Seneca, Lucius Annaeus 1. Jh. n.Chr. (stirbt im Jahr 65) LEBEN • aus Spanien (Stadt Corduba); Politiker und Philosoph • der Vater (Seneca der Ältere): berühmter Rhetorik-Lehrer in Rom (Controversiae : ,musterhafte Streitgespräche‘) • Anfang seiner Karriere als Anwalt in Rom • wird von Kaiser Claudius ins Exil nach Korsika geschickt, für ca. 8 Jahre (angeblicher Ehebruch mit der Kaisergemahlin?) ⇨ verfasst in dieser Zeit Trostschriften (Consolationes) und fängt auf diese Weise an, sich mit Philosophie zu beschäftigen ⇨ wird Anhänger des STOIZISMUS • Kaiserin Agrippina lässt ihn aus dem Exil zurückrufen ⇨ Erzieher vom Thronnachfolger Nero, Agrippinas Sohn • 54 n.Chr. wird Nero Kaiser: die ersten 5 Jahre seiner Regierung verliefen gut ⇨ verfasst die Schrift De clementia : ,Über die Milde‘ (des Kaisers) als politische Anweisung für den jungen Kaiser Nero ⇨ Macht und Reichtum (durch Zuwendungen Neros war Seneca zu einem der reichsten Männer des Imperium Romanum geworden – man schätzt sein Vermögen auf 300 Millionen Sesterzen; Tagesbedarf eines Arbeiters ca. 4 Sesterze) • zunehmende Spannungen zwischen Mutter Agrippina und Sohn Nero: ⇨ stärkere Verwicklung von Seneca in Hofintrigen: Beteiligung an der Ermordung Agrippinas durch Nero im Jahr 59? (dem Historiker Tacitus zufolge: ja) ⇨ verfällt in Ungnade, distanziert sich von der Politik und vom Hof und zieht sich mehr und mehr ins Privatleben zurück, meist nach Nomentum, auf ein Weingut nordöstlich von Rom ⇨ fruchtbarste Zeit in der Produktion philosophischer Schriften ⇨ äußert sich kritisch zur Politik und Person von Kaiser Nero: „Wenn er nicht aus Zorn, sondern in einem gewissen Wutrausch rast, wenn er vor den Augen der Eltern Kinder erwürgt, wenn er mit einfachem Töten nicht zufrieden, Foltern anwendet, […] wenn seine Burg stets von frischem Blut trieft, dann reicht es nicht aus, diesem Menschen eine Wohltat nicht zu vergelten. Was immer ihn mit mir verbunden hatte, das hat die aufgehobene Gemeinsamkeit menschlicher Rechtsgrundsätze getrennt.“ (De beneficiis : Über die Wohltaten VII, 19, 7) Seneca -1- SoSe 2010 ⇨ Senecas Beteiligung an der (misslungenen) Verschwörung des Piso gegen Kaiser Nero: Vorwand oder Wahrheit? Nachdem Seneca denunziert worden war, schickte der Kaiser einen höheren Offizier zu ihm, damit er sich über seine Beziehung zu Piso äußere. Seneca bestätigte den ausgesprochenen Verdacht nicht, bekam aber dennoch wenig später durch einen anderen Boten die Aufforderung zur Selbsttötung zugestellt. Der Historiker Tacitus schildert in seinen Annalen (15, 60–64) das Sterben Senecas als Tod eines Weisen nach dem Vorbild des Sokrates, dessen Tod in Platons Phaidon ausgemalt wird. Demnach soll Seneca die Selbsttötung erst beim dritten Versuch gelungen sein: Zunächst habe er sich die Pulsadern und weitere Arterien an den Beinen geöffnet, dann soll er wie Sokrates einen Schierlingsbecher getrunken haben und sei schließlich in einem Dampfbad erstickt. ⇨ dazu reiche ikonographische Tradition (u.a. das berühmte Gemälde von Rubens in der Alten Pinakothek München) WERK 1) philosophische Schriften, meist in Form von kurzen Traktaten zu ethischen Themen 2) Tragödien zu mythologischen Themen (nicht zur Bühnenaufführung, sondern nur zur Lektüre verfasst ⇨ Zweck: Darstellung der negativen Auswirkungen von Leidenschaften ⇨ wurden in der Reformationszeit stark rezipiert) 3) naturwissenschaftliche Untersuchungen: Naturales quaestiones (z.B. über die Ursachen von Erdbeben) 4) Satire Apokolokyntosis (gr. „Verkürbissung“ i.S.v. Veräppelung) von Kaiser Claudius einige Themen ⌖ fuga témporis ⇨ Wert der Zeit (Werk De brevitate vitae : ,Über die Kürze des Lebens‘) ⌖ tägliche Selbstbetrachtung als Voraussetzung der Selbstverbesserung ⌖ ethischer Fortschritt nur in kleinen Schritten erreichbar ⌖ das höchste Ziel: die Tugend (lat. virtus, gr. ἀρετή /areté/), d.h. die ethische Vollkommenheit ⇨ höchstes Prinzip: naturam sequi ⌖ die Götter als Helfer der Menschen Seneca -2- SoSe 2010 ⌖ impliziter Monotheismus (ein einziges göttliches Prinzip lenkt das All ⇨ Werk De providentia : ,Über die Vorsehung‘) ⌖ Wert der Innerlichkeit (der Mensch spürt die Anwesenheit Gottes in seinem Inneren) ⌖ Abwertung aller religiösen Praktiken, die aufs Äußere/Materielle abzielen (Ablehnung des do-ut-des-Prinzips der antiken Religion) ⌖ der Mensch als „Sünder“, der einer „Erlösung“ und „Bekehrung“ bedarf ⌖ Bekämpfung der Herrschaft der Instinkte und Leidenschaften über den Menschen durch die Philosophie (Werk De ira : ,Über den Zorn‘) ⌖ Philosophie = Ethik ⌖ humanes Verhalten zu Sklaven (alle Menschen sind von Natur aus frei) ⌖ positive Bewertung von Frauen (Gleichstellungsgedanke) Das bekannteste Werk: Epistulae morales (,über die Ethik‘) ad Lucilium ⇨ den Adressaten Lukilius ist nicht fiktiv, er bleibt aber unidentifiziert ⇨ eine konkrete Einführung in die (tägliche) Praxis der Philosophie in Briefform ⇨ einfache Fragen (Lukilius/Schüler) bekommen einfache Antworten (Seneca/Lehrer) ⇨ praxisorientiertes Werk: praktikable Anweisungen für den Alltag, keine abstrakte Theorie • Senecas Rezeption bei den Christen: – TERTULLIAN (2. Jh. n.Chr.), De anima 20, 1: Seneca saepe noster. – LAKTANZ (4. Jh. n.Chr.), Divinae institutiones 1, 5: Annaeus quoque Seneca, qui ex Romanis vel acerrimus Stoicus fuit, quam saepe summum Deum merita laude prosequitur! (…) et quam multa alia de Deo nostris similia locutus est: quae nunc differo, quod aliis locis opportuniora sunt. Nunc satis est demonstrare, summo ingenio viros attigisse veritatem, ac pene tenuisse. Lit. Gregor MAURACH, Seneca: Leben und Werk, WB, Darmstadt 1991 [ CT 4/151 ] Seneca -3- SoSe 2010