Weitere Files findest du auf www.semestra.ch/files DIE FILES DÜRFEN NUR FÜR DEN EIGENEN GEBRAUCH BENUTZT WERDEN. DAS COPYRIGHT LIEGT BEIM JEWEILIGEN AUTOR. Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. Sociologie générale: 'Compte rendu' im Rahmen des Seminars "Femmes du sud: travail, violence et identité". Verfasst und eingereicht im Februar 2004 von Andy Caradonna, Fribourg [[email protected]]. Bedenkliche soziale Position der Frauen in männer- oder religionsdominierten Kulturen; dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. Zur Illustration der bedenklichen, sozialen Position der Frauen in unterschiedlichen Kulturen, sollen zwei konkrete Beispiele aufgezeigt werden. Zum einen wird auf die Situation der Frauen in Irland (anhand des Textes von Jacques Véron "Le monde des Femmes. Inégalité des sexes, inégalité des sociétés"), zum anderen wird auf die Unterdrückung der Frauen im kurdischen Süden eingegangen (basierend auf dem Artikel "Im Namen der Ehre", erschienen im Facts 3/2004). Kurzzusammenfassung des Texts "Le monde des Femmes" von J. Véron mit einer Fokussierung auf die Situation in Irland; Politische Konstellationen, die familienspezifischen Probleme (Verhütung, Scheidung und Abtreibung) und daraus folgende soziale Ungleichgewichte mit Einfluss auf familiäre und geschlechterspezifische Situationen. Bereits seit Jahrhunderten von Jahren, kämpfen Frauen für gleiches Recht gegenüber den Männern, oder zumindest für mehr eigene Rechte. Allerdings sind diese Anstrengungen sehr anspruchsvoll und führen 'nur' langsam zu Veränderungen des Status der Frauen in der Gesellschaft verschiedenster Kulturen. Im Folgenden soll ein kleiner Überblick über den Stand der Dinge bezüglich der Frauenrechte eingegangen werden, um dann anschliessend den Fokus auf Irland zu richten. Als Ausgangspunkt für die Betrachtung der unterschiedlichen Positionen und Rechte der Frauen, soll die Behauptung von Rosalind Miles dargestellt werden, die in "The Women’s History of the World"1 davon ausgeht, dass die Frauen früher einmal, den Männern eine überlegene Stellung bzw. Status2 eingenommen haben, als dies heute der Fall ist. Als Argumentation führt sie dabei ins Feld, dass die Frauen beispielsweise identische Chromosome besitzen oder die Eizelle viel grösser als das Sperma sei. Demnach könne man die Frau ohne weiteres – nach der Meinung von Rosalind Miles – als 'ersteres Geschlecht' betrachten (und damit implizit als prädominantes). Nicht umsonst würden die Frauen (auch heute teilweise noch) verehrt oder gar 'vergöttert' und auch der 'Mutterkult'3 sei heute noch sehr verbreitet. Als die Männer mit ihrem Aufstieg ("montée du phallus") die Macht an sich gerissen hätten, wäre aus der matriarchalischen Gesellschaft eine patriarchale geworden. Obwohl diese Vorherrschaft der Frauen in einer früheren Zeit 1 2 3 Miles, Rosalind: The Women’s History of the World. Perennial Library, Harper and Row, 1999 Status = Lage, Position einer Person, die sie im Hinblick auf bestimmte sozial relevante Merkmale im Verhältnis zu anderen Personen einer Gesellschaft einnimmt. (Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1994. Wo eine Frau, die ein Baby oder ein Kind hat, der kinderlosen Frau nach Gesichtspunkten sozialer Wertschätzung 'bevorzugt' wird Februar 2004 | Seite 1 von 8 Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. umstritten ist, weisen gewisse Indizien tatsächlich in eine solche Richtung, so beispielsweise der "code d’Hammourabi" welcher den Frauen in einer Periode der Vorchristenzeit einen hohen Stellenwert einräumte. Ein anderes Beispiel ist das alte Ägypten, wo das Gesetz die Gleichheit von Frauen und Männern anerkannt hat. Wie die Kräfteverteilung zwischen Mann und Frau in den früheren Zeiten auch gewesen ist, die letzten Jahrhunderte waren – aus Sicht des Geschlechterkampfes4 – geprägt von den Anstrengungen der Frauen, ihren eigenen Status in der Gesellschaft und ihre soziale Wertschätzung zu verbessern. Doch der Kampf der Frauen (selbst mit der Unterstützung einzelner Männer) gegen die Patriarchie in der Gesellschaft erweist sich als schwierig. So versucht zum Beispiel Poullain de La Barre, ein Doktor in Philosophie, im 18. Jahrhundert sich für die Sache der Frauen einzusetzen und die Gleichheit der Geschlechter in den Vordergrund zu stellen - doch ohne grossen Erfolg; die französische Revolution zeigt sich an der Geschlechterfrage nicht interessiert. Eine spannende Parallele bei den Anstrengungen nach der Anerkennung der Rechte der Frauen zeigt sich mit der oftmals gleichzeitigen Verteidigung oder besser gesagt Unterstützung der 'Unterdrückten'. Ein Erklärungsversuch dieses Zusammenhangs (sofern denn tatsächlich ein Zusammenhang besteht) kann möglicherweise mit dem Beispiel von Flora Tristan gegeben werden, welche sich der Trennung zwischen der 'Sache der Frau'5 und der 'Sache der Arbeiter'6 strikt widersetzt. So argumentiert sie, dass der am stärksten unterdrückten Mann, immer noch jemanden weiteres zum unterdrücken hat, nämlich seine Frau. Demnach wäre die Frau die Proletarierin, des Proletariaten selbst7. Eine der wichtigsten Forderungen der Frauen ist die Gleichberechtigung im Bezug der Ausbildung. Diese Forderung ist allerdings sehr schwierig durchzusetzen, wie dies unterschiedliche Beispiele zeigen8. Stellt man sich die Frage, wieso diese Forderungen der Frauen sich nur sehr schwierig und langsam durchsetzen können, finden sich hauptsächlich zwei Erklärungen. So zeigt sich ein sehr starkes Spannungsfeld zwischen den Forderungen und Ansprüchen der Frauen nach Gleichheit oder Freiheit und den starken Polen der Tradition oder der Religion. Im Folgenden wird nun das Beispiel von Irland aufgezeigt, wo sich die Forderungen der Frauen dem starken Einfluss von Tradition bzw. Religion ausgesetzt sehen und deshalb einen sehr schweren Stand bezüglich ihrer Realisierung haben. 4 5 6 7 8 Geschlechterkampf nicht im Sinne gewaltgeprägter Auseinandersetzungen, sondern verstanden als Versuch, die gleichen Rechte für beide Geschlechter zu erreichen Namentlich dem Kampf für die Gleichberechtigung Dem Kampf für bessere Arbeitsverhältnisse bzw. faire Arbeitsbedingungen und Entlöhnung Vgl. mit Laneyrie-Dagen, Nadeije; Marseille, Jacques (Hrsg.): Les Grands Événements de l’histoire des femmes. Ein Beispiel, dasjenige von Frankreich, zeigt wie sehr die Obrigkeit bzw. die Behörden bereits das Recht auf Ausbildung der Frauen erschwerten, wenn nicht sogar unmöglich machten: So war Napoleon einer "éducation publique des femmes" feindlich gesinnt und obwohl ein Gesetz von 1833 (die "loi Guizot") die Primarschul-Ausbildung geregelt hat, waren die Mädchen davon nicht betroffen. Februar 2004 | Seite 2 von 8 Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. Das Beispiel von Irland, zeigt relativ gut den Einfluss der Religion auf die Rechte bzw. den Status den Frauen auf. Bis vor nicht allzu langer Zeit (genauer gesagt bis 1985!) hat die Regierung von Irland, den Import und den Verkauf von Verhütungsmitteln verboten. Was die Scheidung angeht, war diese sogar bis 1995 verboten. Diese sehr restriktive Handhabung der familienspezifischen Angelegenheiten – verbunden der sozialen Stellung der Frauen – hängt mit der starken Position der katholischen Kirche in Irland zusammen, welche die Familienplanung in erster Linie auf die Heirat zurückführt. Erst nachdem Frauen der "Irish Women United" 1971 in einer medial begleiteten Aktion eine ganze Ladung von Präservativen und Antibaby-Pillen eingeführt und beim Zoll in Dublin aufgehalten wurden, kam der erste Stein ins Rollen, der letztlich die Aufhebung des Verbots zur Folge hatte. Zwei Jahre danach hat ein verheiratetes Paar das Verbot des Imports von Verhütungsmittel juristisch angefochten, weil das partnerschaftliche Zusammenleben privaten Charakter aufweise und deshalb nicht von der Regierung auf indirektem Weg, mit einem solchen Verbot beeinflusst werden sollte. Daraufhin bildeten sich langsam Familienplanungszentren (durch Spenden finanziert), die auch Verhütungsmittel verteilten (deren Verkauf immer noch verboten war). Erst im Jahre 1985 wurde der Verkauf von Verhütungsmittel an über 18 jährige mit einem Entscheid durch das Parlament akzeptiert. Andere Einflüsse haben die Frage nach der Sexualität und Verhütung zusätzlich angeheizt, so beispielsweise die Aids-Epidemie. Letztlich wurde das Mindestalter für den Kauf von Verhütungsmittel 1993 auf 17 Jahre festgesetzt, unter anderem aus Angst seitens der Kirche, mit einem tieferen Mindestalter für den Kauf der Verhütungsmittel eine frühreife Sexualität zu fördern. Die Frage nach der Abtreibung ist in Irland ebenfalls sehr umstritten. Als Irland eine britische Kolonie war, wurde die Abtreibung für illegal9 erklärt. In den 80er Jahren versuchten christliche Organisationen gar mit dem Mittel des Referendums, das Recht auf Leben für Babys, die im Begriff sind geboren zu werden, in der Verfassung zu verankern. Dieses Referendum wurde dann tatsächlich auch mit einer sehr grossen Mehrheit angenommen. Aber als dann 1992 das Gericht einem 15 jährigen Mädchen verboten hat, das Land für eine Abtreibung (aus einer Schwangerschaft, die als Folge einer Vergewaltigung entstand) zu verlassen, führte dies zu einer grossen Aufruhr der irischen Bevölkerung. Auf Berufung hin, legte das Gericht fest, dass nur im Fall eines 'reellen und substantiellen Risikos' (wobei dieses Risiko vom Gericht selbst eingeschätzt wird) des Lebens einer schwangeren Frau, eine Abtreibung auf irischem Territorium erfolgen darf. Die Reaktion der Bevölkerung auf diesen Affront gegenüber schwangeren Frauen liess nicht lange auf sich warten, denn 1993 wurde ein erneutes Referendum lanciert, diesmal mit mehreren Änderungsanträgen bezüglich der Verfassung, wobei ein Antrag den Artikel betreffend der Abtreibung dahingehend geändert werden sollte, dass eine Abtreibung in spezifischen Ausnahmefällen ermöglicht werde. Der Antrag wurde abgelehnt und obwohl 9 Der "Offences Against the Person Act" von 1861 sieht vor, dass Personen, welche sich abtreiben lassen oder bei einer Abtreibung behilflich sind, mit Gefängnis bestraft werden. Februar 2004 | Seite 3 von 8 Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. die irische Regierung eine neue Gesetzgebung versprach, ist diese bis heute noch eingesetzt worden. Was die Frage der Legalität bezüglich der Scheidung betrifft, so ist diese in Irland, dank einem Referendum (welches sich nur mit einer kleinen Mehrheit durchsetzen konnte) erst seit 1995 möglich. Was haben Verhütung, Abtreibung und die Scheidung - nach irischem Vorbild - nun konkret für einen Einfluss auf die Stellung der Frau (nicht nur spezifisch für den Fall irischer Frauen, sondern generell für die Stellung der Frau in der Gesellschaft)? Verbot von Verhütungsmittel Der Einschnitt in die partnerschaftliche Familienplanung durch das Verbot von Verhütungsmitteln hat letztlich nicht zu unterschätzende Konsequenzen für die Frau. Kommt es nämlich zur ungewollten Schwangerschaft, wird die Frau aus ihrem Umfeld gerissen und muss für das Baby sorgen. Damit ist sie implizit immer der potentiellen Gefahr ausgesetzt, plötzlich nicht mehr ihren geplanten Tätigkeiten nachgehen zu können, da sie ja 'plötzlich' schwanger werden könnten. Damit wird die ganze Last und alle Konsequenzen einer eventuellen ungewollte Schwangerschaft auf die Schultern der Frau gelegt, was sie unattraktiv für wirtschaftliche Führungspositionen macht (wo Verfügbarkeit und hundertprozentiger Einsatz das Mass aller Dinge ist). Zudem wird mit dem Verbot der Verhütungsmittel, die Koordination und die Verhinderung von allfälligen Schwangerschaften - nach der Methode des Einsprungzykluses - ganz in die Hände der Frauen gelegt (ausser der Mann beteiligt sich an der Berechnung und Dokumentation des Menstruationzykluses, was aber nicht sehr realistisch ist). Fazit: Die Frau als Arbeitskraft wird zum Risikofaktor, da diese Aufgrund einer plötzlichen Schwangerschaft 'Arbeitsunfähig' werden könnte, und damit Kosten sowie Aufwand verursacht. Damit verbunden ist notabene auch die zögerlichere Motivation von Eltern, Ehepartnern und evtl. den betroffenen Frauen selbst, tiefergehende und langwierige Ausbildungen in Angriff zu nehmen, da diese ebenfalls durch eine plötzlich Schwangerschaft gefährdet sind, und zudem die 'Früchte' der Ausbildung in Form einer Kaderstelle kaum eingefahren werden können, weil – wie bereits weiter oben erwähnt – die Kaderstellen aus dieser implizitem Risiko der Arbeitsunfähigkeit kaum an Frauen vergeben werden. Verbot der Abtreibung Hängt mit dem vorangehenden Problem zusammen. Falls mal wirklich eine ungewollte Schwangerschaft eintreten sollte, hat die Frau keine Chance diese zu 'umgehen', da die Abtreibung verboten ist. Es passiert damit eine 'Verdammung in das Schicksal der Hausfrau' zur Erfüllung der Mutterpflichten, sobald die Schwangerschaft erst einmal eingetreten ist. Dies kommt einer Stigmatisierung gleich. Ein ganz anderes, aber nicht zu unterschätzendes Problem ist auch die Situation, wo einer Schwangerschaft ein krimineller Akt vorangeht, beispielsweise bei einer Vergewaltigung mit anschliessender Schwangerschaft. Die Frau wird in doppeltem Sinne betraft, da sie nicht nur die Vergewaltigung selbst erleiden musste, sondern auch noch die Folge daraus, Februar 2004 | Seite 4 von 8 Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. nämlich die Schwangerschaft bzw. das Baby. Damit lässt sich zur Stigmatisierung der Frauen durch das Verbot der Abtreibung auch noch eine zweite Gefahr erahnen, nämlich it, dass sie in 'kriminelles' Milieu abdriften könnte. Dies in dem Fall, wenn sich eine Frau entschliessen sollte, eine ungewollte Schwangerschaft (trotz dem Verbot) abzutreiben und damit den illegalen Weg beschreiten muss. Fazit: Den Frauen wird mit dem Verbot der Abtreibung die Rechte beschnitten, um gleichzeitig zusätzliche Pflichten auferlegt zu bekommen (wie z.B. die Mutterpflicht). Es passiert zudem – wie wir gesehen haben - eine Stigmatisierung, vor allem wenn das Baby ungewollt ist (oder es aus einem 'Unfall' heraus entstanden ist). Verbot der Scheidung Das Verbot der Scheidung trifft zwar beide Geschlechter gleichermassen, doch gibt es Umstände, unter welchen dies für die Frau weitaus unangenehmere Folgen haben kann. Nimmt man den Fall der Polygamie, so hat der Mann die Gelegenheit mehrere Frauen zu heiraten. Selbst wenn auch er sich nicht scheiden durfte, kann er doch 'immer wieder' eine neue Frau heiraten. Polygamie im umgekehrten Sinn, wo die Frau mehrere Männer haben darf, gibt es hingegen praktisch nicht. Ein weiteres Problem, welches mit dem Verbot der Scheidung bzw. der Heirat zusammenhängt, ist die Tatsache, dass in gewissen Kulturen die Frauen immer noch zwangsverheiratet werden. In einem solchen Fall kann die Konstellation eintreten, dass eine Frau z.B. einen sehr gewalttätigen Mann heiraten muss, und danach keine Chance mehr hat, sich von diesem scheiden zu lassen. Fazit: Das Verbot der Scheidung schränkt allgemein die Individuen in ihren Grundrechten ein. Wie erläutert wurde, trifft es die die Frauen dabei stärker, als die Männer. Fallbeispiel Südtürkei: Unterdrückung der Frauenrechte im Namen der Ehre Die 'Ehre der Familie' ist zwar einerseits ein sehr dehnbarer Begriff aber andererseits auch manchmal das einzige, was den Armen der ärmsten Familien der Südtürkei übrig bleibt. Als Illustration dieses Begriffes der Familienehre gibt es viele verschiedene Beispiele. Ein solches, namentlich der Mord an einem 15jährige Mädchen, ausgeführt durch ihren eigenen Bruder (in der Stadt Diyarbakir im kurdischen Süden) soll als Beispiel für den sozialen Missstand der Mädchen bzw. Frauen dargestellt und analysiert werden. (Situationskarte nächste Seite) Februar 2004 | Seite 5 von 8 Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. Übersicht: Türkei und Diyarbakir Das besagte Beispiel begann mit der Vergewaltigung durch einen Verwandten der Familie. Als das Mädchen daraufhin schwanger wurde, beschloss sie (trotz der Kenntnis ihrer auswegslosen Situation) die Vergewaltigung bei der Polizei anzuzeigen; erfolglos. Als sie im fünften Monat schwanger war, und der Vergewaltiger zum wiederholten Male den Vorschlag der Familie des vergewaltigten Mädchens ausschlug, das Mädchen zu heiraten, beschloss der 19jährige Bruder des Mädchens, auf die Ehrverletzung zu reagieren, indem er seine Schwester - welche nach Ansicht der Familie die Schande über ihre Familiengemeinschaft gebracht hatte - tötete. Bereits hier zeigt sich erstmalig die soziale Diffamierung der Frauen auf. Obwohl das Mädchen keinerlei Schuld an ihren Los der Schwangerschaft hatte und dazu erst noch einer – in einem westlichen Verständnis kriminellen Akt – Vergewaltigung unterliegen musste, verurteilt man sie als Verursacherin der Schande. So schrecklich dieses Beispiel auch anmuten mag, so exemplarisch scheint es für die Südtürkei, spezieller des "Armenhauses Kurdistans"10 zu sein. Untersucht man die Umstände der Familie und das sozialen Umfeld in welcher sie sich befindet, so zeichnen sich gewisse Indizien ab, die auf klassische Elemente der Problematik betreffend Missständen in der Gleichberechtigung zwischen der Geschlechter hinweisen. Der Vater des Mädchens ist Alkoholiker ohne einer festen Arbeit nachzugehen und die Mutter hält die Familie nur ganz knapp über Wasser, indem sie täglich gegen schlechtes Entgelt bei anderen Menschen putzen geht. Die ganze Familie mit insgesamt acht Kindern lebt in einem einzigen Zimmer in der völlig heruntergekommenen Altstadt von Diyarbakir. Lesen und Schreiben kann niemand in der Familie, Arztbesuche kann sich die Familie nicht leisten. Es fehlen also nicht nur gewisse soziale Grundwerte wie wir sie aus den westlichen Zivilisationen kennen und an denen wir uns orientieren (wie z.B. soziale Annerkennung durch ein geregeltes Einkommen, Statussymbole wie Haus, Auto etc. oder soziales Netzwerk, welches nicht nur aus Personen des Verwandtenkreises besteh u.a.) sondern auch die Grundvoraussetzungen für ein Leben, in welchem die Grundbedürfnisse gestillt sind und es damit erlauben, dass sich die Aufmerksamkeit anderen Bereichen wie eben z.B. der Auseinandersetzung mit der Suche nach Arbeit etc. angenommen werden können. 10 Facts 3/2004, S. 81 Februar 2004 | Seite 6 von 8 Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. Die einzigen 'Werte' an die sich die Familie klammern kann, sind der Glauben an die Religion sowie ihre Vorstellung von Ehre, andere Fixpunkte11 fehlen. Es sind aber nicht bloss die familiären Umstände, die ein Überleben der Familie schwierig machen und unter welchen – nicht nur die Frauen – leiden. Das Problem des Ehrenmordes ist kulturell und gesellschaftlich so tief verankert, dass es praktisch schon als ein gesellschaftlich legitimiertes Element anerkannt wird. Dies lässt sich an drei verschiedenen Punkten erkennen: Erstens; Einfluss der Tradition (geschichtlich gewachsen): Die Region der Südtürkei ist geprägt von Gewalt und damit auch von Macht und Unterdrückung. Die Geschichte hat viele Konfrontationen hervorgebracht: "Römer gegen Seldschuken, Perser gegen 12 Osmanen, Kurden gegen Türken" . Diese stets vorherrschende Gewalt hat dazu geführt, dass Gewalt schon fast ihren festen Platz im normalen Leben eingenommen hat; selbst in der heutigen Zeit artet ein Streit immer noch sehr schnell in ein Handgemenge oder Gewalt aus. Damit verbunden ist eine Art 'Gewaltspirale' die ihre Auswirkung bis ins familiäre Leben ausstrahlen kann. Nicht selten ist die Frau, welche vom Mann oftmals sehr stark untergeordnet wird, ein Ziel der Gewalt (vor allem, wenn zusätzlich eine Abhängigkeit wie z.B. die Alkoholabhängigkeit des Mannes im Spiel ist). Wie bereits im Zusammenhang mit Irland erläutert, kann die Argumentation von Flora Tristan auch hier angewendet werden. Der am stärksten unterdrückte oder sozial am wenigsten angesehene Mann, kann immer noch eine weitere Person unterdrücken, seine Frau. Durch diese Gewaltanwendung kann der Mann ein Machtgefühl ausleben – und hält damit die Gewaltspirale aufrecht. Zweitens; Gesellschaftlich legitimierte sowie staatlich kaum geahndete Gewalt: Die Einstellung gegenüber der Frau ist in der türkischen Gesellschaft sehr einseitig. Mit anderen Worten, besitzt die Frau eine sehr niedrige soziale Stellung, wodurch ihr praktisch keine Rechte, geschweige eine Gleichberechtigung anerkannt wird. Gefördert wird dies implizit durch den (türkischen) Staat, welcher bei Ehrenmorden einen Strafnachlass bis zu zwei Dritteln ermöglicht. Kombiniert mit sozialen Missständen, wie einem sehr tiefen Durchschnittseinkommen (das Durchschnittseinkommen in der Türkei pro Kopf und Jahr liegt unter tausend Dollar) und einer schlechten Bildung (nur jeder zweite hat eine Schule besucht), existiert auch kaum Potential oder ein treibende Kraft, welche kurzfristig etwas an diesen Missständen ändern könnte. Drittens; Religiös-moralische Werte: Die moralisch-religiöse Einstellung tendiert dahingehend, die Frauen als Besitz oder untergeordnetes Wesen zu taxieren, welches die höchsten Ansprüche erfüllen muss. Andernfalls wird sie umgehend als 'wertlos' betrachtet 11 12 Fixpunkte verstanden als Orientierungspunkte, die der Familie erlauben, ihr Leben nach gewissen sinngebenden Elementen zu verfolgen und auszurichten. In Gruppen, wo die Strukturierung nur von sehr schwachen sozialen Einbindungen gekennzeichnet sind, übernehmen dann oft universale Sinngebungsfaktoren wie z.B. die Religion diese Aufgabe. Facts 3/2004, S. 83 Februar 2004 | Seite 7 von 8 Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei. oder man geht davon aus, sie brächte Schande über die ganze Familie. Die Ehre der gesamten Familie hängt oftmals von der Jungfräulichkeit der Mädchen und der Keuschheit der verheirateten Frauen ab. Zudem ist es normal, junge Mädchen zu verheiraten. Und wenn einmal eine Ehrverletzung passiert, gibt es keine moralische oder religiöse Grenzen, welche die betroffenen Familien daran hindern würden, ein minderjähriges Familienmitglied mit der Tötung zu beauftragen, damit dieses durch das tiefe Alter einer allfälligen Haftstrafe entgehen kann. Zwar scheint es, dass die patriarchale Moral Risse bekommen hat und sich insbesondere in Kurdistan die Frauen emanzipieren um sich gegen die Unterdrückung auflehnen. So gibt es auch in Diyarbakir ein Kinocenter und eine moderne Einkaufspassage wo sich die wohlhabenden und westlich geprägten jungen Frauen treffen, ohne sich über die Unterdrückung sorgen machen zu müssen. Doch dieser sehr starke Gegensatz erinnert an den 'Gap'13 der zwischen – dem oftmals sehr nahe beieinander liegenden – 'Reich' und 'Arm' liegt. Natürlich ist dieses Beispiel des Ehrenmordes an einer jungen, 15jährigen Frau sehr krass und ist nicht unbedingt charakterisierendes Beispiel für die ganze Südtürkei. Tatsache ist aber, dass in gewissen Bereichen der türkischen und kurdischen Gesellschaft Missstände vorherrschen, gerade im Zusammenhang mit den fehlenden Rechten der Frau. Bevor aber zu sehr mit einem moralisierenden Zeigefinger auf diese 'fremdartigen' und weit weg scheinenden Missstände gezeigt wird und man andere Kulturen kritisiert, darf nicht vergessen werden, dass auch die Schweiz in Gleichberechtigungs-Fragen einen Nachholbedarf hat. Beispiele sind einerseits die sehr späte Einführung des eidgenössischen Frauenstimmrechtes (welches erst seit 197114 Bestand hat), oder andererseits die nicht ganz ausgeglichene Vertretung der Frauen in der Wirtschaft oder den politischen Ämtern (vgl. mit der aktuellen Zusammensetzung des Bundesrates, mit nur einer einzigen Frau). Fazit: Es ist sehr wichtig, auf die krassen, globalen Missstände im Bereich der Frauenunterdrückung hinzuweisen, gleichzeitig dürfen aber die eigenen Probleme und Missstände nicht vergessen werden. Zudem ist das Bewusstsein wichtig, dass diese Missstände in Gleichberechtigungsfragen praktisch immer mit Themen der Tradition und der Religion zusammenhängen, die sehr heikel sind und praktisch immer einen sehr langen Entwicklungs- bzw. Änderungsprozess beinhalten. 13 14 Lücke, Abgrund; verstanden als Indikator eines krassen Gegensatzes Quelle: http://www.romankoch.ch/cgi-bin/gds.asp?aktion=liste&objekt=geschichte (Stand: 16. Februar 2004) Februar 2004 | Seite 8 von 8