. Im Vergleich zu den anderen Schulfächern liegt die Sportnote um ½ Note höher.
244
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Veränderungen im familiären Kontext haben insofern Auswirkungen auf den schulischen Bereich, als dass die Kinder mit anderen Vorerfahrungen in die Schule kommen.
So kommen immer mehr Einzelkinder in die Schule, denen bisher wichtige Spielpartner
gefehlt haben. Um diese zu finden, sind zunehmend ein aktives Aufeinanderzugehen
und eine gewisse Attraktivität gefragt.
Bezüglich der Freizeitgestaltung sind viele Kinder immer mehr in einen festen, terminierten Alltag eingebunden. Wichtige Freiräume für ungeplante Tätigkeiten werden
immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Schließlich wachsen junge Menschen in einer
Medienlandschaft auf, die zu einem nicht zu unterschätzenden Sozialisationsfaktor geworden ist. Der erhöhte Medienkonsum in Verbindung mit den immer geringer werdenden persönlichen Freiräumen bewirkt eine Reduktion der Eigentätigkeit und lässt immer
weniger Primärerfahrungen zu. Diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen haben
Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen, die gerade
für den Bereich der Schulpädagogik von Bedeutung sind.
Bezüglich des Bewegungsverhaltens kann festgestellt werden, dass Sport in der heutigen
Kindheit und Jugend eine wichtige Rolle spielt. Dies gilt vor allen Dingen für die Altersgruppe der 10 - 13-Jährigen, wobei auch danach der Einfluss nicht unterschätzt werden darf. Das hat Auswirkungen für den Schulsport, da das Schulfach ‘Sport’ allgemein
als Lieblingsfach gilt. Außerschulisch gesehen ist der Sportverein immer noch der
größte Bezugspunkt für die Kinder und Jugendlichen. Dabei darf jedoch die steigende
Beliebtheit von ‘individualisierten und ästhetisierten Körpermodellierungen’, die nicht
in Vereinen vermittelt werden, und die gleichzeitig zunehmende Ablehnung gegenüber
formellen Vereinsmitgliedschaften nicht übersehen werden. Insgesamt scheint Sport und
seine verschiedenen Ausprägungen ein nicht unerheblicher Einflussfaktor für die Entwicklung von Kindern und Jugendliche zu sein, der dann auch für bildende und somit
erzieherische Zwecke genutzt werden kann.
245
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
2.
Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung
a)
Fachliche Fundierung und kritische Aufnahme gesellschaftlicher
Realität
„Die Aufgabe der Schule in einer Demokratie ist aus Kinder und
Jugendlichen politikfähige, politikbereite und verantwortungsbewußte
Menschen zu machen und die Kultur weiterzugeben - zusammen: der
nächsten Generation zu helfen, in der Welt, in der sie leben, erwachsen zu
werden“ (Hentig, 1993, S. 17).
Noch einmal soll diese Aufgabenbestimmung Hartmut von Hentigs dazu dienen, in einem ersten Gedanken zu umreißen, was Schule leisten muss, um als zeitgemäß gelten zu
können. Politikfähig, politikbereit und verantwortungsbewusst zu sein, bedeutet in erster
Linie, die Gesellschaft, in der wir leben, zu verstehen. Das gilt auch für den Sport. Betrachtet man die Entwicklung des Sports im Allgemeinen, so kann man feststellen, dass
er heute „mehr ist als eine frivole, belanglose Aktivität“ (Weiß, 1990, S. 9). Vielmehr,
so führt Weiß weiterhin aus, ist er zu einem umfassenden Wert- und Sachvermittler mit
‘quasireligiöser Bedeutung’ (Weiß, 1990, S. 9) geworden. Dies gilt besonders in einer
Gesellschaft, die sich durch Orientierungslosigkeit, Disparitäten und Leistungsorientierung kennzeichnet (vgl. Teil B, Kap. 1.2; Bönsch, 1994, S. 21).
Wie sich gezeigt hat, ist der Mensch ein soziales Wesen und hierin das Ergebnis der
Gruppe, der er angehört, womit sportliche Bewegungen im weitesten Sinn von sozialen,
gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst werden (vgl. Teil B, Kap. 1.2;
vgl. Grupe & Krüger, 1997, S. 185).
Ein Nachdenken über den Sport muss diese gesellschaftlichen Aspekte in Betracht ziehen, nicht zuletzt deshalb, weil die verschiedenen Ausprägungen des Sports und der
Bewegung nicht außerhalb der Gesellschaft entstehen, sondern sich immer im Kontext
jeweiliger sozialer Systeme entwickeln.
Weiß bezeichnet ihn als einen Mikrokosmos der Gesellschaft, der im Rahmen des kulturellen Wertsystems und der sozialkulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft seine
Ausprägungen erfährt (vgl. Weiß, 1990, S. 45). Gerade weil der Sport Bedingungen,
246
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Formen und Prozesse in sich vereint, die das soziale Leben in der modernen Gesellschaft prägen, dient er der Identitätsbildung:
„Verlieren und Gewinnen, Aufstehen und Liegenbleiben, Konkurrenz und
Kooperation, Miteinander und Gegeneinander, Leiden und Glücklichsein,
Können und Nichtkönnen, Siegen und Verlieren, Erniedrigung und
Erhöhung, Hochmut und Fall, Alte mit Jungen, alle gegen einen und einer
gegen alle, Gemeinschaft und Individualismus, Masse und Vereinzelung,
Dramatik und Ästhetik, Heroisches und Gemeines, Großzügigkeit und
Egoismus, Betrug und Fairness, Kampf zwischen der Regel der
Ritterlichkeit und dem Streben nach Leistung und Erfolg. Dies alles und
vieles mehr gilt für den kleinen wie den großen Sport, für Beteiligte und
Zuschauer“ (Weiß, 1990, S. 100 zitiert nach Grupe 1987).
Weiß räumt dem Sport in diesem Punkt eine sehr große Bedeutung ein, wenn er sagt,
dass die Werte und Verhaltensmuster, die im Sport angestrebt werden, dem gesellschaftlichen Handlungspotential nicht nur entsprechen, sondern darüber hinaus deutlicher als sonstwo sichtbar und erlebbar sind (vgl. Weiß, 1990, S. 100). Auch Krockow
macht in Rückbezug auf Thomas Hobbes und Karl Marx167 deutlich, dass die Prinzipien
der Industriegesellschaft durch den Sport weit besser zum Ausdruck gebracht werden
können, als durch diese selbst (Krockow, 1972, S. 96).
Solche Punkte sind für schulpädagogische Überlegungen relevant, denn eine Schule, die
sich zum Ziel gesetzt hat, die gesellschaftliche Realität aufzunehmen und zu thematisieren, wird sich den Phänomenen des ‘modernen Sports’ nicht entziehen können. Dies gilt
besonders dann, wenn, wie beispielsweise Zinnecker & Silbereisen feststellen, die
Schule in den Augen der jungen Menschen zunehmend an Sinn verliert:
„Der Bedarf an der Sinnwelt Freizeit ist deshalb so groß, weil die für die
Kindheit zuständige Institution Schule seit längerem an Sinnverlust leidet
und eine entsprechende Funktion nur noch für relativ wenige Kindergruppen
auszufüllen vermag. Hinzu kommt eine Abschwächung der
statusverleihenden Bedeutung des Schulbesuchs im Rahmen der
Bildungsexpansion“ (Zinnecker & Silbereisen, 1996, S. 42).
Hier trifft man nun auf die Argumente, die Anfang der 70er Jahre zur sogenannten ‘realistischen Wende’ in der Sportpädagogik (Heinrich Roth) geführt haben: Der Schulsport
orientierte sich damals zunehmend am außerschulischen Sport, insbesondere an seiner
247
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
leistungs- und freizeitorientierten Ausprägung. In der Begründung trat dabei das pädagogische Argument zurück und der Sport als gesellschaftliches Phänomen hervor. Bis
heute sind die in jenen Jahren vorgenommenen Veränderungen im Alltag des Schulsports deutlich sichtbar: Die eigentlichen Inhalte sind die klassischen Sportarten, ausgedrückt durch den Kanon der Schulsportarten. Dem angepasst wurde die Ausstattung der
Sporthallen. Dazu kommt schließlich die immer noch anhaltende, einseitig auf sportartenspezifische Fertigkeitsausbildung ausgerichtete Sportlehrerausbildung, besonders
deutlich erkennbar bei den Studieninhalten bezüglich der Sekundarstufe 2. Es zeigt sich
also, dass diese Überlegungen in seiner einfachsten Maxime darauf beruhten, dass der
Schulsport ausschließlich der Qualifikation der Schüler für den gesellschaftlichen Sport
zu dienen habe. Seinen prominentesten Vertreter findet heute dieser Zugang in Wolfgang Söll, der die Begründung für den Sportunterricht auf das Fundament des Gesellschaftsbezuges aufbaut. Da der Sport einen wesentlichen Teil unseres gesellschaftlichen
und kulturellen Teil repräsentiere, sollten sich die pädagogischen Ziele des Sportunterrichts nicht durch ‘vorgegebene gesellschaftspolitische oder pädagogische Positionen’,
wie zum Beispiel Gesundheit oder soziales Lernen, ablenken lassen, sondern an der Eigenstruktur, der ‘Sache’ des Sports orientiert sein. Weiterhin kommt Söll auf sein
Sportverständnis zu sprechen, wenn er sagt, dass Sport - verstanden als ein recht abstrakter Begriff, der sich nur schwer definieren lässt - allenfalls ein Phänomen ist, das
sich selbst genügt und folgenlos ist. In seinen Augen ist er motorische, ganzkörperliche
Aktivität, auf Optimierung angelegt und somit zur Offenlegung der Leistungskomponenten verpflichtet.
„Sport ist nicht das Ganze der Bewegungskultur168, aber ein umfangreicher,
bedeutender und für unser Gesellschaftssystem kennzeichnender Ausschnitt
daraus“ (Söll, 1996, S. 35).
Söll verwehrt sich jedoch gegenüber der Annahme, dass der in diesem Sinne durchgeführte Sportunterricht einseitig auf das Wettkampfrepertoire der Sportfachverbände reduziert wird. Vielmehr sollen auch die Ansprüche des Schülers auf Entwicklung und
167
Zwar sieht Hobbes zweihundert Jahre vor Marx hier ein primär politisches und dieser ein ökonomisches Problem, in beiden Fällen geht jedoch es um die Macht, ausgedrückt durch Konkurrenz, Kampf und
Überbietung.
168
Auf den Terminus der Bewegungskultur geht er nicht näher ein; eine begriffliche Klärung findet jedoch
noch in diesem Kapitel statt.
248
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Förderung seiner körperlichen Fähigkeiten berücksichtigt werden. Somit ergeben sich
zwei Richtziele:
1. Dem Ziel der Bewegungsbildung, das die Einführung der Schüler in die Bewegungskultur der Gesellschaft anstrebt.
2. Die Körperbildung, verstanden als Gewährleistung einer allgemeinen körperlichsportlichen Ausbildung (vgl. Söll, 1996, S. 38).
Das hier beschriebene Verständnis von Bildung zeigt den Aspekt des fachlichen Könnens auf, der in dem in Teil B, Kap. 1.2 beschriebenen Allgemeinbildungskonzept einen
festen Platz einnimmt. Fachliches Können meint die Befähigung der Schüler, sich bewegen und die verschiedensten Aspekte von Sport und Bewegung selbst nachvollziehen
zu können. Dabei handelt es sich zunächst um das Erlernen objektivierter Techniken
(wie zum Beispiel das Kraulschwimmen) und Handlungssysteme (wie zum Beispiel das
Volleyballspiel). „Da die Annäherung an die Techniken und Handlungssysteme des
Sports vorwiegend durch motorisches Lernen und Training erfolgt, sind Bewegungsund Trainingswissenschaft verständlicherweise die wichtigsten Grundlagendisziplinen,
[...]“ Bielefelder Sportpädagogen, 1993, S. 16). Besonders im Bereich der Handlungssysteme sind neben dem motorischen Lernen noch weitere Fähigkeiten, wie zum Beispiel
die Spielfähigkeit, notwendig, um sie funktionieren zu lassen.
Gleichwohl wird deutlich, dass eine solche Auffassung von einem komplexen, hier favorisierten Bildungsbegriff noch sehr weit entfernt ist. Söll verwehrt sich ausdrücklich
gegen eine Überfrachtung des Schulsports und minimiert seine Ansprüche darauf, dass
„Schüler irgendwann, und zwar möglichst bald, auch ‘richtig’ Sport treiben, beispielsweise Handball spielen, wie sie es vom Verein oder Fernsehen her kennen“ (Söll, 1996,
S. 39)169.
Selbst wenn der Ausgangspunkt seiner Überlegungen in den Mittelpunkt des Interesses
rückt, nämlich dass die Schüler in die Bewegungskultur der Gesellschaft eingeführt
werden sollen, sind hier vielfältige Ausdifferenzierungen nicht enthalten, die jedoch wie bereits erläutert - einen immer bedeutenderen Teil des gesellschaftlichen Lebens
darstellen:
169
Söll steht natürlich mit dieser Auffassung nicht alleine da. Im Bereich der allgemeinen Pädagogik vertritt Hermann Giesecke eine ähnliche Haltung, wenn er sagt, dass die Schule ihrer eigentlichen Aufgabe
249
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
„Es wäre unrealistisch zu glauben, dass der Bereich der Bewegungskultur
außerhalb dieser gesellschaftlichen Entwicklung stehen würde. Auch er
unterliegt dem Prozeß der Multiplikation von Möglichkeiten. Allerdings
liegt der organisierte Sport hierbei schon lange nicht mehr an der ‘LeadingEdge’ dieser Entwicklung. Viel dynamischer und rascher als im
organisierten Sport entwickeln sich Körper- und Bewegungspraktiken
außerhalb der Vereine“ (Becker & Fritsch, 1998, S. 24).
Becker & Fritsch kennzeichnen diese Entwicklung als die ‘neue Unübersichtlichkeit’
gepaart mit dem Bedürfnis der ‘Fitness ohne Ende’ (vgl. Becker & Fritsch, 1998, S. 25).
Weiterhin bezeichnen sie den Sport als Markt und vergleichen ihn mit anderen Märkten,
auf denen heute Waren beschleunigt umgeschlagen werden: „So ist das Fitneßstudio zu
einem Markt und Umschlagsort von immer neuen und doch ewig gleichen Körperstilen
und Körperaktivitäten geworden. Die Rationalität des Marktes verlangt die unermüdliche Herstellung von Angeboten, die einerseits die Nachfrage nach den Körpererlebnissen befriedigen und andererseits die Bedürfnisse für neue zukünftige Angebote offen
halten“ (Becker & Fritsch, 1998, S. 28).
Schulpädagogisch entscheidend sind hierbei nicht die einzelnen Ausprägungen, in denen
sich eine solche Bewegungskultur zeigt, sondern das Netz von Wertgefühlen und Motiven, die zur Teilnahme daran führen: Körperliche Attraktivität, Jugendlichkeit, Schönheit, Selbstdarstellung usw. sind die Ideale, die den Fitness- und Gesundheitssuchern
einen Teil des Lebensgefühls und des aufregenden und schnellen Lebensstils suggerieren. Aus diesem Grunde ist die Thematisierung neuer, alternativer Formen der Bewegung auch für die Schule relevant.
Im Rückbezug auf die in diesem Teil (Kap. 1) thematisierten anthropologischen
Grundannahmen zeigen sich neben dem zugrunde liegenden Körper- und Bewegungsbild auch die anderen Einzelphänomene deutlich: im Bereich der Gesundheitsdiskussion
ist es vor allen Dingen das aktuelle Wohlbefinden, das sich hier als Motiv zeigt (vgl.
Schlicht, 1995, S. 25), im Bereich der Spiele sind dies hierbei solche, die am ehesten der
Kategorie ‘Illinx/ Ludus’ zuzuordnen sind (vgl. Kap. 1.1.3 dieses Teiles; Deutsche
Sportjugend, 1995, S. 34; Becker & Fritsch, 1998, S. 35) und auch der Leistungsaspekt
beraubt wird, wenn sie auch ‘erzieherische Aufgaben’ übernehmen müsse, die aus dem ‘sozialpädagogi-
250
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
wird deutlich, wenn in den Fitnessstudios mit Simulationen gearbeitet wird, die den
Sportler beispielsweise bei Wettkämpfen ‘großer Sportereignisse’, wie den Giro d`Italia
partizipieren lassen (vgl. Becker & Fritsch, 1998, S. 30).
Wenn also der Anspruch eines zeitgemäßen Allgemeinbildungskonzept lautet, dass die
gesellschaftliche Realität ihren Platz finden muss, so können diese Erscheinungen der
Bewegungskultur nicht von der Schule ignoriert werden, wie dies beispielsweise Größing (1997, S. 42f) vorschlägt. Denn wenn er meint, dass sein Konzept der Bewegungskultur nicht nach jenen ‘spaßmachenden und anstrengungsarmen Spiel- und Tanzformen
einer alternativen Sportkultur’ strebt, sondern die Motive Ausdruck und Körpersprache
in durchaus traditionellen Bewegungshandlungen findet (vgl. Größing, 1997, S. 43),
dann werden hier Motive ausgeblendet, die bei heutigen Jugendlichen offensichtlich
sehr hohe Bedeutung finden (vgl. Kap. 2.1 dieses Teiles) und einen festen Teil ihres
Lebens ausmachen.
Schule wird dagegen nur dann als Teil der Lebenswelt170 von Kindern und Jugendlichen
akzeptiert werden, wenn sie auch versucht, ernsthaft auf diese einzugehen. Entscheidend
ist dabei, dass eine solche Aufnahme gesellschaftlicher kritisch geschieht, wie dies
Wolfgang Klafki fordert:
„Die Formel ‘Bildungsfragen sind Gesellschaftsfragen’ besagt dann: der
Bildungstheorie und der Bildungspraxis werden die Möglichkeit und die
Aufgabe zugesprochen, auf gesellschaftliche Verhältnisse und
Entwicklungen nicht zu reagieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt der
pädagogischen Verantwortung für gegenwärtige und zukünftige Lebens- und
Entwicklungsmöglichkeiten jedes jungen Menschen der nachwachsenden
Generation, ..., zu beurteilen und mitzugestalten“ (Klafki, 1996, S. 51).
Dabei warnt er jedoch davor, die Einflussmöglichkeiten der Erziehung hierbei zu überschätzen und macht deutlich, dass eine solche Thematisierung kritisch erfolgen muss,
„da wir die Weiterentwicklung dieser industriellen Gesellschaft nicht im Sinne eines
unkritischen, technisch-ökonomisch bestimmten Fortschrittsoptimismus betreiben können“ (Klafki, 1996, S. 51).
schen Bereich’ stammen (vgl. Giesecke, 1996, S. 319ff).
170
Wie die Denkschrift der Kommission ‘Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft’ deutlich macht, wird
Lernen zukünftig auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen bezogen werden müssen, damit diese
‘intelligentes Wissen’ erwerben können, was wiederum der Ausgangspunkt der Identitätsbildung ist (vgl.
Bildungskommission NRW, 1995, S. 107ff; Teil A, Kap. 5).
251
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Eine solche kritische Beurteilung gilt nicht nur für alternative Bewegungskulturen, sie
gilt auch für den traditionellen Sportartenkanon. Um so mehr, da in der Öffentlichkeit
Sport mit Sportart und Wettkampf gleichgesetzt wird. Entscheidender Faktor sind hierfür die Medien, die gerade dieses Sportbild vermitteln:
„Im öffentlichen Sprachgebrauch ist Sport mit Sportart und Wettkampf
gleichgesetzt, die Informations- und Unterhaltungsmedien vermitteln dieses
und kein anderes Sportbild, und die Sportlehrer in den Schulen verwenden
oder verschwenden keine Zeit, über den Sportbegriff nachzulesen oder
nachzudenken, sondern greifen auf die ihnen vertrauten oder vom Lehrplan
nahegelegten Sportarten zurück“ (Größing, 1997, S. 41f).
Hieran zeigt sich auch, was Huizinga meint, wenn er davon spricht, dass das sportliche
Spiel zunehmend an reinem Spielgehalt verliert (vgl. Kap. 1.3 dieses Teiles; Huizinga,
1987, S. 213). Um dies zu vermeiden, muss eine Thematisierung des Schulsports, ebenso wie dies bei den alternativen Bewegungskulturen gilt, mit Hilfe der anthropologischen Grundannahmen geschehen:
• Welches Körper- und Bewegungsbild vermittelt ein solches Sportverständnis?
• Welches Gesundheitsbild liegt ihm zugrunde?
• Wie werden Spiel und Leistung beurteilt?
• An welchen Stellen finden ästhetische und gestalterische Momente Berücksichtigung?
Voraussetzung einer kritischen Beurteilung ist jedoch, dass die Schüler über das notwendige Fachwissen verfügen.
Der Erwerb der fachlichen Qualifikation als eine wesentliche Säule des schulischen
Auftrages wird in der Schultheorie nicht angezweifelt (vgl. Teil A). Im Bereich des
Sports ist unter dem notwendigen Fachwissen zu verstehen, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie kritisch über die verschiedenen Erscheinungsformen der modernen Sportund Bewegungskultur (alternative oder wettkampfbetonte Erscheinungen) urteilen sollen, diese auch selbst kennenlernen. Grundlagen sind die hierbei immer auch objektivierte Techniken und Handlungssysteme.
Dies entspricht den Forderungen von Dietrich Kurz, wie er sie in seinem ‘pragmatischen
Konzept der Sportdidaktik’ formuliert hat (1990, 1995). Zunächst einmal geht er bei
252
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
seinen Elementen des Schulsports auch davon aus, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen, unter denen der Sport stattfindet, unbedingt berücksichtigt werden müssen:
„Für die heutige Praxis des Faches in der Schule ist die enge Bindung an das
gesellschaftliche und kulturelle Phänomen Sport als entscheidende
Gegebenheit anzusehen, die sich offensichtlich auch gegen andersgerichtete
Theorien durchgesetzt hat. [...] Sport in der Schule wird also mit dem Blick
auf den Sport außerhalb von ihr konzipiert; er gewinnt seine Elemente aus
ihm und bereitet auf ihn vor. [...] Schulsport soll also zunächst und vor
allem die Fähigkeit der Schüler entwickeln helfen, im Feld des Sports zu
handeln“ (Kurz, 1990, S. 58f & 61).
Wenn Kurz von einer pragmatischen Didaktik spricht, meint er, „dass sie die in Schule
und Unterricht für unser Fach gegebenen Bedingungen ernst nimmt. Und unter diesen
Bedingungen ist eine sehr mächtige, dass es Sportarten gibt. Es gibt sie in den Köpfen
der Schüler - zumindest durch die Medien - es gibt sie in den Köpfen der Lehrer durch
ihre eigene Erfahrungen und die Organisation ihrer Ausbildung, es gibt sie auch durch
die Ausstattung unserer Fachräume in den Schulen“ (Kurz, 1995, S. 43).
An dieser Stelle macht Kurz deutlich, dass Handlungsfähigkeit auch Fähigkeit zum
Handeln in relevanten Lebensbereichen bedeutet. Dabei geht es ihm in erster Linie jedoch nicht darum, das Gemeinsame des Sports, also sein Wesen exemplarisch herauszuarbeiten, sondern er versucht, die Vielfalt und die Verschiedenartigkeit des Sports in den
Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Auf dieser Grundlage soll dann das didaktische Problem der Auswahl von Unterrichtsinhalten angegangen werden: Welche sind
die sportlichen und sportbezogenen Qualifikationen, die der Schulsport ausbilden soll
(vgl. Prohl, 1999, S. 110; Kurz, 1990, S. 62; Kurz, 1995, S. 45)?
In Beantwortung dieser Frage unterscheidet Kurz drei Situationsspezifika des Sports, die
er mit ‘Bewegung’, ‘Interaktion’ und ‘Sinn’ umschreibt. Bezüglich des Sinnaspektes
unterscheidet Kurz insgesamt sechs Sinnrichtungen, die den Befunden empirischer Motivationsuntersuchungen zum Sporttreiben entstammen:
Leistung, Spannung (im Spiel, aber auch im Wagnis), Soziales Miteinander, Fitness und
Gesundheit, Besondere Erfahrungen mit dem Körper, Ausdrucksqualität von Bewegungen171.
171
Ausführlich werden diese Sinnrichtungen beschrieben in: Kurz (1990): Elemente des Schulsports (S.
85 -104). Schorndorf: Hofmann.
253
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Prohl (1999, S. 113) fasst die pragmatische Sportdidaktik, wie sie Kurz vertritt, dahingehend zusammen, dass sie die Schüler befähigen will, die vorgefundenen und angebotenen Formen des Sports auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen und in ein individuelles Lebenskonzept einzuordnen. Sportunterricht hat die Aufgabe, den Schülern solche Sinnperspektiven des Sports erfahrbar zu machen, die für ihr Leben bedeutsam sein könnten.
Dabei sollen sie lernen, aus der Vielfalt sportlicher Sinnbezüge einige ihnen angemessene Formen zu finden und diese im eigenen Handeln befriedigend und lebensbereichernd
zu verwirklichen.
Der Aspekt der inhaltlichen Auswahl beinhaltet für individuelles Sporttreiben auch die
kritische Auseinandersetzung mit den einzelnen Sinnbezügen. Dadurch, dass es Kurz
jedoch mehr auf die Vielfalt, statt auf die exemplarisches Herausarbeitung von immanenten Wesensbezügen ankommt, kommt der kritischen Aufnahme gesellschaftlicher
Realität nur eine untergeordnete Rolle zu.
b)
Die Problematik der inhaltlichen Überfrachtung
Dazu kommt, dass die von Kurz geforderte Vielfalt Anforderungen an den Schulsport
stellt, die dieser niemals wird erfüllen können. Dieser Eindruck wird im Folgenden verstärkt werden, wenn sich das Konzept der schulischen Allgemeinbildung weiter ausdifferenziert.
Um dieser Gefahr der inhaltlichen Überfrachtung vorzubeugen, fordert Wolfgang Klafki
eine Konzentration auf epochaltypische Themen (vgl. Klafki, 1996, S. 56ff; Teil B, Kap.
2.1). Die Argumentation für die Aufnahme solcher Themen in die Schule wurde bereits
in Teil B ausführlich dargestellt und soll zum besseren Verständnis an dieser Stelle nur
noch einmal skizzenhaft wiederholt werden.
Zunächst einmal hilft die Beschäftigung mit solchen Schlüsselproblemen, ein differenziertes Problembewusstsein zu entwickeln, um daraus erste Handlungserfahrungen zu
gewinnen. Dabei geht es nicht um die Festlegung auf eine einzige Sichtweise, sondern
darum, Phänomene unserer Zeit diskutieren zu können. Ein Anspruch auf Vollständigkeit ist dabei nicht unbedingt notwendig, da die Thematisierung einzelner Schlüsselprobleme exemplarischen Charakter haben soll (vgl. Kap. 2.4 dieses Teiles). Es geht also
darum, den Blick für gegenwärtige gesellschaftliche Erscheinungsformen zu schärfen
und Möglichkeiten zu entwickeln, diesen zu begegnen. Die Beschäftigung mit epochal254
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
typischen Schlüsselpoblemen soll helfen, folgende Fähigkeiten bei den Schülern zu
entwickeln und zu schulen:
1. Kritikbereitschaft und -fähigkeit einschließlich der Selbstkritik.
2. Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit.
3. Empathie.
4. Vernetztes Denken.
Wenn dies mit exemplarischen Beispielen tatsächlich gelingt, dann ist nicht nur der
Forderung des ersten Motivs des dargestellten Allgemeinbildungkonzeptes (kritische
Aufnahme der Realität und Fachwissen) genüge getan, sondern es werden auch Forderungen in das Konzept aufgenommen, wie sie bei den Vertretern derjenigen didaktischen Konzepte gestellt werden, die die ‘pädagogische Umwandlung gesellschaftlicher
Anforderungen’ (vgl. Prohl, 1999, S. 140) in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen.
c)
Fazit
Soll sich eine zeitgemäße Bildungspraxis an den Grundstrukturen der Gesellschaft orientieren, so ist zunächst einmal festzuhalten, dass der Sport im Leben der Kinder und
Jugendlichen eine wesentliche Rolle spielt. Insbesondere bei den 10 - 13-Jährigen sprechen Zinnecker & Silbereisen (1996) von einer ‘Versportung der Kindheit’, wobei auch
danach dieser Einfluss nicht unerheblich ist.
Im außerschulischen Sport bilden einerseits die Vereinsmitgliedschaft, andererseits eine
individualisierte Sportpraxis ohne feste Verpflichtungen die Pole der Sportpraxen Jugendlicher. Dabei muss jedoch betont werden, dass gerade die Vereinsmitgliedschaft in
den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung verliert.
Für die schulische Bildungspraxis ist die Erkenntnis relevant, dass durch den Sport
Werte und Verhaltensmuster deutlich werden, die dem ‘gesellschaftlichen Handlungspotential’ entsprechen. Weiß spricht in diesem Zusammenhang von einem Mikrokosmos
der Gesellschaft (vgl. Weiß, 1990, S. 100). Richtziele für die Aufnahme des gesellschaftlichen Aspektes in ein Konzept der schulischen Allgemeinbildung sind zum Einen
die Thematisierung der in der außerschulischen Sportpraxis existenten Sportarten - vertreten durch den traditionellen Sportartenkanon, aber auch durch alternative Bewegungsformen - zum Anderen ihre kritische Reflexion.
255
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Um dem Vorwurf der inhaltlichen Überfrachtung zu entgehen, ist es wichtig, geeignete
Inhalte auszuwählen, die exemplarischen Charakter haben. Durch diese Inhalte soll der
Blick für gesellschaftliche Erscheinungsformen geschärft und den Schülern Möglichkeiten aufgezeigt werden, diesen zu begegnen. Dabei sind einerseits die 5 anthropologischen Grundannahmen zu beachten, andererseits die beiden Pole, die Zinnecker & Silbereisen (1996, S. 137) mit ‘Individualität und Kollektivität’ umschreiben.
256
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Abbildung 9: Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung.
257
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
3.
Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen
a)
Die Einordnung der verschiedenen Kompetenzen in das Konzept schulischer Allgemeinbildung
(1)
Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Gemeinschaftlichkeit.
Es wird immer deutlicher, dass schulische Allgemeinbildung die Identitätsentwicklung
der Schüler mehr und mehr berücksichtigen muss, wenn sie die jungen Menschen auf
ihre Aufgabe als kritische Staatsbürger vorbereiten will.
Die bereits angesprochene Doppelfunktion der Schule mit ihren beiden Polen kristallisiert sich auch auf der Ebene des Schulsports immer stärker heraus: auf der einen Seite
steht die Ausrichtung an gesellschaftlichen Bedürfnissen, auf der anderen Seite die Ausrichtung an den jeweils zu unterrichtenden Individuen (vgl. Prohl, 1999, S. 87f). Helmut
Fend nennt diese Pole einerseits die schulische Aufgabe der gesellschaftlichen Reproduktion und andererseits die der Konzentration auf die Persönlichkeitsbildung (vgl.
Fend, 1980, S. 7; Teil A, Kap. 5). Hier setzt seine Kritik ein, wenn er davon spricht,
dass in dem gegenwärtigen Bildungssystem wichtige ethische Traditionen institutionell
nicht verankert sind (vgl. Fend, 1980, S. 161). Hierunter fällt auch das ‘Humanprinzip’,
nachdem der Selbstwert der Person, der Selbstwert seines intellektuellen Strebens und
die Unverletzbarkeit der Person im Mittelpunkt stehen. Gegen Ende seiner Ausführungen fordert er schließlich, dass es in Bildungsinstitutionen im besonderen Maße darum
gehen muss, „Heranwachsende zu befähigen, ein selbstverantwortliches und glückliches
Leben zu führen und ihre Einsicht und Handlungsfähigkeit zu stärken, um an der Erhaltung jener sozialen und politischen Bedingungen mitzuarbeiten, die ein selbstverantwortetes und glückliches Leben aller garantieren“ (Fend, 1980, S. 383). Diese Forderung muss von jedem Schulfach, also auch vom Sportunterricht, als ein zentraler Punkt
aufgegriffen werden.
Auch Wolfgang Klafki ist dieser Ansicht, wenn er sagt, dass Sport in der Schule primär
als Hilfe zur Selbstbildung und Selbstfindung des jungen Menschen im Medium der
Bewegung verstanden werden sollte.
Damit meint er die Ermöglichung individueller Entwicklungsprozesse sowie die Ermöglichung der Fähigkeit, schrittweise Interessensschwerpunkte auszubilden und reflektierte Entscheidungen zu treffen. Voraussetzung für eine solche Schwerpunktlegung
im Sportunterricht ist die vorangegangene sportliche Grundbildung mit vielfältigen An258
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
geboten und Aufgabenstellungen, die die Interessenbildung bei den Schülern erst ermöglichen (vgl. Klafki, 1992, S. 12).
„Meine Überlegungen laufen darauf hinaus, den Sportunterricht in dem
Sinne zu reformieren, dass er einen Beitrag zur Humanisierung der Schule
bilden kann. [...] Zu den Bedingungsfaktoren für die Entwicklung eines
solchen Schulklimas gehört es, dass man sich bis zu einem erheblichen
Grade von falschen, unpädagogischen Leistungsmaßstäben befreit hat. [...]
Ich halte eine Schule für wünschenswert und im Prinzip für möglich, in der
Schüler in erheblichem Umfang selbst darüber entscheiden können, ob sie
sich mit ihren ‘Leistungen’ an den üblichen, objektivierenden Maßstäben
messen lassen wollen oder nicht, auch im Sportunterricht“ (Klafki, 1992, S.
12f).
Wenn sich Wolfgang Klafki an dieser Stelle gegen den Leistungsbegriff ausspricht,
dann geschieht das deshalb, weil seiner Ansicht nach der Leistungsbegriff im Sportunterricht, wie in anderen Fächern auch, dominant konkurrenzorientiert verstanden wird.
„Dagegen taucht der Gedanke, es als ‘Leistung’ zu betrachten, wenn Schüler
die Fähigkeit entwickeln, kommunikative Beziehungen im Sport zu
praktizieren, sich partnerschaftlich zu verhalten, sich auf Mitspieler
einzustellen, mannschaftsdienlich zu spielen u.ä. selten oder gar nicht auf.
Entsprechend gerät bei der üblichen Leistungsbeurteilung auch der
ganzheitlich-ästhetische Aspekt aus dem Blickfeld“ (Klafki, 1992, S. 13).
Es geht ihm hierbei ausdrücklich nicht um die Abschaffung der ‘Leistungssportarten’
zugunsten spielerisch-tänzerischer Ausrichtung, sondern eher um die Erweiterung des
Spektrums. Wenn ein Schüler den Wettkampf ablehnt und statt dessen individuellere
Möglichkeiten sucht, ist das noch kein Ausdruck völliger ‘Unverbindlichkeit’. Es wird
lediglich ein individueller Orientierungs- und Leistungsmaßstab angesprochen und akzeptiert. Diese Auffassung entspricht einerseits dem von Hecker geprägten Begriff der
individuellen Bezugsnormorientierung (vgl. Hecker, 1996, S. 141; 1997, S. 116f), andererseits auch den gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen (vgl. Kap. 2.1 dieses
Teiles). Klafki wehrt sich in diesem Zusammenhang gegen eine Überfrachtung des
Sports mit Inhalten, die ihm nicht entsprechen: „Deshalb habe ich mich schon früher
dagegen gewendet, Sport zum Beispiel primär als Mittel zur moralischen oder politischen Erziehung oder der Gesundheitserziehung zu benutzen“ (Klafki, 1992, S. 18).
Zwar hat Sportunterricht auch immer etwas mit Gesundheitserziehung zu tun, der ei259
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
gentliche Sinn im Sport liegt seiner Ansicht nach jedoch darin, dass man seinen eigenen
Körper lustvoll, freudvoll erfahren und erproben kann, nach dem Motto des ‘Leisten
können, ohne leisten zu müssen’172. In diesem Sinne sieht Klafki die sport-, bewegungsoder körperspezifische Auslegung des Selbstbestimmungsprinzips. Der hier zu Grunde
liegende Leistungsbegriff zielt darauf ab, dass der junge Mensch im Schulsport lernt,
selbst zu bestimmen, an welchen Kriterien er sein sportliches Handeln orientieren will.
Auch Prohl votiert für eine Gleichgewichtung der beiden Aspekte von Bildung (Individualität und Gesellschaftlichkeit), wenn er von der fruchtbaren Perspektive der Verknüpfung von prozessualen und strukturellen Merkmalen spricht173 (vgl. Prohl, 1999, S.
179f). In Bezug auf den prozessualen Aspekt der Bildung, der bei der Erlangung verschiedener Kompetenzen wie Selbstbestimmung, Mitbestimmung oder Gemeinschaftlichkeit im Zentrum der Überlegungen steht, sieht Prohl die Kategorie der Erfahrung als
entscheidend.
(2)
Erfahrung als Ausgangspunkt der selbstbestimmten Identitätsbildung.
Zunächst einmal unterscheidet sich Erfahrung von kognitivem Wissen vor allen Dingen
dadurch, dass sie nicht weitergegeben oder gelehrt werden kann.
„Jeder Mensch muß seine Erfahrungen selbst, am eigenen Leibe, machen.
Ausgangspunkt der Erfahrung ist zumeist das Wahrnehmen eines
herausfordernden, auffälligen oder auch störenden Tatbestandes, der das
bekannte und gewohnte Verhältnis zur Umwelt in Frage stellt. In der
Wahrnehmung von etwas Ungewohntem unterscheidet sich Erfahren und
Erleben“ (Prohl, 1999, S. 180).
172
Siehe hierzu die Ausführungen in Kap. 1.4 dieses Teiles.
Hier bezieht er sich auf die Instrumentalisierungs-Kontroverse, insbesondere auf die Beiträge von Bekkers (1987; 1993) und Schaller (1992). Ausgangspunkt ist die Kritik Beckers, dass sich die Sportdidaktik
zu sehr an dem gesellschaftlich-kulturellen System Sport mit seinem Norm- und Wertsystem, wie es durch
Institutionen repräsentiert wird, orientiert (vgl. Beckers, 1993, S. 254). Dadurch entzieht sich die Sportdidaktik seiner Ansicht nach jedoch der erzieherischen Verantwortung (vgl. Beckers, 1993, S. 255). Diese
besitzt unter dem Ziel ‘Förderung des Menschlichen’ eine ‘Subjekt-Perspektive’ (im Gegensatz zu einer
‘Sach-Perspektive’), was bedeutet, dass im Mittelpunkt der Überlegungen der Mensch steht. Stellenwert
und Sinn von Sport oder Bewegung ergeben sich aus den Sozialisations- und Lebensbedingungen der
‘Rezipienten’. „Unterstützt werden soll die Suche nach Sinnfindungen für das individuelle Leben“ (Bekkers, 1993, S. 255). Im Gegensatz hierzu steht die Auffassung Schallers, der die sportlichen Inhalte als
Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt. Er wendet sich gegen eine ‘persönliche Primärmotivation’
(vgl. Schaller, 1992, S. 20) mit der ‘Sache Sport’ und ist der Ansicht, dass der - sehr wohl erwünschte persönlichkeitsfördernde, formale Aspekt der Bildung sich indirekt durch den Nachvollzug beim Sporttreiben ergebe. Während Beckers insbesondere den Bildungsprozess hervorhebt, sind für Schaller strukturelle Merkmale Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen.
173
260
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Prohl kennzeichnet den von Wissen und Erlebnis abgegrenzten Erfahrungsbegriff in
Bezug auf Grupe (1995) und Thiele (1996) durch vier Punkte (vgl. Prohl, 1999, S.
180f):
1. Es gibt unterschiedliche Dimensionen der Erfahrung:
• Bewegungs- und Körpererfahrungen beruhen auf den Wahrnehmungen und Empfindungen, die unmittelbar mit der Bewegung einhergehen. Diese Erfahrungen
sind unerläßlich für den Aufbau körperlicher Identität und damit auch Selbsterfahrungen.
• Materiale Erfahrungen können in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen
der Umwelt gemacht werden.
• Soziale Erfahrungen werden im Umgang mit anderen Menschen und in Gruppen
erworben.
2. In Bezug auf Thiele unterscheidet er zwischen Erfahrungen der Breite, die den Horizont erweitern und Erfahrungen der Tiefe, die spezifische Erfahrungsinhalte intensivieren und nur nach längeren Zeitphasen gemacht werden können.
3. Dazu kommen die zeitlichen Merkmale der Kontinuität und der Diskontinuität. „Einzelerfahrungen sind in die Kontinuität von Vor-Erfahrungen zwar eingebettet, müssen jedoch die aus den Vor-Erfahrungen abgeleiteten Erwartungen enttäuschen, um
den Status einer Erfahrung zu erlangen. Erst der Bruch mit dem Erwarteten, das Eintreten des Unerwarteten, ermöglicht Erfahrung als Widerfahrnis“ (Prohl, 1999, S. 181
zitiert nach Thiele 1996). Hier zeigt sich die Diskontinuität der Einzelerfahrung, die
mit der Kontinuität des Erfahrungszusammenhangs eng verbunden ist.
4. Aus dieser Diskontinuität ergibt sich schließlich das Merkmal der Negativität der
Erfahrung, wobei die Negation hier eine bestimmte Funktion und nicht eine Bewertung der Erfahrungsinhalte meint. „Der Erwerb neuer Erfahrungen setzt voraus, dass
sich der selbstverständliche, alltägliche Umgang in einer neuen Situation als nicht
mehr tragfähig erweist, dass Vorwissen und Vorerfahrung ihre Gültigkeit verlieren.
Solche Erfahrungssituationen rufen Betroffenheit hervor, die in ihren Erscheinungsformen von Staunen und Verwunderung, über Widerstand- und Distanzerlebnisse bis
hin zu Verunsicherung und Krise reichen können. Abhängig vom Grad der Störung
des Selbstverständlichen wird das Subjekt herausgefordert, mit neuen Aktivitäten zu
antworten“ (Prohl, 1999, S. 181).
261
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Erfahrungen sind somit immer unmittelbare Erfahrungen, das heißt an eigentätige Bewegungen gebunden. Prohl betont, dass diese Erfahrungen in allen Phasen menschlicher
Entwicklung von Bedeutung sind, der Kindheit jedoch eine besondere Bedeutung zukommt:
„Für das Kind, auch noch im Grundschulalter, bedeuten
Bewegungsaktivitäten mehr als die reizvolle Zerstreuung, die Erwachsene
nachvollziehen können. Es sind immer auch Welterfahrungen in einer
unersetzlichen, unmittelbaren Weise und damit auch Welterschließung.
Bewegungserfahrungen eröffnen die Umwelt, erschließen sie räumlich wie
zeitlich, und die Gegenstände der Umwelt erhalten für das Kind durch sein
Bewegungskönnen überhaupt erst den Charakter der Verfügbarkeit. In
diesem Sinne ist Bewegung das primäre Vermittlungsorgan zu seiner
Umwelt“ (Prohl, 1999, S. 182).
Hier zeigt sich nun auch deutlich, wie sehr Prohl die gemachten Erfahrungen mit der
Identitätsentwicklung verknüpft sieht. Dadurch, dass Kinder noch ganz und gar in ihrer
Leiblichkeit befangen sind (vgl. Kap. 1.1 dieses Teiles), leiden sie ohne entsprechende
Bewegungserfahrungen nicht nur körperlich, sondern haben es auch schwerer in ihren
zwischenmenschlichen Beziehungen, zu ihrer Umwelt und schließlich zu sich selbst.
„Die Entwicklung personaler und sozialer Identität ist unauflöslich an Erfahrungen mit
und über körperliche Bewegungen verbunden“ (Prohl, 1999, S. 182).
Somit wird im Rückbezug auf die Vorstellungen Hartmut von Hentigs deutlich (vgl.
Teil A, Kap. 5), welche Ansprüche an eine ‘Schule als Erfahrungsraum’ gestellt und
insbesondere, welche Anforderungen an den Schulsport gestellt werden, wobei sich diese aus Sicht des prozessualen Aspektes der Bildung deutlich abzeichnen:
Zunächst scheint es die Aufgabe der Schule zu sein, den Kindern primäre Bewegungserfahrungen zu ermöglichen.
In Bezug auf die dargestellten Aufwachsbedingungen (vgl. Kap. 2.1 dieses Teiles)
schließt das die Bereitstellung von Freiräumen ein, die sich Kinder ohne unmittelbare
Aufsicht eines Erwachsenen schaffen können. Die schulische Notwendigkeit einer solchen Maßnahme ergibt sich daraus, dass solche Freiräume in der außerschulischen Umgebung immer weniger zu finden sind, Kinder aber dennoch lernen müssen, sich mit
anderen auseinanderzusetzen, ohne durch Erwachsene gelenkt zu werden. Da der päd262
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
agogische Sinn diesbezüglich im Ausgleich der genannten Entwicklungsdefizite liegt,
ist die Schule gefordert, ihr Bewegungskonzept auf die Lebenswelt der Kinder abzustimmen. „Sportunterricht ist dabei eher als Bewegungsunterricht aufzufassen, in dem es
gilt, Differenzerfahrungen zu ermöglichen, die Kindern einen Vergleich gegenüber ihrer
alltäglichen, häufig bewegungsarmen Lebenswelt überhaupt erst zu ermöglichen“
(Prohl, 1999, S. 182).
Prohl geht noch einen Schritt weiter und betont, dass Primärerfahrungen nur durch ein
hohes Maß an Selbsttätigkeit gemacht werden können. Diese wiederum wird dadurch
geschult, dass Kinder in der Schule Bewegungsangebote mit einem hohen Herausforderungs- und Aufforderungscharakter vorfinden, die zunächst nicht auf das Ergebnis, wie
zum Beispiel das Erlernen einer sportlichen Fertigkeit abzielen (vgl. Prohl, 1999, S.
183).
Die langfristige Auseinandersetzung mit Bewegungsproblemen hilft den jungen Menschen bei der Identitätsfindung, da sie die Grundlage für jedes weitere Sporttreiben ist.
Bildung ist hier als Prozess zu verstehen, in dem der Schulsport in sofern seinen Beitrag
dazu leisten kann, dass er zunächst vielfältige mögliche Bewegungserfahrungen bietet.
Wesentlich ist nicht die inhaltliche Auswahl einer bestimmten Sportart, sondern die
Erfahrungen, die die Schüler machen können.
„Bildung vollzieht sich in der subjektiv sinnvollen Auseinandersetzung mit
spezifischen Bewegungsproblemen, wobei das Ziel darin besteht, das
Bewegungsproblem zu lösen. Weniger das ‘Was?’, also die Inhalte oder der
Lehrstoff, als vielmehr das ‘Wie?’, also die Weise der Vermittlung und die
Qualität des Erwerbs von Bewegungskönnen, sind dabei entscheidend“
(Prohl, 1999, S. 184).
An dieser Stelle kommt auch Prohl auf den Leistungsaspekt zu sprechen. Wenn er diesen keinesfalls zurückweist, sondern betont, dass ein „Erfahrungsgewinn ohne ein auf
‘Können’ gerichtetes Streben kaum zu erreichen ist“ (Prohl, 1999, S. 185) und erstes
Ziel es zunächst sein müsse, den Schülern zu vermitteln, „dass im Üben, im vertieften
Sich-Bemühen ein spezifischer Genuß liegt, der die Erfahrung der Freude in spürbarer
Weise vom Erlebnis des Spaßes unterscheidet“ (Prohl, 1999, S. 186), dann zeigen sich
hier Parallelen zu einem Leistungsbegriff, wie ihn Wolfgang Klafki schon mit Leisten
können, ohne leisten zu müssen umschrieben hat.
263
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Dieser Leistungsbegriff geht jedoch über den individuellen Selbstbezug hinaus, wenn
Prohl in Bezug auf Klafki betont, dass Können - eingebettet in einem sozialen Verantwortungsrahmen - weit über den unmittelbaren Bewegungsaspekt hinausweist und auf
die allgemeinbildenden Erziehungsziele der Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit
hindeutet.
b)
Kooperation, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit - Sport als Mittel der
Sozialerziehung.
Erziehungsziele wie Solidaritätsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit oder Gemeinschaftlichkeit weisen auf das Feld des ‘sozialen Lernens’ hin, wobei Pühse feststellt, dass dieses Begriffsfeld174 in der Fachdiskussion terminologisch uneinheitlich verwendet wird
(vgl. Pühse, 1994, S. 10).
Während Sozialisation solche Prozesse meint, die den Menschen in seine soziale Umwelt eingliedern und somit zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen, bezieht sich das
‘soziale Lernen’ auf spezifische Situationen, die jedoch nicht, wie das Alltagsverständnis impliziert, automatisch eine positive Wertung haben müssen:
„Implizit wird hierunter das Lernen, also der Erwerb prosozialer
Verhaltensweisen verstanden; Verhaltensweisen also, die zu einem
positiven, verständnisvollen usw. Umgang mit anderen Menschen
befähigen. Diese positive Wertung im Alltagsverständnis wird von der
Psychologie nicht geteilt, vielmehr bedeutet hier ‘sozial’ zunächst eher die
Tatsache, dass etwas im Umgang mit anderen, durch Beeinflussung anderer,
durch Nachahmung anderer usw. geschieht. ‘Sozial’ heißt hier also im
wesentlichen ‘im Umgang mit anderen Menschen’; in dem Sinne kann
soziales Lernen sowohl pro- wie antisoziale Verhaltensweisen beinhalten“
(Bierhoff-Alfermann, 1981, S. 145f).
Der im Kontext des Schulsports wichtige Begriff der Sozialerziehung wiederum bezeichnet intentionale Maßnahmen, die ergriffen werden, um ein bestimmtes erzieherisches Ziel zu erreichen und ist somit normativ belegt.
Gerade in Bezug auf den Schulsport muss geklärt werden, ob er den Ansprüchen der
Sozialerziehung genügt oder ob es angesichts heutiger Sportrealitäten nicht naiv ist, auf
174
Er merkt dabei an, dass wie soziales Lehren und Lernen, soziales Handeln, soziales Verhalten, soziales
Wohlbefinden, Sozialisation, Sozialerziehung oder soziale Kompetenz in unterschiedlichen Beiträgen für
die gleiche oder ähnliche Thematik benutzt werden und schlägt deshalb den Oberbegriff des sozialen
Handelns vor.
264
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
die ‘Integrationspotenz’ des Sports zu setzen, da er, wie Meinberg feststellt, ganz im
Gegenteil auch ein sehr beliebtes Unterscheidungsmerkmal ist, „mit dem die feinen
Unterschiede zur Schau getragen werden“ (Meinberg, 1994, S. 61).
Diese Skepsis teilen auch Ungerer-Röhrich u.a., die vorschlagen, dass die Schüler lernen, die Wünsche und Erwartungen der Mitschüler ausgewogen zu berücksichtigen (vgl.
Ungerer-Röhrich u.a., 1990, S. 26). Damit dies gelingt, bedarf es vier Grundqualifikationen, die zunächst einmal auf eine bestimmte Unterrichtsorganisation hindeuten:
1. Die Fähigkeit der Rollen- und Perspektivenübernahme: Schüler lernen, sich in andere
hineinversetzen.
2. Die Fähigkeit der Rollendistanz: Schüler lernen, sich mit anderen kritisch auseinandersetzen, um eventuell geeignete Kompromisslösungen zu finden.
3. Die Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz: Schüler lernen, teilweise auf die Befriedigung
eigener Wünsche verzichten zu können.
4. Die Fähigkeit der Identitätsdarstellung: Schüler lernen, eigene Wünsche und Erwartungen anderen mitteilen zu können.
Nach Ungerer-Röhrich sollte Sozialerziehung durch Sportunterricht in erster Linie die
genannten vier Grundqualifikationen des Rollenhandelns zu fördern versuchen, wobei
das pädagogische Problem darin besteht, dass diese Fähigkeiten nicht direkt vermittelt
werden können. Hierfür bedarf es vielmehr einer geeigneten Lernatmosphäre im Sportunterricht, in der die jungen Menschen lernen, sich untereinander zu verständigen (vgl.
Ungerer-Röhrich u.a., 1990, S. 26f).
Angesprochen werden hier nicht allein die unterrichtlichen Effekte im Sinne optimaler
qualifikatorischer Schulleistungen, sondern es müssen darüber hinaus auch Kriterien
herangezogen werden, welche die soziale und emotionale Seite des Menschen betreffen.
Gemeint ist die Schaffung eines Schulumfeldes, in dem sich Kinder und Jugendliche
wohlfühlen und mit dem sie sich identifizieren können (vgl. Prohl, 1999, S. 279).
Ein positives Schulklima ist jedoch nur ein Faktor sozialen Lernens und geht weit über
die Möglichkeiten des Schulsports hinaus. Zudem trägt die Schaffung eines solchen
Klimas nichts zur Klärung der Frage bei, ob Bewegung und Sport aufgrund ihrer immanenten Möglichkeiten sozialerziehende Potenz haben. Diesen fehlenden Sachbezug
stellen Funke-Wienecke (1997) und Prohl (1999) her.
265
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Funke-Wienecke betont, dass Menschen - dadurch dass sie sich gemeinsam bewegen eine von Fall zu Fall und Aufgabe zu Aufgabe verschiedene Bewegungsbeziehung eingehen.
„Sie stiften einen je spezifischen, für das Thema charakteristischen
Zusammenhang koordinierter Bewegungen. Diesen erzeugen sie, indem sie
sich individuell wirkend mit ihrem Bewegungsbeitrag in die gemeinsame
Aufgabe einbringen. Aber das, was sie damit bewirken, übersteigt diesen
individuellen Beitrag hin zu einer überindividuellen Gemeinsamkeit. Die
geläufige Rede vom ‘Spiel, das gut läuft’, von der ‘gelungenen Abstimmung
in einem Team’ drückt ein entsprechendes Erleben des überindividuellen
Bewegungszusammenhanges aus“ (Funke-Wienecke, 1997, S. 34).
Hier unterscheidet Funke-Wienecke zwischen Verstehen und Verständigung. „Üblicherweise wird für das Lernen im Sportunterricht gefordert, dass die Beteiligten einander verstehen lernen müssen und dass darin das Soziale bestehe. Sie sollen sich [...] mitfühlend und einfühlend auf die Innerlichkeit des Anderen beziehen können“ (FunkeWienecke, 1997, S. 34). Auch an diesem Punkt steht nicht der sachbezogene (bewegungs- oder sportimmanente) Bezug im Vordergrund. Werden jedoch Probleme wie die
Einfühlung in den Hintergrund gedrängt und statt dessen gefragt ‘Welches ist die Aufgabe, die wir hier und jetzt in unserer Welt zu erfüllen haben?’, kommt zunächst die
gemeinsame Praxis und erst danach die Entdeckung, dass „wir in diesem Tun auch einander näher gekommen sind“ (Funke-Wienecke, 1997, S. 35). Anstatt von Verstehen
spricht Funke-Wienecke nun von Verständigung.
Entscheidend ist, dass Schüler lernen, mehr oder weniger anspruchsvolle, thematisch
vielfältige Bewegungsbeziehungen zu realisieren und sich dabei nicht zu allererst verbal, sondern in Aktion zu verständigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um kooperative oder konkurrenzbezogene Aufgaben handelt. Hier liegen seiner Ansicht nach
die immanenten Möglichkeiten der Sport- bzw. Bewegungserziehung: „Eine Trennung
des sozial Anspruchsvollen vom sachlich Anspruchsvollen ist somit nicht gerechtfertigt.
Sie führt jedenfalls vom Fach weg“ (Funke-Wienecke, 1997, S. 35). Prohl sieht diese
Einheit in vielen Interaktionssituationen im Schulsport. Schüler müssen beispielsweise
lernen, Mannschaften zu bilden, Geräte zu teilen, in Gruppen zu spielen oder einander
Hilfestellung zu geben.
266
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
„Gemäß der pädagogischen Leitvorstellung der ‘Fremdaufforderung zur
Selbstbestimmung’ sollen die Schüler diese sozialen Situationen zunehmend
selbständig zu bewältigen lernen. Dies ist keineswegs einfach oder
selbstverständlich. Beobachtet man in nicht-organisierten Spiel- und
Bewegungssituationen oder im Sportunterricht, wie Kinder ihre sozialen
Beziehungen regeln, so stellt man fest, dass meist nur einige Kinder das
Geschehen bestimmen, die Wünsche und Erwartungen anderer Kinder
jedoch häufig auf der Strecke bleiben“ (Prohl, 1999, S. 276).
Verständigung schließt auch das Gespräch im Sportunterricht mit ein, denn Bewegungserziehung beschränkt sich nicht darauf, auf Bewegungsbeziehungen einzugehen und zu
vollziehen, sondern hat ebenso zum Ziel, sich gedanklich mit den Inhalten auseinanderzusetzen und dies ggf. sprachlich auszudrücken.
(1)
Soziales Lernen als Verbindung zwischen intentionaler und funktionaler
Erziehung.
Es wird also deutlich, dass die Vermittlung der hier angesprochenen Kompetenzen wie
Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Verständigungsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit
usf. nur durch eine Verbindung zwischen geplanten und ungeplanten Erziehungsmaßnahmen erreicht werden kann. Zunächst erscheint es paradox, dass ungeplante und somit nicht vorhersehbare Erziehung in ein Konzept der Allgemeinbildung mit eingebunden ist. Dennoch kann eine solche Erziehung entscheidend durch das Schulklima beeinflusst werden. Dabei spielt der Lehrer im Unterricht eine tragende Rolle. Pühse ist der
Ansicht, dass er sich der bewussten Berücksichtigung sozialerzieherischer Möglichkeiten und der damit verbundenen inhaltlichen und methodischen Konsequenzen nicht länger entziehen kann. Dabei sollte er jedoch andere Ziele nicht aus den Augen verlieren
(vgl. Pühse, 1990, S. 298).
Es bestätigt sich, dass es weniger um Inhalte und spezifischen Lehrstoff geht, sondern
die Weise der Vermittlung maßgeblich ist, um Erfahrungslernen bei den Schülern zu
ermöglichen. In Bezug auf Grupe sieht Prohl in diesem ‘Wie’, das sich an der Idee
schulischer Bildung ausrichtet, den besonderen schulpädagogischen Wert des Sports
(vgl. Prohl, 1999, S. 280). Wenn er den Schulsport dabei auf die Prinzipien der Vielfalt
und des Könnens verpflichtet, wird dabei auch die Verschränkung zwischen den beiden
Prinzipien ‘gesellschaftlicher Aspekt der Bildung’ und ‘Bildung als Zusammenhang
verschiedener Kompetenzen’ des hier zu Grunde gelegten Allgemeinbildungskonzeptes
267
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
deutlich. Gemeint sind hier die Vielfalt des Angebotes und der Erwerb von sportlichem
Können.
• Die Vielfalt des Angebotes und der Auswahl soll möglichst vielen Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu den Sinndimensionen der Bewegungskultur eröffnen.
Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass Vielfalt nicht im Sinne von möglichst
vielen verschiedenen Sportarten verstanden wird, sondern die Vielfalt meint, die die
verschiedenen Kategorien der Erfahrung mit einschließt.
• Dennoch soll auch der Erwerb von sportlichem Können berücksichtigt werden, der
sich an den leistungsbezogenen und wettbewerblichen Prinzipien des Sports orientiert. Das Streben nach Können ist ein unverzichtbares Element des Sports und seiner
Bildungsmöglichkeiten, ebenso wie seiner Tradition als Kulturgut, aber nur dann,
wenn sich das Leistungsstreben von einer fairen und sozialen Einstellung bestimmen
lasse.
„Faires und den Regeln entsprechendes Handeln, so Grupe, sei über den
Sport hinaus Modell für freiwilliges und soziales Handeln überhaupt. Ein
fairer und sozial geregelter Sport könne insofern Vorbild für das
Zusammenleben insgesamt sein. Um dies zu erreichen, sei der Sport in der
Schule nicht nur als Fach, sondern wieder - wie schon von der
Reformpädagogik gefordert - als Kultur und Kultivierung von Körper und
Bewegung zu begreifen, für welche die Schule Mitverantwortung trage.
Damit ist nicht eine intentionale Sozialerziehung gemeint, die in Form von
sozialen Lernzielbereichen angesteuert wird. Vielmehr sollen durch eine
Sportkultur indirekte sozialerzieherische Wirkungen erzielt werden“ (Prohl,
1999, S. 280).
Dennoch zeigt sich in diesen Worten auch eine eindeutige Wertung für das konkrete
Vorgehen an der Schule, wenn Prohl fordert, dass das Leistungsstreben sich von den
Regeln der sozialen Einstellung bestimmen lassen soll. Bevor die Schüler sich mit den
konkurrenzorientierten Inhalten des Sportes auseinandersetzen, müssen sie die Kompetenzen für ein angemessenes Miteinander erlangen.
c)
Fazit
Den Forderungen eines zeitgemäßen Allgemeinbildungskonzeptes kann nur entsprochen
werden, wenn die Schule ihre Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung gleichberechtigt
268
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
zu derjenigen der Qualifikation in den Mittelpunkt der Überlegungen rückt. Gemeint
sind hier zwei wesentliche Komponenten: die des Selbstbezuges und die des Einbeziehens der anderen Mitschüler.
Im Bezug auf die individuellen Entwicklungsprozesse soll die Schule helfen, Interessenschwerpunkte auszurichten, die zunächst durch eine Vielfalt an Angeboten erreicht werden können. Dabei geht es jedoch nicht nur um die Auswahl persönlich favorisierter
Inhalte, sondern auch um die Art wie Schüler mit ihren sportlichen Leistungen umgehen. Ein in diesem Sinne individuellerer Orientierungs- und Leistungsmaßstab ist jedoch keinerlei Ausdruck von Unverbindlichkeit, sondern lediglich eine Verschiebung
pädagogisch gewollter Zielsetzung: die Schüler sollen selbst bestimmen, an welchen
Kriterien sie ihr sportliches Handeln orientieren möchten.
Ausgangspunkt für eine solche selbstbestimmte Identitätsbildung ist, dass Schule einen
großen Schatz an unmittelbaren Erfahrungen ermöglicht. Dies ist besonders bei den jüngeren Schülern von elementarer Bedeutung, da die Identitätsfindung eine wichtige Voraussetzung für weiteres Sporttreiben ist. Dabei rückt weniger das ‘Was?’ als vielmehr
das ‘Wie?’ in den Mittelpunkt der Überlegungen.
Neben dem individuellen Selbstbezug soll der Sportunterricht einen sozialen Verantwortungsrahmen bieten, der auf allgemeine Erziehungsziele, wie Kooperation, Solidarität oder Gemeinschaftlichkeit hin ausgelegt ist. Solche Erziehungsziele können allgemein mit dem Begriff des ‘sozialen Lernens’ umschrieben werden, wobei einerseits
zwischen intentionalen und funktionalen, andererseits zwischen allgemeinen und sportimmanenten Maßnahmen unterschieden werden muss, um die gewünschten Kompetenzen zu schulen.
In der Unterscheidung zwischen intentionalen und funktionalen Maßnahmen zeigt sich,
dass intentionale Ziele durch Aufgaben erreicht werden können, die Verständigung bei
den Schülern fordern. Funke-Wienecke (1997) sieht hierbei vor allen Dingen Möglichkeiten in der gemeinsamen Lösung vielfältiger Bewegungsaufgaben, wobei die Lösungsversuche durch gemeinsames Handeln angestrebt werden. Hier zeigt sich neben
der Intentionalität auch die sportimmanente Potenz. Prohl (1999) umschreibt diese spezifischen Situationen mit ‘Fremdaufforderung zur Selbstbestimmung’.
Eine wesentliche Voraussetzung für das Erreichen solcher Ziele ist das entsprechende
Unterrichtsklima, wobei dies nicht nur für den Sportunterricht, sondern für den gesamten Bereich der Schule gelten muss. In dieser Verbindung, nämlich durch organisatori269
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
sche Maßnahmen möglichst funktionale Ziele beeinflussen zu können, zeigt sich der
zweite Strang. Auch hier zeigen sich Bildungsziele, die weniger durch das ‘Was?’ als
vielmehr durch das ‘Wie?’ erreicht werden können.
Besonders gefordert ist hierbei die Persönlichkeit des Lehrers, der sich über die sozialerzieherischen Möglichkeiten seines Unterrichts bewusst sein sollte und neben der
Schaffung eines entsprechenden Klimas auch die inhaltlichen und organisatorischen
Maßnahmen treffen muss, damit der Sportunterricht den hohen Ansprüchen der Allgemeinbildung gerecht werden kann.
An dieser Stelle wird die Einbindung der in Kapitel 1 dieses Teiles formulierten Einzelphänomene in diesen Bereich deutlich:
• Durch das Prinzip des Leisten können, ohne leisten zu müssen ist das freudige Könnensbewußtsein gemeint, wie es bereits ausführlich erläutert wurde (vgl. Kap. 1.4).
• Die verschiedenen Spiele haben einen großen Anteil an der Schulung sozialer Kompetenzen, wobei eine gezielte Auswahl notwendig ist. Wenn es gilt, Kindern über das
Spiel primäre Bewegungserfahrungen zu ermöglichen, die ihnen zum Aufbau einer
eigenen Identität verhelfen, dann sind in erster Linie solche Spiele geeignet, die
Caillois mit dem Begriff ‘paida’ umschrieben hat (vgl. Kap. 1.3). Erst wenn die
Schüler über eine eigene Bewegungsidentität und sie über die notwendige Toleranz
und Gemeinschaftlichkeit verfügen, sind konkurrenzorientierte Spiele sinnvoll, wie
sie beispielsweise heute dem ‘großen Sport’ entlehnt sind (agon/ludus). Denn nur
dann kann es auch gelingen, diese gesellschaftliche Realität kritisch zu reflektieren
und in das jeweils eigene Bewegungsverständnis einzugliedern.
• Bezüglich der Gesundheit ist in der Bemühung, verschiedene soziale Kompetenzen
aufzubauen, genau das ganzheitliche Gesundheitsmotiv gemeint, wie es in Kap. 1
ausführlich dargestellt wurde und damit umschrieben war, dass es sich um ein Inund Miteinander physischer, psychischer, sozialer und ökologischer Faktoren handelt
(vgl. Kap. 1.2) Denn nur durch den Aufbau einer selbstbestimmten Identität, in der
die Faktoren der Gemeinschaftlichkeit entsprechend berücksichtigt sind, kann der
ganzheitliche Gesundheitsbegriff zum Tragen kommen.
• Ebenso verhält es sich mit den unterschiedlichen Bedeutungen des Körpers (vgl.
Kap. 1.1). Nur durch eine entsprechend ausgeprägte Identität kann der Schüler die
Bedeutung von Bewegung für sich selbst erkennen und auf sein eigenes Leben hin
bereichernd übertragen.
270
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
• In der Gestaltung schließlich zeigt sich eine Vielzahl von individuellen Bewegungsvollzügen, die den Beitrag des Sports und Bewegung zur Identitätsbildung erst vervollständigen (vgl. Kap. 1.5).
Der Aufbau einer eigenen unverwechselbaren Identität, zu der die Bewegungserziehung
einen erheblichen Beitrag leisten kann, ist die Grundlage für weiteres Sporttreiben innerhalb und außerhalb der Schule. Auch hier zeigt sich die enge Verzahnung der einzelnen Faktoren, die den zeitgemäßen Allgemeinbildungsbegriff kennzeichnen.
271
Ziel: Grundqualifikationen nach Ungerer-Röhrich (1990)
Ausgangspunkt: Positives Schulklima & Verständigung
- ermöglicht Primärerfahrungen durch ein hohes Maß an Selbsttätigkeit
- läßt individuelle Freiräume
Schule als Erfahrungsraum
Ziel: Leisten können, ohne leisten zu müssen
Ausgangspunkte:Kategorien der Erfahrung
Mediatisierung
Kooperation, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit
Fazit:
- Reduktion des Bewegungslebens
- Reduktion des Erwerbs primärer Erfahrungen
- unzureichende Möglichkeiten für die Identitätsentwicklung
Terminierung &
Funktionalisierung
des Alltags
Ermöglichung individueller Entwicklungsprozesse
veränderte Familienformen
Ausgangspunkt: Zustandsbeschreiburng der Gesellschaft
Bildung als Zusammenhang
verschiedener Kompetenzen
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Abbildung 10: Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen.
272
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
4.
Die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung
Es hat sich nun gezeigt, wie die beiden wesentlichen Bezugssäulen des Allgemeinbildungskonzeptes - die Qualifikation und die Persönlichkeitsbildung - im Schulsport berücksichtigt sein müssen, um den zuvor formulierten Ansprüchen zu genügen. Wie das
inhaltlich und organisatorisch geschehen kann, ist dabei noch nicht ausgeführt worden.
Beide Aspekte sind jedoch für den Fachunterricht von großer Bedeutung, denn sie sind
letztlich auch Ausdruck des Selbstverständnisses, mit dem der Lehrende unterrichtet.
a)
Allgemeinbildung als Bildung für alle - die organisatorischen und inhaltlichen Momente
(1)
Das organisatorische Moment.
Es ist nicht die Aufgabe eines Allgemeinbildungskonzeptes, ein bündiges didaktisches
Konzept zu entwerfen, schon allein deshalb nicht, weil ein solches Konzept nicht der
Offenheit entspricht, die die Berücksichtigung einer gesellschaftlichen Realität erfordert, die insbesondere in den letzten Jahrzehnten einem schnellen Wandel unterliegt.
Andererseits lassen sich aus den bisher genannten Forderungen nach der Vermittlung
sozialer Kompetenzen einerseits und der kritischen Aufnahme gesellschaftlicher Realitäten andererseits Eckpunkte festlegen, die durch den Bildungsaspekt vorgegeben sind.
Gemeint sind hier - wie schon ausführlich behandelt - die Beachtung gesellschaftlicher
Tatbestände, das notwendige Fachwissen und die sozialen Komponenten der Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Gemeinschaftlichkeit, Verständigung und Kooperation,
deren Ausgangspunkt die persönlichen Erfahrungen jedes einzelnen Individuums ist.
Wie sich herausgestellt hat, sind die geforderten Kompetenzen durch ein möglichst hohes Maß an Eigenerfahrung zu erreichen. Es hat sich auch gezeigt, dass Erfahrungen
nicht lehrbar sind. Somit stellt sich die Aufgabe, nach Lösungen zu suchen, die es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, individuelle Primärerfahrungen zu machen.
Die zentrale Frage lautet deshalb, inwieweit eine pädagogische Inszenierung von Erfahrung möglich ist. Dass eine solche notwendig ist, lässt sich schon allein daraus erklären,
dass Tätig-Sein allein noch keine Erfahrung ist.
„Bestritten wird nicht, dass so etwas wie Erfahrungsorientierung prinzipiell
möglich ist, bestritten wird auch nicht, dass erfahrungsorientierter Unterricht
in vielfältigen Kontexten stattfindet, in Frage gestellt wird aber, inwiefern
273
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
solche Aktivitäten sich Rechenschaft über ihr eigenes Tun abliefern bzw.
inwiefern sie ihre Tätigkeiten pädagogisch legitimieren“ (Thiele, 1996, S.
217f).
Ausgangspunkt einer solchen Legitimation ist die bereits mehrfach angesprochene These vom Erfahrungsverlust. Dieser betrifft nicht nur die Lebenswelten der Kinder, sondern auch in besonderem Maße die Auswirkungen, die sich für die Schule ergeben. Eine
mögliche Antwort auf diesen Verlust sind die verschiedenen erfahrungsorientierten
Konzepte, dessen gemeinsamer Nenner in dem Begriff des ‘erfahrungsoffenen Lernens’175 liegt. Thiele weist daraufhin, dass es zwar kaum möglich ist, die verschiedenen
Vertreter ‘unterschiedslos einzugemeinden’, dennoch lassen sich inhaltliche Gemeinsamkeiten ausmachen, die sich um das Grundanliegen eines erfahrungsorientierten Unterrichtes herauskristallisieren lassen (vgl. Thiele, 1996, S. 237ff).
„Erfahrungsorientierter Unterricht sollte die Interessenlage der Schüler
einbeziehen, um auf diese Weise von Beginn an eine hohe Lernmotivation
voraussetzen zu können. Die Unterrichtsgegenstände sollten in ihren
Zusammenhängen und lebensweltlichen Bezügen erfahren und vermittelt
werden, Selbsttätigkeit und Selbstorganisation sollten dabei im Mittelpunkt
stehen. Der Unterricht sollte individualisierend und differenzierend auf die
Möglichkeiten und Fähigkeiten der Schüler eingehen und gleichzeitig auf
sozialer Ebene Kooperation und Miteinander der Schüler durch
entsprechende Organisationsformen fördern helfen. Ließe sich ein solches
idealtypisches Konstrukt erfahrungsorientierten Unterrichtes in der Praxis
verwirklichen, dann, so die zugrundeligende Vision, könnte Schule zu einer
Stätte des ‘Erfahrungen-Machens’ im positiven Sinne werden“ (Thiele,
1996, S. 239).
Unter diesem Gesichtspunkt wird Schule zu einem Erfahrungsraum im Sinne Hartmut
von Hentigs und greift beispielsweise auch die Forderungen Ballauffs, Fends und der
Bildungskommission aus Nordrhein-Westfalen auf (vgl. Teil A).
Natürlich spricht die derzeitige Organisationsstruktur der Schule mit ihrer strikten Fächertrennung, ihren festen Zeittakten und Verwaltungsvorschriften gegen die Einbindung des erfahrungsoffenen Lernens. Dennoch schließt sich die Frage an, ob denn die
Didaktisierung von Erfahrung unter anderen (idealen) institutionellen Voraussetzungen
überhaupt möglich ist. Thiele verneint dies ausgehend von dem Argument, dass jeder
Mensch seine Erfahrungen selbst machen muss und dadurch der Lehrbarkeit und Her175
Eine Ausnahme bildet dabei die Position der ‘Entschulung’, die, wie sich bereits gezeigt hat, auch vom
erfahrungsoffenen Lernen abhebt (vgl. Teil A, Kap. 5).
274
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
stellbarkeit von Erfahrung enge Grenzen gesetzt sind. Dennoch plädiert er dafür, dass
sich die pädagogischen Überlegungen auf das ‘Machbare’ konzentrieren sollen, denn
„durch diese Relativierung wird der Prozeß der Erfahrung pädagogisch erst disponibel
und die ‘Didaktisierung der Erfahrung’ allererst sinnvoll“ (Thiele, 1996, S. 241).
Probleme bezüglich einer umfassenden Vermittlung von Erfahrungen zeigen sich beispielsweise bereits in den Bereichen der Aktivität und Selbsttätigkeit. Denn die aktive
Selbstaneignung beinhaltet auch, dass das Individuum nicht alles wichtige, sondern nur
einen Teilaspekt einer Thematik erfährt, wohingegen eine durch den Lehrer vermittelnde Methode die wichtigsten Inhalte im Vorfeld auswählt und somit eher dem Anspruch
der Vollständigkeit genügen kann.
„Nicht jeder macht eben alle denkmöglichen Erfahrungen und jene
Erfahrung, die einer macht, oder das, was er selbst unter diesem Namen
führt, macht er möglicherweise - bei identischer Situation und noch
unwahrscheinlicher, unter gleichen Umständen - anders als andere. Die
diversen Ebenen der situativen Regulierung des Erfahrens, [...], lassen sich
ob ihrer Mannigfaltigkeit, auch ihrer tatsächlichen Widersprüchlichkeit
wegen nicht operationalisieren“ (Dieckmann, 1994, S. 13).
Um dieser Beliebigkeit zu entgehen, fordert Thiele, dass erfahrungsorientierte Pädagogik darauf bedacht sein muss, den Strom der Erfahrungen in didaktisch vorstrukturierte
Bahnen zu lenken. Das kann aber nicht bedeuten, dass nur solche Erfahrungen zugelassen werden, die sich in ein vorher bestimmtes theoretisches Konzept einbinden lassen.
Dies wäre der Weg der Verwissenschaftlichung der Erfahrung, der zwar herstellbar wäre, aber letztlich nichts mehr mit dem Ausgangsprodukt gemeinsam hätte.
Das Dilemma besteht also darin, dass der Prozess der Erfahrung einerseits eines didaktischen Rahmens bedarf, andererseits jedoch auf ein eindeutiges theoretisches Fundament
verzichten muss, um der individuellen Erfahrung genügend Raum geben zu können.
Um dem zu entgehen, plädiert Thiele für den Ansatz der Situationsgestaltung176, wobei
die Situation so gestaltet sein muss, dass einerseits die Struktur des Unterrichts erhalten,
also die Zielperspektive erkennbar bleibt, andererseits Erfahrung nicht gegen Wissensvermittlung ausgetauscht wird (vgl. Thiele, 1996, S. 242f). „Doch dürfen auch diese
Überlegungen, [...], nicht darüber hinwegtäuschen, dass das prinzipielle Dilemma eines
176
Wobei er hier die Schwierigkeit erkennt, dass die Situation schon allein deshalb unbestimmt bleibt,
weil sie auf die spontane Deutung des Erfahrenden angewiesen bleibt.
275
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
allenfalls in Teilen steuerbaren Erfahrungsprozesses didaktisch nicht aufzulösen ist“
(Thiele, 1996, S. 244).
Daraus ergeben sich seiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten:
1. einmal diese Grenze solange zu überarbeiten, bis sie ihre Mängel eingebüßt hat, dadurch aber auch entsprechend wichtige Inhalte einbüßt
2. oder aber diese Grenzen hinzunehmen und zu akzeptieren.
(2)
Sorgsame Auswahl der möglichen Unterrichtsorganisation.
Eine dritte Möglichkeit ist es, sich je nach Lerninhalt für die Methode des erfahrungsoffenen Unterricht zu entscheiden oder geschlossenere Methoden zu wählen. Denn der
konstatierte Verlust der Erfahrung darf andererseits nicht zur ‘Totalisierung der Erfahrung’ führen, da damit andere Lerninhalte verloren gehen, die in einem umfassenden
Konzept der Allgemeinbildung ebenso ihren Platz finden. Gemeint sind beispielsweise
die Lernfelder, die die Aneignung von notwendigem Fachwissen zum Ziel haben:
• Geschlossene Fertigkeiten, die den Schülern bestimmte Techniken abverlangen, sind
durch methodische Reihungen sinnvoller zu vermitteln als durch erfahrungsoffene
Situationen. Das gilt insbesondere dann, wenn der Akzent auf dem Neuerwerb von
Techniken liegt (vgl. Roth, 1993, S. 27ff).
• Aber auch für offene Fertigkeiten, die das Lösen ‘situationsgemäßer Aufgaben’ durch
vorgegebene Koordinationsmuster zum Ziel haben177, bilden vom Lehrer vorgegebene
Aufgaben und Lösungshilfen den Rahmen schulischen Lernens (vgl. Brehm, 1993, S.
49ff).
Es wird deutlich, dass die Wahl der Unterrichtsorganisation und der Methoden immer
auch von jeweils verfolgten Zielen abhängt. Eine Polarisierung verschiedener ‘allgemeiner Unterrichtskonzepte’ (Bielefelder Sportpädagogen, 1993, S. 18), wie sie immer wieder diskutiert wird178, erscheint unter den vielfältigen Gesichtspunkten eines Allgemeinbildungskonzeptes, wie es hier beschrieben ist, nicht sinnvoll. Statt dessen erweist es
sich als notwendig, für die jeweils verschiedenen Zielsetzungen verschiedene Zugangsweisen zu wählen, die sich dann wiederum ergänzen.
177
Gemeint sind hier Fertigkeiten, die unter variierenden situativen Umfeldbedingungen realisiert werden
oder denen selbst die Idee der Variation zugrunde liegt. Brehm nennt als Beispiele Schwungverbindungen
im freien Gelände beim Skifahren oder polyzentrische Isolation im Jazz- bzw. im Afrotanz (vgl. Brehm,
1993, S. 49).
276
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
b)
Inhaltliche Auswahl der Unterrichtsgegenstände
Neben der Frage nach organisatorischen Maßnahmen, die das Konzept der Allgemeinbildung nach sich zieht, stellt sich die der möglichen Inhalte. Einerseits scheint es angebracht, vielfältige Lerninhalte anzuerkennen, um somit auch dem Anspruch der thematischen Fülle, wie sie bereits dargelegt wurde, gerecht zu werden. Andererseits ist zu verhindern, „dass Vielfalt ohne sinnhafte Ordnung zur Oberflächlichkeit und didaktischen
Unverbindlichkeit wird“ (Größing, 1997, S. 39).
Ein schulisches Allgemeinbildungskonzept hat somit die Verpflichtung zur begründeten
Auswahl der Lerninhalte ebenso ernst zu nehmen, wie die Bestimmung der Lernziele
oder die Frage nach geeigneten Methoden.
Gerade aber weil die Vielfalt die Gefahr der Unverbindlichkeit in sich birgt, stellt sich
die Frage, ob es nicht sinnvoller ist, dem Prinzip des Exemplarischen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
„Der Grundgedanke des exemplarischen Lehrens und Lernens, [...], kann
folgendermaßen formuliert werden: Bildendes Lernen, das die
Selbständigkeit des Lernenden fördert, also zu weiterwirkenden
Erkenntnissen, Fähigkeiten, Einstellungen (zu ‘arbeitendem Wissen’ im
Sinne Hugo Gaudigs) führt, wird nicht durch reproduktive Übernahme
möglichst vieler Einzelkenntnisse, -fähigkeiten und -fertigkeiten gewonnen,
sondern dadurch, dass sich der Lernende an einer begrenzten Zahl von
ausgewählten Beispielen (Exempeln) aktiv allgemeine, genauer: mehr oder
minder weitreichend verallgemeinerbare Kenntnisse, Fähigkeiten,
Einstellungen erarbeitet, mit anderen Worten: Wesentliches, Strukturelles,
Prinzipielles,
Typisches,
Gesetzmäßigkeiten,
übergreifende
Zusammenhänge. Mit Hilfe solcher allgemeinen Einsichten, Fähigkeiten,
Einstellungen können jeweils mehr oder minder große Gruppen
strukturgleicher oder ähnlich strukturierter Einzelphänomene und -probleme
zugänglich bzw. lösbar werden. Man kann die Wirkungsweise der jeweils an
einem Beispiel gewonnenen allgemeinen Erkenntnisse, Fähigkeiten,
Einstellungen ‘kategorial’ nennen.“ (Klafki, 1996, S. 144).
Der Begriff des Kategorialen enthält zwei konstitutive Merkmale: Zum einen gewinnen
die Schüler anhand einer kleinen Zahl ausgewählter Inhalte Einsichten in den Gesamt-
178
Als Beispiel kann die Instrumentalisierungsdebatte genannt werden, deren einzelne Positionen immer
auch bestimmte Konzepte zur Grundlage haben.
277
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
zusammenhang und zum anderen soll jeder Einzelne für sich selbst klären, wie er mit
dieser gewonnenen Wirklichkeit verfährt179.
Im Bereich der großen Sportspiele würde das bedeuten, dass der Lehrende anhand einer
Sportart aufzeigt, wie sich die Schüler Grundlagen erarbeiten, die dazu führen, Spielfähigkeit zu erlangen, alternative Spielformen zu erkennen usf. Kurz, der Lehrer soll das
Exempel soweit ausführen, dass die Kinder und Jugendlichen in der Lage sind, diese
Sportart selbst auszuführen, sie aber auch kritisch auf ihr eigenes Sporttreiben hin zu
überprüfen. Obwohl Wolfgang Klafki den Begriff des Kategorialen schon 1959 vorgeschlagen hat, zeigt sich, dass er bis heute Gültigkeit besitzt180.
Deutlich wird diese (erstaunliche) Aktualität durch die Folgerungen, die er am Schluss
seiner Überlegungen zieht und die den Rückbezug auf den Bildungsbegriff herstellen,
wie er in Teil B dargelegt wurde:
„Einzig und allein jene Inhalte, die den im Begriff der kategorialen Bildung
geeinten Kriterien entsprechen, dürfen im Raum der Bildung einen zentralen
Platz beanspruchen. Alles was nicht repräsentativ für grundlegende
Sachverhalte und Probleme ist, sondern nur Einzelwissen oder
Einzelkönnen, das nicht kategoriale-erschließend zu wirken vermag; alles,
was nur ‘auf Vorrat’, auf eine Zukunft hin Bedeutung hat, die der junge
Mensch nicht bereits in seiner Gegenwart als seine Zukunft zu erfahren
vermag; alles was nur tradierte Vergangenheit ist, ohne dass es dem Schüler
im Bildungsvorgang selbst als seine Vergangenheit transparent würde; alles,
was für den Schüler nicht auf seine Wirklichkeit bezogen ist, also nicht in
den Horizont seiner lebendigen Fragen und Aufgaben hineingeführt werden
und deshalb auch nicht Kategorie des eigenen geistigen Lebens werden
kann; alles endlich, was dem Schüler nicht wenigstens der Möglichkeit nach
den Durchstoß zum Fundamentalen, zu den tragenden Kräften der
Grundbereiche unseres geistigen Lebens erlaubt - alles das sollte in unserem
Bildungswesen keinen Ort - jedenfalls keinen zentralen Ort - mehr haben.
Das bedeutet die Forderung nach radikalen stofflichen Kürzungen der
hergebrachten Bildungspläne und nach einem Neudurchdenken der
pädagogischen Methoden im Dienste einer Vertiefung, die die unabdingbare
Voraussetzung echter Bildung ist“ (Klafki, 1959, S. 411f).
Im Unterricht behandelte Themen müssen sich schließlich gegenüber der Frage legitimieren können, welche allgemeinen Zusammenhänge, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten
179
Klafki drückt den Zusammenhang folgendermaßen aus: „Bildung ist kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, dass sich dem Menschen eine Wirklichkeit ‘kategorial’ erschlossen hat und dass eben damit er
selbst - dank der selbstvollzogenen ‘kategorialen’ Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse - für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist“. Diese formelhafte Bezeichnung dieses Sachverhaltes kann mit dem ‘Begriff des Kategorialen’ umschrieben werden (Klafki, 1959, S. 410).
180
Das betont er in seinen aktuellsten Studien, die in der 5. Auflage im Jahre 1996 erschienen sind.
278
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
und Strukturen sich in ihnen aufzeigen und erarbeiten lassen (vgl. Gudjons, 1994, S.
21).
Die Selbständigkeit, die durch das exemplarische Lernen gefordert ist, ist jedoch nur
möglich, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind:
1. Der Unterricht muss an dem jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen anknüpfen181.
2. Der Unterricht darf die Gesetzmäßigkeiten, die sich die Schüler selbst aneignen sollen, nicht vorwegnehmen. Statt dessen soll er dabei helfen, „die ‘sachlogischen’ Stufen der Entwicklung solcher Gesetzmäßigkeiten, Strukturen, Zusammenhänge entweder schrittweise aufbauend nachzuvollziehen bzw. zu entdecken oder aber analytisch, vom ‘fertigen’ Ergebnis aus rückschreitend, zu rekonstruieren“ (Klafki, 1996,
S. 146f).
Das Prinzip des exemplarischen Lehrens und Lernen geht auf Martin Wagenschein zurück, der sich gegen eine Wissenschaft wehrt, die durch ihre eigene Vermehrung, Spezialisierung und Abstraktion unbrauchbar und unlehrbar wird und somit ihren schulischen Aufgaben nicht mehr gerecht wird (vgl. Hentig, 1997, S. 10f). Wagenschein, dessen eigentlicher Unterrichtsgegenstand die Naturwissenschaften waren, ging es um den
‘Vorrang des Verstehens’: „Das exemplarische Betrachten ist das Gegenteil des Spezialistentums. Es will nicht vereinzeln; es sucht im Einzelnen das Ganze“ (Wagenschein,
1956, S. 8). Er bezieht sein Suchen und Fragen auf die Art und Weise des Lehrens, die
Kinder und Jugendlichen hilft, sich jene Sachverhalte und das Wissen darüber, das unsere Kultur aufgebaut hat, in konstruktiver Auseinandersetzung nicht nur anzueignen,
sondern auch zu verstehen (vgl. Köhnlein, 1998, S. 9). Wagenschein versuchte dabei,
Lernen und Verstehen zusammenzubringen, wobei dies nur gelingen kann, wenn das
erzieherische Moment in der Schule berücksichtigt wird: „Wir müssen also Kind und
Sache gleichermaßen im Blick haben, das heißt: [...] Die Spiegelung182 muß nicht nur
das Ganze des Faches - im günstigsten Fall das Ganze der geistigen Welt -, sie muß
auch das Ganze des Lernenden (nicht nur zum Beispiel sein Intelligenz) erhellen“ (Wa181
Gemeint ist hier ein Entwicklungsstand, der die psychomotorischen, kognitiven, ästhetischen, sozialen,
moralischen Voraussetzungen der Schüler ebenso berücksichtigt wie die Interessen und die Umgangsformen. Um diese Voraussetzungen entsprechend berücksichtigen zu können, rückt der Begriff des Lebensweltbezuges in den Mittelpunkt des Interesses.
182
Wagenschein plädiert dafür, Beispiele für den Unterricht auszuwählen, die exemplarisch für ganze
Zusammenhänge stehen: „Das Einzelne, in das man sich hier versenkt, ist nicht Stufe, es ist Spiegel des
Ganzen“ (Wagenschein, 1956, S. 7).
279
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
genschein, 1956, S. 9). Es ist nicht sinnvoll, mit dem Anspruch der Vollständigkeit zu
unterrichten, denn dieser führt „zur Hast und also zur Ungründlichkeit. So baut er einen
imposanten Schotterhaufen. [...] Bildung ist kein addierender Prozeß. [...] Der Stoff
wird dann fadenscheinig und substanzlos“ (Wagenschein, 1956, S. 5).
Obwohl Wagenschein seine Methode des exemplarischen Lernens vor nunmehr über
vierzig Jahren entwickelt hat, ist sie aktueller denn je. Solange Schule den Anspruch
hat, zahllose Inhalte nebeneinander zu behandeln (das gilt auch für den Schulsport),
wird sie in der besagten Unverbindlichkeit enden. Martin Wagenschein spricht dagegen
vom ‘Mut zur Lücke’, der aufgebracht werden muss, wobei dies bei ihm gleichbedeutend mit dem Mut zur Gründlichkeit ist und dem Mut dazu, bei begrenzten Ausschnitten
intensiv zu verweilen (vgl. Wagenschein, 1956, S. 5).
Im Hinblick auf diese Themenstellung führen die Überlegungen wiederum zu der Konsequenz, dass Schule in erheblichem Maße auf die Thematisierung ‘epochaler Schlüsselprobleme’ zurückgreifen muss, um den formulierten Ansprüchen gerecht zu werden
(vgl. dieses Kapitel, Teil B; Klafki, 1996, S. 154ff).
280
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Abbildung 11: Die Bedeutungsmomente der Allgemeinbildung.
c)
Allgemeinbildung als kosmische Verantwortung und als ‘Wissen als
Ganzes’
Qualifikation und Persönlichkeitsbildung können am ehesten durch (je nach Inhalt) erfahrungsoffene oder geschlossene Methoden vermittelt werden, wobei das Prinzip des
exemplarischen Unterrichtes handlungsleitendes Moment für die Auswahl geeigneter
Inhalte ist. Dennoch ist den Ansprüchen des in Teil B dargelegten Allgemeinbildungskonzeptes noch nicht genüge getan, solange die Kinder und Jugendlichen zwar auf die
Momente der Gemeinschaftlichkeit hin unterrichtet, aber darüber hinaus nicht sensibilisiert werden.
Rückblickend auf diese Ausführungen spricht insbesondere Ballauff (1989) von einer
kosmischen Verantwortung, von welcher der Mensch in Anspruch genommen werden
sollte. Dabei geht es ihm darum, dass der Mensch nicht nur sich selbst und die Gesellschaft ins Auge fasst, sondern ebenso der ‘Kosmos’ Berücksichtigung finden muss. In
Rückbesinnung auf Kant würde das bedeuten, dass jeder Mensch sein Handeln darauf-
281
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
hin überprüft, dass er nicht nur sich selbst und seine Mitmenschen, sondern ebenso seine
Um- oder Mitwelt183 in seinem Tun berücksichtigt.
Schulisch bedeutsam ist dieser Punkt in all jenen Feldern, die über das bisher Gesagte
hinausgehen. Dass sich dabei auch der Sport dieser Verantwortung nicht entziehen
kann, soll am Beispiel der Umweltthematik aufgezeigt werden.
Geeignet ist diese Thematik zum einen deshalb, weil die ökologische Krise wohl unbestritten zu den derzeit dringendsten ‘epochalen Schlüsselproblemen’ gehört, die es zu
lösen gilt184. Zum anderen ist die ‘ökologische Krise’ weder als unabwendbares Geschick über die Menschheit hereingebrochen, noch ist sie Zeichen eines blindwütigen
Naturgeschehens, sondern ein Ergebnis menschlicher Taten (vgl. Meinberg, 1995, S.
VII). Will man diesen Taten innerhalb eines Konzeptes schulischer Allgemeinbildung
begegnen, so wird deutlich, dass Lösungen bezüglich der Erlangung einer umfassenderen Verantwortung nicht in den bisher behandelten Momenten mitgedacht sind. Es
scheint demnach notwendig, das Konzept dahingehend zu erweitern.
Auch der Sport steht heute vielfach im Spannungsfeld zwischen Naturnutzung und dem
Schaden, der sich daraus ergibt. Als Ausgangspunkt für die sportpädagogische Diskussion, die sich diesem Spannungsfeld anschließen sollte, schlagen Seewald, Kronbichler
& Größing in Anlehnung an Capra (1988, 1996) die These der ‘falschen Weltwahrnehmung’ vor, die dieser als eigentlichen Grund für die Umweltkrisen der Neuzeit sieht. Im
Überblick gesehen kennzeichnen sie diese falsche Weltwahrnehmung durch sechs
Punkte (vgl. Seewald, Kronbichler & Größing, 1998, S. 22):
1. Statt einem vernetzt-systematischem Denken herrscht derzeit immer noch ein einfaches Ursache-Wirkungs-Denken vor.
2. Statt emotional-intuitive Verfahren bei der Suche nach Lösungen zu berücksichtigen,
werden kausal-analytische Methoden bevorzugt.
183
Es soll an dieser Stelle nur insofern auf die Begrifflichkeit hingewiesen werden, dass insbesondere der
Begriff ‘Umwelt’ auf vielfältige und oft diffuse Weise benutzt wird und daher umstritten ist. Generell
kann unter dem Begriff die Gesamtheit aller Faktoren verstanden werden, die auf einen Organismus einwirken und ihn in seiner Existenz bestimmen und beeinflussen (vgl. Tischler, 1994, S. 8). Andererseits
stößt man sich beispielsweise an der anthropozentrischen Grundeinstellung, die sich hinter diesem Begriff
verbirgt und den Menschen selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt (Döring, 1989, S. 433). In der
neueren Diskussion wird deshalb vermehrt vom Begriff der ‘Mitwelt’ gesprochen, der betont, dass das
Existenzrecht aller Lebewesen nur in einem Miteinander Bestand haben kann. Dem vom Meyer-Abich
eingeführten Begriff liegt ein Weltbild zu Grunde, in dem der Mensch ein Teil seiner Mitwelt ist (vgl.
Meyer-Abich, 1984).
184
Stellvertretend für die zahlreichen Veröffentlichungen soll an dieser Stelle die Studie des WuppertalInstitut für Klima, Umwelt, Energie in Zusammenarbeit des BUND genannt werden, die die Thematik
eindrücklich behandelt und auf weitere wesentliche Veröffentlichungen zu diesem Thema aufmerksam
macht.
282
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
3. Die Menschen streben Lösungen für die Zukunft mit Strategien aus der Vergangenheit an.
4. Es wird versucht, der Umweltproblematik mit Symptomkuren zu begegnen, anstatt
die Ursachen nachhaltig zu bekämpfen.
5. Es herrscht immer noch eine ungebremste Wissenschaftsgläubigkeit im Hinblick auf
die Lösungen der Probleme.
6. Statt Bescheidenheit, Beschränkung und Mäßigung sind im menschlichen Handeln
weiterhin das Machbarkeitsdenken und das Expansionsstreben dominant.
Der Autorenschaft geht es bei ihren Überlegungen um eine Umorientierung, die sich
weg vom Machbarkeitsdenken der modernen Trainingswissenschaft hin zu einer sensibleren Wahrnehmung ganzer Zusammenhänge entwickeln muss.
Die Gründe für ein notwendiges Umdenken im Sport liegen ihrer Ansicht nach zum
Einen darin, dass das Machbarkeitsdenken vom Körper Besitz ergreift und somit Körper
und Geist entzweit. Zum Anderen lenkt die instrumentelle Konzentration auf den Körper von der Natur ab und degradieren diese zu einem Gebrauchsgegenstand. Die ‘eigentlichen’ Sinnperspektiven wie Gesundheit, Leistung und Spiel werden durch eine
solche Sichtweise nicht mehr thematisiert, was zur Folge hat, dass die - sowohl dem
Sport als auch der Natur - innewohnenden Möglichkeiten und Potentiale statt dessen zu
einer sekundären Angelegenheit mit „Gebrauchswert für Geschäfts- und Tourismusinteressen“ (Seewald, Kronbichler & Größing, 1998, S. 22) werden. Die Forderung der
Autoren lautet, dass die Kombination Körpererfahrung und Naturerleben zukünftig stärker beachtet werden muss: „Beide bilden so eine Grundlage für eine umfassende und
notwendige Umweltbildung und Werteerziehung (ethische Erziehung) im Sport“ (Seewald, Kronbichler & Größing, 1998, S. 23).
Für ein Allgemeinbildungskonzept zeigen sich hier deutlich die Anknüpfungspunkte. Es
geht um die Abkehr vom linearen Denken hin zu der Fähigkeit, verschiedene Themenbereiche reflektiv zu verknüpfen: „Ökologisches Bewußtsein wird also nur entstehen,
wenn wir unser rationales Wissen mit Intuition für das nichtlineare Wesen unserer Umwelt verbinden“ (Capra, 1988, S. 29). Wenn dies gelingt, dann wird deutlich, dass ökologisch verantwortliches Denken nur zum Teil mit dem Thema der Umweltverschmutzung zu tun hat. Daneben werden grundsätzlichere Fragen angesprochen, die versuchen,
komplexe Zusammenhänge miteinander zu verbinden und aufzudecken. Angesprochen
283
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
sind neben dem Fachwissen solche Werte, die den Zusammenhang von Wissen und
Gewissen wiederfinden:
„Das mit den Gebieten verbundene Fachwissen ist erlernbar. Seine
Bedeutung wird überschätzt. Außerdem macht zuviel Fachwissen unkreativ,
ist also schädlich. Mit dem Know-how Kreativität und der Kenntnis, wie
Fachwissen effektiv aufgenommen werden kann, ist man viel flexibler als
mit Fachwissen allein. [...] Unkreatives Denken verlangt nach Fragen, die zu
beantworten sind, nach Arbeitsaufträgen, die zu erfüllen sind. Kreatives
Denken stellt die Fragen, sucht selbst die Arbeitsaufträge“ (Seewald,
Kronbichler & Größing, 1998, S. 62 zitiert nach Binnig185).
Der eigentliche Kern der Problematik liegt somit in der Unfähigkeit des Menschen, die
Zusammenhänge zu erkennen und zu ergründen, welches die ‘wahren Ursachen’ einer
Krise sind. Capra spricht diesbezüglich von der Unfähigkeit, sich von dem mechanistischen Vorstellungswert eines Descartes oder Newton zu lösen, um zu einer ganzheitlichen und ökologischen Sicht zu gelangen (vgl. Capra, 1988, S. VIII).
Auch Meinberg (1995) sieht in diesem Mangel an ganzheitlichem Denken den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Es ist für ihn klar, dass die Probleme nur unter
Zuhilfenahme verschiedenster Sichtweisen zu lösen sind. Dabei müssen drei ‘Welten’
des Menschen miteinander verbunden werden, die er als ‘Außenwelt’, ‘Innenwelt’ und
‘Mitwelt’ bezeichnet, wobei der Homo Oecologicus Leitbild und Modellfall für das angestrebte Verhalten ist:
„Die ökologische Krise ist eine solche des Verhältnisses von Mensch und
Umwelt, und der Homo Oecologicus symbolisiert diese Relation in einer
speziellen Form. Das Eigentümliche an ihm ist unter anderem [...], dass
seine Existenz maßgeblich durch die Welten des Außen, des Innen und des
Miteinander geprägt ist, zu denen er sich in besonderer Weise verhält.
Die Außenwelt, die ihm gegenübersteht und deren Teil er zugleich als
leibgebundene Kreatur ist, wird ihm problematisch als Naturwesen, die
Mitwelt als Wesen der Co-Existenz sowie die Innenwelt als das Innere der
Natur, das als Subjektivität und Personalität erfahren wird. Dieser
dreichfachen Weltverschränkung zufolge ist Homo Oecologicus auf die
Natur, die Gesellschaft und sich selbst verwiesen“ (Meinberg, 1995, S. 18f).
„Dabei betont die Innenwelt die singuläre psychische Subjektivität. Die
zweite ist diejenige, die um dieses Subjekt herum gelagert ist, ist das
‘Draußen’, welches das ‘Drinnen’ umgibt und auch als ‘äußere’ Natur, Um-
185
Gerd Binnig ist Experimentalphysiker, Erfinder des Raster-Tunnel-Mikroskops und Physiknobelpreisträger des Jahres 1986.
284
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Welt, im weiteren Sinne bezeichnet wird. Und die dritte unterstreicht die
Sozialität und Kulturrealität“ (Meinberg, 1995, S. 33).
Das gegenwärtige Weltproblem sieht Meinberg in der Schieflage dieser Welten zueinander, die der Mensch nicht miteinander verbindet oder verbinden kann. „Folglich ist
die Ökokrise keine rein naturwüchsige, sondern in erster Linie eine kulturell-soziale“
(Meinberg, 1995, S. 33). In Abgrenzung zu dem vom Meinberg als Idealtyp vorgestellten Homo Oecologicus stehen andere Menschenbilder, wie der Homo Faber186, der Homo Technicus187 und der Homo Oeconomicus188. Diese können vor allen Dingen durch
ihre Zweidimensionalität (Ichbezug - Gesellschaftsbezug) charakterisiert werden. In
einem solchen zweidimensionalen Menschenbild stehen die Entwürfe eines guten Lebens im Mittelpunkt. Dabei geht es um Formen des Zusammenlebens und um das, was
als sozial richtig angesehen wird. Das dreidimensionale Menschenbild hingegen sucht
nach Handlungsorientierung in der Beziehung des Menschen zur Natur. Diese meint die
Wahrnehmung der Natur mit ihren Strukturen und ihrer Vielfalt ohne das beständige
Reduzieren auf die Zweidimensionalität: „Dieser dreifachen Weltverschränkung zufolge
ist Homo Oecologicus auf die Natur, die Gesellschaft und sich selbst verwiesen“ (Meinberg, 1995, S. 19).
Schulpädagogisch interessant sind die fünf Prämissen, die das moralische Verhalten des
Homo Oecologicus in dieser Dreidimensionalität kennzeichnen und letztlich auf das
Menschsein bezogen sind. Dabei begründet Meinberg aus Sicht der Anthropologie (vgl.
Meinberg, 1995, S. 69ff):
1. Der Mensch ist ambivalent angelegt. Das heißt, dass er um das Richtige wissen und
doch konträr handeln kann. Der Homo Oecologicus lebt im Wissen um diese Ambivalenz und versucht dennoch, die angesprochene Dreidimensionalität in seinem Denken und Handeln zu erreichen.
186
Der Homo Faber ist der Macher, der seine Befriedigung im ständigen Machen sucht. Dieser Menschentyp konstruiert die Natur als ein zu verwandelndes Material, mit dem er seine Bedürfnisse stillen
kann. Er nutzt die Außenwelt für sich und außermenschliche Ansprüche haben in seinem Denken und
Handeln keinen Raum (vgl. Meinberg, 1995, S. 21).
187
Dem Homo Technicus wird seine tiefe Gläubigkeit an die Wissenschaft, insbesondere an die Naturwissenschaft, angelastet. Dieser Menschentyp, von der Unfehlbarkeit der naturwissenschaftlichen Kenntnisse
mehr als überzeugt, wird beschuldigt, Mensch und Natur entfremdet zu haben (vgl. Meinberg, 1995, S.
23).
188
Der Homo Oeconomicus ist schließlich darauf aus, die Natur seinen ureigenen Bedürfnissen anzupassen. Er folgt dem Trieb, Naturmaterialien, aber auch künstlich geschaffene Produkte zu verbrauchen. Sein
Verhältnis zur Natur, zur Gesellschaft und zu den Mitmenschen wird wirtschaftlich definiert (vgl. Meinberg, 1995, S. 24).
285
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
2. Der Homo Oecologicus ist sich seiner Lebensführung bewusst, das heißt, dass er einen ganz entschiedenen Standpunkt dem Leben gegenüber einnimmt. Er will nicht
bloß überleben, sondern er ist bemüht, gut zu leben. Meinberg bezeichnet ihn als einen biophilen Menschen, gekennzeichnet durch seine Co-Existenz:
„Dies schließt wiederum ein Zweifaches ein: Für Homo Oecologicus gibt es
generell keine unwerten Lebensformen. Das Leben an sich scheint ihm als
werthaftes, dem Achtung entgegengebracht werden muß. Homo
Oecologicus weiß sich unaufhebbar in ein Naturgeschehen verworben, er
teilt die ‘Natürlichkeit’ mit anderen nichtmenschlichen Lebewesen, die er
ebenfalls achtet, weil sie, wie er, Kreaturen sind“ (Meinberg, 1995, S. 71).
3. Das Wort der Co-Existenz bedeutet aber auch Mit-Leben in Gemeinschaften, Sozietäten, Verbänden, Völkern und Nationen. So definiert sich das Ich aus der Beziehung
zu anderen. Der Mensch verdankt sein Leben anderem Leben, wird von anderem
während seines Lebens begleitet, das heißt unterstützt oder beschränkt und steht so
zwischen seinen eigenen Interessen und seinem sozialen Umfeld.
4. Dadurch rücken wiederum Phänomene in den Mittelpunkt wie Solidarität, Mitverantwortung, Kooperation, Toleranz oder Rücksichtnahme.
5. Schließlich soll und kann ein solches Verhalten auf konkrete Traditionen zurückgreifen, die als gelebte Vorbilder dienen können. Meinberg nennt in diesem Zusammenhang den Schweizer Theologen, Arzt und Philosophen Albert Schweitzer.
In diesen fünf Punkten schließt sich der Kreis, denn sie enthalten die Eckpunkte des
Allgemeinbildungskonzeptes, wie es bisher dargelegt wurde: der gebildete Mensch kann
sich in seiner Co-Existenz so einordnen, dass er Leben ist, das leben will, inmitten Leben, das leben will (vgl. Schweitzer, 1990, S. 330).
In diese Idee der Co-Existenz gehört auch die Verbindung mit der Ästhetik im Sinne des
Bestrebens, Leitlinien für die Gestaltung des Daseins zu entwickeln (vgl. Meinberg,
1995, S. 95). „Dabei hat es die Ästhetik mit der Sinnlichkeit, mit Wahrnehmungen, mit
dem Schönen, mit Genuß, Gefallen, Erleben und ähnlichem zu tun“ (Meinberg, 1995, S.
96). Im Bereich des Schulsports bedeutet dies, dass die Schüler in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit soweit unterrichtet werden, dass sie Erscheinungen außerhalb ihres Sporttreibens erkennen.
286
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
In diesem Punkt wird die Zweidimensionalität ebenso überschritten, wie auch deutlich
wird, dass die in Teil B, Kapitel 2 beschriebenen Aspekte dessen, was das Wissen als
Ganzes einschließt, hierin enthalten sind. Denn nur, wenn es gelingt, die Schüler in ihrem Umgang mit sich, der Gesellschaft und der Natur hin so zu erziehen, dass sie alle
Komponenten als gleichwertig erachten, haben sie auch das erreicht, was Wolfgang
Klafki mit dem Terminus Wissen als Ganzes umschrieben hat. Dieses gilt auch in einem
bildenden Schulsport, der in seinen Grundanlagen an der beschrieben Zweidimensionalität angelegt ist.
Nur wenn jedoch die anthropologischen Grundphänomene der Leiblichkeit, der Gesundheit, des Spiels, der Leistung und der Ästhetik auf die hier beschriebenen zu unterrichtenden Kompetenzen hin geprüft sind und der Schulsport sich danach ausrichtet,
kann Bewegung oder Sport auch dem Anspruch der Bildsamkeit genügen.
Dann ist es möglich, dass die Schüler offen für neue Erfahrungen sind, dass sie das bisherige Wissen erweitern und in Frage stellen möchten, dass sie Grundkategorien gewonnen haben, in deren Spur neue an Erfahrungen angelehnte Fragen gestellt werden
können (Wie kommt das? Wie wird das begründet?) und dass sie schließlich die Bereitschaft haben, neue Informationen einzuholen und zu verarbeiten (vgl. Klafki, 1996, S.
72; Teil B, Kap. 2). Zusammengenommen bedeutet das, dass sie über die Fähigkeit der
Aspektverknüpfung verfügen.
d)
Fazit
Nachdem die wesentlichen Bezugspunkte der Allgemeinbildung - die qualifikatorische
und die persönlichkeitsbildende Komponente - umrissen sind, stellte sich im Folgenden
die Frage nach der inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung des allgemeinbildenden Schulsports.
Dabei zeigt sich, dass vor allen Dingen die geforderten sozialen Komponenten durch ein
hohes Maß an Eigenerfahrungen zu erreichen sind, woraus sich wiederum die Frage
ergibt, wie Kindern und Jugendlichen Primärerfahrungen ermöglicht werden können,
die möglichst individuell ausfallen.
Bei der pädagogischen Inszenierung von Erfahrungen, deren konkrete Umsetzung im
Bereich des ‘erfahrungsoffenen Unterrichtes’ liegt, kommt es darauf an, dass sich der
Lehrer auf das ‘Machbare’ konzentriert, da die Lehr- und Herstellbarkeit solcher Erfahrungen engen Grenzen unterliegt. Diese Grenzen bergen das Dilemma in sich, dass der
287
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Prozess der Erfahrung einerseits eines didaktischen Rahmens bedarf, andererseits jedoch
auf ein theoretisches Fundament verzichten muss, um individuellen Erfahrungen genügend Raum zu geben. Als Lösung sieht Thiele den Ansatz der Situationsgestaltung, wobei auch hier die Grenzen der Methode hinzunehmen und zu akzeptieren sind.
Der erfahrungsoffene Unterricht eignet sich besonders dann, wenn es darum geht, soziale Kompetenzen zu schulen. Sollen den Schülern jedoch bestimmte Techniken oder
die Lösung von Aufgaben mit dem Charakter vorgegebener Koordinationsmuster vermittelt werden, sind geschlossenere Methoden sinnvoller. Bezüglich der Unterrichtsorganisation erscheint somit eine Polarisierung verschiedener Konzeptionen nicht geeignet, da dem Konzept schulischer Allgemeinbildung nur dann Rechnung getragen werden
kann, wenn es gelingt, für verschiedene Zielsetzungen verschiedene Zugangsweisen zu
wählen, die sich ergänzen.
Neben der Frage nach organisatorischen Möglichkeiten stellt sich auch die der Inhalte.
Um sich nicht den Vorwurf der ‘vielfältigen Oberflächlichkeit oder der ‘didaktischen
Unverbindlichkeit’ gefallen lassen zu müssen, hat ein schulisches Konzept der Allgemeinbildung die begründete Auswahl nach Lerninhalten ebenso ernst zu nehmen, wie
die Lernzielbestimmung oder die Frage nach den Methoden.
Da bildendes Lernen, das die Selbständigkeit des Lernenden fördert und ihn zu weiterwirkenden Erkenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen führt, nicht durch die reproduktive Übernahme möglichst vieler Einzelerkenntnisse zu gewährleisten ist, bietet es
sich an, dass sich der Lernende an einer begrenzten Zahl von ausgewählten Beispielen
mehr oder minder verallgemeinerbare Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen erarbeitet. Hierin liegt der Kern des exemplarischen Unterrichtes, der das Ziel hat, verallgemeinerbare Zusammenhänge, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten und Strukturen aufzuzeigen und zu erarbeiten. Somit ist das exemplarische Betrachten das Gegenteil des
Spezialistentums, da es nicht vereinzeln will, sondern das Einzelne im Ganzen sucht
(vgl. Wagenschein, 1956, S. 8).
Wenn somit der organisatorische und inhaltliche Rahmen des Allgemeinbildungskonzeptes umschrieben ist, bleibt die Aufgabe, die Zweidimensionalität der bisherigen Betrachtungsweise aufzulösen und zu einer Dreidimensionalität überzugehen. Was damit
gemeint ist, wurde am Beispiel der Umweltthematik aufgezeigt. Als Ausgangspunkt der
Überlegungen über die Ursachen der Umweltkrise steht die These der falschen Welt288
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
wahrnehmung, die sich an sechs Punkten aufzeigen lässt, die dahingehend zusammenzufassen sind, dass das Machbarkeitsdenken des Menschen die sowohl dem Sport als auch
der Natur innewohnenden Möglichkeiten auf einen Gebrauchswert reduziert. Dieses
Machbarkeitsdenken zeichnet sich jedoch durch eine Linearität aus, die die Fähigkeit
vermissen lässt, verschiedene Themenbereiche reflektiv zu verknüpfen. Nichtlineares
Denken hingegen versucht, komplexe Zusammenhänge so zu verbinden, dass es neben
dem Fachwissen auch solche Werte gleichrangig aufnimmt, die den Zusammenhang von
Wissen und Gewissen thematisieren. In Anlehnung an Binnig nennen Seewald, Kronbichler & Größing (1998, S. 62) diese Fähigkeit ‘kreatives Denken’. Dieses jedoch hilft
den Menschen dabei, die ‘wahren Ursachen’ einer Krise zu erkennen. Dadurch wird die
Zweidimensionalität, die nur den Menschen (seine Individualität und seine gesellschaftlichen Bedingungen) thematisiert, überschritten und durch die Frage nach der Handlungsorientierung in der Beziehung des Menschen zur Natur erweitert. Schulpädagogisch ergeben sich aus diesen Überlegungen fünf Zielperspektiven, die die Dreidimensionalität kennzeichnen und dadurch umschrieben werden können, dass dem Menschen
seine Co-Existenz, in der er lebt, bewusst wird und dass er diese nicht ausschließlich auf
seine eigene Spezies bezieht.
Durch den Begriff der Co-Existenz vereint sich letztlich der Kreis des Allgemeinbildungskonzeptes, denn er enthält alle Eckpunkte der zuvor aufgeführten Bedingungen,
die einen allgemeinbildenden Unterricht kennzeichnen.
289
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Abbildung 12: Kosmische Verantwortung und Wissen als Ganzes.
Allgemeinbildung als
‘kosmische Verantwortung’ &
‘Wissen als Ganzes’
Ermöglichung individueller
Entwicklungsprozesse
Erlangung umfassender
Verantwortung
Kooperation, Solidarität,
Gemeinschfaftlichkeit
Ausgangspunkt:
falsche Weltwahrnehmung
Co-Existenz
5.
Lebenslanges Sporttreiben
Wenn Schule auf lebenslanges Lernen, in Falle des Schulsports also auf lebenslanges
Sporttreiben vorbereiten soll, dann, so hat sich bereits gezeigt, muss sie Möglichkeiten
der persönlichen Weiterentwicklung aufzeigen und die selbstverantwortete Lebensgestaltung in den Mittelpunkt der Überlegungen stellen. Dabei geht es nicht mehr um die
Übermittlung tradierter Erfahrungs- und Wissensbestände, sondern um die Befähigung
zur Bewältigung beschleunigter Wandlungsprozesse und der ständig neu an die Menschen herangetragenen Anforderungen. Thiele bezeichnet diese Anforderungen mit dem
Begriff des ‘Lernen lernens’ und betont dabei insbesondere die Fähigkeit der Um- bzw.
Neustrukturierung der vorhandenen Horizonte:
„Es geht also nicht im Sinne der Addition um das bloße Einfügen oder
Hinzufügen bestimmter Erfahrungen in existierende Erfahrungshorizonte,
sondern es geht um die Veränderung der Strukturen selbst“ (Thiele, 1996, S.
246).
Auch hier steht wiederum die Frage im Mittelpunkt der Überlegungen, wie es gelingen
kann, Erfahrungen zu ermöglichen.
„Solch reflektiertes Erfahrungslernen steht natürlich nicht am Anfang des
individuellen Lernprozesses und es ist alles andere als leicht zu vermitteln.
290
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
Die Aufgaben der Didaktik werden mithin nicht leichter, wie es der
Gedanke der Nicht-Planbarkeit vorgaukeln könnte, sondern komplexer“
(Thiele, 1996, S. 246f).
Thiele sieht in der Gestaltung ausgewählter Erfahrungssituationen die Chance, reflektierte Erfahrungen zu ermöglichen. Dies kann dann geschehen, wenn die Schüler zwischen Vertrautheit und Fremdheit hin- und hergerissen sind. Durch diesen Modus der
latenten Verunsicherung kann es gelingen, den jeweils individuellen Erfahrungszusammenhang punktuell aufzubrechen, zu enttäuschen und gleichzeitig konstruktiv eine Anpassung des Erfahrungshorizontes zuzulassen. Dabei betont er das Problem der richtigen
Dosierung:
„Fehlt das ‘Befremdende’, gerät der Erfahrende nicht ins Staunen und die
Situation wird gemäß existenten Ordnungsmuster eingeordnet. Ist der Grad
der Fremdheit zu hoch, bestehen zum einen keine Anschlußmöglichkeiten,
das völlig Unbekannte ist das nicht Erfahrbare, und zum anderen entsteht
Angst. Der Ängstliche indes macht keine Erfahrungen und Mut will
‘gelernt’ sein“ (Thiele, 1996, S. 247).
Diese Dosierung führt die Schüler auf den richtigen Weg: einerseits können sie sich auf
das Bekannte zurückziehen und dieses als Ausgangspunkt weiterer Erfahrungen nehmen, andererseits müssen sie sich mit neuen Inhalten auseinandersetzen und lernen dabei, dass das Unbekannte auch viele Möglichkeiten der Weiterentwicklung eröffnet.
Hier wird nun deutlich, wie sich der Schulsport dem Problem des sich verändernden
Leibverhältnisses annehmen kann, wie es in Kapitel 1.1 dieses Teiles angesprochen
wurde. Konkret geht es hierbei um die Frage, wie Kindern und Jugendlichen die Wandelbarkeit des Leibverhältnisses so näher gebracht werden kann, dass sie lernen, die
Zustände des leiblichen Widerstandes, wie er sich im körperlichen Schmerz und Gebrechen mit zunehmenden Alter immer stärker zeigen wird, zu akzeptieren. Die Schule
kann natürlich nicht das Gefühl der körperlichen Begrenztheit simulieren, sie kann aber
die Fähigkeit schulen, Veränderungen zu akzeptieren und neu zu bewerten.
Wenn es schon den jungen Menschen gelingt, neue Situationen immer wieder neu zu
erkennen und entsprechend zu bewerten, dann liegt genau hierin der Ausgangspunkt für
lebenslanges Sporttreiben. Denn dann wird es auch dem älteren Menschen gelingen,
seinen Könnens- und Leistungsstand entsprechend seinen gegenwärtigen Fähigkeiten
291
Teil C: Schulsport unter der Prämisse der Allgemeinbildung
einzuschätzen. Dieser jeweils aktuelle Stand bildet dann die Basis für das weitere
Sporttreiben und nicht der Vergleich mit Leistungen anderer Menschen oder früherer
Tage.
In einer solchen Auslegung zeigen sich wiederum die Möglichkeiten, die die anthropologischen Grundthemen ‘Körper und Bewegung’, ‘Gesundheit’, ‘Spiel’, ‘Leistung’ und
‘Ästhetik’ im Bildungsprozess bieten. Denn wie sich gezeigt hat, verändert sich der
Mensch in seiner Entwicklung ebenso wie seine Sensibilität für gesundheitliche Fragen
oder auch seine Einstellung zu Spiel und Leistung sowie sein ästhetische Empfinden.
Gerade der Sport bietet hierzu ideale Möglichkeiten, da alle fünf Aspekte als Grundlegung für die Selbstdeutung so vielschichtig und veränderbar sind, dass sie den Ausgangspunkt für eine sich ständig ändernde Selbstdeutung in biographischer Hinsicht
bilden.
Der bildende Schulsport muss sich dieser Aufgaben annehmen, das heißt, er muss Situationen schaffen, durch die es den Schülern gelingt, sich mit veränderten Situationen
reflektiv und konstruktiv auseinanderzusetzen.
Ausgangspunkt und Weg dahin ist die Allgemeinbildung mit der gleichwertigen Einbindung aller genannten Aspekte. Eine einseitige Fokussierung auf den gesellschaftlichen
Aspekt oder auf die Ausbildung anderer, eher sozialer Kompetenzen, würde allenfalls
dazu führen, dass Bildung durch ein lineares Denken ersetzt wird, das den Menschen die
Souveränität vorenthält, die letztlich auch das lebenslange Sporttreiben verlangt.
292
Teil C: Zusammenfassung und Fazit
Abbildung 13: Lebenslanges Sporttreiben.
3.
ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT
Nachdem in den Teilen A und B sowohl die Aufgaben der Schule und ihre inhaltliche
Ausgestaltung als auch die anthropologischen Grundlagen für einen bildenden Schulsport aufgearbeitet wurden, sollten nun diese Grundlagen mit den Momenten der schulischen Allgemeinbildung verbunden werden.
Dabei zeigen die ersten beiden Momente (Der gesellschaftliche Aspekt der Bildung;
Bildung als Zusammenhang verschiedener Kompetenzen) die zu erreichenden Ziele an,
wobei das dritte zunächst inhaltliche und organisatorische Bedingungen klärt und im
Folgenden die Zielperspektive erweitert. Das vierte Moment - lebenslanges Lernen schließlich macht deutlich, dass ein Allgemeinbildungskonzept nicht mit der Schulzeit
beendet ist.
Zusammenfassend lässt sich die Zielperspektive des Allgemeinbildungskonzeptes bildlich durch zwei Säulen darstellen: auf der einen Seite sollen die Schüler lernen, sich mit
der gesellschaftlichen Realität auseinanderzusetzen, auf der anderen Seite gilt es, den
jungen Menschen soziale Kompetenzen an die Hand zu geben, durch die sie befähigt
werden, in einer Gemeinschaft zu leben:
1. Die Aufnahme der gesellschaftlichen Realität beinhaltet zum einen die Thematisierung des ‘großen Sports’, wie er in den verschiedenen Wettkampfformen existiert
und zum anderen die Darstellung der individuellen Erscheinungsformen, wie sie ins293
Teil C: Zusammenfassung und Fazit
besondere in vielen ‘Neuen Sportarten’ zu beobachten sind. Neben der inhaltlichen
Aufarbeitung dieser Themenstellungen gilt es, das kritische Reflexionsvermögen der
Schüler zu stärken, damit diese befähigt werden, ihren eigenen Standpunkt im breiten
Feld der sportlichen Möglichkeiten zu finden. Dabei geht es nicht nur um die Auswahl einer oder mehrerer favorisierter Sportarten oder Bewegungsfelder, sondern
auch um die Art der Ausübung.
2. Das individuelle Einordnen in das Themenfeld des Sports leitet über zu dem zweiten
Schwerpunkt des Allgemeinbildungskonzeptes, der allgemeine Erziehungsziele wie
Kooperation, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit beinhaltet. Im Zentrum der Bemühungen steht dabei die Aufgabe, den Schülern Wege zur ‘Verständigung’ zu eröffnen.
Insgesamt weisen beide Säulen auf die Erkenntnis hin, dass die Ziele des hier vorgestellten Allgemeinbildungskonzeptes mehr durch das ‘Wie?’ als durch das ‘Was?’ zu
erreichen sind. In Bezug auf das organisatorische Moment bedeutet dies, dass der Lehrende je nach Ziel auf verschiedene (offene oder geschlossene) Maßnahmen zurückgreifen muss. Um dem hier vorgestellten Konzept gerecht zu werden, ist es nicht sinnvoll,
verschiedene Zugangsweisen weiterhin unter dem Gesichtspunkt der Polarisierung zu
diskutieren.
Bei der Auswahl der Inhalte ist zu beachten, dass die Vielfalt der Ansprüche nicht in
einer unverbindlichen Pluralität münden. Eine begründete Auswahl richtet sich zunächst
vielmehr nach zwei Merkmalen: zum Einen sollen die Schüler Einsichten in den Gesamtzusammenhang des behandelten Themas gewinnen, zum Anderen sollen sie dazu
befähigt werden, selbst zu klären, wie sie mit dieser gewonnenen Einsicht jeweils verfahren. Es wird deutlich, dass sich die geforderte Vielfalt nicht auf die Anzahl der zu
behandelten Themen bezieht, sondern auf die verschiedenen Perspektiven, die an einem
Beispiel aufgezeigt werden können. Grundlage für die inhaltliche Auswahl sind Themen, die ‘kategorialen Charakter’ (vgl. Klafki, 1959, S. 411f) besitzen. Die Inhalte können exemplarisch ausgewählt werden.
Die ersten drei Momente des Allgemeinbildungskonzeptes sind somit hinreichend geklärt und zeigen auch deutlich die Möglich- und Notwendigkeit auf, die der Beitrag von
Bewegung und Sport im Kanon der Schulfächer leistet. Dennoch zeigt sich immer wieder, dass der Rückbezug auf das Individuum und die Gemeinschaftlichkeit für einen
294
Teil C: Zusammenfassung und Fazit
umfassenden Allgemeinbildungsgedanken noch nicht ausreichend sind. Der Kern der
Problematik liegt in dem Mangel an ganzheitlichem Denken (Meinberg, 1995, S. 18f),
der den Aspekt der Mitwelt nicht genügend berücksichtigt. Diese ungenügende Berücksichtigung lässt sich aus einem bisher vorherrschenden zweidimensionalen Menschenbild erklären, das auf die Aspekte Individuum und Gemeinschaftlichkeit, nicht jedoch
auf die Beziehung ‘Mensch - Natur’ bezogen war. Diese Erweiterung auf die Dreidimensionalität betrifft auch den Aspekt des Schulsports, insbesondere die Bereiche, die
die Natursportarten zum Inhalt haben.
Ausgedrückt durch den Begriff der Co-Existenz schließt sich damit der Kreis, der den
Anspruch der Allgemeinbildung umreißt. Denn die Co-Existenz bedeutet sowohl das
Mit-Leben in Gemeinschaften, als auch das Wissen um die unauflösbare Verwobenheit
mit der Natur. Dieses Wissen wiederum kann nur der Mensch erlangen, der über eine
unverwechselbare Identität verfügt, womit die drei behandelten Säulen als gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Bleibt schließlich noch der Anspruch der Allgemeinbildung, dass Lernen nicht auf die
Schulzeit beschränkt bleibt. Dies ist insofern ein immer wichtiger werdender Bestandteil
des Konzeptes, da sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer schneller ändern. Dabei kann die Übermittlung tradierter Erfahrungs- und Wissensbestände nur
noch zum Teil helfen, sich den ständig wechselnden Anforderungen zu stellen. Vielmehr wird eine Kompetenz benötigt, die es ermöglicht, vorhandene Fähigkeiten Neuoder umzustrukturieren, in diesem Zusammenhang als ‘Lernen lernen’ zu bezeichnen
(vgl. Thiele, 1996, S. 246). Die Schule und in ihr der Schulsport kann durch den Modus
der ‘latenten Verunsicherung’ den individuellen Erfahrungszusammenhang der Schüler
aufbrechen, enttäuschen und dabei versuchen, gleichzeitig konstruktiv neue Erfahrungshorizonte zu ermöglichen. Durch die richtige Dosierung zwischen Bekanntem und neuen Inhalten können die Schüler ermuntert werden, sich so mit neuen Inhalten auseinanderzusetzen, dass das Unbekannte seinen Schrecken verliert und statt dessen als Chance
gesehen wird, Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu entdecken. Im Bereich der
Sport- und Bewegungserziehung betrifft dies nicht nur die sich ändernde Sportpraxis
(sowohl in traditionellen als auch in neuen Sportarten), sondern auch den Umgang mit
dem sich im Laufe des Lebens ändernden Leibverhältnis, das den Ausgangspunkt für
lebenslanges Sporttreiben bildet.
295
Teil C: Zusammenfassung und Fazit
An dieser Stelle soll noch einmal auf den Überblick (Abb. 8) am Ende des 1. Kapitels in
diesem Teil hingewiesen werden, der die vielschichtige Verschränkung zwischen den
Momenten der Allgemeinbildung und den anthropologischen Grundthemen schematisch
deutlich macht.
TEIL D: AUSBLICK
Die hier vorgestellte Arbeit hatte sich zum Ziel gesetzt, zu prüfen, ob der Sport eine
wichtige Erziehungs- und Bildungsaufgabe hat und somit einen berechtigten Platz im
Kanon der Schulfächer einnimmt.
Um sich der Antwort zu nähern, bedurfte es mehrerer Schritte:
In einem ersten Schritt (Teil A) sollte zunächst geprüft werden, welches die Aufgaben
der gesellschaftlichen Institution Schule sind, denn nur aus diesem Wissen heraus ist es
möglich, den Fächerkanon zu legitimieren. Teil B leistet die inhaltliche Ausgestaltung
der schulischen Aufgaben. Der dritte Abschnitt (Teil C) behandelte die anthropologischen Voraussetzungen der menschlichen Bewegung, die den Ausgangspunkt des
Schulsports bilden, bevor diese in einem letzten Schritt mit den Merkmalen des Allgemeinbildungskonzeptes in Einklang gebracht wurden. Diese Übereinstimmung macht
schließlich einen Schulsport deutlich, der einen allgemeinbildenden Anspruch hat und
sich somit als eigenständiges Fach im Kanon der Schule legitimieren lässt.
Zunächst stand in Teil A die Frage der ‘Idee von Schule’ im Mittelpunkt der Überlegungen, also der Frage, was Schule sein soll. Um sich den schulischen Aufgaben zu nähern,
wurde ein historischer Querschnitt jener Autoren gewählt, die sich zum einen theoretisch mit Fragen zur Schule auseinandergesetzt haben, andererseits jedoch auch mit
praktischen Umsetzungsproblemen konfrontiert wurden. Der geschichtliche Rückgriff
macht deutlich, dass sich die Aufgaben der Schule einerseits theoretisch eindeutig bestimmen lassen. Andererseits wurde die praktische Umsetzung im Laufe der Jahrhunderte jedoch nie vollzogen. Um dieses Dilemma zu beheben, ist es notwendig, von den
eindeutig bestimmbaren Aufgaben zu ihren inhaltlichen Ausgestaltungen zu kommen,
die dann eine fundierte Grundlage für weitere Schulentwicklungsfragen sein können.
296
Teil D: Ausblick
Im Einzelnen handelt es sich um vier Aufgaben, die allesamt eng miteinander verwoben
sind und nur zur theoretischen Klärung des Sachverhaltes analytisch getrennt werden:
1. Im Zentrum steht dabei die Aufgabe der Bildung junger Menschen, wobei sowohl die
Mittler- als auch die Orientierungsfunktion in ihr enthalten sind und zusammen den
Rahmen für ein Allgemeinbildungskonzept vorgeben:
2. Die Mittlerfunktion markiert den Ausgangspunkt der schulischen Bildung und legt
den Endpunkt fest,
3. die Orientierungsfunktion hingegen dient insofern als Prüffunktion, da sie den schulischen Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz immer wieder anmahnt.
4. Die Selektionsfunktion lässt sich auf den ersten Blick nicht in den Kanon der schulischen Aufgaben einbinden, da ihre Ausgestaltung durch Ziffern dahin geführt hat,
dass die vielschichtigen Anforderungen einer schulischen Selektion durch die Eindimensionalität von vergleichenden Ziffern verdrängt wurde. Soll der Auftrag der Selektion jedoch ernst genommen werden, so wird eine zeitgemäße Schule Möglichkeiten finden müssen, wie sie differenziert und nachprüfbar die erbrachten Leistungen der Schüler unter pädagogischen Gesichtspunkten so benennt, dass alle am Prozess der schulischen Bildung Interessierten eine entsprechende Rückmeldung erhalten. Ein solches Beurteilungsverfahren scheint derzeit durch ‘Berichte zum Lernvorgang’ am besten gewährleistet.
Die Bildungsfunktion schließlich zeigt die konzeptionelle Fülle und inhaltliche Ausdifferenziertheit dessen an, was Schule leisten soll. In einer synoptischen Zusammenführung von klassischen und neuen Bildungstheorien ergeben sich vier Merkmale, die zusammen den Rahmen allgemeinbildender Aufgaben ergeben:
1. Der gesellschaftliche Aspekt macht deutlich, dass Bildungsfragen nicht an der gesellschaftlichen Realität vorbeikommen, diese also immer berücksichtigt werden muss.
2. Bildung bedeutet auch, dass sich Menschen in konstruktivem Sinne mit der Welt, in
der sie leben, auseinandersetzen müssen. Dazu bedarf es dreier Kompetenzen, die ein
Bündel weiterer Kompetenzen in sich vereinigen: Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit.
3. Der dritte Aspekt eines zeitgemäßen Allgemeinbildungsbegriffes schließlich beinhaltet neben organisatorischen und inhaltlichen Überlegungen auch eine Erweiterung der bisherigen Zweidimensionalität von Selbstbezug und Gemeinschaftlichkeit
297
Teil D: Ausblick
auf die Dreidimensionalität, die die Beziehung des Menschen zur Natur miteinbezieht, wobei der Begriff der Co-Existenz eine zentrale Bedeutung erhält.
4. Das letzte Merkmal schulischer Allgemeinbildung schließt die Forderung mit ein,
dass die zu erlangenden Kompetenzen so ausgebildet werden müssen, dass der
Mensch befähigt wird, sich über die Schulzeit hinaus weiterzubilden. Gerade in einer
Zeit, die sich durch schnelle Umbrüche auszeichnet, wird die Kompetenz des lebenslangen Lernens immer wichtiger.
Mit der Klärung der Frage, welche Aufgaben die Schule zu erfüllen hat und wie diese
zum Einen inhaltlich ausgestaltet, zum Anderen miteinander verwoben sind, ist nun der
Grundstein für die Frage gelegt, ob Sport eine eigenständige Berechtigung im Rahmen
der schulischen Bildung erhält. Damit richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die
Frage, welchen Stellenwert Bewegung im Leben des Menschen aus anthropologischer
Sicht einnimmt, da insbesondere die Anthropologie ein Schlüssel zum Verständnis von
pädagogischen Systemen ist (vgl. Bollnow, 1968, S. 47f). Der besondere Schwerpunkt
der Sportanthropologie liegt dabei beim sporttreibenden, spielenden und sichbewegenden Menschen und kann insofern einen Rahmen für inhaltliche Entscheidung
bezüglich des Schulsports vorgeben, da die Themenstellungen des Körpers und der Bewegung, der Gesundheit, des Spiels, der Leistung und der Ästhetik einen wesentlichen
Beitrag zum Identitätsbewusstsein des Menschen leisten können (vgl. Langeveld, 1964,
S. 125).
Zusammen bilden diese Einzelphänomene einen Komplex, der tiefere Einsichten über
den Menschen als körperliches und sich bewegendes Wesen ermöglicht: der Bereich des
Körpers und der Bewegung lässt Aussagen über die Funktion und die Bedeutung des
Körpers zu (vgl. Teil C, Kap. 1.1), Gesundheit als umfassend zu erreichendes Ziel bildet
die Grundlage für weitere bildsame Prozesse (vgl. Teil C, Kap. 1.2), das Spiel, Ausdruck einer ‘primären Lebenskategorie’, ist Grundlage für ein gelingendes Leben (vgl.
Teil C, Kap. 1.3), die Leistung, verstanden als ‘freudiges Könnensbewußtsein’, kann zur
besseren Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen dienen (vgl. Teil C, Kap.
1.4) und die Ästhetik schließlich zeigt die Vielfältigkeit der schöpferischen Freiheit auf
(vgl. Teil C, Kap. 1.5).
Somit bleibt die Aufgabe, diese Einzelphänomene mit den Merkmalen des Allgemeinbildungskonzeptes zu verbinden, um abschließend den Beitrag des Schulsports genau
298
Teil D: Ausblick
bestimmen zu können. Dabei lassen sich die vier Merkmale zunächst einmal so aufteilen, dass die ersten beiden Zielperspektiven darstellen, das dritte Moment zunächst die
inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung erläutert und die Zielperspektive
schließlich erweitert und das letzte Merkmal die Möglichkeiten hinsichtlich der schulischen Vorbereitung auf das ‘lebenslange Sporttreiben’ erläutert. Wichtig dabei ist, dass
sowohl die kritische Aufnahme der gesellschaftlichen Realität als auch die Befähigung
zu sozialen Kompetenzen in ihrer Dreidimensionalität ihren gleichberechtigten Platz
finden. Das hierbei immer wieder betonte Primat des ‘Wie?’ vor dem ‘Was?’ zeigt an,
dass neben der sorgsamen Auswahl geeigneter Inhalte auch der Methodenwahl eine
zentrale Stellung zukommt.
Sicherlich muss sich das vorgestellte Konzept den Vorwürfen stellen, es überfrachte die
Schule und insbesondere den Schulsport mit Aufgaben, die dieser nicht mehr leisten
kann (vgl. Giesecke, 1996, S. 319f). Schließlich handelt es sich um ein Fach, das in der
Regel während zwei, maximal jedoch drei Stunden pro Woche unterrichtet wird.
Dennoch kann gerade im Bereich des Schulsports diesen Vorwürfen nur bedingt stattgegeben werden, da es - wie besonders die Diskussion der Bewegten Schule deutlich
macht - eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, sportlich relevante Themenstellungen in
den Schulalltag einzubinden: Arbeitsgemeinschaften, außerunterrichtliche Aktivitäten,
Schulfeste, Schulfahrten (Landschulheime, ...), etc.
Wichtig bei der Einbindung dieser Möglichkeiten ist eine systematische Verknüpfung
der in dem Konzept dargestellten Forderungen an einen bildenden Sportunterricht. Dabei spielt die konzeptionelle Arbeit an der Einzelschule eine entscheidende Rolle. Es gilt
zu prüfen, in welchen Klassenstufen welche Inhalte thematisiert werden, mit welchen
anderen Fächern fächerverbindende Arbeit geleistet werden kann, welche Inhalte in
Landschulheimen besonders geeignet sind, usf.
Nur durch eine solche Systematisierung kann es gelingen, den Schulsport so zu gestalten, dass er im Sinne eines hier dargestellten Allgemeinbildungskonzept durchgeführt
werden kann. An diesem Punkt wird (wieder) der doppelte Anspruch des vorgestellten
Konzeptes deutlich: einerseits ‘überzeitliche’ Kompetenzen zu vermitteln, die jedoch
andererseits auf die jeweilige gesellschaftliche Realität Bezug nehmen.
299
Teil D: Ausblick
Für die Einzelschule bedeutet dies zunächst eine genaue Prüfung der Lebenswelt der
Kinder, die ihre Schule besuchen: die Familiensituation, die häusliche Umgebung, bereits gemachte Vorerfahrungen im Bereich von Sport und Bewegung. Da diese von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängen, kann ein allgemeingültiges Konzept mit dem
Anspruch der Allgemeinbildung allenfalls als Orientierungshilfe dienen und Zielvorgaben formulieren, die es unter den jeweils spezifischen Umständen der Einzelschule zu
erreichen gilt.
Bevor der Vorwurf der Überbeanspruchung des Schulsportes an ein Konzept der Allgemeinbildung herangetragen wird, müssen genau die vielfältigen Möglichkeiten geprüft
werden, die eine auf die Lebenswelt der Kinder eingestellte Schule hat (vgl. Teil C,
Kap. 2.1 und 2.2). Dass ein allgemeingültiger, für alle Schulen eines Bundeslandes, ohne Rücksicht auf die jeweils unterschiedlichen regionalen Bedingungen zugeschnittener
Lehrplan dies nur schwer leisten kann, scheint offensichtlich.
Ebenso kann nur die Einzelschule ihre gesamten Möglichkeiten einschätzen, die sie den
einzelnen Kindern im Laufe der Schulzeit bieten kann. Gemeint sind beispielsweise die
Anzahl der Wochenstunden im Pflichtunterricht, außerunterrichtliche Angebote, Anzahl
und Umfang von mehrtägigen Klassenfahrten und die gezielte Einbindung von bewegungsbezogenen oder sportlichen Inhalten. Aber auch die Ausstattungen von Sporthallen, Freianlagen, die Möglichkeiten in der Umgebung, die sich jeweils bieten, sind von
Schule zu Schule verschieden.
Schließlich sollte jede Schule die Menschen, die mit ihr in Berührung kommen, in ihre
Konzeption einbinden: Der Einzelschule wird es eher gelingen, auf die Stärken jedes
Lehrers eingehen zu können, als dies ein allgemeingültiger Bildungsplan jemals können
wird. Jeder Schule bieten sich Möglichkeiten der Kooperation anderer Art, die Formen
der Einbindung von Eltern und anderer Kooperationspartner sind unterschiedlich ausgeprägt.
Nur wenn es der Einzelschule gelingt, diese vielfältigen Möglichkeiten auszunutzen und
in einem umfassenden, auf mehrere Jahre hin orientierten Konzept einzubinden, indem
sie die Voraussetzungen der Kinder und die Motivation der Lehrer entsprechend berücksichtigt, wird es möglich sein, den Ansprüchen eines Allgemeinbildungskonzeptes zu
genügen. Unter diesen Bedingungen kann es jedoch auch gelingen, dass Schule ihren
300
Teil D: Ausblick
Aufgaben gerecht wird und sie sich von den Vorwürfen befreit, denen sie sich derzeit
ausgeliefert sieht (vgl. Einleitung).
Solche Forderungen sind keineswegs neu und werden auch in jüngster Zeit immer wieder laut, wie beispielsweise die Rede von Bundespräsident Roman Herzog auf dem
Deutschen Bildungskongreß in Bonn am 13. April 1999 deutlich machte. Herzog plädiert in seinen Ausführungen unter anderem für mehr Freiräume im deutschen Schulwesen, wenn er fordert, dass Schulen und Hochschulen mehr Autonomie gegeben und
mehr Eigenverantwortung abverlangt werden müsse. Dazu ist es notwendig, dass Schulen ihre eigenen Wege und Lösungsmodelle finden und ausprobieren, ihre Lehrer selbst
aussuchen können und mehr Freiräume bei der Verwendung staatlicher Mittel bekommen (vgl. Herzog, 1999).
Um eine solche umfassende Konzeption für den einzelnen Unterricht zu erstellen, sind
zunächst Fragen der unterschiedlichsten Art zu stellen, deren Antworten so miteinander
zu verbinden sind, dass Schule am Ende der Schulzeit jedes Schülers ihren Aufgaben
gerecht wurde189. Diese Fragen setzen nicht nur an den Erziehungszielen an, die in dieser
Arbeit aufgegriffen und beantwortet werden sollten.
Dennoch ist die Antwort auf die Frage, welche Ziele die ‘Institution Schule’ mit dem
Anspruch der Allgemeinbildung verfolgt, Ausgangspunkt für jede weitere konzeptionelle Arbeit. Eine solche Zielformulierung wiederum ist allgemeingültig und nicht von
189
Konkret betreffen diese Fragen die unterschiedlichsten Bereiche, die eine Schule prüfen kann, um sie
in einer Gesamtkonzeption zu integrieren, wie beispielsweise:
1. Welche Kinder/ Jugendliche werden die Schule besuchen? Welche spezifischen Probleme ergeben
sich daraus? Gemeint sind hier unterschiedliche geographische und soziale Voraussetzungen, wie zum
Beispiel die Frage des Standortes (Stadt/ Land) oder der familiäre Hintergrund der Schüler.
2. Über welche Ausstattung verfügt die Schule (allgemeine Räumlichkeiten, Turnhalle, Freigelände,
Sportplatz, Anbindung an Vereine, ...)?
3. Über welche finanziellen Ressourcen verfügt die Schule (Förderverein, Sponsoren, ...)?
4. Welche außerunterrichtlichen Möglichkeiten jeder Art ergeben sich im Laufe der Schulzeit und wie
können diese gezielt genutzt werden: wann finden Landschulheimaufenthalte statt (wohin können diese
gehen)?, welche Arbeitsgemeinschaften gibt es für welche Klassenstufe?, sind Projekttage geplant?,
gibt es regelmäßige Sportfeste (mit welchen Inhalten)?, gibt es Schulfeste (wie werden diese vorbereitet? Welches Mitspracherecht haben Schüler bei der inhaltlichen Gestaltung?, Gibt es Kooperationen zu Vereinen (in welcher Art)?
5. Welche didaktisch/methodischen Schwerpunkte hat die Schule (verfolgt sie ein bestimmtes Ziel?, kann
jeder Lehrer unterrichten, wie er will (mit oder ohne Legitimationsdruck)? Gibt es regelmäßige, für jeden Lehrenden verpflichtende Fortbildungsveranstaltungen (innerhalb und außerhalb der Schule) auch
über das vorgeschriebene Maß hinaus?
301
Teil D: Ausblick
jeder Schule von neuem zu beantworten. Sie stellt somit den gemeinsamen Ausgangspunkt für die Einzelschulentwicklung und gleichzeitig den gemeinsamen Endpunkt dar.
Innerhalb dieser Grenzen muss jedoch jede Schule individuell prüfen, wie sie das Ziel
erreicht.
Dabei wird deutlich, dass eine gezielte Einbindung des einzelnen Schulfaches nur über
den Weg einer Gesamtkonzeption führt. Dies gilt auch für den Schulsport.
„Die Einordnung der Leibeserziehung in die Gesamterziehung darf also
nicht ein Thema der pädagogischen Theorie oder ein bloßer
Rechtfertigungsversuch des praktischen Leibeserziehers bleiben; wir müssen
dem jungen Menschen helfen und ihn dazu anregen, die Einordnung der
Leibesübungen und des Sports in seinen eigenen Bildungsgang selbst
bewußt zu vollziehen; das aber ist, so behaupte ich, nicht anders als mit
Reflexion möglich. Die Verwirklichung dieser Forderung ist einerseits ein
Auftrag an die Leibeserzieher, nicht minder aber an die Vertreter anderer
Fächer“ (Klafki, 1975a, S. 150).
Die hier vorgelegte Arbeit stellt einen Versuch dar, den Ausgangspunkt für eine Schulentwicklung zu markieren, die sich den Vorwürfen stellt und versucht, diese gezielt zu
beheben. Dabei konnte der Verdacht Hermann Gieseckes, der den Beginn der Arbeit
darstellt, nämlich dass das pädagogische Selbstverständnis der ‘Institution Schule’ überprüft und korrigiert gehört, bestätigt werden. Eine Änderung des pädagogischen Selbstverständnisses muss an vielen Stellen ansetzen. Der Ausgangspunkt ist jedoch immer
derselbe: erst wenn Klarheit darüber besteht, wohin der Weg gehen soll und welches
Ziel zu erreichen ist, können andere Maßnahmen dazu dienen, die notwendigen Schritte
einzuleiten. Das betrifft neben dem ‘schulischen Alltag’ wie er derzeit stattfindet auch
alle Arten von Reformen, wie sie beispielsweise im Rahmen einer Schullebendiskussion
oder bei der Frage der ‘Bewegten Schule’ diskutiert werden. Erst wenn es gelingt, alle
durchgeführten Einzelmaßnahmen in eine umfassende Konzeption einzubinden und
Auskunft darüber zu geben, an welcher Stelle diese Einzelmaßnahme aus welchem
6. In welcher Form werden Entscheidungen gefällt (Werden die Lehrenden berücksichtigt? In welcher
Form?, Wie hierarchisch ist das Personal strukturiert? Sind die Schüler in Entscheidungsfindungen mit
einbezogen? Sind die Eltern beteiligt?
302
Teil D: Ausblick
Grund sinnvoll ist, wird sich das pädagogische Selbstverständnis im Bereich der Schule
dahingehend ändern, dass sich diese Institution ihren eigentlichen Aufgaben zuwendet.
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