Mozart auf der Reise nach Prag oder Mörike auf der

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Mozart auf der Reise nach Prag oder
Mörike auf der Reise zu Mozart.
Von der langsamen Verfertigung eines idealen Doubles.
„... wie mir’s bei dieser Oper immer geht, weil sie zu viele subjektive
Elemente für mich hat und einen Überschwall von altem Duft, Schmerz
und Schönheit über mich herwälzt, dermassen, dass ich ohne den Halt an
einem sichtbaren gegenwärtigen Freund und Consorten mich nicht damit
einlassen mag, so muss man einen solchen Anlass, der uns gelegentlich
mitfortreisst und zur rechten Zeit auch wieder loslässt, doppelt danken,
(...) Da man aus lauter Feigheit und Hychondrie sonst gar zu nichts
käme.“ (Mörike in einem Brief an Wilhelm Hartlaub v. 20.03.1843)
Mörikes Novelle von der hier die Rede sein wird, wählt sich eine Reise zum
Thema und Motiv, eine grosse Reise übrigens. Von Wien nach Prag, das
bedeutete in der Erzählzeit, also im 18. Jahrhundert, einige beschwerliche
Tagesreisen. Keine Kleinigkeit. Dass jeder Autor, der solches zu Papier
bringt, selbst ein Reisender ist, wenn auch im übertragenen Sinn, versteht
sich fast von selbst.
Gereist sind auch die ausgesuchten Exponate, die wir Ihnen im November
2007 in der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern präsentieren dürfen.
Sie stammen allesamt aus dem Besitz der beiden Leihgeber, Martin Hobi
und Klaus Berge, die für die Ausstellung Mozart auf der Reise nach Prag
grosszügig die schönsten Exemplare zur Verfügung gestellt haben.
Gedruckt, verlegt, ver- und gekauft, gesammelt und gelesen wurden die
ausgestellten Bücher und Büchlein an den unterschiedlichsten Orten, zu
unterschiedlichsten Zeiten. Da gibt es nahezu alles, von kostbaren
Erstausgaben über bibliophile Raritäten bis zur einfachste Ausgaben für
die Schullektüre. Neben japanische Ausgaben finden Sie tschechische,
schwedische und türkische Übersetzungen. Vermutlich ergäbe die Notation
der Erscheinungsorte ein kartographisches Sonderbild für Leser.
Unsere Expedition jedenfalls scheint eine Art mentaler Reisebewegung zu
werden und so gesehen sind wir in der ZHB am richtigen, vielleicht sogar
an einem idealen Ort. Denn seit jeher bewahren die grossen Bibliotheken
nicht nur Reisebeschreibungen verschiedenster Art. Sie liefern desgleichen
die Gebrauchsanleitungen zum Reisen aller Art, jedenfalls dann, wenn die
wahren Abenteuer tatsächlich im Kopf statt finden.
Die wahren Abenteuer des Autors, von dem heute die Rede ist, spielten
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allemal auf der neurologischen Guckkastenbühne, selbst wenn der 1804
geborene, in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene, körperlich
eher schwerfällige Mörike, seine innere Unruhe in häufigen Wohnungswechseln im Baden Württembergischen ausdrückte.
Vor allem aber war Mörike ein Phantasierender, bisweilen ein Phantast,
einer der schreibend der Enge zu entkommen wusste, inkognito durch
virtuelle Realitäten reiste, und sich im Eigenleben der von ihm
geschaffenen Gestalten das erlaubte, was in seinem wahren und
wirklichen Leben nicht vorkam: Masslosigkeit, leidenschaftliche Liebe und
rückhaltlose künstlerische Verwirklichung.
Unser Thema: Die Reise also, eine Reise, die den Protagonisten Mozart
nach Prag führen soll, und uns, die Leser und Leserinnen, mitnimmt und
zusehen lässt, ganz nah und doch mit hinreichender Distanz, um in der
Nähe die reichlich ausgebreiteten, bisweilen verwirrend vielfältigen Details
erkennen zu können. Es ist ein bisschen als sähe man einer
Dokumentation zu - und im sachlichen Dokumentations-Duktus hebt das
Erzählen dann ja auch an, gerade so, als hörten wir eine Stimme aus dem
Off: „Im Herbst des Jahres 1787 unternahm Mozart in Begleitung seiner
Frau eine Reise nach Prag, um Don Juan daselbst zur Aufführung zu
bringen.“
Auf den Tag genau datiert Mörike die Begebenheit, es ist der 14.
September, an dem das wohl gelaunte Ehepaar durch eine spätsommerlich pittoreske Landschaft reist, in einer Kutsche versteht sich, in
einer, die wir auf ungezählten Illustrationen als die typische Kutsche, als
das Mozart-Wien-Prag-Gefährt zu erkennen vermeinen. Nur ist das, was in
der zitierten Einleitung und auf den nächsten Seiten so sorgfältig und
detailverliebt ausgebreitet wird eben keine Dokumentation. Es ist nicht
einmal das, was man heute im crossover der Sparten und Strategien als
‚Faktion’ bezeichnen würde, ein auf leichte Konsumierbarkeit abgestimmte
Mischung aus Fakten und Fiktion, ein undurchsichtiger sowohl-als- auchCocktail, mit dem heutige Leser beständig traktiert werden und sich nach
dem Genuss der entsprechenden Edutainement-Dosis klüger als zuvor
glauben.
Mörike kannte dieses Crossover nicht oder doch mindestens den Terminus
nicht, aber als Liebhaber eigenwilliger Collagentechnik wendete er ein
vergleichbares Genremix an. Im Spiel der teils offenen, teils verdeckten
Täuschung montiert er mehrfach vermeintliches Belegmaterial,
‚Zeugenaussagen’ quasi. Als authentisches Indiz wollte er der Novelle
sogar die Notation einer kleinen, angeblich von Mozart stammenden
Komposition mitgeben. Im Rahmen der Erzählung spielt diese durchaus
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eine Rolle. Die Gäste der Verlobungsfeier auf Schloss Schinzberg
improvisieren in Wein- und Festlaune einen musikalischen Scherz, ein
recht possierliches Terzett und der Meister verspricht, den munteren
Einfall zu Papier zu bringen - das jedenfalls lässt uns der Text glauben.
Indes kam es zu diesem virtuellen Beweisstück nicht, denn die von Mörike
angefragten Musiker lehnten ab, weil sie sich ausserstande sahen eine
Mozart-adäquate Imitation zu schaffen.
Mörike erzeugt also den Eindruck der Dokumentation. Mit dem seinerzeit
verfügbaren Mozart-Biografien, beispielsweise dem 3-bändigen Werk des
Russen Oulibicheffs war der Autor und Mozartverehrer notabene bekannt.
Tatsächlich aber handelt es sich um eine klug eingefädelte, kohärent
entwickelte und kunstvoll inszenierte literarische Camouflage, die schon
die Zeitgenossen des Autors nicht oder nicht immer als solche zu
identifizieren vermochten. 1856, im Jahr des 100. Mozart-Geburtstags,
war der Erinnerungskult, eine bedeutende kulturelle Strömung des 19.
Jahrhunderts übrigens, bereits etabliert. Viele wollten dem inzwischen so
ungebrochen bewunderten Genie nah sein. Dieses teils voyeuristische
Verlangen nach Intimität und Teilhabe aber begünstigte und beschleunigte
die Entwicklung eines speziellen Kulturdevotionalien-Marktes, der noch
heute ungebrochen floriert und so wunderbare Produkte wie die
Mozartkugel hervorgebracht hat. Der Illusionswilligkeit des
enthusiasmierten Publikums kommt Mörikes Novelle, unbeabsichtigt
wahrscheinlich, entgegen und selbst die vielfach zitierte Absichtserklärung
des Autors ändert am Eindruck der verbürgten Künstlerbiographie nicht
wirklich etwas:
"Meine Aufgabe bei dieser Erzählung war, ein kleines Charaktergemälde
Mozarts aufzustellen, wobei, mit Zugrundelegung frei erfundener
Situationen, vorzüglich die heitere Seite zu lebendiger, konzentrierter
Anschauung gebracht werden sollte"
In Prag, dem Titelgebenden Zielort der Reise, sehen wir Mozart übrigens
nicht ankommen, obwohl er dort ja nun wirklich war, was diesmal sogar
durch wirkliche Quellen bestätigt wird. Am 6. Oktober 1778 nämlich
meldet die Prager Oberpostamtszeitung:
»Unser berühmter Herr Mozart ist wieder in Prag angekommen, und seit
dem hat man hier die Nachricht, dass seine von ihm neu verfasste Oper
Das steinerne Gastmahl auf dem hiesigen Nationaltheater zum ersten mal
gegeben wird.«
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Des Wiener Aristrokraten-Publikums muss der Musiker müde gewesen
sein. „Zuviel Noten“ und genug Perlen vor die Säue, mag er sich gedacht
haben. Kurz und gut Don Giovanni wird am 29. Oktober 1778 nicht in
Wien, sondern in Prag uraufgeführt.
Aber wie gesagt, in Prag sehen wir den Mozart der Novelle nicht
ankommen und die Uraufführung der inzwischen überaus prominenten,
weltweit gespielten Mozart-Oper ist auch nicht Gegenstand der Novelle.
Gewiss, aus Mörikes Kommentaren wissen wir, dass er das Portrait des
bewunderten Komponisten geben wollte und dazu nutzte er die souverän
gehandhabten Freiheiten seiner Dichtkunst. Gleichwohl bleibt die Frage,
warum sich der Autor so eifrig um den Eindruck des Dokumentarischen
bemüht. Was nun, wenn das phantasierte Mozart-Portrait unter anderem
als Deckphantasie fungierte. Wenn der Autor Mörike im Rahmen der
erzählten Reise eine Exkursion in die eigene innere Landschaft wagte?
Nahezu zehn Jahre beschäftigte ihn der Stoff, mal mehr, mal weniger
intensiv und affektiv aufgeladen durch den Tod zweier Geschwister, den er
im dunklen Zusammenhang sah mit der geliebten Oper Don Giovanni.
Nahezu zehn Jahre die nicht zu den glücklichsten eines an glücklichen
Zeiten eher armen Lebens zählten. Möglich, dass sich der überwiegend
bescheidene Mensch Mörike, dass sich der von Erfolgen nicht übermässig
verwöhnte Schriftsteller im Schutz seiner Novelle, zentrale Wünsche und
Phantasien von der Seele schrieb. - Mindestens ist das eine mögliche
Lesart.
Wir beobachten also das in die Jahre gekommenen Wunderkind und
verkannte Genie, den K.K. Kapellmeister Wolfgang Mozart aus Wien als
Protagonisten einer unerhörten Begebenheit, wie Goethe meinte, als er
die Novelle definierte. Nur was ist das Unerhörte?
In einem nicht genau bezeichneten Dorf mit einem kleinen Schloss,
»Wohnsitz eines Grafen von Schinzberg« unterbrechen die Mozarts die
Reise nach Prag. Während Konstanze Mozart ruht, flaniert der Künstler
durch den Schlossgarten, wo er – ganz in Gedanken – den Stein des
Anstosses, will sagen, eine reife Pomeranze pflückt. Der Pomeranzenbaum
jedoch ist nicht irgendein Baum, sondern das delikate Hochzeitsgeschenk
des Fürsten Schinzberg für seine Nichte Eugenie, die noch am nämlichen
Tage Verlobung auf dem Schloss feiert. Mozart, auf frischer Tat ertappt,
soll für das unbeabsichtigte Delikt zur Rechenschaft gezogen werden, wird
schliesslich dabei als der Meister aus Wien erkannt, aufs herzlichste
willkommen geheissen, und mit Konstanze zum Fest eingeladen. So weit
so gut, doch es kommt noch besser, unerhört eben ...
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Denn in Mörikes Phantasieszenario erscheint Mozart als heiter-verspielter,
bisweilen überraschend nachdenklich-melancholischer Musiker. Vor allem
aber inszeniert der Autor in seinem Protagonisten den bewunderten und
geliebten Künstler, einen narzisstisch und materiell reich belohnten
Menschen, dessen Besonderheit schliesslich ausgezeichnet wird mit einem
Symbol patriarchal-feudaler Macht – der Kutsche, die Mozart vom Grafen
Schinzberg zum Geschenk gemacht wird.
Dieses von Mörike so liebevoll ausstaffierte Charaktergemälde ist so
gesehen ein von allen dunklen, beunruhigenden Aspekten bereinigtes
Idealbild oder das Bild des idealen Doubles. Die Imagination des von
Existenzängsten erlösten Künstlers, die tatsächlich nur wenig mit dem
realen Mozart und dessen ambivalenten Erfahrungen zu tun hatte, auch
wenig mit den eigenen ambivalenten Erfahrungen des Schriftstellers
Mörike, dafür um so mehr mit dessen verschwiegenen Wünschen. Da geht
es um nichts weniges als die Selbstentfaltung in der unbegreiflichen
künstlerischen Leistung, einen brachialen Zeugungs- und Gebärakt, den
Mörike raunend, beschwörend, bewundernd vor den Augen des Publikums
in der Don-Giovanni-Szene nachstellt. Es geht um die Ehrfurcht vor der
vollendeten Kunst, wie es im Text heisst oder um die uneingeschränkte
Wertschätzung und Bewunderung des Publikums, eines gesellschaftlich
eindeutig in der oberen Liga rangierenden Publikums zudem, und somit
geht es am Vorabende der Revolution auch um einen elegant vollzogenen
Machtwechsel mit den Mittel der Kunst. Nicht zuletzt geht es um die Liebe
und zwar die durchaus erotische Liebe mindestens einer Frau, die Mörike
subtil und begehrlich zugleich durch ganze Passage der Novelle
schimmern lässt. Die Kutsche als materielle Gratifikation gibt’s schliesslich
als Dreingabe, womit alles beieinander wäre, was im Sinne Sigmund
Freuds den Mann-Menschen dauerhaft stimuliert und zur Kulturleistung
antreibt. Nun, das ist alles in allem eine unerhörte Begebenheit, wenn
auch nicht ganz in der Art, die Goethe gemeint hat, als er das Wesen der
Novelle zu beschreiben suchte.
Mozart auf der Reise nach Prag wird zum grossen, zum grössten Erfolg
Mörikes, vielleicht zur bedingten Einlösung seiner verschwiegenen
Sehnsüchte und den teils unbewussten, teils poetisch überformten
Wunschbildern.
In Jahrzehnten hatte der kränklich-hypochondrische Landpfarrer und
biedermeierliche Dichter Eduard Mörike sein Werk unter schwierigen
Umständen, in teils leidvollen Schreibprozessen hervorgebracht: der wenig
befriedigenden Lebensrealität die schmerzlich-schönen Idyllen abgetrotzt.
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Nahezu 30 Jahre nach den ersten, scheiternden Versuchen als freier
Schriftsteller zu bestehen, nach einem halben Menschenleben der
halbherzigen beruflichen und privaten Kompromisse, nach Jahrzehnten
einer kränkenden Schattenexistenz, manövriert er sich jetzt
entschiedener als je zuvor auf die Bühne der literarischen Öffentlichkeit.
Und er tut dies mit einem Tusch.
Sein zwischen Anpassung und Auflehnung changierendes literarisches
Werk existiert, vollendet schon beinahe. Ein ungehobener Schatz noch,
der Generationen von Literaturwissenschaftler beschäftigen wird. Nun wird
er mit einer Novelle populär, berühmt, anerkannt weit über die Grenze des
engeren Freundeskreises und der schwäbischen Heimat hinaus. Mit
Preisen ausgezeichnet und durch den erstaunlich gut verlaufenden
Abverkauf seines Alterswerks endlich auch materiell belohnt. Dass die
Mozart-Novelle ein Bestseller mit weit über 400 Einzelausgaben werden
sollte, konnte Mörike nicht wissen, selbst wenn er – überzeugt von der
Qualität seines Werks erstaunlich selbstbewusste Honorarforderungen an
seinen Verleger Cotta richtete.
Mozart auf der Reise nach Prag – das ist ein gross orchestriertes Finale.
Hernach wird es still. Sich oder seinen Stoff hat Mörike ausgeschrieben.
So lebt er hin. Im Kreis seiner Familie, die er tatsächlich hatte, eine Frau,
von der er sich erstaunlich spät noch trennt und zwei Töchter. Eine
unauffällige, kränkliche Existenz bis er 20 Jahren nach der Erstveröffentlichung seiner Mozart-Novelle, im Jahr 1875 in Stuttgart stirbt.
Ina Brueckel, Nov. 2006
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