Seneca: Leben und Werk

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Peter Paul Rubens: Der sterbende Seneca,
Alte Pinakothek, München.
GREGOR MAURACH
SENECA
LEBEN UND WERK
6. Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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6., bibliographisch aktualisierte und mit einem Nachtrag versehene Auflage 2013
© 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
1. Auflage 1991
Die Herausgabe des Werkes wurde durch
die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Einbandabbildung: Seneca. Teil einer Doppelherme: Sokrates und Seneca, Berlin
© bpk / Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin / Johannes Laurentius
Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26273-1
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-26334-9
eBook (epub): 978-3-534-26335-6
I N H A LT
Abgekürzt zitierte Literatur
IX
Vorwort
XI
Zwei Prämeditationen
War Seneca ein Philosoph?
Vom Lesen .
2
Erster Teil: Senecas Leben
Vorurteile .
7
Eine Anklage gegen Seneca
10
Senecas Kindheit
15
Senecas Jugend
Die erste Krise: Krankheit
Die zweite Krise : Verbannung .
19
26
29
Die Heimkehr und die Macht .
34
Entmachtung und Hinrichtung. Die dritte Krise
41
Peter Paul Rubens und das Antlitz Senecas
48
Zweiter Teil: Senecas Werk
Ein Blick voraus .
57
Teile der Seele und ihre Regungen
59
Die drei Trostschriften .
)Die Trostschrift an Marcia<
61
62
Inhalt
VI
>Die Trostschrift an die Mutter<
>Die Trostschrift an Polybius< .
Die drei Trostschriften insgesamt
.
70
75
79
Schriften der mittleren Zeit
>Oe ira<
Der Gehalt
Übersicht
>Oe dementia<
Der Gehalt
Übersicht
>Oe beneficiis<
Der Gehalt
Übersicht
81
82
82
91
94
95
98
1 00
101
1 06
Die drei Traktate über das Ich in der Gemeinschaft .
>Oe constantia sapientis<
Der Gehalt
Übersicht
>Oe brevitate vitae<
Der Gehalt
Übersicht
>Oe vita beata<
Der Gehalt
Übersicht
>Oe tranquillitate animi<
Der Gehalt
Der Bauplan .
Übersicht
Was leisten, was verfehlen die Schriften der Ministerzeit?
111
111
1 12
1 12
113
1 14
115
117
118
1 20
1 23
1 23
1 28
1 30
1 32
Die Spätschriften .
>Oe otio< .
Der Gehalt .
Übersicht
>Oe providentia<
Der Gehalt .
Übersicht
>Naturales quaestiones<
Der Gehalt .
Gesamtbetrachtung
1 36
136
1 36
139
140
1 40
1 42
145
1 46
1 54
.
.
.
Nachtrag zur Neuauflage 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
A B G E KÜRZT Z I T I E RT E L ITERATU R
(Umfangreiche Bibliographien bei Abel, Bauformen Es. u.J 180f. und in : Auf­
stieg und Niedergang der römischen Welt [hinfort : ANRWJ 36, 3 [1989J 1545 f.)
Abel, K . : Bauformen in Senecas Dialogen, Heidelberg 1967.
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Boeder, H . : Topologie der Metaphysik, Freiburg 1980.
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x
Abgekürzt zitierte Literatur
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Ders . : Geschichte der römischen Philosophie, Darmstadt 1989.
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WdF 193 : Römische Philosophie, hrsg. von G. Maurach, Darmstadt 1976.
WdF 414 : Seneca als Philosoph, hrsg. von G. Maurach, 2. Aufl., Darmstadt 1987.
VORWORT
Man mag sich wundern, weshalb nach P. Grimals großem Seneca­
Buch (s. Lit.-Verz.) und nach M. Griffins umfassender Untersuchung
(s. ebenfalls im Lit.-Verz. ) ein neues Buch über den römischen Philoso­
phen erscheint, und zudem im selben Verlag wie jenes von der Hand des
ebenso kenntnisreichen wie einfühlsamen französischen Gelehrten.
Die Erklärung ist dennoch einfach : Grimals Anliegen war, über die
Darstellung des zweifelsfrei Gesicherten hinaus durch geistvolle Kom­
binationen und Vermutungen (unten Anm . 41) dem nicht mehr durch
eindeutige Quellentexte sicherbaren, aber doch vermutbaren Wesens­
kern sich zu nähern - ein Anliegen, das dem der englischen Historikerin
diametral entgegenstand (s. unten § 2). So sieht der Laie sich jetzt zwei,
sich gegenseitig fast schon ausschließenden Betrachtungsweisen und
gar Büchern gegenüber, und hier war ein Klärungsversuch wünschens­
wert.
Darüber hinaus findet man in beiden genannten Werken keine Ana­
lysen von Senecas Werken ; und doch schienen solche insbesondere für
den Lehrer an Gymnasien und auch für den Studenten hilfreich, denn
nicht immer ist es leicht, den Bauplan und den philosophischen Ge­
danken unter der brillanten, nicht selten schillernden, immer an kreu­
zendl\n und ausbrechenden Nebengedanken so reichen Oberflächen­
textur senecanischer Schriften zu entdecken.
Und auch eine erneute Musterung des über Senecas Leben Wiß- und
Sicherbaren mußte angestellt werden, denn die Stimmen der Kritiker
und Kritikaster wollen weder verstummen noch sich der beweisbaren
Tatsächlichkeiten bedienen, statt Vermutungen und Verleumdungen
vorzubringen. Auch hier, auf dem Gebiete der Rekonstruktion von Le­
bensdaten und Todesumständen, schien eine erneute Musterung des
Belegbaren angebracht.
Zuletzt sei bemerkt, daß sich der Mangel eines Buches immer wieder
schmerzlich bemerkbar macht, das die Nachwirkung Senecas ausführ­
lich behandelt; hier wenigstens durch Hinweise vorläufige Abhilfe zu
schaffen bemüht sich der eher tabellarische Schlußteil, als Literatur­
übersicht konzipiert.
September 1 989
Gregor Maurach
ZWEI PRÄMEDITATIONEN
War Seneca ein Philosoph?
Einige haben ihm diesen Ruhmestitel abgesprochen, andere haben
sich darüber empört, daß man ihm einen Namen hat nehmen wollen,
den er sich doch selber oft genug beigelegt hat. Man hat allerdings zu­
meist nicht recht dabei bedacht, was dieser Name für Seneca, was er für
uns bezeichnet. Für uns ist ein Philosoph einer, der erkennen will und
diese Erkenntnisse einschließt in einen großen, selber erdachten Zusam­
menhang und in ein originales System. Für Seneca ging es aber viel we­
niger um originale Erkenntnisse oder gar um ein eigenes System, als
vielmehr um seinen eigenen, nie vollendeten Weg der Anwendung eines
längst vorgedachten (s. § 101), schon vorliegenden, des Stoischen Sy­
stems, und zwar nach Maßgabe der jeweiligen besonderen Lebenslage
und Lebensnotwendigkeit. Philosophie - das war ihm die ausschließ­
liche Liebe zu und das unbedingte Streben nach Meisterung des Lebens
aus dem Geiste der Stoa und dem Platos ; seine sophia war die Lebens­
und Sterbenskunst, nicht ein System. Er wollte zeigen und belehren,
was Leben heißt, wollte die Menschen durch ethische Belehrung zum
Bestehen des Lebenskampfes leiten. Er wollte nichts sein als Seelen­
leiter (s. § 297).
Von dieser Einsicht aus wird dann auch der Übergang zu seinen Tra­
gödien leichter, mit denen viele, und nicht die Unkundigsten, so arge
Schwierigkeiten haben. Hat man erst einmal das Wort Philosoph richtig
verstanden als Namen eines Seelenleiters, der lehren will, was der
Mensch, was die Umwelt und ihre Verführung ist und wie sie wirkt, auf
daß der Mensch aus solcher Erkenntnis und der aus ihr folgenden Um­
wertung des bisher für werthaft Gehaltenen gelassen leben, gelassen
sterben lerne, dann fügen die Tragödien sich diesem Wollen unschwer
ein (s. § 297 f.) : auch sie wollen etwas zeigen, wollen keineswegs die phi­
losophischen Lehrsätze exemplifizieren; sie wollen dem Menschen den
Menschen zeigen, seine Gewalt, seine Verwirrung, seine Selbstzerflei­
schung im Banne falscher Werte, in der Ferne von der Erkenntnis
dessen, wozu der Mensch auf der Erde ist : um für die Erhaltung der
Welt und für den Mitmenschen zu wirken. Dies zu zeigen, ist die Ab­
sicht des vorliegenden Buches, das nicht nur Material bereitlegen, son-
2
Zwei Prämeditationen
dern zum Lesen anregen will, zur nach- und mitdenkenden Lektüre des
Philosophen Seneca.
Vom Lesen
Den Gelehrten mag es freuen, hier ein Wort anders oder gar besser zu
erklären, als es anderen gelungen; dort einen Zusammenhang zu er­
kennen, der anderen verborgen geblieben - aber der Laie? Kann er nicht
einfach ein Buch zur Hand nehmen und lesen, auch wenn das, was er
liest, vor zweitausend Jahren geschrieben wurde? Freilich; doch bald
wird er Wörtern und Gedanken begegnen, die er nicht ohne Kom­
mentar wird verstehen können. Er wird sich nach Erklärungen um­
sehen. Nun gibt es zwei Arten des Erklärens : die populäre Art zu er­
klären wird zuweilen " allgemeinverständlich " genannt. Das soll doch
wohl sagen : für jedermann verständlich. Und betrachtet man solche Er­
klärungen, dann tragen sie allesamt ein einziges Kennzeichen : sie er­
klären so, daß nichts Fremdes im Text bleibt ; alles wird unmittelbar ein­
sichtig gemacht und dies so, daß der Leser den Eindruck erhalten soll,
das sei alles immer schon so gewesen wie jetzt, wie er es gewohnt ist.
Die wissenschaftliche Erklärung hingegen trägt Dinge herzu, die
nicht jedermann gleich begreift. Sie versucht, den Text aus dem Denken,
Erleben und alltäglichen Tun zur Zeit und am Ort des Verfassers zu er­
hellen. Und das bedeutet, daß vieles fremdartig bleiben wird. Um zu
verstehen, was dieser Gegensatz von populär und wissenschaftlich im
Kern bedeutet, blicken wir den Leser selbst an, nicht den Erklärer.
Der Leser wird, vereinfacht gesagt, aus zwei Gründen zu einem
Buche greifen : zum einen kann er einfach "interessiert" sein und wissen
wollen, was "drin steht". Er wird zu lesen beginnen und dann bald
sagen, das sei "etwas für ihn" oder nicht. Zum anderen kann ein Leser
aus einer genau angebbaren Situation zu einem Buche greifen, das einen
Titel trägt, der bewußt oder unbewußt in diese Situation paßt. Diese Si­
tuation ist dadurch gekennzeichnet, daß sie eine Not-Situation ist, die
dazu treibt, sich nach Rat oder Hilfe umzusehen. Solche Leser lesen zu­
meist länger als die bloß Interessierten, sie werden sich dem Texte
stellen, oder besser: nur wenn sie sich dem Texte stellen, wird er Rat
oder Hilfe bieten. Weshalb das ?
Der bloß Interessierte will nur unterhalten sein ; er wird nur das lesen,
was ihm "zusagt", und das bedeutet : was so ist, wie es ihm paßt, wie er
selber ist. Der Vergnügungsleser stellt keine Fragen, er konsumiert zu
seinem Spaße, vor allem : er stellt sich selbst nicht in Frage. Ganz anders
der Leser aus Not und Unbehagen : er will ja etwas aus dem Buche
Vom Lesen
3
hören, das ihm helfen könnte. Und das kann ja nicht das sein, was er
schon weiß, schon hat und schon selber ist. Der Not-Leser liest also
nicht sich, sondern ein Fremdes .
Jetzt können wir die beiden Gedankenstränge dieser Vorbemer­
kungen zusammenführen. Eine Darstellung wie die Senecas wird nur
dann hilfreich sein, wenn sie nicht populär erklärt, sondern das Fremde
als Fremdes stehen läßt. Fremd muß dabei nicht "exotisch" bedeuten,
sondern es meint, daß diese Erklärung und Darstellung Seneca als einen
anderen beläßt und ihn nicht populär an "unsere Zeit" angleicht. Nur
wenn er befremdet, wird er den Leser oder Hörer zum Nachdenken
über sich selber bringen; nur wenn anderes als das längst Gewußte zu
Gehör kommt, kann ein Dialog beginnen, der Dialog über den Leser.
Doch dies kann nur unter einer unverbrüchlichen Bedingung statt­
haben : wenn der Hörende oder Lesende sich offenhält; d. h., wenn er
nicht - ähnlich dem bloß interessierten Lesen - allsogleich mit seinem
eigenen Meinen und Beurteilen, mit dem vor- und überschnellen
Scheinverstehen an den Text geht, sondern wenn er zunächst nur einfach
zuhört. Kurzum : es ist " zuerst die Vorgabe des eigenen Schweigens
verlangt. Erst in ihm kann das Hören beginnen" (Boeder 258).
Und der Erklärer ? Er darf sich nicht im Kleinen aufhalten, darf nicht
Wortwahl, Komposition und Quellenerkundung zum obersten Ziele
machen. "Das Verstehen findet . . . nicht in einer technischen Virtuosität
des Verstehens von allem und jedem GeschriebeQ.en Genüge", so warnt
H.-G. Gadamer (Wahrheit und Methode 41975, 463). Er warnt also vor
dem bloß philologischen Brillieren im Erklären eines Textes als eines
Fertigungsproduktes. Oberstes Ziel des Erklärens muß es sein, im Ge­
biete des Gedachten "echte Erfahrung, d. h. Begegnung mit etwas" zu
ermöglichen, "das sich als Wahrheit geltend macht", diese Wahrheit als
ein Sinnvolles verstanden. Ein solches Sinnvolles, das dem Leser im
Fragen, im Befragen des Fremdartigen und Anderen zu sich selber
führt, ergibt sich jedoch nur in einer - und dies ist die letzte, mahnende
Zeile von Gadamers Werk - "Disziplin des Fragens und Forschens"
(465). Und ihr wollen wir uns unterwerfen.
Doch bevor wir beginnen, lohnt es sich, ein anderes Wort Gadamers
zu bedenken. Er schreibt auf S. 121 : "Weder das Fürsichsein des schaf­
fenden Künstlers - etwa seine Biographie - noch das des Darstellers . . .
hat angesichts des Seins des Kunstwerkes eine eigene Legitimation. "
Also keine Vita; und doch werden wir mit einer solchen beginnen wieso ?
Gadamer hatte nicht den Fall gemeint, der eintritt, wenn das Leben
des Verfassers zum Instrument wird. Was heißt das ? Ein Lehrer kann so
4
Zwei Prämeditationen
leben wollen, wie er lehrt; er kann dann sagen, daß sein Leben, wenn es
gut ist, zeigt, daß auch das gut ist, was er lehrt. D . h . : wenn ein Lehrer
sein Leben, das er nach dem formt, was er als wahr erfahren hat, mutig
und seiner selbst gewiß als Qualitätsbeweis einsetzt, dann ist dieses sein
Leben kennenswert, oder doch zumindest befragenswert. Und darum
beginnen wir mit dem Leben des Lucius Annaeus Seneca.
ERSTER TEIL :
SENECAS LEBEN
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