Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Freitag, 22.02.2002 Nr.44 66 Hadith – die Spuren des Propheten Ein Basistext des Islam wird neu ediert Fast ebenso bestimmend für die islamische Religions- und Lebenspraxis wie der Koran sind die Hadithe, die überlieferten Worte und Handlungen des Propheten Mohammed. Nach 12 Jahren Arbeit hat die Thesaurus-Islamicus-Stiftung die ersten 19 Bände dieser Textsammlung in einer revidierten, anspruchsvoll ausgestatteten Edition publiziert. Nichts weist beim Betrachten des gesichtslosen Tradigital-Gebäudes im Kairoer Vorort Maadi darauf hin, dass hinter seiner Fassade eine kleine islamische Revolution stattfindet. Der Lift führt zu einem ebenso unscheinbaren Büroeingang; dort sitzt – unverschleiert – die Sekretärin vor einem Computer und mehreren Telefonen. Erst ein Rundgang durch die weitläufigen Räume zeigt, dass der Islam hier die Hauptrolle spielt. Vorbei an einem Gebetsraum gelangt man in helle, moderne Büros. Hier sitzen – nicht selten zu zweit – bärtige Ulema (Gelehrte) der islamischen Azhar-Universität vor Computern oder dicken alten Büchern und analysieren Hadithe – die überlieferten Sprüche oder Handlungen des Propheten Mohammed. Im nächsten Raum sitzt der englische, zum Islam bekehrte künstlerische Projektleiter, Daud Sutton, und holt auf dem Bildschirm ein Detail einer Buchmalerei aus dem 14. Jahrhundert heran: «Schauen Sie sich diese Arabeske an, das Blätterdekor», schwärmt er. «Zur Mameluckenzeit wurden die prächtigsten Verzierungen zur islamischen Literatur geschaffen.» Dann steht er auf und zeigt auf eine Reihe ausgedruckter subtiler Illuminationen. «Das ist noch gar nichts», wehrt er die Bewunderung der Reporterin ab. «Alles, was hier gelb ist, war ursprünglich golden. Ich werde ein Druckverfahren entwickeln, in dem die ursprünglichen Farben wieder zum Leuchten kommen.» 1000 neue Druckzeichen Hinter einer langen Glaswand befindet sich das Büro des Chefs von Tradigital, des ebenfalls zum Islam bekehrten Mustafa Gouverneur. «Unsere Firma digitalisiert für die Thesaurus-IslamicusStiftung sowohl den Hadith als auch Buchmalereien. Von hier aus gelangt das umgesetzte Material in den Druck.» Vorsichtig legt er das jüngste Produkt seiner Firma und der Stiftung auf den Tisch: die 19 ersten Bände der Hadith-Enzyklopädie. Gouverneur legt den Zeigefinger auf den Mund – bevor ich weiterfragte, solle ich die Ausgabe genau anschauen. Die hellbraunen, mit © 2002 Neue Zürcher Zeitung AG einem goldenen Sternmotiv geprägten Bücher sind nicht nur geschmackvoll, sondern wirken auch hervorragend verarbeitet – vor allem, wenn man sie mit den herkömmlichen Ausgaben islamischer Literatur vergleicht. «Es war ein Hauptanliegen der Stiftung, eine gut leserliche und schön gebundene HadithSammlung herauszugeben», erläutert Gouverneur. Zwar habe man in Ägypten während der Mameluckenzeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert herrliche Korane und Hadith-Sammlungen handschriftlich hergestellt, doch sei es nach diesem Höhepunkt der Kalligraphie mit den Ausgaben der islamischen Literatur steil bergab gegangen. Während die Schönschrift weitgehend verloren ging, entwickelte sich keine eigentliche arabische Druckerkunst. «Was heute auf dem Markt angeboten wird, ist blass gedruckt, grob gebunden und fällt zumeist nach mehrmaligem Aufschlagen auseinander», klagt Gouverneur. Hinter Glas hat er einige Beispiele der hohen Schule der arabischen Schreibkunst ausgestellt. Damals arbeitete man nicht nur mit verschiedenfarbigen Tinten, sondern auch mit unterschiedlichen Kalligraphiestilen, zu denen sich die arabische Schrift mit ihren Rundungen geradezu anbietet. Zur Entwicklung einer geeigneten Druckschrift orientierten sich die Urheber des Hadith-Projekts an der Koranausgabe des ägyptischen Königs Fuad von 1932, die bis heute als Zenit des arabischen Buchdrucks gilt. Um die Hadith-Texte leserlich und gleichzeitig ästhetisch zu gestalten, wurden von modernen Kalligraphen 1000 neue Zeichen geschaffen. Gedruckt würden die 19 Bände allerdings in Stuttgart, betont Gouverneur. Dort befinde sich nach Meinung der Stiftung das Weltzentrum der Buchdruckerkunst. Der Sitz der Thesaurus-Islamicus-Stiftung befindet sich in Liechtenstein. Ihr Gründer ist der Vater Mustafas, Farid Gouverneur. Der gebürtige Venezolaner musste Mitte der sechziger Jahre aus politischen Gründen seine Heimat verlassen. Mit seiner Familie wanderte er nach New York aus, wo er bald in eine tiefe psychische Krise stürzte. Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Der Islam wurde für ihn zum Rettungsanker; 1967 konvertierte er, und bereits zwei Jahre später siedelte er mit der ganzen Familie nach Kairo um, wo er das Arabisch- und Theologiestudium an der Azhar-Universität aufnahm. Dem ausgebildeten Cineasten und Philosophen fiel bald die Dürftigkeit der modernen Ausgaben islamischer Literatur auf. Seine Idee, Hadith-Sammlungen neu zu überprüfen und zu veröffentlichen, stiess bei den Ulema der Azhar-Universität sofort auf Begeisterung. Die Überlieferungen, deren Themen die religiöse Pflichtenlehre, aber auch moralisches Betragen wie der familiäre Umgang, Geschäftsbeziehungen und das Regieren und weiter Alltagsgewohnheiten wie Kleidung oder Ernährung umfassen, waren und sind für Muslime von besonderer Wichtigkeit. Seit dem 8. Jahrhundert wird der Hadith genutzt für Aussagen und Regeln, für die es im Koran keine Festlegungen gibt. Weiter gilt er als zweite Quelle der islamischen Jurisprudenz nach dem Koran und geniesst auch deshalb hohes Ansehen in der Gemeinde. Bei der Gründung der Stiftung konnte Farid Gouverneur nicht nur islamische Gelehrte aus aller Welt, sondern auch muslimische Geschäftsmänner gewinnen, die das Projekt finanziell unterstützen. Ihre Beiträge zahlen sie anonym als «Zakat» – die islamische Almosensteuer und eine der fünf religiösen Grundpflichten jedes Muslims – ein. Behebung zahlloser Fehler Weit schlimmer als der Verlust der hohen Kunst der Kalligraphie sei die Fehlerhaftigkeit der heute erhältlichen Ausgaben islamischer arabischer Literatur, sinniert Mustafa Gouverneur. Für die Überprüfung der nun herausgegebenen 19 Bände habe sich das engagierte Team von rund 40 Gelehrten der Azhar-Universität in Kairo, der wichtigsten Lehr- und Lernanstalt der Sunniten, deshalb mehrere Jahre Zeit gelassen. Sie umfassen die sechs Sammlungen aus dem 9. Jahrhundert, die von den Sunniten als besonders autoritativ angesehen werden. Ihre Autoren sind al-Bukhari, Muslim, Abu Daud, al-Tirmidhi, an-Nasai und Ibn Madja; beim Aufschreiben des Hadith-Textes stützten sie sich auf die Überliefererkette. Originaltexte dieser Autoren seien nirgendwo mehr zu finden, meint Mustafa Gouverneur wehmütig; und aus dem hundertfachen Abschreiben der Sammlungen rührten die zahllosen Fehler, die das Lesen heute schwer und unbefriedigend machten. Dank der ägyptischen Nationalbibliothek, wo sich die weltweit grösste Sammlung islamischer Manuskripte befinde, habe das Ulema-Team des Projekts Zugang zu den ältesten © 2002 Neue Zürcher Zeitung AG Freitag, 22.02.2002 Nr.44 66 und besten Kopien überhaupt erhalten. Weiter, so Mustafa Gouverneur, sei jeder korrigierte Hadith von der Forschungsakademie der Azhar-Universität überprüft worden, bevor er in die jetzt erschienene Enzyklopädie aufgenommen worden sei. Ein Novum ist der Index der Kollektion, dank dessen Genauigkeit und Überschaubarkeit Hadith-Texte sehr viel leichter gefunden werden können. Hier werden in zwei Bänden die Überlieferungen nicht nur mit ihren Nummern verzeichnet, sondern auch mit Referenzen zu gleichen oder ähnlichen Texten in den übrigen Bänden in Bezug gesetzt. Weitere Indexbände sollen später mehr Material aus der Exegese und vor allem Informationen zu den Personen, die den jeweiligen Hadith übermittelt haben, enthalten. «Die 17 Hadith-Bände mit ihren beiden Indizes sind nur ein Anfang», erklärt Mustafa Gouverneur. Vier weitere Sammlungen in 15 Bänden werden bereits im kommenden Frühling erscheinen, doch auch sie sind nur ein kleiner Teil dieser grössten vormodernen Literatursammlung der Welt. «Es gibt insgesamt 200 Hadith-Sammlungen», meint Ali Jumaa, Professor für islamische Jurisprudenz und wissenschaftlicher Leiter des Projekts. «Unser Ziel ist es, in den kommenden Jahren alle zu überprüfen, neu zu ordnen und zu drucken.» Dabei, so fährt Jumaa fort, sei es unerheblich, ob der Hadith ein sogenannt starker oder schwacher sei; für ihn laute die Aufgabe, den Gelehrten und Interessierten alle Sammlungen zugänglich zu machen. Aus diesem Grunde wurde gleich nach der Veröffentlichung den bekanntesten Ulema der Welt die gebundene Ausgabe geschenkt. Praktisch alle islamwissenschaftlichen Fakultäten der Welt haben sich diese oder aber die günstigere Taschenbuchausgabe angeschafft. Noch günstiger – und für jüngere Islamwissenschafter auch attraktiver – ist die elektronische Ausgabe. Die CD-ROM, sagt Mustafa Gouverneur begeistert, eröffne ganz neue Möglichkeiten. So könne man Listen bestimmter Hadith-Texte zusammenstellen oder aber sie vokalisiert herunterladen. Mit dem Suchprogramm liessen sich wesentlich schneller als von Hand Überlieferungen zu bestimmten Themen, Wörtern, Orten, Zahlen, Namen usw. finden. Weiter werde momentan eine Website gestaltet, mit deren Hilfe Islamwissenschafter sich leicht und rasch über ihre Hadith-Forschungsarbeit austauschen könnten. Kristina Bergmann Blatt 2