Wenn die Waage das Leben bestimmt

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GESUNDHEIT
Dienstag, 3. September 2013
Wenn die Waage das Leben bestimmt
KRANKHEITEN DER SEELE (2): Essstörungen erkennen und Hilfe finden
Von Lisa Heim
und Peter Becker
Statt bewusster Ernährung setzen nicht wenige
Deutsche auf Crash-Diäten, die der Anfang von
Essstörungen sein können. Vor allem Mädchen
leiden darunter. Laut Robert Koch-Institut liegt
bei etwa einem Fünftel
der 11- bis 17-Jährigen in
Deutschland ein Verdacht auf eine Essstörung vor. Im zweiten Teil
unserer Serie „Krankheiten der Seele“ klären wir
auf, wie man Essstörungen erkennt und wie Betroffene Hilfe finden.
Essstörungen werden jedoch,
gemessen an dem Schweregrad
dieser Erkrankungen – etwa im
Vergleich mit anderen psychischen Erkrankungen wie
Suchterkrankungen, Depressionen oder dem vieldiskutierten Burnout-Syndrom – noch
immer zu wenig beachtet. Da-
bei sind die Folgen für Betroffene gravierend. Man hört dann
Sätze wie: „Die Waage bestimmte mein Leben, mein
Selbstwertgefühl hing einzig
und allein von ihr ab.“ Oder es
gibt Bekanntnisse wie Bekenntnisse: „Immer mehr Gefühle wurden durch Zu- oder
Abnahme von wenigen 100
Gramm, nicht Kilos, bestimmt.“ Und die Eingeständnisse reichen noch weiter:
„Selbst als ich mich schon
nicht mehr schön fand und
normales Sitzen durch die hervorstechenden
Knochen
Schmerzen verursachte, wollte
ich weiter abnehmen.“
Solche und ähnliche Aussagen von essgestörten Patientinnen wurden am TherapieCentrum für Essstörungen des
Münchner Max-Planck-Institutes für Psychiatrie (TCE) gesammelt. Sie zeigen, dass es
sich bei Essstörungen um
schwerwiegende psychosomatische Erkrankungen handelt,
die bei Betroffenen und Angehörigen anhaltenden Leidensdruck und oft erhebliche Alltagseinschränkungen hervor-
HINTERGRUND
Mediziner unterscheiden
drei Formen von Essstörungen.
Magersucht
Hier sind das deutliche Untergewicht und ein durch
extremes Fasten oder
Sporttreiben hervorgerufener starker Gewichtsverlust – oft innerhalb weniger Monate – typisch. Gemäß der internationalen
Klassifikation psychischer
Erkrankungen beginnt die
Magersucht, wenn der so
genannte Body-Mass-Index (BMI) bei einem Wert
von 17,5 oder darunter
liegt. Bei einem Mädchen
von einer Größe von 1,70
Meter entspräche das einem Gewicht von 50 Kilogramm und weniger. Trotz
der drastischen Gewichtsabnahme nehmen sich die
Patientinnen als zu dick
wahr und haben panische
Angst, an Gewicht zuzunehmen. In Fachkreisen
nennt man diese unrealistische Wahrnehmung „Körperschemastörung“.
Bulimie
Eine solche gravierende
Störung ist auch bei Men-
schen mit Bulimie zu finden, wenngleich diese
häufiger ein Gewicht im
Normalbereich haben. Regelmäßige bis zu mehrmals täglich auftretende
Ess- und Brechanfälle, bei
denen die Betroffenen in
kurzer Zeit große Mengen
von Nahrung zu sich nehmen, sind kennzeichnend
für die Störung. Weil dieses Verhalten jedoch mit
Schuld- und Schamgefühlen verbunden ist und auch
diese Patientinnen die große Angst vor einer Gewichtszunahme quält, treffen sie drastische Gegenmaßnahmen wie Erbrechen der Nahrung, Hungern, exzessives Sporttreiben oder die Einnahme
von Medikamenten wie
Appetitzügler, Abführund Entwässerungsmittel.
Binge-Eating-Störung
An einer derartigen Störung erkrankte Menschen
verzichten weitgehend auf
derlei Gegenmaßnahmen,
die hohe Kalorienaufnahme während der Essattacken führt bei ihnen deshalb häufig zu Übergewicht. / lh/pb
rufen. Dass diese Erkrankungen noch vielfach noch unterschätzt werden, liegt zum Teil
daran, dass der Weg in eine
Essstörung
oft
scheinbar
harmlos beginnt – etwa mit einer Schlankheitskur oder Diät
– die Krankheit sich aber danach oftmals über Jahre hin
schleichend entwickelt und
von den Betroffenen selbst
lange Zeit geheim gehalten
oder verharmlost wird. Die Diagnose „Essstörung“ wird daher oft erst spät gestellt.
Abgrenzung
nicht immer
möglich
Essstörungen können sich
in den drei klassischen Formen Anorexie, Bulimie oder
Binge-Eating-Störung äußern.
Eine klare Abgrenzung dieser
klassischen Formen ist in der
Praxis jedoch nicht immer
möglich, da es Mischformen
und fließende Übergänge zwischen den einzelnen Formen
gibt. Zudem ist es besonders
im Frühstadium der Erkrankung schwer, zu entscheiden,
ob die Grenze von der üblichen Schlankheitskur hinein
in eine Magersucht oder Bulimie bereits überschritten wurde.
Gemeinsam haben zunächst
alle Formen der Essstörung,
dass die Gedanken der Betroffenen ständig um die Themen
Essen, Nichtessen, Kalorien
und Figur kreisen. Ein unbeschwerter Umgang mit Essen
und dem eigenen Körper geht
zunehmend verloren ebenso
wie Gefühle der Zufriedenheit,
Lust, Genuss und das Erleben
erfüllter Beziehungen. Eine
weitere Gemeinsamkeit aller
Formen ist das überwiegende
Auftreten der Störung bei
Mädchen oder jungen Frauen,
wenngleich zunehmend auch
Jungen betroffen sind. Die Ursachen für die genannten Störungen sind nach heutigem
Forschungsstand sehr vielfältig, denn nicht eine Ursache
allein ruft eine Essstörung hervor, sondern erst das komplexe
Zusammenwirken verschiedener Faktoren, die familiär, individuell oder auch gesellschaftlich bedingt sein können.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung
(BZgA) hat eine Liste von
Warnsignalen für Essstörungen veröffentlicht. Auffälligkeiten in den Bereichen Essverhalten, Gewicht, körperliche
Symptome, zwanghafte Verhaltensweisen und im zwischenmenschlichen Kontaktverhalten können demnach
auf eine Essstörung hinweisen.
Betroffene antworten auf die
Frage, warum nicht gegessen
wird, häufig mit Standardformeln wie „Kein Hunger!“ oder
„Schon gegessen“. Durch
selbst auferlegte „Verbote“
schränken sie die Lebensmittelauswahl ein, nicht selten
verführen sie andere zum Essen, verzichten aber selbst auf
selbiges. Essen mit Kollegen,
Freunden oder Bekannten
wird gar vermieden. Weitere
Hinweise auf eine Erkrankung
können dauerndes Frieren,
körperliche Schwäche oder
auch das Ausbleiben der Menstruation sein. Aber auch häufiges Wiegen und exzessives
Sporttreiben können ein Indiz
für eine Essstörung sein, Hinweise sind aber auch ein
schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein, auffälliger Ehrgeiz (alles soll perfekt sein)
oder wenn sich Menschen immer mehr zurückziehen.
Bei Verdacht auf eine Essstörung sollten ein Arzt, ein psychologischer Psychotherapeut
oder ein Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit Erfahrung im Bereich Essstörungen aufgesucht werden. Kostenfreie Beratungsstellen wie
etwa „Die Brücke e.V.“, psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle für Menschen mit
seelischen Problemen in Fulda, oder der Hausarzt können
im Vorfeld Angehörigen Hilfe
dabei leisten, die betroffene
Person zu einer professionellen Behandlung zu motivieren. Spezialisierte Beratungsfachkräfte sind außerdem in
der Lage, mit den Angehörigen
herausarbeiten, ob die Sorgen
um das Familienmitglied berechtigt sind und wie es weitergehen soll. Eine individuelle
Behandlungsstrategie kann im
Einzelfall entweder eine ambulante oder stationäre Behandlung umfassen, ebenso
kann eine therapeutische
Wohngruppe in Betracht kommen.
Welche Behandlung die
richtige ist, das hängt vom seelischen und körperlichen Zustand, vom Alter und den Lebensumständen der Betroffenen ab. Je früher eine Essstörung behandelt wird, desto
besser ist die Aussicht auf eine
vollständige Heilung und die
Rückkehr zu einem gesunden
Essverhalten. Im Rahmen der
Behandlung lernen Betroffene, das Essen oder Nichtessen
JEDES JAHR 250 000 SCHLAGANFÄLLE
Je schneller ein Schlaganfall
behandelt wird, desto größer sind die Chancen, dass
der Betroffene wieder ganz
gesund wird. Das Magazin
„Reader’s Digest“ widmet
sich in seiner SeptemberAusgabe ausführlich dem
Thema Schlaganfall. Grundsätzlich gilt: Wer bei sich
oder seinem Gegenüber
verzerrte Gesichtszüge,
Schwäche in den Armen,
plötzliche Probleme beim
Sprechen oder Sehen registriert, muss handeln. „Sobald Sie eines dieser Symptome feststellen, rufen Sie
sofort den Notarzt, denn jede Minute zählt“, sagt Prof.
Wolf-Rüdiger Schäbitz,
Chefarzt der Klinik für Neurologie am Evangelischen
Krankenhaus in Bielefeld.
Nach aktuellen Statistiken
erleiden jedes Jahr in
Deutschland rund 250 000
Menschen einen Schlaganfall – fast ein Drittel der Patienten stirbt. / Foto: Fotolia
Ein negatives Körperbild führt nicht zwangsläufig zu einer
Essstörung, stellt aber einen Risikofaktor dar. Foto: Fotolia
nicht als „Allheilmittel“ gegen
unangenehme Gefühle und
Konflikte zu benutzen und erarbeiten sich schrittweise alternative Möglichkeiten der
Gefühlsregulation.
„Zu Beginn der Behandlung“, schrieb eine Patientin
des eingangs zitierten TCE im
Rückblick, „erhoffte ich mir,
so zu werden, wie ich mir immer eingebildet hatte, werden
zu sollen: selbstsicher, erfolgreich, nett, charmant, beliebt
und von allen geliebt. Aber daraus ist nichts geworden, und
ich will es auch gar nicht
mehr, sondern ich habe mich
auf den Weg gemacht, mich
schrittweise zu finden. Ich bekomme so langsam eine Ahnung, wer ich bin, was ich will
und was das Leben bedeuten
kann, wenn ich es nur zulasse.
Jedenfalls will ich leben, und
mich packt das pure Entsetzen, wenn ich daran denke,
auf was für einem Weg ich mit
meiner Krankheit war.“
ZU DEN
AUTOREN
Lisa Heim ist leitende
Lehrkraft in der Fachausbildung Psychologische
Beratung und Personal
Coach an der Rhön-Akademie Schwarzerden in
Gersfeld. Peter Becker ist
deren pädagogischer
Leiter.
Mehrheit der Kassen
bezahlt Homöopathie
WIRKUNG dennoch umstritten
Rund 70 Prozent der gesetzlichen Krankenkassen übernehmen inzwischen die Behandlungskosten für Homöopathie
bei speziell dafür ausgebildeten Medizinern.
„Für die Krankenkassen ist das
wahrscheinlich ein Marketinginstrument, um sich von der
Konkurrenz abzusetzen“, sagte
die Vorsitzende des Deutschen
Zentralvereins homöopathischer Ärzte (DZVhÄ), Cornelia
Bajic. Viele Patienten wünschten sich homöopathische Verfahren als Ergänzung oder Alternative zur Schulmedizin. 90
der rund 130 gesetzlichen Kassen übernähmen heute die
Kosten dafür. Zu den verpflichtenden
Standardleistungen,
die die gesetzliche Krankenversicherung übernehmen muss,
gehört
die
Homöopathie
nicht. Ihre Wirkung ist umstritten. Die einzelnen Kassen
könnten sie aber über Sonderverträge oder sogenannte Satzungsleistungen
anbieten,
hieß es vom Spitzenverband
der gesetzlichen Krankenversicherung.
In Deutschland gibt es laut
Zentralverein rund 7000 homöopathische Ärzte, die nach
schulmedizinischem Studium
und Facharztausbildung eine
von den Landesärztekammern
anerkannte homöopathische
Weiterbildung absolviert haben. Patienten böten diese
strengen
Ausbildungsstandards größtmögliche Sicherheit, versicherte die Expertin
Cornelia Bajic.
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