Arbeitshaltung arbeitsphysiologie 14 Arbeitshaltung April 2002 .doc iha Ergonomie / Arbeit + Gesundheit H. Krueger 14. Arbeitshaltung Häufigkeit [%] Im allgemeinen wird davon ausgegangen, dass eine sitzende Körperhaltung von unnötiger physischer Arbeit entlastet und deshalb, wenn immer möglich auch angestrebt werden sollte. Auf der andern Seite wissen wir, dass ein grosser Teil der Bevölkerung unter muskuloskelettalen Beschwerden des Bewegungs- und Halteapparates leidet. So gibt es immer wieder Forderungen nach nicht rein sitzender Tätigkeit, sondern Abwechslung in der Körperhaltung während der Arbeitszeit. Ziel aller Überlegungen ist ein über ein Leben gesunder Rücken. Hierzu sollen in einem ersten Abschnitt einmal die Bedeutung des Problems Rückenschmerz und die physiologisch anatomischen Grundlagen zusammengestellt werden. Es folgt darauf eine Übersicht über Vor- und Nachteile verschiedener Arbeitshaltungen. Eine Zusammenstellung der Anforderungen an einen Stuhl, der ergonomisch richtiges Sitzen unterstützt folgt im nächsten Kapitel als Umsetzungsbeispiel anthropometrischer Daten und der Grundlagen des vorliegenden Kapitels. 100 14.1 Epidemiologie des Rückenschmerzes 80 Die Epidemiologie ist die Wissenschaft von der Verbreitung von Erkrankungen und den Einflussfaktoren, die die Krankheit verursachen oder verschlimmern. Sie setzt statistische Instrumente ein, um Assoziationen zwischen äusseren und individuellen Faktoren und der untersuchten Erkrankung oder gesundheitlichen Beeinträchtigung aufzufinden. 60 40 20 Frauen Männer objektiv subjektiv 1972 0 15 19 20 24 25 29 30 34 35 39 40 44 45 49 50 54 55 59 60 64 65 69 70 74 75 > Alter [Jahre] 1972 Abb. 1 14.2 Funktionelle Anatomie der Wirbelsäule Altersabhängige Veränderungen der Wirbelsäule (objektiv) und Beschwerdehäufigkeit Die Wirbelsäule ist s-förmig gebogen und besteht (subjektiv) bei einem vorwiegend ländlichen Be- aus 7 Halswirbeln, 12 Brustwirbeln und 5 völkerungskollektiv. Lendenwirbeln. Die s-förmige Biegung gibt der ganzen Wirbelsäule eine Formelastizität. So werden Stösse nur in Grenzen von unten nach oben zum Kopf übertragen. Die Wirbelsäule ist in der frontalen Ansicht gerade (Abb. 2). In seitlicher Ansicht zeigt sie mit einer Lordose der Halswirbelsäule, einer Kyphose der Brustwirbelsäule und wieder einer Lordose der Lendenwirbelsäule mehrere Krümmungen nach vorn und hinten Arbeitshaltung Die Dicke der Wirbelsäule nimmt von oben nach unten entsprechen der zu tragenden Last zu. Die Beweglichkeit der Wirbelsäule ist über einzelne Bewegungselemente über die gesamte Wirbelsäule verteilt. In den verschiedenen Bewegungselementen, die aus je zwei Wirbelkörpern bestehen gibt es je nach Lage sehr verschiedene Freiheiten der Bewegung. Die grösste Beweglichkeit weisen die Bewegungselemente der iha Ergonomie / Arbeit + Gesundheit 14-1 Arbeitsphysiologie C1 Halswirbelsäule auf. Die geringste diejenigen der Brustwirbelsäule. Hals C7 Th1 Das Bewegungselement besteht aus den zwei aneinander grenzenden Wirbeln mit dem Wirbelkörper und den Wirbelbögen, die zwei seitlich Fortsätze und einen Dornfortsatz nach hinten tragen. An den Fortsätzen greift die tragende und stabilisierende Rückenmuskulatur an. Drei Längsbänder stabilisieren neben der aktiven Muskulatur passiv die Wirbelsäule. Rotationen um die Längsachse werden durch die kleinen Wirbelgelenke begrenzt. Die Gelenkflächen der kleinen Wirbelgelenke sind wie die aller anderen Gelenke mit einer Knorpelschicht überzogen, in die Schmerzrezeptoren eingelagert sind. Brust Th12 L1 Lende L5 S1 Kreuz vordere Ansicht Ein äusserer Faserring umgibt einen weichen inneren Kern. Der Faserring ist ein Schutzwall für den weichen Kern, der den Spalt zwischen den beiden Wirbelkörpern kraftschlüssig anpasst. Der weiche Kern vermittelt weiterhin die Biegsamkeit im Bewegungselement. Steiß 1649 seitliche Ansicht 1649 Abb. 2 Anatomie der Wirbelsäule Wirbelkanal Wirbelgelenk Dornfortsatz Wirbelkörper Bandscheibe Wirbelbänder Wirbelkörper Gelenkkapsel 1652 vorderes Längsband Dornspitzen- hinteres Längsband Längsband 1652 Abb. 3 Bewegungselement der Lendenwirbelsäule Die Bandscheiben weisen eine Reihe von Schwachpunkten auf, die einen schonenden Umgang erfordern (Tab. 1). Hinweis: schonender Umgang mit den Ressourcen, d.h. die primäre Prävention spielt eine grosse Rolle. Statische Haltungen sind zu vermeiden so wie auch akute mechanische Lastspitzen oder chronische Überbelastungen. fester Ring faseriger Knorpel 1653 weicher Kern hyaliner Knorpel 1653 Abb. 4 Aufbau der scheibe) Bandscheibe (Zwischenwirbel- Schwachstellen der Bandscheiben keine Durchblutung schwierige Ernährung durch Diffusion keine Schmerzrezeptoren (Nocisensoren) keine Regenerationsfähigkeit Arbeitshaltung • • • • t0283 Tab. 1 14-2 Schwächen der Bandscheibe iha Ergonomie / Arbeit + Gesundheit H. Krueger Die Rückenform ist interindividuell unabhängig von der aktuellen Haltung recht verschieden (Abb. 5). Hinweis: Damit hat jede Belastung eine individuelle Komponente, die aus der Grundhaltung resultiert. Die Beanspruchung ist bei gleicher Belastung verschieden. 1650 normal hohlrund total rund flach 1650 Abb. 5 Rückenformen 14.3 Physiologie der Bandscheibe Bewegung mit einem Wechsel von Belastung und Entlastung der Bandscheiben kann nach heutiger Vorstellung als Unterstützung der Diffusion von Substanzen durch den Knorpel zu den Knorpelzellen angesehen werden. 1654 1654 Effekt der Bewegung auf die Versorgung der Bandscheibe 700 1661 600 Hinweis: Bei aufgerichtetem Becken ist der Bandscheibendruck am kleinsten. Für Personen mit einem Schaden der Wirbelsäule ist daher die Zielvorstellung eine Haltung der Lendenwirbelsäule, die derjenigen im Stehen entspricht. locker, vorgebeugt Sitzen straff, vorgebeugt Sitzen Sitzen mit Rundrücken 100 entspannt Sitzen 200 gerade, aufrecht Sitzen 300 entspannt Sitzen - Arme gestützt 400 entspannt Sitzen - Beine hängend 500 bequem Stehen 2 Binnendruck der Bs L3/L4 [N/cm ] Abb. 6 0 Sitzhaltung 1661 Abb. 7 Der mittlere Druck im weichen Kern ändert sich deutlich mit der Körperhaltung. Der niedrigste Druck wird bei einer Krümmung der Lendenwirbelsäule gemessen, die dem aufrechten Stehen entspricht. Der mittlere Druck im Kern der Bandscheibe bei verschiedenen Körperhaltungen Abhängig von der Körperhaltung und der Unterstützung des Rückens verlieren die Bandscheiben unterschiedlich viel Wasser. Die Abnahme der Körperlänge während einer halben Stunden fällt deutlich verschieden aus. Hinweis: Andauerndes Stehen belastet die Bandscheiben stark. Der Wasserverlust ist von allen andern Haltungen am grössten. Andauernde Steharbeit ist deshalb zu vermeiden. Körperhaltung [mm/30min ] 0,0 -1,0 Längenabnahme Arbeitshaltung -2,0 -3,0 -4,0 -5,0 1665 1665 Abb. 8 iha Abnahme der Länge der Wirbelsäule bei verschiedenen Körperhaltungen Ergonomie / Arbeit + Gesundheit 14-3 Arbeitsphysiologie Haut Venensystem + Klappen Knochen 14.4 Physiologie des Kreislaufes 1647 1647 Venensystem + Klappen Das Herz ist als „Pumpe“ zusammen mit den elastischen Fasern der Arterien der Motor für den Blutstrom im arteriellen System. Da im venösen System wegen der Verletzlichkeit der Lungenkapillaren im Vergleich zum arteriellen System nur ein geringer Druck vorliegen darf, kann das Blut im venösen System nur durch den Zustrom aus dem arteriellen System vorangetrieben werden (Kontinuität des Flusses inkompressibler Flüssigkeiten). Da das Blutvolumen im Vergleich zum Volumen der Venen zu gering ist, bedarf es einer zusätzlichen venösen Pumpleistung speziell in den unteren Extremitäten, den Beinen. Das Zusammenspiel von Venenklappen in den Venen und den Muskeln (Muskelpumpe) sorgt bei bewegtem Muskel für einen ausreichenden Rückstrom. Knochen 1647 Abb. 9 Prinzip der Funktion der Muskelpumpe im venösen System. 220 ml 180 ml 100 ml 40 ml 30 ml Stehen 1648 Hinweis: Steharbeit führt zu dicken Füssen und Beinen. Natürliche Abhilfe ist eingeschobenes Gehen. Eine andere Möglichkeit ist das Tragen von Stützstrümpfen. 10 ml Gehen 1648 1648 Abb. 10 Auswirkung der Muskelpumpe auf das Blutvolumen in den Beinvenen. 14.5 Psychophysiologie des Schmerzes Muskuloskelettale Schmerzen werden natürlicherweise mit Schonhaltung beantwortet. Das Gelenk wird weniger bewegt. Dadurch kommt es zu einer im „Kreis“ zunehmenden schmerzhaften Einschränkung der Beweglichkeit. muskulärer Verletzungsschmerz Einschränkung der Bewegung Schmerz Gefahr: Mangelnde Bewegung führt zur Volumenbelastung der Beinvenen (langes Stehen). Sie schädigt die Venen und ihre Klappen (Krampfadern, Varizen). Minderung des Rückstromes bei beschädigten Venenklappen oder auch mangelnde Bewegung fördert Venenentzündungen. Beim Stehen wirkt die Muskelpumpe der Beine praktisch nicht. Entsprechend dem hydrostatischen Druck verbleibt mehr Blut in den Beinen. Hinweis: Muskuloskelettale Schmerzen haben die Tendenz, ohne Gegenmassnahmen zu chronifizieren. Sie haben eine organische und eine psychische Komponente, die einerseits einer physischen Therapie und andererseits einer kognitiven Therapie bedürfen. Verspannung der Muskeln Arbeitshaltung Haut 1667 1667 Abb. 11 Circulus viciosus muskulärer Schmerzen 14-4 iha Ergonomie / Arbeit + Gesundheit H. Krueger 14.6 Arbeitshaltungen im Vergleich Die oben angeführten Fakten und Arbeitshypothesen führen u.a. zu dem folgenden Beurteilungsschema für die verschiedenen Körperhaltungen. Nur die rechte Spalte ist eindeutig positiv zu beurteilen. G ehen Sitzen Wirbelsäule Bandscheiben entlastet entlastet Muskulatur Stehen gefördert durch dynamischen durch dynamischen Belastungswechsel Belastungswechsel gefördert gefördert überfordert durch statische Belastung langfristig unterfordert überfordert Gelenke, untere Extremität Fußsohlen entlastet normal Gesäss statische Belastung erhöhter Druck dynamische Belastung „Muskelpumpe“ unterstützt normal Gesäss normal Gesäss geringer Fußsohlen normal Fußsohlen normal Fußsohlen statisch belastet entlastet entlastet Belastungswechsel Bauchraum gefördert durch dynamischen durch dynamischen Belastungswechsel Belastungswechsel überfordert gefördert „Muskelpumpe“ venöser Rückstrom venöser Rückstrom unterstützt behindert behindert Venen (Hämorrhoiden) (Varizen) normal Sitzen durch statische Belastung kurzfristig Haut geringer Gesäss Stehen überfordert statische Belastung Kreislauf Gehen Belastungswechsel normaler Druck normaler Druck normaler Druck normal normal (Römheld-Syndrom) Atmung behindert normal Vigilanz keine Aktivierung unproduktive Aktivierung produktive Aktivierung produktive Aktivierung t0283 t0283 Tab. 2 Physiologische Kosten und Vorteile für verschiedene Arbeitshaltungen im Vergleich Arbeitshaltung Hinweis: Über eine Beeinflussung des Verhaltens oder besser noch über die Arbeitsorganisation muss für einen häufigen Wechsel der Körperhaltung Sorge getragen werden. iha Ergonomie / Arbeit + Gesundheit 14-5 Arbeitsphysiologie 2297 Der Körper braucht Bewegung! Deshalb gibt es nicht die ergonomische Sitzposition, sondern nur einen Wechsel zwischen verschiedenen Positionen, nämlich ergonomisches Sitzen! Ein ergonomischer Sitz muss verschiedene Sitzpositionen unterstützen. Arbeitshaltung Abb. 12 14-6 iha Ergonomie / Arbeit + Gesundheit Arbeitshaltung H. Krueger iha Ergonomie / Arbeit + Gesundheit 14-7