Essstörungen und Suchterkrankungen Ein integrierter Behandlungsansatz Sylvia Beisel salus klinik Lindow salus klinik Lindow Psychosomatik (72 Betten): Angststörungen Depression Essstörungen Somatoforme Störungen Persönlichkeitsstörung Schädlicher Alkoholkonsum Suchtabteilung (181 Betten): Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit Nikotinabhängigkeit Pathologisches Glücksspiel Essstörungen und Sucht Essstörungen Subtypen • Anorexia nervosa (Untergewicht, fakultativ Essanfälle und gegensteuernde Maßnahmen) • Bulimia nervosa (Essanfälle, gegensteuernde Maßnahmen, kein Untergewicht) • Binge-Eating-Störung (Essanfälle, keine konsequenten gegensteuernden Maßnahmen, kein Untergewicht, i.d.R. Übergewicht) Störungen durch Substanzkonsum • Alkoholabhängigkeit • Abhängigkeitssyndrom durch multiplen Substanzgebrauch – Reihenfolge nach Häufigkeit: Cannabis, Kokain, Amphetamine, Speed, Ecxtasy, Sedativa • Nikotinabhängigkeit • Schädlicher Gebrauch von Alkohol Fallvignette Frau A: 28j. Studentin der Biochemie, seit 3 Jahren in fester Partnerschaft, eine Tochter (7 Jahre). Sie leidet seit 1992 an einer BN, mit einmal täglich HHA und selbstinduziertem E, 159 cm, 55 Kg, BMI 21,9. Früher gelegentlich Laxanzieneinnahme, aktuell verneint. Sie leide unter Müdigkeit, nachlassender Leistungsfähigkeit und Konzentrationsfähigkeit, Angst vor gemeinsamer Mahlzeiteneinnahme, Gefühl der Wertlosigkeit, Kreislaufproblemen. Sie sei immer häufiger gereizt, die Stimmung schlage in aggressive Stimmungen um, es komme dadurch zu Belastungen in der Partnerschaft. Ausgeprägte Körperschemastörung, Angst vor weiterer Gewichtszunahme. Keine Suizidversuche. 4 Vorbehandlungen wegen Essstörung (3 Krankenhausbehandlungen zu je 2 bzw. 3 Wochen, 1 ambulante Therapie) Seit 1 Jahr verstärkter Alkoholkonsum von 1 Liter Wein an 4 Tagen die Woche (90g reiner Alkohol pro Trinktag). Letzter Konsum am Tag vor der Aufnahme, kommt mit 2,2 Promille zur Behandlung. Verneint das Vorliegen von Entzugssymptomen, bisher keine Entzugs- oder Entwöhnungsbehandlung. Erhöhte Leberwerte, sonographisch Fettleber diagnostiziert. Forschungsstand Essstörungen und komorbide Suchterkrankungen Studienergebnisse weisen darauf hin, dass... • Komorbiditätsrate bei Essstörungen mit Substanzabhängigkeit/–missbrauch zwischen 10 und 30 % liegt • Komorbiditätsrate bei Substanzabhängigkeit/-missbrauch mit Essstörungen zwischen 20 und 30% liegt • tendenziell eher bei Pat. mit BN, BED oder ANBN Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit als bei AN rest. Typus • Missbrauch von Laxantien oder anderen Medikamenten bei Essstörungen bei 20 –50% vorliegen • sich Hinweise auf mehr Probleme mit Impulsivität ergeben (einschließlich Stehlen, suizidales Verhalten, wechselnde sex. Kontakte) Studienergebnisse weisen, darauf hin, dass... • Substanzmissbrauchsprobleme bei Essstörungen häufig mit massiven somatischen Folgen, längerer Behandlungsdauer, geringerer Compliance bzgl. amb. Weiterbehandlung einher gehen und möglicherweise einen Indikator für den Schweregrad der Essstörung darstellen • Substanzmissbrauch als prognostisch ungünstiger Faktor für den Verlauf einer BN gilt • Essstörungssymptomatik häufiger der Substanzmissbrauchsstörungen vorausgeht • Familienangehörige von Essgestörten höhere Raten von Substanzmissbrauchsproblemen aufweisen und elterlicher Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit ein Risikofaktor für die Entwicklung einer BN sein könnte Essstörungen als Suchtvariante? • Im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland geläufigeres Modell • Was spricht dafür? – Ähnlichkeit der Symptomatik (Toleranzentwicklung, Entzugssymptomatik, Fortsetzung des Verhaltens trotz schädlicher Folgen) • Was spricht dagegen? – – – – Was ist das Suchtmittel: Essen, Hungern, Erbrechen? Abstinenz beim Essen nicht möglich Rauschhafte Qualität des „Suchtstoffes“ fehlt Wird im DSM-IV / ICD-10 nicht den Abhängigkeitserkrankungen zugeordnet sondern als eigenständiges Störungsbild gesehen Empfehlungen von ExpertInnen • Bei dem Vorliegen erheblichen Substanzmissbrauchs oder –abhängigkeit sollte zunächst die komorbide Störung (vorrangig vor der Essstörung) behandelt werden! (Jacobi & de Zwaan, 2006) • Die Behandlung der Essstörung sollte zumindest eine Tertiärprävention (Rückfallprophylaxe) der Abhängigkeitsproblematik beinhalten! (Schweiger et al. 2003) • Bei Substanzabhängigkeit ist das Durchlaufen eines einschlägigen Therapieprogramms (Lindenmeyer, 2002) angezeigt! (Schweiger et al. 2003) • Wenn die Behandlungsstätte Erfahrung mit beiden Störungsbildern hat, sollte bei Abhängigkeit und Essstörungen eine gleichzeitige Behandlung erfolgen! (APA, 2006) Praxis? • Empfehlungen spiegeln einerseits gängige Praxis – Erheblicher Substanzmissbrauch oder –abhängigkeit gilt als Ausschlusskriterium für die Aufnahme einer Essstörungspatientin in eine psychosomatische Fachklinik • Tragen der traditionellen Trennung von Suchtbehandlung und psychosomatischer Behandlung Rechnung – Behandlung von Alkoholproblemen hat Sonderstellung im Gesundheitswesen – Eigenes Behandlungssystem von Fachkliniken u. Beratungsstellen, getragen von Rentenversicherung und Kommunen – Nur die Akutbehandlung von körperl. Folgeproblemen erfolgt zu Lasten der Krankenkassen – Alkoholismus erst seit 1968 als Krankheit anerkannt • Empfehlungen gilt es noch zu überprüfen Fazit • Empfehlungen für die Praxis sind uneinheitlich • Kontrollierte Studien zur Frage des Behandlungskonzepts bei Essstörungen und Substanzmissbrauch/-abhängigkeit fehlen • Gängige Behandlungspraxis bei PatientInnen mit Essstörungen und Suchtproblemen – entweder Essstörungsbehandlung oder Suchtbehandlung könnte eher Folge des dualen Versorgungssystems darstellen Einschränkungen • meist nur ungenügende Differenzierung zwischen Abhängigkeit und Missbrauch • Dadurch geringe Vergleichbarkeit und begrenzte Aussagefähigkeit der Studien • Wahl der Substanzen hat Auswirkung auf die weiteren Konsequenzen, bleibt in den Studien meist unberücksichtigt (Alkohol, Drogen, Nikotin, Medikamente) • Definition Behandlungserfolg bei Essstörungen – mehr als das nicht mehr Vorhandensein einer Störung? Was spricht für gemeinsame Behandlung? 1 • Hohe Komorbidität von Essstörungen und Substanzproblemen • größere Gefährdung (höheres Morbiditäts-und Mortalitätsrisiko) • Schlechterer Behandlungserfolg • Multimorbide Subgruppe, die sich wahrscheinlich durch Chronifizierung, vielfache Inanspruchnahme therapeutischer Ressourcen, höheres Ausmaß an Rückfällen, schlechteres allg. Funktionsniveau und weitreichende psycho-soziale Folgen auszeichnet Was spricht für gemeinsame Behandlung? 2 • Wechselwirkung zwischen der Einnahme von Substanzen und der Essstörungssymptomatik • Funktionalität des Substanzgebrauchs im Rahmen der Essstörung zur Gefühlsregulierung und umgekehrt • präventive Gesichtspunkte (Risiko der Entwicklung eines Suchtproblems bei PatientInnen mit Essstörungen hoch, beide Störungen durch hohes RF Risiko gekennzeichnet, erhöhtes Risiko, an indirekten Substanz bezogenen Folgen zu leiden) • Spezifität der Suchtbehandlung Wechselwirkung Essstörung und Suchtmittel (1) • Amphetamine (Appetitzügler), Ecstasy: – antriebssteigernd, aktiviert aggressives Verhalten, Brechreiz, starke Appetitlosigkeit • Kokain: – Appetitzügelnd und antriebssteigernd, gesteigertes Selbstvertrauen, führt zu Störungen der Hunger- und Sättigungsregulierung, bei Abhängigkeit Verlangen nach Essen • Alkohol: – Spannungsreduzierung, häufig im Wechsel mit EssBrechanfällen, bei restriktivem Essverhalten rasche körperliche Folgeschäden (Leberzirrhose), Appetitsteigernd, Gefahr des Kontrollverlustes beim Essen dadurch größer Wechselwirkung Essstörungen und Suchtmittel (2) • Benzodiazepine: – Angstreduzierend, Euphorisierung, Entspannung • Nikotin: – Appetit mindernd • Cannabis: – entspannend, beruhigend, stimmungsaufhellend, gesteigerte Kontaktfreudigkeit, Appetitsteigerung, Gefahr von Heißhungeranfällen und Kontrollverlust gesteigert Suchtmittel zur Gefühlsregulierung • Je nach Suchtmittel kommt es zur Verstärkung oder Abschwächung vorherrschender Stimmungen – Es kann zur verstärkter Aggressivität, Depressivität, Euphorie oder Benommenheit kommen – Es kann Rückzugsverhalten oder Kontaktaufnahme fördern – Es kann sexuelles Verlangen fördern – Es kann zu gesteigertem Selbstvertrauen kommen • ->weiterer Substanzkonsum hat unmittelbare Auswirkung auf die Behandlung typischer Problembereiche von Patientinnen mit Essstörungen Modell einer integrierten Behandlung von Essstörungen und Suchterkrankungen • Bei Vorliegen einer Essstörung mit Substanzabhängigkeit Zuweisung in die Suchtabteilung – Zuweisung in eine Gruppe für Frauen mit Essstörungen – Zuweisung in eine gemischtgeschlechtliche Gruppe mit Essstörungen • Bei Vorliegen einer Essstörung mit Substanzmissbrauch Zuweisung in die psychosomatische Abteilung Die Behandlung der Alkoholabhängigkeit erfolgt nach den gängigen Prinzipien einschlägiger Manuale mit dem besonderem Augenmerk auf der Abstinenzentwicklung Die Behandlung des Alkoholmissbrauchs erfolgt nach den Prinzipien des Punktabstinenzkonzepts Die Therapie der Essstörung ist nach zwei Schwerpunkten ausgerichtet • Zwei grundlegende Behandlungsschwerpunkte : – Ernährungsmanagement – Bearbeitung weiterer Problembereiche Hierarchie der Therapieziele in der Behandlung von PatientInnen mit Essstörungen und Sucht • Abwendung akuter Lebensgefahr • Reduzierung therapiegefährdender Verhaltensweisen (Suizidandrohungen, Selbstverletzungen, Nichteinhalten von Absprachen) • Abstinenz/ Punktabstinenz • Wiederaufbau eines angemessenen Essverhaltens • Modifikation dysfunktionaler Schemata im Bereich Figur, Gewicht, Ernährung • Aufbau von Verhaltensfertigkeiten • Spezifische Behandlung affektiver Störungen • Spezifische Behandlung posttraumatischer Störungen • Spezifische Behandlung von Persönlichkeitsstörungen • Unterstützung beim Erreichen individueller Ziele Spezifische Therapieelemente in der Behandlung von essgestörten (Sucht-)PatientInnen • Einzeltherapie • Bezugsgruppe Essstörungen und Sucht • Therapeutisch begleiteter Mahlzeitentisch • Lehrküche • Körperbildtherapie Bezugsgruppe Essstörungen • 4mal pro Woche mit folgenden Modulen: – Psychoedukation – Motivationsaufbau – Kognitive Therapie – Körperbildtherapie – Rückfallprophylaxe – Sowie wöchentliche Essprotokollbesprechung • Psychoedukation – Folgen von Mangelernährung/Überernährung – Folgen von gezügeltem Essverhalten und Erbrechen – Gewichtsregulierung („Set-point“) – Wechselwirkung Substanzgebrauch, Essverhalten und Stimmung Intensität der Konfrontation •Körperbildtherapie Graduierte In -Vivo Exposition: •Seilübungen •Körperumrisszeichnungen •Körpervideo •Spiegelkonfrontation Körperbild (seitlich) Therapeutisch begleiteter Mahlzeitentisch • Eine der wichtigsten Interventionen im Ernährungsmanagement, denn: – große Ängste vor dem Essen – Vermeidung sozialer Kontrolle – Verlust der Mahlzeitenstruktur – Vermeidung bestimmter Lebensmittel – Mangelndes Wissen über ausreichende/ausgewogene Ernährung • ZIEL: Unterstützung beim Aufbau eines geregelten Essverhaltens Lehrküche • Expositionstraining Einkaufen • Expositionstraining Kochen Weitere Maßnahmen • • • • • • • • • Bewegungs- und Entspannungstherapie Werktherapie Teilhabe bezogene Maßnahmen Einbeziehung des sozialen Umfeldes Paar- und/oder Familiengespräche Partnerseminare Therapeutische Heimfahrten Selbsthilfegruppenbesuche Nachsorgevorbereitung Bewegungstherapie • Tai Chi Teilhabebezogene Maßnahmen • EDV Training • Bewerbungstraining • Externe Praktika Erste Erfahrungen mit der integrierten Essstörungs- und Suchtbehandlung Stichprobenbeschreibung der bisher behandelten PatientInnen mit Essstörung und Substanzabhängigkeit • N = 51 TN (davon 47 Frauen, 4 Männer) • Diagnosen: – Alkoholabhängigkeit N = 51 – BN zusätzlich N = 36 (71 %) – AN(bul.) zusätzlich N = 8 (16 %) – AN(restr.) zusätzlich N = 7 (13 %) – Nikotinabhängigkeit zusätzlich N = 30 (58%) – Multipler Substanzgebrauch zusätzlich N = 15 (29 %) Zeitliche Abfolge der Symptomentwicklung 30 25 20 15 10 5 0 AN AN+BN BN ED=>Sucht Sucht=>ED Fazit und Ausblick 1 • Erste Trends zeigen folgende Ergebnisse: – Bei 74,5% der bisher behandelten PatientInnen lag zuerst eine Essstörung vor, danach eine Alkoholabhängigkeit. – Knapp ein Drittel hatte zusätzlich eine Abhängigkeit von weiteren psychotropen Substanzen entwickelt. – Bei 58% lag zusätzlich eine Nikotinabhängigkeit vor. – Bei 31% eine depressive Störung, bei 14% eine Angststörung und bei 10% eine Borderline- Persönlichkeitsstörung. – Unabhängig von der zeitlichen Entwicklung der Störungsbilder scheinen besonders Pat. mit bulimischer Symptomatik (86%) ein Suchtproblem zu entwickeln. – Im Durchschnitt lagen bei allen PatientInnen 3,7 F – Diagnosen (2-6) vor, was die Schwere der Erkrankung verdeutlicht. – Das Alter lag im Durchschnitt bei 35,8 Jahren (18-55), 10 Jahre unter dem Durchschnittsalter unserer SuchtpatientInnen. Fazit und Ausblick 2 • Bei PatientInnen mit Essstörungen und Substanzgebrauch beziehen wir sowohl eine missbräuchliche Einnahme als auch die Abhängigkeit von Substanzen in die Essstörungsbehandlung mit ein • Die Akzeptanz des Behandlungsangebotes unter den PatientInnen ist hoch • Die Wirksamkeit des Konzeptes wäre in Studien zu prüfen • Könnte eine frühzeitigere Einbeziehung des Umganges mit Suchtmitteln bei bulimischen PatientInnen die Prognose begünstigen? Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!