Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg HEINRICH POMPEY Die Verantwortung der Religionen für Menschen in prekären Lebenslagen Behinderung und Benachteiligung aus der Sicht der Weltreligionen Originalbeitrag erschienen in: Weiß, Hans; Stinkes, Ursula (Hrsg.): Prüfstand der Gesellschaft: Behinderung und Benachteiligung als soziale Herausforderung. Rimpar: Ed. von Freisleben, 2010, Seiten 107-144 Hans Weiß Ursula Stinkes Alfred Fries (Hrsg.) Prüfstand der Gesellschaft: Behinderung und Benachteiligung als soziale Herausforderung C edition von) Preisleben edition von freisleben Herbert B. Freisleben Günterslebener Str. 29 D- 97222 Rimpar Telefon 0 93 65/93 29 Telefax 0 93 65/51 77 E-Mail: [email protected] Internet: www.edition-von-freisleben.org ISBN 978-3-930286-54-2 © Würzburg 2010 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der edition von freisleben reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Inhalt Vorwort I. Sozioökonomische und soziokulturelle Benachteiligung im Risikokapitalismus 4 .. 7 Christoph Butterwegge: Deprivation und Desintegration - die Schattenseiten des Risikokapitalismus: Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung im Zeichen der Globalisierung 9 Karl August Chass e : Die im Dunkeln sieht man nicht - Kinderarmut als wachsendes gesellschaftliches Problem . 33 Gotthilf Gerhard Hiller.' (Uber-) Lebenskunst als Gegenstand von Bildungsarbeit im Jugendstrafvollzug und von Alltagsbegleitung nach 65 Haftentlassung II. Ill. Bedeutung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft - historische und religiöse Bezüge 85 Andreas Möckel: Menschen mit Behinderungen in der Zeit der Aufklärung 87 Heinrich Pompey: Die Verantwortung der Religionen für Menschen in prekären Lebenslagen. Behinderung und Benachteiligung aus der Sicht der Weltreligionen 107 Ethische Positionierungen angesichts ökonomisch orientierter Lesarten der Frage nach dem Menschen 145 Markus Dederich: Der ungeborene Mensch mit Behinderung im Lichte der Bioethik Kritische Anmerkungen zur Diskussion um sein Lebensrecht 147 IV. V. Dieter Gröschke: Die Anerkennung und „Annahme" des behinderten Kindes - eine kritische Anfrage an die Gesellschaft 167 Manfred Thalhammer: Recht auf Leben - Anspruch auf Bildung. Menschen mit schwer(st)en Behinderungen: Übergang oder Untergang? 185 Behinderung und Familie im System der Hilfen .. 215 Alfred Fries: „Endlich fragt uns einer einmal danach! " Wie körperbehinderte Menschen Diskriminierungen nichtbehinderter Menschen wahrnehmen und wie sie damit umgehen 217 Hans Weiß: Familien mit behinderten Kindern: Belastungen und Ressourcen im Kontext gesellschaftlicher Hilfen 245 Christian Lindmeier: Kommunitarismus: Tragfähiges Leitkriterium einer solidarischen und fürsorglichen Haltung? 269 Wilfried Wagner-Stolp: „Lebenshilfe" für Menschen mit Behinderung und deren Angehörige: Aufgaben im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdhilfe 299 Steffen Fleßa: Behinderung und Benachteiligung als Schwerpunkt karitativer Institutionen: Herausforderungen für Diakonie und Caritas 331 Sinngebung durch Bildung und Arbeit im Zeichen ökonomischer (An- )Forderung Ursula Stinkest „Quasi-Alternativen": politisch-ökonomische Funktionalisierung und „Humanisierungsversprechen" der Bildung 2 351 353 Reinhard Lelgemann: Menschen mit schweren (Körper-) Behinderungen und Arbeit Gedanken zu einem komplexen Feld 373 Autorenverzeichnis 399 3 Die Verantwortung der Religionen für Menschen in prekären Lebenslagen Behinderung und Benachteiligung aus der Sicht der Weltreligionen Heinrich Pompey Vorbemerkungen Irreversibel behindertes Leben — sei es körperlich beeinträchtigt, geistig behindert, psychisch erkrankt, altersmorbid, menschlich und materiell verarmt, sozial isoliert etc. — wird von Religionen und nicht religiösen Weltanschauungen unterschiedlich bewertet und bestimmt. Aus dem jeweiligen Menschenbild und Transzendenz- bzw. Gottesverständnis ergeben sich die Art der Akzeptanz, der Wertschätzung und des Hilfeverhaltens für Behinderte und Benachteiligte. Zu den weltweit prägenden Weltund Lebensanschauungen zählen die Religionen. Mindestens 80 % der Weltbevölkerung fühlt sich einer Religion (Buddhismus, Hinduismus, Judentum, Islam etc.) bzw. einer religiös geprägten Lebensphilosophie (z. B. Konfuzianismus oder Taoismus) verbunden. Im Rahmen dieser Darlegungen werden die großen Weltreligionen in ihrer Verantwortung für behinderte Menschen bzw. für Menschen in prekären Lebenslagen in den Blick genommen. Grundsätzlich bestehen zwischen den Lehren der Religionen und dem religiössozialen Leben ihrer Gläubigen große Unterschiede. Die tatsächliche Hilfepraxis der jeweiligen Religionen zu beschreiben, ist darum nur begrenzt möglich.' Somit werden die alltägliche Bewältigung und das konkrete Helfen bei Lebensbehinderungen und Lebensbenachteiligungen nur exemplarisch angesprochen.' Da die Darlegungen dieses Fachbeitrages zudem im Blick auf Personen des christlich geprägten Kulturraumes beschrieben sind, finden sich gelegentliche Hinweise auf Analogien oder Unterschiede im Vergleich zum Christentum. Dies würde vergleichende repräsentative empirische Erhebungen erfordern, die weltweit und interkulturell nicht leicht zu realisieren sind. 2 Die Praxis der Bewältigung und des Helfens ist vorwiegend aus Publikationen entsprechender Religionsvertreter abgeleitet. Meinerseits habe ich die Ableitungen zu den einzelnen Religionen zu Praktikern in den entsprechenden Ländern geschickt mit der Bitte, die von mir formulierten Aspekte praxisbezogen zu überprüfen. Auch dies war nur exemplarisch für jede Religion möglich. Außerdem gilt im Blick auf die nachfolgenden Ausführungen ferner der bekannte Satz: „ Ausnahmen bestätigen die Regel. " So finden sich in den Ländern der Weltreligionen genügend Praxisbeispiele, die vom Mainstream der Glaubensrichtung zum Wohl der Leidenden wie zum Nachteil für die Leidenden abweichen. 1 I 07 Die östlichen, vorchristlichen Weltreligionen Hinduismus und Buddhismus Umgang mit Benachteiligung und Behinderung im Hinduismus Hinduismus ist die Bezeichnung für die große Religionsfamilie auf dem indischen Subkontinent. Der Hinduismus umfasst zum Teil sehr unterschiedliche Transzendenz- und Menschenverständnisse, die nicht immer miteinander kompatibel sind. Heterogen ist auch die Bewertung von Leid und Hilfeverhalten. Der Hinduismus kennt z. B. keine einheitliche Ethik; diese wechselt nach Schulen. Ebenfalls unterscheiden sich die verschiedenen Yoga-Wege voneinander. So lassen sich nur einige Gemeinsamkeiten der hinduistischen Glaubenstradition im Blick auf Benachteiligung und Behinderung verdeutlichen. Der Hinduismus ist in seinen meisten Ausprägungen von der Vorstellung des Dharma, d. h. der Lehre der Pflichten, der Ethik, der Rituale, der Lebenshygiene etc., geprägt (vgl. Haußig 1999, 102) . Der menschenbezogene Dharma gewährleistet die Ordnung der Gesellschaft und formuliert die Pflichten der jeweiligen Kaste. Der ewige Dharma beschreibt die Ordnung des Universums, die Naturgesetze wie die Weisheit der heiligen Schriften, so z. B die Bhagavad Gita, die grundlegende Heilige Schrift fast aller Hindus. Eine Vielzahl weiterer historisch und inhaltlich unterschiedlicher Schriften bildet die Grundlage der hinduistischen Religionstraditionen, d. h. des Dharma. Hinduistische Verstehensaspekte von Benachteiligung und Behinderung Soziale Benachteiligungen und psycho-physische Lebensbehinderungen gehören aus der Sicht des Hinduismus unausweichlich zum Leben des Menschen. Nur durch entsprechende Lebensentscheidungen und Lebensanstrengungen kann der Mensch eine Bewältigungsmöglichkeit finden (vgl. Seshadri 2005) . Dazu sind einige zentrale Aspekte des hinduistischen Lebens-, Menschen- und Transzendenzverständnisses zu beschreiben. • Im Hinduismus ist die Welt keine Schöpfung Gottes.' Sie hat keinen Anfang und kein Ende (Kosmogenie) . Sie befindet sich in einem ewigen unheilvollen Kreislauf (Samsara) und in ständiger Wiederkehr von Leid. Auch der Mensch ändert sich ständig, ist in jedem Augenblick infolge neuer Lebensbedingungen ein anderer. Ferner ist alles mit allem verbunden, alles ist bedingt. Es gibt kein unabhängiges Wesen. Diese soziale Mit- und Lebenswelt schenkt einerseits Stütze, Eine Ausnahme findet sich bei einigen Gruppen des Hinduismus, so bei den Vertretern einer „Allesin-Gott-Lehre" . Diese Vorstellung wird als eine niedere Stufe der Wahrheit angesehen. 3 I 08 Akzeptanz und Hilfe, kann anderseits aber auch schwere Lebensbeeinträchtigungen - je nachdem, wo und wie der Einzelne im Ganzen eingefügt ist - mit sich bringen (vgl. Huber 2005, 177 ff.) . Der Atman des Menschen ist für den Hindu der geistige Kern, der sich immer wieder neu einkleidet, d. h. in der Wiedergeburt weiterlebt. Atman ist Träger der Kontinuität. Er ist dem westlichen Verständnis von Selbst, Person und Seele nur begrenzt ähnlich, besitzt aber eine vergleichbare Funktion. Die tiefste Erkenntnis und damit die Erlösung besteht in der Einsicht, dass Atman als das eigentliche Selbst und Brahman, der Urgrund allen Seins, identisch sind. Nach dem christlichen Verständnis bleibt demgegenüber die Individualität der Seele in Gott erhalten. Der Mensch ist im Hinduismus kein Gegenüber zu einer göttlichen Macht. Der Mensch ist Teilelement des belebten Kosmos wie jedes andere Lebewesen auch. Der belebte Kosmos besitzt Über- und Unterordnungen4 wie Pflanzen, Tiere, Menschen und Götter. Diese Uber- und Unterordnungen setzen sich auch in der hierarchisch geordneten menschlichen Gesellschaft fort, die in der Kastenzuordnung ihren Niederschlag gefunden hat. Jeder wird in diese Ordnung hineingeboren und kommt im aktuellen Leben nie aus ihr heraus. Die damit verbundene Benachteiligung ist irreversibel prädestiniert. Besonders große Benachteiligung erleiden in Indien durch diese Kastenvorstellung die sog. Dalits. Sie sind kastenlos, minderwertig, unberührbar, gesetzlos, werden ausgegrenzt und gelten als „Untermenschen" (vgl. Human Rights Watch 1999; Schwägerl 1995; Thorat 2003; 0' Neill 2003) . Von dieser brutalen Ausgrenzung sind 160 Millionen Inder betroffen (O'Neill 2003, 34). Unabhängig von der jeweiligen Kaste werden Frauen diskriminiert. So werden viele Mädchen wegen ihres Geschlechts im Mutterleib oder kurz nach der Geburt getötet, Töchter schlechter ernährt als Söhne, für Töchter weniger in Gesundheit investiert als für Söhne; das gleiche gilt für die Schul- und Berufsausbildung, Mädchen werden ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen, junge Frauen werden umgebracht, wenn die Eltern die Mitgiftforderungen nicht erfüllen, wie Unicef im Jahresbericht „Zur Situation der Kinder in der Welt 2006" für Indien wie aber auch für die muslimischen Länder Pakistan und Bangladesch des indischen Subkontinents belegt hat (vgl. Scholz 2006; Konradsblatt 2003, 23; Forbes 1996; Reiter 1997; Stiftung Entwicklungs-Zusammenarbeit Baden-Württemberg et al. 2001; Syed 2001) . • Dasein und Leben bedeuten im Hinduismus wie auch im Buddhismus immer Leid (Dukkha). Das Leiden ist dem Göttlichen (Brahman) nicht zugänglich.' Das Elend am Elend ist, dass es sich immer wiederholt. Der Hindu bleibt trotz Sterben und Tod im Kreislauf des Leidens.' „Die Lebensumstände, die man bei der Geburt vorfindet, sind Folgen aus einem früheren Leben und Lohn für frühere Taten" (Trutwin 1996, 297) . Die Wiederholung ist also das eigentliche Leid. Zu beachten ist, dass das Verständnis von Leid umfassender ist als im europäischen Sinn, d. h., mit Leid ist auch die Unvollkommenheit, die Irrealität, die Analog dem ökosystemischen Denken, das in organismischen Systemen ebenfalls Über-, Unterund Nebenordnungen kennt (vgl. Pompey 1990, 23-35) . 5 Hier besteht ein großer Unterschied zur christlichen Theo-logik und damit Christo-logik des Helfens und der Solidarität. 6 Lebenspraktisch leiden jedoch die meisten Hindus ebenso wenig unter dem Tatbestand der Wiedergeburt, wie viele Christen sich nicht wegen der drohenden Hölle fürchten. Das Ziel des Christen ist das ewige Leben, das gleichzeitig das Leid übersteigende, erfüllte Leben ist. Für den Hinduismus ist das Ziel, aus dem Kreislauf des Lebens herauszukommen. Erst dann ist der Mensch vom Leid erlöst. 4 I 09 Bedeutungslosigkeit des irdischen Seins gemeint. Das faktische Leid, sei es in Form einer sozialen, einer psychischen oder einer physischen Lebensbehinderung, wird auf diese Weise für die irdische Existenz relativiert. Lebensbenachteiligungen und Lebensbehinderungen sind hinzunehmen und stellen keine Herausforderung für ein lebensweltbezogenes soziales Handeln dar. 7 • Neben der Vorstellung der ewigen Wiederkehr des Lebens ist die Karma-Lehre von zentraler Bedeutung. Von der Erfüllung des Dharma hängt die sittliche Qualität einer Handlung ab, also das positive Karma bzw. das negative A-Karma. KarmaLehre besagt, dass alle guten wie schlechten Taten Folgen haben und ihrerseits verursacht sind. In verschiedenen heiligen Schriften werden als Kernelemente des guten Handelns Tugenden und Laster beschrieben. So werden in der Bhagavad Gita folgende Tugenden genannt: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung, Entsagung, Friedfertigkeit, Nicht-Verleumdung, Mitleid mit Lebewesen, Begierdelosigkeit, Milde, Bescheidenheit, Beständigkeit, lichtvolle Stärke, Vergebungsbereitschaft, Beständigkeit, Reinheit, Fehlen von Feindseligkeit, Demut (vgl. Bhagavad Gita, Kap. 16,2-3). Den Tugenden wirken die Laster als ihre Feinde entgegen: Es sind Zorn, Geiz, Begierde, Verblendung, Hochmut und Neid (vgl. Kap. 16,18-21) . Die Kultur der Solidarität und des Hilfeverhaltens für Behinderte wie Benachteiligte wird durch Pflege der Tugenden gesichert und durch Laster bedroht. Die aktuellen Taten sind zu verantworten, also auch die Unterlassung sozialer Taten. Andererseits kann der Karma-Gedanke dazu führen, dass „Menschen in die Passivität und Resignation fallen und zu aktivem Handeln unfähig werden". Dies lässt sie selbst menschenunwürdige Situationen ertragen, „als ein Karma, das nicht zu ändern ist" (Trutwin 1996, 299) . Die passive Akzeptanz von prekären Lebenssituationen ist die Folge. Ebenso kann der Karma-Gedanke auch zu positivem Handeln, d. h. zum sozialen Helfen, motivieren. Alles, was man tut, hat Folgen, lautet eine allgemeine hinduistische Lebensweisheit, Böses kann Böses bewirken und Gutes kann Gutes bewirken.' Im Hinduismus bilden Ursache und Wirkung eine Einheit. Tat und Folge sind eins, d. h. eine „Wirk" -lichkeit. Sie Leid und Behinderung — persönlich, fremd oder strukturell verursacht — stellen in der christlichabendländischen Tradition dagegen eine Pro-vokation des Lebens dar, die christo-logisch eine Ursache der Menschwerdung Gottes in Christus war. Nicht Hinnahme, sondern konkrete Bewältigung von Leid und Schmerz ist Aufgabe der Mitwelt wie der Betroffenen. Sterben und Tod bieten im Christentum den Ausstieg aus dem leidvollen Leben, werden nach einem erfüllten Leben als Erlösung verstanden, wenn der Mensch nach der Lebensweisung Gottes gelebt hat. Für weniger gravierende Verfehlungen des guten Lebens gibt es noch einen Reinigungsort, das sog. Fegefeuer. Doch für die totale Verweigerung des Guten bleibt die Verharrung im leidvollen, ewigen Bösen, der Hölle. 8 Der Christ ist aufgerufen, die Kausalketten des Bösen, z. B. Gewalt, die Gewalt erzeugt, zu beenden, und zwar dadurch, dass er bestrebt ist, Böses nicht mit Bösem zu vergelten, sondern durch Taten der Liebe (Caritas) die Kausalketten und Spiralen des Leids zu durchbrechen. Die individuelle wie die institutionelle Caritas hat diese Funktion. 7 I 10 bilden eine „karmische Einheit" . In den hinduistischen Lebensvorstellungen haben somit Benachteiligung und Behinderung ihre Ursache darin, dass ein Mensch in seinem vorangegangenen Leben (oder auch mehreren vorangegangenen Leben) schlechte Taten vollbracht hat, die die heutige Benachteiligung und Behinderung bewirken, sei es infolge der Übertretung von Geboten, der Tötung und Verletzung anderer Wesen etc. Das so erworbene negative Karma tradiert sich in das neue, aktuelle Leben. Dies gilt für die genetisch erworbenen Behinderungen, während Unfälle, aktuell erworbene Benachteiligungen und Behinderungen ihre Ursache im aktuellen Leben haben und als aktuell erworbenes negatives Karma und/oder als Folge einer negativen Karma-Prädestination aus dem Vorleben verstanden werden. Im Volkshinduismus wird dagegen das Karma im Sinne von Schicksal erst dann für ein Leid verantwortlich gemacht, wenn alle Bemühungen, Krankheit und Leid zu vermeiden, nicht gelingen. Es werden also Ärzte und Helfer jeder Art konsultiert (vgl. Huber 2005, 179) . • Die Wedergeburtstheorle erklärt dem Hinduisten, warum jemand reich oder arm, tugendhaft oder kriminell, krank oder gesund ist. Nichts ist Schicksal, sondern im vorangegangenen Leben selbst verursacht. Solche religiösen Vorstellungen belasten die Leidbetroffenen bzw. verleiten zur Passivität und schwächen ein sozial-karitatives Engagement, insbesondere in Form der Selbst- und Fremdhilfe. Es kommt zu keiner Solidarisierung der Leidbetroffenen, um durch eigene Aktionen die ungerechten Lebensbedingungen bzw. psychisch-physischen Beeinträchtigungen zu verringern. Im Gegenteil: Da eine irreversible prekäre Lebenslage als Resultat von Taten aus dem vorherigen oder aus diesem Leben gilt, wird irreversible Behinderung - gleich welcher Art - als Reinigungsstrafe betrachtet, die der Betroffene sich selbst zuzuschreiben hat. Da deswegen Eltern mit behinderten Kindern z. B. im hinduistischen Nepal soziale Diskriminierung und Verachtung droht, werden Behinderte oft weggesperrt oder sogar ausgesetzt (Behnen 2007) . • Sodann ergibt sich aus diesem hinduistischen Verständnis von Leid und Karma, dass z. B. die Berührung des Körpers eines anderen Menschen unrein macht (d. h. negatives Karma bewirkt) , insbesondere, wenn ein Mitglied einer anderen, untergeordneten Kaste berührt wurde. So kennt die Begrüßung in den hinduistischen Ländern nur ein distanziertes Verneigen und im Allgemeinen keinen Berührungsgestus. 9 Die körperliche Berührung von Personen, die nicht zur Familie gehören, wird von Hindus in einer Hilfesituation darum oft abgelehnt. So bleibt der Hindu zu fremdem Leid auf Distanz. Praktisches Hilfe- und Pflegeverhalten ist folglich erschwert. Dies ist möglicherweise ein weiterer Grund, warum in dieser Weltreligion kaum institutionalisierte helfende Einrichtungen und Dienste 9 Es gibt im Vajrayana-Buddhismus Tibets ein kurzes Berühren der Stirn. analog zur Fachcaritas entstanden sind, die auf Arme und Kranke konkret zugehen, um sie aus ihrer Not und ihrem Leid aktiv zu befreien. Karitatives Hilfeverhalten wird religiös nicht eindeutig motiviert. Aspekte der Bewältigung von Benachteiligung und Behinderung Grundlegend verschieden zur westlichen individuozentrischen Sicht von Krankheit, Benachteiligung oder Behinderung ist ihre Bewertung im Hinduismus. Sie ergibt sich aus dem Verständnis, dass alles mit allem verbunden ist. Alles ist bedingt. Es gibt kein unabhängiges Wesen. Dem entspricht in der westlichen Ganzheitspsychologie der Grundsatz, dass die Ganzheit mehr ist als die Summe ihrer Teile, also über größere Stützpotentiale verfügt. Aus der Verbundenheit aller Lebenssphären entsteht Leid und erwachsen Kräfte der Bewältigung. So ist die Familie die tragende Lebensgemeinschaft. Sie unterstützt, hilft und akzeptiert ihre Mitglieder (vgl. Huber 2005, 176) . Die westliche Individualisierung von Leiderfahrungen reduziert Bewältigungsmöglichkeiten und Bewältigungskräfte und macht Leid oft zu einem noch größeren Leid. 10 Aus dem Verständnis der ganzheitlichen wie kontextuellen Wirkeinheit ergibt sich ferner, dass nicht so sehr ein symptombezogenes Diagnostizieren und Therapieren favorisiert wird (vgl. zum Teil Seshadri 2005, 168) , sondern stattdessen nach den inhärenten individuellen wie kontextuellen a-karmischen Wurzeln der Erkrankung geschaut bzw. nach dem Stellenwert einer Lebensbehinderung oder Lebensbenachteiligung im ganzen Wirksystem (sei es im emotionalen, sozialen, geistigen, religiösen etc.) eines Menschen gefragt wird. So wie die Familie als der fundamentale Lebenskontext für ihre Behinderten und Benachteiligten sorgt und sie stützt, so ist der Behinderte gleichzeitig für die Familie und ihre Existenzsicherung da. Oft leben Familien sogar von ihren behinderten Mitgliedern und setzen sie als Bettler ein. Auf diese Weise wertet die Behinderung die Behinderten zwar sozial und materiell in der Familie auf, doch fatalerweise ist die Familie gerade deswegen darauf bedacht, ihren Behinderten ja nicht zu verlieren, also keineswegs eine Therapie oder eine Stützmaßnahme durchzuführen. Dies würde der Familie nicht nur etwas kosten, sondern der Behinderte würde seine finanzielle Bedeutung für die Familie verlieren. Aus Not kann es sogar geschehen, dass gesunde Kinder bewusst verkrüppelt werden, um sie als Bettler einzusetzen. Die Akzeptanz der Bettler-Existenz eines Behinderten wird durch die beschriebene Passivität gegenüber Leid unterstützt. Ein Symptom für die Individualisierung: Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte ist in der Bundesrepublik insgesamt von 20,6 % im Jahr 1961 auf 35,9 % im Jahr 1995 gestiegen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 29.1.1998, 12). In einer Mittelstadt wie Freiburg sind 53,3 % der Haushalte Einpersonenhaushalte (vgl. Badische Zeitung vom 7.3.2001). 10 1I2 Die Wiedergeburtsvorstellung wie das Karmaverständnis können individuell wie kollektiv zu Fatalismus, Resignation und Passivität bei der Leidbewältigung verleiten (vgl. Seshadri 2005, 167; Huber 2005, 178) . Sie können aber auch innere Gelassenheit und tiefes Vertrauen hervorrufen, die ihrerseits psychische und physische Widerstandsfähigkeit bewirken. Dank des so bewirkten entspannten Verhaltens eines Leidbetroffenen bzw. seines Lebenssystems sind möglicherweise neue Problemlösungsmöglichkeiten leichter zu entdecken." • Befreiung und Erlösung aus der Wiederkehr des Bösen und Leidvollen kann über unterschiedliche Wege erfolgen, die je nach Schulrichtung als alleinige Möglichkeit oder als sich ergänzende Wege angesehen werden können: Der erste Weg ist der Weg der Erkenntnis, d. h., durch meditative Versenkung soll der Mensch sich lösen von Begierde, Abhängigkeiten, Reichtum und Macht, die als zentrale Faktoren des persönlichen Leids wie der Ungerechtigkeit in der Welt angesehen werden. Die Loslösung des Atman (das Selbst bzw. die Seele) von seinen Lebensverhaftungen verändert das Bewusstsein eines Menschen. Dies kann die Selbsteinschätzung, die Einschätzung der Bedingungen einer Lebensbeeinträchtigung und Lebensbehinderung verbessern und damit den Umgang mit dem realen Leid verändern und stellt somit eine Art Selbstheilungsmöglichkeit durch Bewusstwerden der positiven wie negativen Lebensvernetzungen dar. Durch Meditation bzw. Yoga wird sich der Heilsuchende seiner Identität mit dem Brahman bewusst. Das endgültige Ziel auch des meditativen Weges der Erkenntnis ist es, das Atman mit dem Brahman (d. h. dem Allgöttlichen) zu verschmelzen und so die Leid-Erlöstheit zu beginnen. Das Erkennen als Innewerden des Göttlichen ist der Weg der Erlösung. Dadurch verlöschen die bösen Werke (A-Karma) des Menschen, die sonst eine neue Wiedergeburt zur Folge haben. So wird verhindert, dass die Leidensrealität sich im nächsten Leben fortsetzt. Es gilt, mit Hilfe der Meditation wie auch des Yoga den Leidenden zu der Erkenntnis zu bringen, dass das widerfahrene Leid mit ihm persönlich nichts zu tun hat. Der Mensch soll sich durch sein Bewusstsein vergegenwärtigen, dass das Leid etwas von ihm Geschiedenes ist, also eine Vorstellung, d. h. etwas, was vor ihm steht. 12 Esitdenkbar,chseKonztraiwImgonskftdie Schmerzerfahrungen — wie von den Yogis bekannt — neutralisieren bzw. psychisch anästhesieren lassen. So wird spirituell — d. h. weder sozialpolitisch noch durch direkte therapeutische Interventionen — auf physische wie soziale Leidursachen religiös reagiert. " Vgl. die Bedeutung der Entspannungstechniken für psychische wie physische Heilungsprozesse, die durch Forschungen allgemein bekannt ist. 12 Die Kognitionspsychologie hat festgestellt, dass Kognitionen, d. h. Sinnkonzepte und damit Deutungen, die Affektionen beeinflussen (vgl. Spies/Hesse 1986) . 1I3 • Der zweite Weg, der des guten Handelns, besagt, dass ebenso durch den Besuch von Tempeln sowie durch Opfer, Riten, Magie und Yantras (Tragen eines Talismans oder bestimmter heiliger Sprüche) wie auch durch Entsagungen (Askese) positives Karma entsteht und so end-gültig Erlösung bewirkt wird. Im volkstümlichen Hinduismus stellt das rituell-religiöse gute Handeln auch eine Form der alltäglichen innerweltlichen Leidbewältigung dar. „Man erwartet, dass Seele und Geist dadurch kraftvoll, dynamisch, optimistisch und beständiger werden" (Seshadri 2005, 166) und die Probleme sich von selber lösen (vgl. Seshadri 2005, 166, 177 ff.; Kakar 2005) . Da der Weg des guten Handelns die Erfüllung von Pflichten einschließt, z. B. in Familie und Lebensumfeld, zählt zu dieser Art des Handelns auch soziales Engagement für Mitmenschen. Doch das Hilfeverhalten geschieht nicht um des Nächsten willen, wie es die christliche Botschaft optiert, sondern um sich zu lösen von der Selbstverhaftetheit und um frei zu werden für das Nirwana (dem Nicht-mehr-verhaftet-Sein) , um so vom eigenen Leid befreit zu werden. Ein anderer Grund, sozial gut zu handeln, ergibt sich aus dem Verständnis, dass die Einzelperson gegenüber dem Kosmos bedeutungslos ist und nur als eine Teil- "wirk" -lichkeit des Kosmos existiert. Als Teil des Ganzen kann der Mensch sich stets nur zu sich selbst verhalten, weil es kein Gegenüber gibt, d. h., wenn er gut handelt, handelt er gut zu sich selbst, wenn er schlecht handelt, handelt er schlecht gegen sich selbst. Rein pragmatisch besitzen diese Aspekte eine gewisse Ähnlichkeit mit der europäischen Goldenen Regel: „Was Du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem anderen zu" (Mathys/Heiligenthal! Schrey 1984) . Wegen des kosmischen Zusammenhanges aller Lebewesen und aller Lebens- "wirk" -lichkeiten kennt der Hinduismus außerdem nur eine allgemeine, unterschiedslose, alle Lebewesen umfassende helfende Zuwendung und keine spezifische auf den Menschen vorrangig bezogene Karitas. Neben dem weltentsagenden wie welttranszendierenden Heilsweg der Erkenntnis gibt es den Weg des wunschlosen, pflichtgemäßen Handelns. 13 Der dritte Weg ist die Gottesliebe bzw. die Liebe zum Göttlichen. Das Göttliche wird aber nicht unbedingt als personales Gegenüber gedacht, auch wenn das Göttliche sich in der Geschichte personal in Form von Göttern inkarnierte. • Dank der offiziellen Trennung von Staat und Religion sind die staatlichen sozialmedizinischen Dienste und Einrichtungen wie in Europa und in den USA ausgerichtet auf prophylaktische wie konkrete Hilfe für Lebensbehinderte und Lebensbenachteiligte. Doch der Geist, aus dem geholfen und geheilt wird, wie das Verständnis von Solidarität und Hilfeverhalten, ist in der Bevölkerung von den hinduistischen Traditionen geprägt. Ähnliche Organisationsstrukturen, wie sie Caritas und Diakonie in Europa entwickelt haben, sind dem Hinduismus fremd. Die religiösen und philosophischen Einflüsse Europas im 19. Jahrhundert be13 Wer alles Gott anheim gibt, der wird aus Gnade von der Wiedergeburt befreit. I 14 wirkten jedoch die Entstehung von neo-hinduistischen Gesellschaften, wie die sog. Ramakrlshna-Mission" , die Mutterorganisation der inzwischen international verbreiteten Vedanta-Gesellschaften (vgl. Dehn 1998, 9) , oder die HareKrlshna-Bewegung. Die Ramakrishna-Mission - 1897 gegründet - unterhält karitative Einrichtungen und Dienste. 15 Auch wenn das Ziel die Erfassung der höchsten Wahrheit ist, wird der sozialen Arbeit dieser neuesten Richtung des Hinduismus ein gewisser Vorrang vor der reinen religiösen Existenzsicherung eingeräumt. Sie unterhält in Indien und in Europa soziale und medizinische Einrichtungen. Anderen Weltreligionen gegenüber ist sie tolerant und sozial kooperativ. Vergleichende Zusammenfassung Die Veränderung der leidbeladenen Welt - makrosystemisch - durch Gerechtigkeitsdiakonie (z. B. über eine Optimierung der Sozialpolitik, durch ein öffentliches anwaltschaftliches Engagement für Behinderte) oder - mikrosystemisch - durch Barmherzigkeits-Diakonie für einzelne Leidende (durch karitative Einrichtungen und Dienste) ist im Hinduismus nicht intendiert. Eine Barmherzigkeits-Diakonie in Form gezielter aktiver Beseitigung von Leid, Not und Krankheit ist für den traditionell geprägten Hindu „letzt-endlich" bedeutungslos. Christlich geprägtes Helfen und Heilen setzt wesentlich diesseitiger an als das Helfen der Hindus, ohne die Jenseitsperspektive zu vernachlässigen. Das konkrete soziale Helfen geschieht im Hinduismus nicht direkt nächsten-bezogen, sondern selbst-bezogen. Das Gutsein zu Menschen in prekären Lebenslagen ist primär Weg der Entsagung und eine Möglichkeit, gutes Karma für sich anzusammeln, um so selbst aus dem Kreislauf des Lebens und damit aus dem Leid aussteigen zu können, d. h., es dient der Selbst-Verlöschung und damit der endgültigen Verschmelzung mit dem göttlichen Brahman. Auch wenn das Pflichten und Tugend geleitete gute Handeln das Selbst überwinden soll, bleibt dieses Bemühen selbstorientiert. Christlich verstandene und favorisierte Selbstlosigkeit soll dagegen freimachen für den Nächsten, insbesondere für den leidenden Nächsten. Auch fördert die innerweltliche Relativierung von Behinderung und prekären Lebenssituationen aufgrund des ständigen Kreislaufes des Lebens sowie der Selbst-Verschmelzung mit dem göttlichen Brahman (das Nirwana) die Passivität bei den Betroffenen und ihrer Mitwelt. 14 Siehe auch die verschiedenen neo-hinduistischen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert (vgl. Dehn 1998, 9). 15 Ca. 110 sozial-helfende Zentren unterhält die Gemeinscha ft in ganz Indien und ca. 40 Zentren im Ausland. 1I5 Die Zusammenarbeit von Christen und Hindus zum Wohl behinderter und beeinträchtigter Menschen ist im mikrosystemischen Bereich dann möglich, wenn Christen in hinduistischen Ländern genügend sensibel sind und durch ihre Caritas und Diakonie nicht provozieren. Keinesfalls dürfen große soziale Kooperationen und eigene Initiativen erwartet werden. Ebenso wenig ist von einer direkten Übernahme von in Europa bewährten Hilfepraktiken auszugehen. Umgang mit Benachteiligung und Behinderung im Buddhismus Religionsgeschichte des Buddhismus Der Buddhismus kann als eine Weiterführung oder als Reform des Hinduismus verstanden werden. Buddha, d. h. der Erleuchtete, kam aus dem Hinduismus, wurde ca. 450 v. Chr. in Indien als Sohn eines Gouverneurs, d. h. als Mitglied einer höheren Kaste, geboren. 16 Er starb ca. 370 v. Chr. 17 Neben seiner geistlichen Lehrtätigkeit wandte er sich selbstlos und mitfühlend Schutzlosen, Außenseitern, Kranken und Verstoßenen der Gesellschaft sehr konkret zu. Buddha stiftete keine neue Religion'$ , sondern er entfaltete eine neue Lehre (Dharma) , d. h. eine Lebensweisheit zur Erlangung von Heil, Errettung und Erlösung. 19 Es gibt drei große Richtungen des Buddhismus: der Hinayana-Buddhismus = kleines Fahrzeug (n. 370 v. Chr.) , auch südliche Schule: Theravada (= Lehre der Alten) genannt, findet sich in Indien und Thailand, d. h. in Südostasien. Der Mahayana-Buddhismus = großes Fahrzeug (n. 270 v. Chr.) verbreitete sich in China und anderen nord-ostasiatischen Länder wie Korea und Japan. Der Vajrayana-Buddhismus = das diamantene Fahrzeug (ca. 600 n. Chr. entstanden) ist vor allem in Tibet anzutreffen. Wichtig ist für die europäisch-christliche Sichtweise dieser Weltreligion, dass es sich bei der Dharma, Lehre und Weisheit, nicht um eine Theologie handelt, sondern um eine Kosmo-logie in Verbindung mit einer Anthropologie. 16 Buddha überwindet das Kastenwesen, indem er von der Gleichheit aller Lebewesen ausgeht und durch die Gründung von Frauenklöstern die Stellung der Frau aufwertet, obschon die Frau im Vergleich zum Mann nur begrenzt der Erleuchtung teilhaft werden kann. 17 Nach buddhistischer Zeitrechnung lebte er von 624-544 v. Chr. (vgl. Dehn 1998, 21) . 18 Religion kommt vom lateinischen Wort „re-ligio" und bedeutet Rück-bindung, Bindung an eine transzendente, sich und die Welt überschreitende „Wirk"-lichkeit. Der Hinduismus und noch mehr der Buddhismus intendieren das Lösen aller Bindungen durch Bindung an die verschiedenen Wege der Erlösung. 19 In drei großen Konzilien der Buddha-Schüler wurde die Lehre, die Weisheit bzw. der Kanon verbindlicher Schriften festgelegt. Mit dem 2. Konzil teilte sich der Buddhismus in zwei Richtungen, Konfessionen, Schulen, Wege bzw. Fahrzeuge, wie die Buddhisten selber sagen. Auf dem 3. Konzil (253 n. Chr.) wurde die Sammlung der kanonischen Schriften erweitert und vorläufig abgeschlossen. 116 Kernelemente der buddhistischen Lehre im Blick auf Leid und Not wie auf Helfen und Solidarität Da es im Buddhismus keine personale Gott-Mensch-Beziehung gibt, werden leidhafte Lebensbenachteiligungen und Lebensbehinderungen nicht durch die Kraft und die Weisheit Gottes überwunden. 20 Den gottähnlichen Buddha-Wesen bzw. BuddhaEntfaltungen - wie sie in den Tempeln dargestellt sind - kommen im Wesentlichen Schutzfunktionen vor negativen Einflüssen zu. 21 Allen drei Hauptrichtungen des Buddhismus sind folgende Kernelemente gemeinsam: Buddha geht - ähnlich wie es der Hinduismus vertritt - vom Leiden aller Wesen aus. Da Leid nicht ausschließlich als körperliche Krankheit, als sozial-materielle Lebensbenachteiligung oder als seelisch-physische Lebensbehinderung gesehen wird, versteht der Buddhismus Leid im Sinne von Erleiden des Lebens. Leben ist fur Buddha in diesem Sinne nichts anderes als Leid. 22 Aus der grundsätzlichen Leidverhaftung des Lebens leiten sich die Grundfragen nach der Entstehung des Leids und nach der Überwindung des Leids ab. 23 • Die Ich-Bezogenheit/Ich-Anhaftung führt zu Verblendung, d. h. zu Nicht-Wissen und Nicht-Erkenntnis. Sie ist damit Ursprung der Lebensgier. Die Lebensgier bzw. der sog. Lebensdurst (vgl. Schumann 1976, 76 f.) bewirken das Leid und gehen auf die unheilvollen Wurzeln Habgier, Zorn/Hass/Wahn, Unwissenheit/ Verblendung zurück, die den lebensfeindlichen Todsünden des christlichen Lebenswissens sehr ähnlich sind. Sie verursachen das leidvolle Erleben von Armut und Krankheit und behindern dadurch das Leben. Bereits die Erfahrung oder Wahrnehmung des Benachteiligtseins bzw. des Behindertseins haben ihre Wurzel im Lebensdurst. Es ist allgemein einsichtig, dass solche Grundübel bzw. Todsünden Stress bedingtes Krankwerden, soziale Ungerechtigkeiten und Lieblosigkeiten auslösen können. 24 Das durch Wiedergeburt tradierte negative Karma erklärt das in Folge von Naturkatastrophen bewirkte oder genetisch verursachte Leid bzw. das mit der Geburt erworbene negative soziale Schicksal. 25 Das Verständnis von Karma im Buddhismus unterscheidet sich von dem des Hinduismus. Für europäisches Vgl. die erlösende Gnadentat Gottes im Christentum. 21 Die Götter spielen bei Buddha keine große Rolle bzw. werden in seiner Lehre kaum thematisiert, da sie selbst dem Werden und Vergehen unterworfen sind, auch wenn sie mächtiger und glücklicher sind als die Menschen. Sie finden ihre Erlösung ebenfalls erst im Nirwana. 22 Das Dasein in allen Existenzformen ist Leiden (Dukkha) , d. h. Schmerz, Vergänglichkeit, Elend, Unglück, Verlust, Trennung, Unzufriedenheit und Versagung. Mit dem Tod endet das Leiden nicht, sondern führt in der nächsten Existenzform zu einer Neueinkleidung, d. h. zur Wiedergeburt. 23 Dies sind zwei lebenspraktische Grundfragen, die in der karitativen Diakonie theologisch ebenfalls im Zentrum einer christlichen Handlungstheorie stehen (vgl. Pompey 1997a) . 24 Nach christlicher Tradition bereiten Begierde, Laster, Sünde etc. ebenfalls Leid und Not. 25 Judentum und Christentum kennen das unerklärbare, schicksalhaft erfahrene Leid, wie es im Buch Hiob beschrieben wird. Diese Leidensrealität ist jedoch mit dem Theodizee-Problem verbunden. 20 1I7 Denken ist die buddhistische Vorstellung der Karmawirkung insofern nachvollziehbar, als durch Auslöschung von Habgier, von Zorn und Hass, von Eigensinn, von Ich-Bezogenheit/Ich-Anhaftung das Leiden am eigenen Leid reduziert werden kann und somit die erlebte Leidhaftigkeit einer irreversiblen sozialen Benachteiligung und psycho-physischen Behinderung relativiert wird. Dies mag die Bewältigung irreversibel geschädigten Lebens in gewisser Weise erleichtern, führt aber nicht zu einer engagierten politischen, sozialen oder therapeutischen Kompensation bzw. Verminderung der negativen Folgen einer Lebensbehinderung und Lebensbeeinträchtigung. • Durch Ausschaltung von Lebensdurst (Gier) und Lebensanhaftung ereignet sich ein Zustand, in dem Belehrung und damit Einsicht möglich wird. Zur Reduzierung des Leiderlebens und zur Erleichterung der Leidbewältigung favorisiert der Buddhismus darum als eine Art Selbsthilfe den Weg der Erkenntnis, d. h. Einsicht in die Ursachen des Leids, wie auch den Weg der loslassenden Meditation und als Element der Fremdhilfe das tugendhafte Handeln aus Allgüte, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut. Diese Wege können dazu beitragen, dass sich der Betroffene wie der Helfende von der Selbstfixierung befreien. Unbestritten haben ein meditatives Sich-Lassen und tugendhaftes Handeln konkrete psychosoziale Auswirkungen. • Der achtteilige Pfad, den Buddha zur Aufhebung des Leids empfiehlt, kennt weder kultisch-rituelle noch sozialaktive Elemente, d. h. weder liturgisch-sakramentale noch sozial-diakonische Handlungen. Er ist primär Weg zur Erkenntnis, um die Ursachen der Leidverhaftung zu überwinden. Der achteilige Pfad besteht aus: rechte Ansicht/Erkenntnis, rechtes Entschließen wie rechte Gesinnung/Bestreben, rechtes Wort wie rechte Rede (d. h. Vermeiden von Lüge, übler Nachrede und Geschwätz wie gelingende Kommunikation im Sinne von Echtheit, Wertschätzung und Empathie) , rechte Tat (Vermeidung von unsittlichen Handlungen wie ebenso richtige geistige, psychische und soziale Lebenskultur) , rechtes Leben wie rechte Lebensführung, richtige Lebensökonomie und rechten Lebenserwerb (Vermeiden von Berufen, die wie Metzger, Jäger, Waffen- und Drogenhändler anderen Wesen schaden) , rechtes Streben/Mühen wie rechte Anstrengung/Energie (Vermeiden von unheilvollen Karma-Taten wie auch richtiges Haushalten mit der Lebens-Energie) , rechtes Denken wie rechte Achtsamkeit/Geistesgegenwart und rechtes Sich-Versenken wie rechte Sammlung/Konzentration verbunden mit einer rechten Lebensvision. 26 Dank dieses achtstufigen Pfades lässt sich die menschliche Leidverhaftung überwinden, d. h., das Leid wird bedeutungs- und wirkungslos, wird zum Nichts. 26 Die deutschen Übersetzungen variieren (vgl. z. B. Maddox 2005, 210) . 1I8 • Das Spezifikum des Umgangs mit Leid, sei es eine Benachteiligung oder eine Behinderung, durch ein „ Sich-Lassen " und nicht — wie im europäischen Denken verbreitet — durch ein „ Sich- Wollen"" wird durch eine weitere Grundannahme Buddhas verständlich. Für Buddha gibt es kein Ich, kein Selbst, was z. B. Subjekt des Handelns sein und die Geschichte überdauern kann.Z 8 Das Selbst, das „Mein" , das „Ich" favorisieren den Lebensdurst, Habgier, Zorn/Hass/Wahn, Unwissenheit/Verblendung und sind darum Ursprungsorte des Leids. Aus dem Selbst (Atman) muss darum ein Nicht-Selbst (An-atman) werden, um zu erkennen, dass der ganze Kosmos ein einheitliches Ganzes ist, in dem der Einzelne verlöscht. 29 Nur so ist das Leid zu überwinden. Die Auflösung des Selbst macht frei, unbeschwert und weise. Aus dem An-atman, dem Nicht-Selbst, folgt eine utilitaristische Nächstenliebe. 30 Sie hilft dem Helfer, sich von seiner Selbstverhaftetheit zu befreien, und fördert so sein Verlöschen im Nirwana. Außerdem erwirbt ein Buddhist positives Karma, wenn er einem anderen hilft bzw. gute Taten vollbringt. Dieses positive Karma löscht wiederum negatives Karma aus und verhindert oder beendet sogar den leidvollen Kreislauf der Wiedergeburt. Es gibt zwar Leid im Buddhismus, aber letztlich keine Person, die leidet. Es gibt nur physische, emotionale, geistige, voluntative und soziale Daseinsformen von Menschen, die leiden. • Das Kausalitätsdenken des Hinduismus wird durch ein Verständnis der konditionalen Wechsel Wirksamkeit' allen Lebens fortentwickelt, das besagt: Alles ist bedingt. Es gibt keine autonome Selbstbewegung und keine Konstanz, alles ereignet sich, ist stets nur eine augenblickliche „Wirk" -lichkeit und befindet sich in permanenter Veränderung. Darum gibt es kein fortdauerndes Ich. Ich-BewusstWie es in der calvinistischen Tradition des diakonischen Handelns ausgeprägt ist. 28 Statt des Selbst-Ich-Atmans gibt es für den Buddhismus fünf Daseinsfaktoren (Skandhas; vgl. Seegers-2004, 2) , d. h. menschliche Funktionen, sich verändernde menschliche Zustände wie den Körper, die Empfindungen, die Wahrnehmungen, die Willensregungen und das Bewusstsein. Sie alle sind einem ständigen Wechsel und damit dem Werden unterworfen. Sie besitzen keine bleibende Stabilität, keine Identität usw. Damit setzt sich der Buddhismus vom Hinduismus seiner Zeit ab, der durchaus ein Selbst und ein Ich, d. h. ein Atman, kennt, das sich mit dem letzten Welt- und Gottesprinzip „Brahman" vereint und identisch wird. 29 Der Buddhisnus kennt keine Substanzontologie, höchstens eine Funktionsontologie. Alles ist im Werden und Vergehen. In der griechischen Philosophie ließe sich sagen panta rei, d. h., alles fließt, nichts ist stabil, bleibend. 30 Eine entfernte Ähnlichkeit zur sog. Goldenen Regel der Bibel oder auch zum Kantschen Imperativ ist auffällig. Dieses Denken findet sich auch im Judentum, z. B. im sog. „Tun-Ergehen-Zusammenhang" zwischen den Taten des einzelnen und den Folgen für die Gemeinschaft. Bei Paulus findet sich dieses Denken in seinen Bildern von der Kirche als Leib Christi (vgl. Röm 12,4; 1 Kor 12,12 ff.) . 31 Die westliche Chaostheorie macht deutlich, dass die Natur, d. h. der ganze Kosmos, auf dem Prinzip von Chaos und Selbstorganisation basiert. Die Evolutionstheorien machen deutlich, dass die Entwicklung auf einem Übersprung von Kausalitäten und Ordnungsstrukturen basiert und dadurch eine nicht bestimmte Aktion und Reaktion eintreten. Dies scheint im Buddhismus nicht erklärbar zu sein. Im „Nein" einer Zelle basiert die Wucherung des Krebses. Wie kommt das Böse und das Gute in das Lebenssystem? 27 119 sein konstituiert sich ständig neu. Wenn alles gleich vorbei ist, dann sind Leid und Freude, also auch Behinderung und prekäre Lebenslage, im Augenblick der Wahrnehmung bereits nicht mehr existent. Das Leben ist total vergänglich und sollte in diesem Sinne bewertet werden. 32 Die Entstehung von Leid wie Motivationen zum Helfen liegen ebenfalls im Verständnis der konditionalen Wechselwirksamkeit begründet. Die „Wirk"-lichkeit des Lebens lässt sich als Kraftfeld verstehen. Wenn in diesem Lebenskraftfeld ein Ereignis destruktiv wirkt, dann nimmt das ganze Feld Schaden. Ist ein Teil behindert oder in einer prekären Lebenslage, dann ist das Ganze behindert und in einer prekären Situation. Ereignet sich etwas konstruktiv, z. B. durch gutes Handeln, dann wird das Ganze positiv geprägt. Hilft jemand einem Betroffenen, dann hilft er dem Ganzen. Jeder ist Teil des Ganzen. Daraus folgt: „Anderen schaden" heißt „sich selber schaden" . „Anderen nützen" bedeutet „sich selber nützen". Relevante Aspekte einzelner Buddhistischer Richtungen 1. Beim Hinayana- bzw. Theravada-Buddhismus (Lehre der Alten) steht - wie beschrieben - die individuelle Beseitigung der unheilvollen Wurzeln des Karmas im Mittelpunkt. Die Mitmenschlichkeit besitzt keine stark ausgeprägte zwischenmenschlich ethische oder persönlich erlösende Qualität (vgl. Teruo 1996; Rothberg 1996) . Für die gewöhnlichen Menschen ist der monastische Weg schwer gangbar, was dazu führt, dass neben dem streng der Lehre verbundenen Buddhismus der Mönche ein volkstümlicher Buddhismus praktiziert wird. So entstand z. B. neben dem jenseitigen ein diesseitiger und neben dem kanonischen ein vorrangig ritualisierter Buddhismus, der auch helfende und heilende Funktionen wahrnimmt (vgl. Chuengsatiansup 2005, 226) . Primärer Ort der Hilfekultur der Laien ist die Familie. Eltern und Alte, Kranke, Blinde und körperlich wie geistig Behinderte sind in ihrer Familie geschützt und finden Hilfe. Man schämt sich nicht, wenn ein Familienmitglied behindert ist oder sich in einer prekären Lebenssituation befindet (vgl. Rothberg 1996, 34) . 2. Der Vajrayana-Buddhismus Tibets ist vorwiegend ein monastischer Buddhismus, in dem die Versenkung die größere Heilsrelevanz besitzt als das soziale Handeln. Nicht von ungefähr sagte der Dalai Lama - einer der bedeutendsten Repräsentanten des Vajrayana-Buddhismus Tibets - auf einem buddhistischen Großtreffen 1997 in Bargteheide bei Hamburg: So wie das Christentum von der Meditationskultur des Buddhismus lernen könne, so der Buddhismus von der sozialen Hilfekultur der christlichen Kirchen. 32 d. h. mit einer ähnlichen Wirkung wie beim christlichen „ memento mors " I 20 3. Der Mahayana-Buddhismus, das sog. große Fahrzeug, ist wesentlich alltagsnäher bzw. sozial relevanter und stellt zudem die Einheit aller Wesen stärker heraus. Das Ziel der Befreiung bleibt das gemeinsame Verlöschen aller bzw. der ganzen Welt im Nirwana. 33 Darum sind die eigenen unheilvollen Wurzeln der Selbstverhaftung durch Erleuchtung bzw. Erkenntnis zu vernichten, doch ebenfalls ist den Mitmenschen bzw. der sonstigen Natur zu helfen. Das gilt auch für Kranke, Alte, Behinderte, Verarmte, Heimatlose etc. Hilfe für Benachteiligte und Behinderte erweckt und kultiviert die Spiritualität des Mitgefühls (im Sinne der Barmherzigkeit) und stellt eine wichtige spirituelle Übung dar. Zwei zentrale Lebenskompetenzen sind Weisheit (Schulung des Geistes) und Mitgefühl34 (Schulung der Sittlichkeit) . Die Weisheit ist dem Gewinnen von Erleuchtung gleichzusetzen. Zwillingsbegriff zur Weisheit ist das Mitgefühl/Erbarmen (Karuna) . 35 Mitgefühl ist „eine besonders hervorragende" Eigenschaft aller Buddhas (d. h. aller bereits Erleuchteten) . Mitgefühl wird auf der Basis der Weisheit, d. h. der Erleuchtung, ausgeübt (Dehn 1998, 34 f.) . Es ist verbunden mit Freundlichkeit und Güte. „Personifiziert ist das erleuchtete Erbarmen im Bodhisattva Avalokitesvara, der das Elend der ganzen Welt sieht und mit seinen unzähligen Händen Barmherzigkeit ausübt" (1998, 35) . Dieser Bodhisattva hat zwölf Gesichter, um das Leid der Menschen zu erkennen. 36 Über die allgemeinen Grundannahmen des Buddhismus hinaus, wie z. B. den Kreislauf der Welt und das ewige Werden, das Karma und die Wiedergeburtsvorstellungen und die zentrale Bedeutung der Erleuchtung als Weg der Erlösung sowie das Nirwana als Ort des Erlöstseins, findet sich in einer sinn j apanischen Richtung des Mahayana-Buddhismus, dass Buddha nicht im Nirwana verlöscht, sondern in einem spirituellen Körper an den Freuden des Paradieses teilhat. Aus diesem Paradies kommt Buddha aus Liebe und Mitgefühl zu den Menschen, um sein universales Heilswerk zu realisieren. Auch diese Vorstellung weist strukturelle Analogien zur Christo-logie auf und ermöglicht eine interreligiöse praxisrelevante Verständigung. Sie ist vor allem in China, Korea, Japan, Vietnam bei den einfachen Menschen stark verbreitet (vgl. Zuzuki 1985; Zotz 1991) . 34 Das heißt, dass Mitgefühl nicht nur Empathie gegenüber dem Leiden des anderen ist, sondern auch gegenüber seiner Freude. Leid-volle wie freud-volle Lebensteilung gehören auch in der christlich karitativen Diakonie zusammen. Empathie ist in dem Wunsch des Wohlwollens und der Erkenntnis der Gleichheit aller eingebettet. 35 Mitgefühl und Weisheit werden als zwei Flügel, die zum Buddhazustand fliegen, betrachtet. Das Zusammenwirken von Mitgefühl und Weisheit wird noch mit einem anderen Bild beschrieben. Die Wahrheit beschreibt die Augen, mit denen man sieht und die den Menschen auf den Weg zur Erleuchtung führen. Doch die lebenswichtigen Augen reichen nicht aus, um einen Weg wirklich einzuschlagen. Dazu braucht der Mensch zwei Beine, die für das Mitgefühl stehen. Mitgefühl und Weisheit dürfen daher nie getrennt werden. Ohne Weisheit weiß man nicht, wohin man geht, aber ohne Mitgefühl — auch wenn man die vollkommene Weisheit besitzt — kann ein Ziel nicht erreicht werden. 36 Ein Bodhisattva kann auch ein Mönch oder Laie, ein Mann oder eine Frau sein, der oder die sich durch Gelübde für den Weg der Selbstlosigkeit, der Heiligung und Erleuchtung entschieden hat, um sich der Leidbefreiung anderer zu widmen (Dehn 1998, 35) . 33 121 Neue Ansätze eines buddhistischen Hilfeverhaltens und Solidaritätsverständnisses Da der Buddhismus in seiner älteren Form zumindest keine Theologie beschreibt, ist er sehr offen und tolerant gegenüber anderen Religionen. Industrialisierung, Entstehung weltweiter Kommunikations- und Interaktionsnetze sowie soziale Verelendung und Benachteiligung der Menschen insbesondere in den buddhistisch geprägten Entwicklungsländern und allgemeine Demoralisierung des Lebens auf der einen Seite sowie Begegnung und Austausch des Buddhismus mit den westlichen und christlichen Kulturen bzw. Kirchen (vgl. Teruo 1996, 41) etc. auf der anderen Seite veranlassten westlich gebildete buddhistische Mönche zu einer Neureflexion bzw. Weiterentwicklung des Buddhismus. So gelang es eine traditions-, schul- bzw. konfessionsübergreifende Gesellschaft zu gründen: das Internationale Netzwerk Engagierter Buddhisten (INEB) in Bangkok (gegründet 1989) sowie die World Fellowship of Buddhists (gegründet 1952 in Hiroshima). Selbst wenn moderne buddhistische Hilfsorganisation wie die Tsu-Ji in Taiwan enorme materielle Hilfeleistungen erbringen, bleibt zu beachten, dass sie eigentlich eine spirituelle Hilfe intendieren. Die materielle Hilfe stellt lediglich eine Voraussetzung und Ermöglichung der spirituellen Begleitung Not leidender Menschen dar. Institutionelle Großstrukturen des Heilens und Helfens -analog zum Deutschen Caritasverband bzw. Diakonischen Werk - sind ansonsten dem Buddhismus eher fremd. In Deutschland37 gibt es die Deutsche Buddhistische Union mit Sitz in München oder das Tibetanische Zentrum in Hamburg. Ihr Engagement liegt schwerpunktmäßig in der seelischen Hilfe durch große Achtsamkeit der Helfer und durch Förderung der Lebensergebenheit der Betroffenen. Die westlichen, abrahamitischen Weltreligionen Die helfende Zuwendung zu Not leidenden und kranken Menschen ist in den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam stark motiviert und ausgeprägt. Das jüdische Verständnis und die daraus resultierende Praxis sind den christlichen Optionen des Helfens sehr verwandt, während der Islam sich in der Theologik und Anthropologik seiner Solidarität und seines Hilfeverhaltens vom Judentum und Christentum unterscheidet. 37 In Deutschland wie in England wurden bereits 1907 die ersten Buddhistischen Vereine gegründet. 122 Umgang mit Benachteiligung und Behinderung im Judentum Das Selbstverständnis von Leiden im Judentum Auf der einen Seite wird das ganze Leben als von Gott gegeben aufgefasst. Auf der anderen Seite entstehen Lebensbeeinträchtigungen durch Armut und Migration als Folge von Ungerechtigkeit, Gewalttätigkeit, Missernten, Naturkatastrophen usw., die nicht von Gott bereitet sind. 38 Das Alte Testament sieht Armut, Not und Leid als Unglück für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft des Volkes. Dies wird mit der Lehre vom Tun-Ergehen-Zusammenhang erklärt. Sie beinhaltet, dass schlechte und böse Taten leidvolle Erfahrungen nach sich ziehen, wie Krankheiten und soziale Notlagen; während gutes Verhalten gutes Ergehen zur Folge hat. Dabei ist wichtig, dass der „Tun-Ergehen-Zusammenhang" nicht monokausal verstanden wird, sondern dass der Mensch sich durch sein Tun eine Sphäre schafft, die für ihn Heil oder Unheil bewirkt. Diese Sphäre ist auf den einzelnen wie auch auf die Gesamtheit des Volkes ausgedehnt (vgl. Koch 1955, 1-42) . Im Blick auf Lebensbehinderungen und Lebensbeeinträchtigungen bedeutet das: Ist einer krank und behindert, dann sind alle krank und alle behindert. Dies bildet die Grundlage für praktizierte Solidarität und konkretes Helfen. Erinnert sei an analoge Vorstellungen bei den fernöstlichen Religionen. Mit dem babylonischen Exil (ab 586-536 v. Chr.) schwächt sich das kollektive Denken ab, und ein individuell ausgerichtetes Denken breitet sich aus. Die Grundüberzeugungen Israels werden nun auf Einzelpersonen übertragen. Das Verständnis Gottes als Grund der helfenden Diakonie Für das jüdische Verständnis der helfenden Diakonie ist das alttestamentliche Gottesbild charakteristisch: „Der Herr ist König" und sein König-Sein und sein Gott-Sein sind geprägt von seinem Mit-Sein und Für-Sein mit Schwachen und Armen (vgl. Müller 1999, 29) . Sein heiliger Name, den er Moses vor dem Exodus offenbarte, lautet „Jahwe", das heißt: Ich bin bei Euch, ihr seid nicht verlassen, ich bin treu, einer ist für euch da und ist euch nahe (vgl. Ex 3,14) . Jeder ist vor Jahwe ein Armer und Bedürftiger. Reichtum ist immer eine Gabe Gottes, jeder Mensch ist von Natur aus arm und unbeschützt (Gen 3,21; Ps 104) . Darum betet auch der Reiche: „Ich bin elend und arm" (Ps 40,18; 70,6; 86,1; 109,22). Besitz und Reichtum können letztlich nicht ererbt werden, sondern werden aus der Hand Gottes empfangen. Biblisch gibt es streng genommen kein Privateigentum, sondern nur ein Lehnseigentum. 38 I 23 Das religiöse Verständnis der Solidarität Das Leben hat seinen Ursprung in Gott und ist Geschenk Gottes. Die Offenheit für das „Du" und das „Wir", wie sie bereits im Genesisbuch anzutreffen ist, charakterisiert den Wert gelingender menschlicher Lebensbeziehungen. Somit besitzt die Solidarität im Volk Israel eine besondere Stärke und Relevanz. Aufschlussreich für Solidarität und helfende Diakonie ist das hebräische Verständnis von Gerechtigkeit: Zedaka (Tsedaqa) 39 , d. h. Gemeinschaftstreue, Heilvoll-Wirken (vgl. Jenni/Westermann 1976) , aber auch Tugend, Hilfe, Milde, Güte, Wohltätigkeit und Almosen. Zedaka meint das verbindliche und verlässliche Wieder-in-Kraft-Setzen der Lebensrechte des Menschen. Gerechtigkeit beschränkt sich nicht auf das Geben von Almosen, sondern betont die rechtliche Verpflichtung, ein Leben in Würde für alle zu ermöglichen (vgl. Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e.V. 1997, 28) . Sowohl durch Werke der Barmherzigkeit als auch durch die Forderung der Gerechtigkeit soll den Armen und Leidenden in Sinne der Botschaft des Alten Testamentes geholfen werden. Die biblische Sicht von Krankheit und Behinderung Die Frage des Krankseins wie überhaupt das Thema Krankheit und Lebensbehinderung spielt mit Ausnahme der Psalmen im Alten Testament keine so gravierende Rolle. Ebenso ist Behindertsein kein Thema der Volksgemeinschaft. Die Sorge für Kranke wie Behinderte fällt in den Bereich der Familie oder des Sippenverbandes. Krankheit und Behinderung sind eine Herausforderung der mikrosystemischen Solidarität, durchaus unter Zuhilfenahme von Ärzten, wie bei Jesus Sirach (180 v. Chr.) zu lesen ist (Jes Sir 37,27-31). Die Hilfe für irreversibel physisch Lebensbehinderte wird im Alten Testament nicht direkt angesprochen, lediglich der Schutz für sie: „Du sollst deinen Nächsten nicht ausbeuten und ihn nicht um das Seine bringen. Der Lohn des Tagelöhners soll nicht über Nacht bis zum Morgen bei dir bleiben. Du sollst einen Tauben nicht verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen; vielmehr sollst du deinen Gott fürchten. Ich bin der Herr" (Lev 19,13-14) . Vielleicht lässt sich diese Zurückhaltung bei physischen Lebensbehinderungen dadurch erklären, dass Behinderte wegen fehlender medizinischer Hilfsmöglichkeiten kaum eine Heilungschance besaßen. Die psychische und geistige Lebensbehinderung wie auch das physische und geistige Behindertsein im Alter werden nicht ausdrücklich thematisiert. Handlungsfelder in den Zedaka (Tsedaqa) sind: 1. Speise für die Armen; 2. Kleidung für die Nackten; 3. Auslösung der Gefangenen; 4. Versorgung für wandernde Arme; 5. Aussteuer für mittellose Bräute und Fürsorge für die Witwenschaft; 6. Rechtsschutz für die Waisen; 7. Sorge um Wohnung; B. Lebensunterhalt für die ältere Generation; 9. Lebensgrundlage für die jüngere Generation; 10. Versorgung der Kranken und Schwachen; 11. Armenbegräbnisse. 39 I 24 Zur Zeit Jesu gab es in Israel öffentliche Heilungszentren für Kranke und körperlich Behinderte, wie das Heilungszentrum zu den fünf Säulenhallen am Teich Betesda zu Jerusalem zeigt (Joh 5,2). Dort suchen körperlich Behinderte in Heilquellen Linderung oder Genesung von Ihrer Krankheit. Die dazu erforderlichen Pflegedienste wurden von Freunden und Angehörigen erbracht. Die Pflege der Kranken, Alten und damit auch der Behinderten geschah in der Familie. Ärzte wurden nur zu Heilzwecken kurz konsultiert. Zusammenfassende Einschätzung des Hilfeverhaltens im Judentum Das Alte Testament sieht Armut, Not und Leid als Unglück für den einzelnen Menschen. So fordert der barmherzige Gott Barmherzigkeit und Gerechtigkeit von seinem Volk (Lev 19,18). Gottes Zuwendung zu den Elenden, seien sie arm, fremd oder krank, gilt allen. Der heutige Staat Israel40 verfügt über eine gut ausgebaute Wohlfahrtspflege neben einer Kultur des privaten Hilfeverhaltens. Abgesehen von den staatlichen Sozial- und Gesundheitssystemen finden sich eine Vielzahl von Freiwilligenorganisationen: die national-religiöse Frauenorganisation Emunah zur Betreuung von Kindern aus zerrütteten Familien und zur a llgemeinen Sozialhilfe, die Elem - Beratung und Hilfe fürJugendllche in Gefahr und Not mit pädagogischen Programmen für gefährdete Jugendliche, die Eran, ein Verband der Telefonseelsorge, die Israelische Krebshilfe und die Yad Sarah, eine Organisation zur Unterstützung der häuslichen Krankenpflege. In den westlichen Ländern dürfte die jüdische Praxis der Barmherzigkeit entsprechend den jeweiligen nationalen Wohlfahrtssystemen - ähnlich ausgeprägt sein. Synergetische karitativ-diakonische Kooperationen sind mit jüdischen Wohlfahrtsorganisationen leicht möglich. In Deutschland wandelte sich mit dem fachlichen Ausbau der Wohlfahrtsdienste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die jüdische Zedaka - ähnlich wie Diakonie und Caritas - zu einem großen Hilfswerk. Heute ist z. B. die zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (1917 in Berlin gegründet) eine der sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrt in Deutschland. Die Behindertenhilfe vermeidet die Absonderung der Betroffenen in Spezialeinrichtungen und fördert den Verbleib in den Familien durch ein System offener Hilfen wie Familienberater, soziale Betreuungsstellen der Gemeinden etc. Die Betreuungsdienste und Versorgungseinrichtungen sind für Juden wie für Nichtjuden geöffnet. Die Hauptmotive für das Hilfeverhalten sind nie völlig untergegangen, um ihre Reaktualisierung wurde immer wieder gerungen: 1. der Glaube an die Gerechtigkeit, der Tun-Ergehen-Zusammenhang, die „synthetische Lebensauffassung" und 2. vor allem aber die Hilfe als Chaesaed, als Treuehandeln, als gemeinschaftsmäßiges Verhalten (vgl. Ps 109,16), das auch Barmherzigkeit und Liebe heißt (vgl. Seibert 1989) . 40 125 Umgang mit Benachteiligung und Behinderung im Islam Die Position des Islam zu Lebensbenachteiligung und Lebensbehinderung ist nicht einheitlich bzw. eindeutig. Bewertung und helfende Unterstützung unterscheiden sich nicht nur nach den Glaubensrichtungen, z. B. Sunniten (ca. 85 % des Islam) und Schiiten (ca. 15 % des Islam) 41 , sondern auch nach den jeweiligen Volkstraditionen, die islamisch geprägt sind. Im Unterschied zum Christentum stellt der Islam vorrangig kein theologisches Denksystem dar. Seine heiligen Bücher - der Koran (direktes Wort Gottes) , die Sunna (Lebensanweisungen des Propheten) und Hadithe (Erzählungen und Erklärungen) - sind eher ethisch relevante Handlungsanweisungen. Wird jedoch nur der Koran als letztverbindlich für das Handeln angesehen, wie dies einige westlich gebildete Muslime vertreten, und zudem der von den Nationalkulturen geprägte Islam abgelehnt, dann sind die Handlungsimperative z. B. Benachteiligten und Behinderten gegenüber den humanen Handlungsoptionen der anderen Hochreligionen ähnlich. In den Ländern des real existierenden Islam ist eine solche universal-humane Praxis jedoch nur bedingt anzutreffen. Verständnis und Beurteilung von Benachteiligung und Behinderung Wie bei den anderen Religionen ist das Leben des Menschen auch im Islam im Allgemeinen heilig und darf nicht willentlich vernichtet oder ausgegrenzt werden. 42 Nur Gott kann Leben geben und kann Leben nehmen. Das Leben selbst ist Elend, Schmerz und Traurigkeit: „Wahrlich, wir haben doch den Menschen in Bedrängnis erschaffen" (Koran, Sure 90,4; vgl. Sure 9,51; Sure 57,22). Gott (Allah) ist Urheber des Leids. Diese Vorstellung unterscheidet sich von der jüdisch-christlichen Sicht der Verursachung von Leid. Mit Bedrängnis, Benachteiligung und Behinderung prüft Allah den Menschen auf seine Treue zu Ihm und seine Unterwerfung unter Seinen Willen (Sure 2,155-157; vgl. auch Sure 67,2). Neben dem von Allah bewirkten Leid (Sure 113,1-4) können Krankheit und Not auch von teuflischen Mächten (Shaytan Satan und anderen bösen Geistern) verursacht sein (Sure 114,1-5) . 43 Da Gott (Allah) der allein Bestimmende und Handelnde ist, liegt es letztlich in seiner Allmacht und in seinem Wollen, was aus dem Lebensschicksal des einzelnen wird. Ergebenheit 1n den Willen Gottes ist Pflicht eines Gläubigen und darum zentrales 41 Ferner gibt es weitere Gruppen der Schiften, wie z. B. die Aleviten, die Sufiten, die Drusen, die Agha Khan-Ismailiten, die Ismailiten und Zaiditen. Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten beziehen sich im Wesentlichen auf die Leitungsämter, auf die Auslegung des Korans und auf die Rechtsprechung. 42 Aus diesem Grund stehen die Selbstmordattentate im Widerspruch zum Korangebundenen Islam. 43 Diese Sicht spielt eine vorrangige Rolle bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen, die mit Besessenheit oder schwarzer Magie verbunden werden (vgl. Meah 2005, 157) . I 26 spirituelles Lebenselement. Das Schicksal (Kismet) wird einzig von Allah geprägt. „Kein Unglück trifft ein, weder auf der Erde noch bei euch selber, ohne dass es in einer Schrift (verzeichnet) wäre, noch ehe wir es erschaffen" (Sure 57,22). Die Ergebung in den Willen Gottes ist der sicherste Weg, Frieden mit sich, mit seinem Leben und untereinander zu finden. Im Vertrauen auf Gott lassen sich das Leben und damit Leiden meistern und ertragen. „Und gewiss werden wir Euch prüfen durch Angst, Hunger und Minderung an Besitz, an Menschenleben und Früchten. Doch verkündige den Geduldigen eine frohe Botschaft, die — wenn sie ein Unglück trifft — sagen: ,Wir gehören Allah und zu ihm kehren wir zurück' " (Sure 2,155-156) . Dieser relative Fatalismus mindert im Vergleich zum Judentum und Christentum möglicherweise in muslimischen Ländern den Aufbau eines breiten Netzes sozialtherapeutischer Organisationen und Dienste, es sei denn die sozialen wie medizinischen Hilfsformen stehen in Verbindung mit Missionsaktivitäten, wie z. B. bei der Al-Fatha, der Hisbollah und anderen (siehe unten) . Ohne Bedenken nehmen die Mitglieder der reichen islamischen Oberschichten medizinische Hilfen und Einrichtungen vor allem im westlichen Ausland in Anspruch und überlassen ihr Kranksein nicht dem Schicksal Allahs (Kismet). Hilfsmöglichkeiten und Hilfeverhalten im Islam Es geht dem Islam nicht um eine soziale und caritative Mitgestaltung der Welt durch Menschen, sondern um die gehorsame Erfüllung der Weisungen Allahs, die der Gemeinschaft der Muslime ein soziales Miteinander schenkt. In der Tradition der Sunna heißt es: „Wer einen Gläubigen von einer Traurigkeit dieser Welt befreit, den befreit Allah von einer Traurigkeit am jüngsten Tag, wer einem Bedrängten Erleichterung schafft, dem schafft Allah Erleichterung in dieser und in jener Welt; wer die Fehler eines Muslims bedeckt, dessen Fehler bedeckt Allah in dieser und in jener Welt, Allah hilft dem Menschen so, wie der Mensch seinem Bruder hilft." Nicht so sehr aus mitmenschlicher Einsicht, sondern aus Gehorsam fördert die islamische Erziehung die Tugenden: Güte, Barmherzigkeit, Mitgefühl, Wahrhaftigkeit, Geduld, Treue, Vertrauen, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft. Unbestritten sind diese Grundhaltungen für ein solidarisches und helfendes Verhalten gegenüber Lebensbenachteiligten und Lebensbehinderten von großer Bedeutung. Konsequent ergibt sich daraus, Menschen mit einer schweren Behinderung, die nicht in der Lage sind für sich zu versorgen, für-sorglich und mit Bedacht zu betreuen: „Und gebt nicht euer Geld, das Gott euch zum Unterhalt bestimmt hat, den Lebensbehinderten (,sufaha') ! Beschafft ihnen (vielmehr) damit Unterhalt und Kleidung! Und sprecht ihnen freundlich zu! " (Sure 4,5). Auf den Tugenden wie Nachsicht, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit (vgl. Trutwin 1996, 230) bzw. Wahrheit, Brüderlichkeit und Güte basiert auch die Solidarität im Islam. „Die Gläubigen sind ja Brüder" (Sure 127 49,10), sie sind Männer und Frauen, untereinander Freunde (vgl. Sure 9,71) . 44 So sollen auch Benachteiligte und Behinderte in die Lebensgemeinschaften integriert werden (vgl. Sure 24, 61) . Das medizinische und seelische Heilen und Helfen Medizinisches, physiotherapeutisches, psychologisches oder soziales Helfen und Vorbeugen sind vom Wollen Gottes abhängig. Unter dieser Rücksicht gibt es im Islam eine medizinische Wissenschaft und Praxis, die gemäß der von Allah geschaffenen und bestimmten natürlichen Vorgaben heilt und hilft. 45 Die religiöse Akzeptanz einer Leidensrealität im Sinne der muslimischen Ergebenheit in den Willen Gottes ist für die Wirksamkeit medizinisch-therapeutischer Maßnahmen jedoch erste Voraussetzung. Hilfen durch organisierte und fachlich qualifizierte Einrichtungen und Dienste Jeder ist für sich selbst verantwortlich und hat sein Leben gemäß den Vorgaben Allahs zu gestalten und zu bewältigen. Darüber hinaus kommt der Gemeinschaft der Gläubigen die Sorge für den Erhalt des Lebens zu, eine Aufgabe, die in islamischen Ländern vom Staat oder vom Kalifat wahrgenommen wird. Das Wohl der Gemeinschaft besitzt dabei Vorrang vor dem des Individuums. Der westliche Selbstverwirklichungs-Individualismus ist dem Islam fremd. Auch wenn alle Menschen gleich sind, besitzen allein die Rechtgläubigen einen Anspruch auf Solidarität und Hilfe durch die muslimische Gemeinschaft. Der Hausgemeinschaft, d. h. der Familie, kommt die Hauptsorge für die Lebensbehinderten und Lebensbenachteiligten zu. Dies schließt materielle und seelische Hilfe wie Ernährung und Schutz für Alte, Invalide oder Kranke ein. Aus der Sure 24,61 lässt sich diese Kompetenz ableiten: „Es ist keine Sünde für den Blinden und keine Sünde für den Lahmen und keine Sünde für den Kranken und auch keine für euch selbst, wenn ihr (mit ihnen) in euren Häusern esst oder in den Häusern eurer Väter, Mütter, Brüder, Schwestern oder in den Häusern eurer Oheime und Tanten von Vaters Seite oder Mutters Seite oder in solchen Häusern; von welchen ihr die Schlüssel besitzt oder in den Häusern euerer Freunde. " Diese 44 Im katholischen Christentum ist Helfen schöpferische, karitativ-soziale Mitgestaltung der Welt, um so der in Jesus Christus erfolgten Inkarnation der Liebe Gottes konkrete und endgültige Gestalt zu verleihen. Diakonische Caritas ist im Christentum mehr als ein Gebot und eine Pflicht. Es ist Ausdruck des Glaubens, dass sein Reich kommt, das mit jeder caritativen Tat bereits anfanghaft beginnt. Das caritative Reich Gottes ist dabei nicht ein reines Werk der Menschen, sondern Geschenk Gottes (Gnade) , so wie es die protestantische Variante des Christentums verdeutlicht. 45 Die Reihenfolge einer verbindlichen Erkenntnisgewinnung beginnt mit dem Koran, dann folgt die Sunna, erst dann ist die Hadith zu befragen. Wenn sich auf diese Weise eine Frage nicht klären lässt, dann ist die Vernunft und damit die natürliche Erkenntnis einzubeziehen. I 28 Koranstelle will sagen, dass ein Miteinander mit Alten, Kranken und Invaliden nicht unrein macht, wie dies in vielen Naturreligionen der Fall ist. Ebenfalls lässt sich aus diesem Text folgern, dass ein Moslem wegen einer Lebensbenachteiligung oder Lebensbehinderung nicht diskriminiert werden darf und wie alle Hausgenossen ein Recht auf Förderung und Bildung besitzt. Da es im Islam keine Trennung zwischen dem geistlich-religiösen und dem weltlichstaatlichen Bereich gibt 46 , sind der islamische Staat und seine Institutionen legitim für die religiösen Belange wie ebenso für den Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich zuständig. Bei diesem Staatsverständnis ist zu beachten, dass nicht das Volk der Souverän ist, sondern allein Allah, sodass staatliches Recht in den meisten islamischen Ländern der Scharia, der frühislamischen Rechtssammlung, untersteht 47 , die als Bestrafung für Vergehen die Verstümmelung von Gliedmaßen, die Steinigung von Ehebrecherinnen, die Beschneidung von Mädchen, die körperliche Züchtigung bei Alkoholabhängigkeit etc. vorsieht und damit neue Lebensbeeinträchtigungen und Behinderungen direkt bewirkt. Der Sachverhalt, dass dem muslimischen Staat die oberste Verantwortung für medizinisch-soziale Wohlfahrt der Menschen zukommt, hemmt Muslime in multikulturellen Gesellschaften wie Europa und Amerika, dass sie sich als Gemeinschaft der Muslime für die Gesamtgesellschaft stärker karitativ-organisatorisch engagieren. Ihr Helfen beschränkt sich auf das konkrete Miteinander in der Familie oder in der eigenen Moscheegemeinde. Im Gegensatz zum Christentum gibt es im Islam auch keine offiziellen sozialen wie medizinisch-ethischen Verlautbarungen zu Fragen der Gesundheitspolitik durch islamische Religionsinstanzen. 48 Die Einheit von Staat und Religion einerseits wie das Fehlen einer hierarchischen Struktur andererseits erklären neben anderen Aspekten, dass muslimische Gemeinden bzw. Gemeinschaften nur selten eigene soziale und medizinische Einrichtungs- und Dienstleistungsorganisationen gründen und unterhalten. Die soziale und medizinische Versorgung der Menschen ist Aufgabe des Staates, der zugleich religiös verstanden wird. Andererseits werden Moscheen als Ort des direkten Heilens und Helfens benutzt, sei es im Fastenmonat Ramadan für die vorgeschriebenen Armenspeisungen oder sogar regelmäßig wie z. B. in ägyptischen Moscheen durch Armenspeisungen und Kleideraus46 Zur Identität von Religion und Staat gibt es keine Alternative. Toleranz gegenüber Juden und Christen kann darum niemals Gleichberechtigung bedeuten, wie dies in westlichen Ländern durch das Grundrecht der Religionsfreiheit der Fall ist. 47 Vgl. die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990, Artikel 24 und Artikel 25, der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) . 48 Der streng sanktionierte Verhaltenskodex der Muslime erübrigt eine klare hierarchische Struktur zur Sicherung der muslimischen Gemeinschaft. Der theologisch-anthropologische Plausibilitätsdruck in Verbindung mit der freien Selbstentscheidung im Christentum verlangt vielleicht eher nach einer hierarchischen Gemeinschaftsstruktur, um ein Auseinanderfallen zu verhindern. I 29 gaben der politisch-extremistischen Moslembrüder-Gemeinschaft. Ebenso ist in Palästina die Al-Fatah eine Wohlfahrtsorganisation für notleidende muslimische Palästinenser, obschon sie gleichzeitig den bewaffneten Kampf gegen Israel praktiziert. Das Gleiche gilt für die paramilitärische, schiitische Hisbollah, die im Libanon Schulen und Krankenhäuser unterhält. Aus muslimischer Sicht sind Helfen und Kämpfen zur Festigung, Verteidigung und Ausbreitung des Islam keine gegensätzlichen Handlungen. Tragisch ist nur, dass die von ihnen evozierten kriegerischen Auseinandersetzungen wiederum körperliche und seelische Behinderungen und materiell-soziale Benachteiligungen durch Zerstörung und Vertreibung hervorrufen. Religiös-rituelle Hilfen Neben den täglichen Gebeten (fünfmal am Tag) und den allgemeinen Gebeten um Hilfe, Schutz, Vergebung oder um Einsicht kennen Muslime in belastenden Situationen die wiederholte Gebetsformel des Lobpreises (zikr) , bei der sie die Namen Gottes unter Zuhilfenahme einer Gebetskette sprechen. Dieser Gebetspraxis kann eine Therapie stützende und damit heilende Mitwirkung zukommen, ähnlich wie sie durch Entspannungstherapien hervorgerufen wird. Als Hilfe bei schweren psychischen Behinderungen kennt der Islam den Exorzismus wie das Tragen von Amuletten oder das Trinken von Heiligem Wasser (vgl. Meah 2005, 158) . Bei psychischen Erkrankungen kommt diesen Hilfen sogar der Vorrang zu. Der Arme und Behinderte kann diese Hilfen in Moscheen erhalten. Die Solidarität mit Benachteiligten und Behinderten Die ausdrücklich optierte innere Solidarität unter Muslimen gilt nicht für Nicht-Muslime, auch wenn in medizinischen Versorgungszentren der islamischen Länder NichtMuslime behandelt werden. In muslimischen Ländern sind Juden und Christen nicht gleichberechtigt mit Muslimen. Wesentlich geringer ist der Status von Atheisten. Der Islam gewährt den Schriftbesitzern wie Juden und Christen - gegen Entrichtung einer Steuer (Sure 9,29) - ein Existenzrecht und toleriert eine zumeist auf das Private begrenzte Religionsausübung. Ebenso kann ein islamischer Staat keine weltanschaulich neutrale, multikulturelle Gesellschaft fördern und ein für alle gleiches Sozial- und Gesundheitssystem entwickeln, z. B. Versicherungen anbieten, in denen Atheisten und Ungläubige in gleicher Weise wie gläubige Muslime Versorgungsansprüche haben. Noch kann ein islamischer Staat Krankenhäuser und Pflegeheime unterhalten, in denen jeder nach seiner Weltanschauung behandelt werden kann. 130 Neuere muslimische Organisationen und Hilfsformen Angesichts der westeuropäischen gesellschaftlichen Vorgaben wurde in Deutschland 1985 ein freies, gemeinnütziges Hilfswerk von Muslimen Muslime Helfen e. V gegründet, das in Deutschland jedoch keine direkten Pflege- und Sozialdienste anbietet, sondern Hilfen für andere muslimische Länder bereitstellt. Muslime Helfen e. V. unterscheidet sich in diesem Sinne auch in der Zielsetzung von den christlichen Werken Brot für die Welt, Misereor und anderen wie von den NGO 's Ärzte ohne Grenzen, Amnesty international etc. Wie alle muslimischen Hilfswerke verbinden auch die euro-islamischen Initiativen sozial-religiöse mit politisch-islamischen Interessen. Mit internationaler Perspektive wurde 1984 in Kuwait eine „ International Islamic Charitable Foundation " gegründetund in London eine Organisation „ Muslim Aid International ". Die internationale Hilfe für Arme und Kranke - z. B. aus Mitteln der westlichen Welt - wird bei Kriegs- und Naturkatastrophen über den Roten Halbmond (gegründet 1929) organisiert. 49 Im Vergleich zu den anderen muslimischen Organisationen ist der Rote Halbmond nicht so stark religiös-politisch geprägt. Kooperationsschwierigkeiten und Probleme im gemeinsamen Engagement für Benachteiligte und Behinderte Das Handlungsspektrum bzw. die sozialen Optionen sind bei den abrahamitischen Weltreligionen formal zum Teil ähnlich. Hinsichtlich Toleranz, Engagement für Nichtglaubensgenossen und bezüglich Umfang, Intensität und Dynamik des Solidaritätsund Hilfeverhaltens und der Organisationsgrade gibt es wahrnehmbare Unterschiede. Dies gründet in den unterschiedlichen theo-logischen Grundannahmen, z. B. ob Gott als alleiniger Gestalter der Welt und als Richter über die Menschen gesehen oder ob Gott als Partner der Menschen verstanden wird, der die Menschen als ebenbildliche Mitgestalter seiner Schöpfung betrachtet. Muslime verstehen sich eher als getreue Verwalter des Lebens, während Christen sich als Mitgestalter, Entdecker und als Entwickler des Lebens sehen, das die Optimierung des medizinisch-sozialen Helfens einschließt. Als islamisch-staatliche Wohlfahrtsorganisation unterscheidet sich der Rote Halbmond vom Roten Kreuz. Das Deutsche Rote Kreuz wie das Diakonische Werk und der Caritasverband sind vom Staat unabhängige, freie Verbände religiöser oder säkularer Art. Auch in der östlichen Christenheit (Orthodoxie) obliegt der weltlichen Macht — ähnlich wie im Islam — die soziale Fürsorge. Ebenso besitzen im Islam wie im östlichen Christentum die religiös geprägten staatlichen Wohlfahrtsdienste keinen so ausgedehnten Institutionalisierungsgrad. 49 131 Umgang mit Benachteiligung und Behinderung im Christentum Die aittestamentliche Inspiration des Neuen Testamentes ist grundlegend für das karitativ-diakonisch ausgerichtete Christentum. Der Gedanke des elementaren Zusammenhangs von Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,29-33) ist bereits im Judentum vorgeprägt. In Jesus Christus nahm die innere Verbundenheit von Gottes- und Nächstenliebe konkrete Gestalt an. Die Botschaft von der inneren Verbundenheit der Gottes- und Nächstenliebe bezeugte Jesus durch seine eigene irdische Existenz. Botschaft und Existenz Jesu sind inhaltlich identisch. Diese heilsgeschichtliche christo-logische Verstärkung der universalen Solidaritäts- und Hilfediakonie unterscheidet das Christentum vom Judentum, insbesondere jedoch vom Islam. Das Gottesverständnis des Christentums und der Ursprung von Leid, Krankheit, Behinderung und Benachteiligung Darüber hinaus ist das spezifische Gottesverständnis des Christentums ursächlich für das Verständnis von Armut und Krankheit wie für das Hilfeverhalten bei Benachteiligung und Behinderung. So schuf Gott die Welt und insbesondere den Menschen als Partner, und zwar ihm ebenbildlich, d. h. nach seiner Logik als liebendes Wesen. Damit besitzt der Mensch eine Würde, die nicht nur menschlich (z. B. durch Menschenrechte und Verfassungen) begründet ist, sondern eine göttliche Grundlage besitzt. 50 Wiederum aus Liebe wurde Gott in Jesus Christus Mensch, um die Menschen aus Schuld und Leid zu befreien und um die Endgültigkeit des liebevollen Lebens, das Reich Gottes und damit den verlorenen paradiesischen Zustand, wiederherzustellen51 , jedoch in Verbindung mit einem caritativen Mitwirken der Menschen. Die praktizierte bzw. die nicht-praktizierte caritative Lebensdiakonie wird dem Menschen am Ende zum Gericht. Im Endgericht (Mt 25,31-46) erweisen sich nur die Menschen als gottähnlich, die im irdischen Leben im leidenden Mitmenschen Christus erkannt und Christus gedient bzw. geholfen haben (Mt 7,16) . „Was ihr dem Geringsten getan habt, habt ihr mir getan" (Mt 25,41). So werden die Begegnung mit Kranken und Armen, mit Benachteiligten und Behinderten und damit verbunden das konkrete alltägliche Helfen beim Essen, Trinken und Ankleiden, der Besuch von Ausgegrenzten und das Bemühen um Integration von Fremden zur wahren 5o Zur vorrangigen christlich-europäischen Tradition gehören die Herausstellung der Würde und des Wertes der menschlichen Person und damit des menschlichen Lebens (vgl. Pompey 1974, 90 f.) sowie die Gleichrangigkeit seelischer, geistiger und handlungsbezogener Lebensaspekte (1974, 94 f.) und der gerechte Ausgleich von Lebensinteressen, Lebensbedürfnissen und Lebensmöglichkeiten der einzelnen und der verschiedenen Gruppen wie die Verantwortung und Freiheit in der Lebensentscheidung usw. 51 Durch sein Kommen in die Zeit erfüllte Christus diese Sehnsucht nach Erlösung aus Schuld und Leid. 132 Gottesbegegnung und zur eigentlichen Pro-vokation des Christen. Da somit jeder Leidende Gottes Angesicht trägt, kommt jedem Kranken und Behinderten die höchste Würde zu. Aus der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen ergibt sich die Anerkennung des Anderen als Person. Gott wollte sich im Menschen abbilden. Er ist Repräsentant Gottes, darum kommt ihm eine gottähnliche Würde zu, die ihm nicht von Menschen verliehen wird oder zu- bzw. aberkannt werden kann. So ist der Mensch wegen seiner Gottähnlichkeit nicht nur ein vemunft-begabtes, sondern gleichgewichtig auch ein liebe-begabtes Wesen; denn für Christen ist Gott die Liebe. Das gilt für Koma-Patienten wie für Schwerstbehinderte. Erfahrene Pfleger oder Pädagogen wissen, wie eine liebevolle Zuwendung von den Betroffenen nonverbal wahrgenommen und auch freudig rückgemeldet wird. Neben den Werken der leiblichen Barmherzigkeit, wie sie Jesus in der Endgerichtsrede formuliert, leitet die Kirche aus dem Neuen Testament die Werke der geistigen Barmherzigkeit ab, z. B. Trauernde trösten, Lästige geduldig ertragen, Verzweifelte beraten, Unwissende informieren (vgl. Deutsche Bischofskonferenz 1995; Pompey 1997b) . Die Werke der Barmherzigkeit beschreiben seit 2000 Jahren die wichtigsten Aufgaben der konkreten, liebevollen Zuwendung zu den Schwächsten, seien sie behindert oder benachteiligt. Die Vorstellung bzw. das Faktum der Identifizierung von Gott und Mensch im Leid ist dem hellenistischen Denken 52 wie anderen Weltreligionen nicht nur unbekannt, sondern sogar provokant. 53 In den fernöstlichen Religionen ist die Welt des Leidens eine Gegenwelt zur Transzendenz. Die Vorstellung des leidenden Gottes-Knechtes (Jes 42,1) stellt im Judentum ein Vorverständnis für diese Option Gottes dar. Heilsgeschichtlich kommt dem Leid im Islam vergleichsweise keine Bedeutung zu. Leid ist Prüfung oder Strafe Allahs. Die griechische Philosophie spricht - so wie es auch bei Hinduismus und Buddhismus der Fall ist - dem Göttlichen Pathae ab. Pathos wurde stets als unfreiwilliges, von anderen zugefügtes Leid verstanden. Es galt der Grundsatz: „Theos Apathes" . Denn auf Gott kann von außen nichts einwirken. Er ist unveränderlich und ethisch frei und ungebunden. Als der Vollkommene ist er ohne Affekte und ohne Zorn. Apathie galt den Weisen des Mittelmehrraumes als ethisches Ideal im Sinne innerer Freiheit von allen Dingen und Einflüssen, um so der Welt überlegen zu sein. Apatheia und Ataraxia zu besitzen war ein stoisches Ideal. Apathie war der Weg zum vollkommenen Leben. Dies ist dem hinduistisch-buddhistischen Denken sehr verwandt. 53 Die Identifikation einer göttlichen Transzendenz mit dem Leid bedeutet für den Hindu und den Buddhisten die Auflösung von Transzendenz. Für den Hinduismus der niederen Stufe der Wahrheit - der auch Götter kennt und Götter verehrt - gibt es die Inkarnation z. B. den Gott Vishnu als Krishna, der das Meer des Leidens in sich aufsaugt. Für Buddhismus und Hinduismus ist eine Inkarnation Gottes in die Welt, insbesondere in das Leiden der Welt bzw. die Verbindung des Göttlich-Transzendenten mit dem Leiden, unvorstellbar und sogar ein gewisser Widerspruch. Ist außerdem das Nirwana als Ziel und Zustand der Überwindung von Leid ein reines Nichts, was der Buddhismus nicht sagen würde, dann stände es im Gegensatz zum Zustand der Liebe, die die Fülle des Lebens ist. 52 133 Charakteristika des christo-logischen Helfens bei Behinderung und Benachteiligung Das christliche Gottesbild bestimmt das Menschenbild und daraus ergeben sich klare karitativ-soziale, wertorientierte Optionen für ein gelingendes Leben von Menschen mit Benachteiligung und Behinderungen in einer christlich geprägten Gesellschaft. Die caritative Diakonie der Kirchen ist in der Nachfolge Jesu seinem Leitsatz: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben" (Joh 10,10) verpflichtet. Es geht um das karitative Gelingen der Beziehung des Menschen zu sich, zu den Mitmenschen, zur natürlichen wie kulturellen Lebenswelt und zur Re-ligio (d. h. Rückgebundenheit an Gott) . Aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen ergibt sich ferner, dass der Mensch wie Gott sich frei bestimmen darf, wobei das personale Wohl der einzelnen Person mit dem gemeinschaftlichen Wohl — analog zur Trinität Gottes — in Übereinstimmung zu bringen ist. Ein rein paternalistisches Erziehungsverständnis würde der Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht gerecht. So sind die christlichen Prinzipien der Personalität, der Solidarität und der Subsidiarität (neuerdings auch der \ achhaltigkeit) bei der helfenden Begleitung von leidenden Menschen zu beachten. Jedes individuelle wie gemeinschaftliche Leben ist und bleibt in dieser Zeitlichkeit unvollkommen bzw. begrenzt. Jeder Lebensprozess oder Lebensakt, sei er psychisch, geistig, somatisch, biophysisch oder sozial, ist stets in seiner vollen Möglichkeit auch behindert und in seiner optimalen Funktion gestört. Diese physiologisch-physikalische und psychologische Grundrealität beschönigt der christliche Lebensrealismus nicht, sondern stellt die Gebrochenheit und Unvollkommenheit der Natur und des menschlichen Lebens in Rechnung. Ein leidfreies und müheloses Leben ist eine Utopie. Derartige Lebensillusionen führen fatalerweise zur bewussten Abwertung und Verdrängung leidenden und kranken Lebens. Mit Lebensrealismus und Lebensengagement stellt sich karitative Lebensdiakonie den leidvollen Herausforderungen einzelner Menschen bzw. der Gesamtgesellschaft. Trotz ihrer Begrenztheiten und Lebensbeeinträchtigungen sind die Menschen aufgerufen, das Beste aus ihren Möglichkeiten zu machen. Die Systemtheoretiker sagen: Jedes System verfügt über mehr Möglichkeiten, als es im jeweiligen Augenblick aktualisiert (vgl. Döring/Kaufmann 1981, 39) . Dies gilt für den einzelnen Behinderten wie für das Lebensnetz eines behinderten Menschen. Darum ist die Förderung und Stärkung der Beziehungsfähigkeit und der Leistungsfähigkeit sinnvoll. Obwohl christlicher Lebensrealismus um die Begrenztheit menschlicher Existenz weiß, trägt karitative Diakonie den Glauben an das Gelingen von Leben und vom prinzipiellen Gutsein jedes Menschen in leidvolles oder behindertes Leben hinein. In lieblosen Lebenssituationen oder bei nicht gelingender Selbstannahme begleitet und stützt sie die Menschen liebe-voll. In hoffnungslosen Situationen ist sie von einer Hoffnung wider alle Hoffnung inspiriert, die nicht allein auf menschlicher 134 Lebenserfahrung basiert. So versucht sie durch eine Diakonie des Glaubens, des Hoffens und des Liebens das Lebensurvertrauen trotz Leid, Behinderung, Benachteiligung und Not immer wieder zu erneuern und den Lebensmut zu stärken. Diese grundlegende Lebensdiakonie ist aber nur als „Gemeinschaft der Liebe" möglich, wie Papst Benedikt XVI. im Blick auf die praktische Caritas herausstellt (vgl. Benedikt XVI 2006, 28) . Nicht nur einzelne Lebensbeziehungen, sondern Lebensräume der gegenseitigen Annahme und Liebe sind durch christliche Gemeinden, Einrichtungen, Dienste und Gemeinschaften zu eröffnen, die eine heilende, helfende Ausrichtung haben, d. h. Liebe, Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes kundtun (Kol 3,12) . Nicht von Liebe reden, sondern Liebe tun, das schließt die Eingliederung in eine c karitative Gemeinschaft einer Gemeinde ein. Auch Facheinrichtungen für Behinderte und Benachteiligte sollten Orte einer Zivilisation der Liebe sein. „Wie ich Euch geliebt habe, so sollt auch Ihr einander lieben" (Joh 13,34b) . Die Heilung der zehn Aussätzigen (Lk 17,11-19) macht ein weiteres soziales Kriterium des Helfens deutlich. Jesus heilt alle zehn, auch den Nicht-Glaubensgenossen, den Samariter. Seine Karitas ist offen, kennt keine Grenzen. Das gilt für die gemeindlichen wie fachlichen Behindertendienste. Organisationen der Behindertenhilfe der Kirchen Kirchen müssen diese Herausforderung annehmen und ihr lebensfreundliches Engagement als Beitrag zur Sicherung der Lebensqualität der Gesellschaft verstehen. Darum ist den christlichen Kirchen in der ganzen Welt die Sorge für Benachteiligte und Behinderte ein großes Anliegen. Die diakonischen Werke und die Caritasverbände der Kirchen unterhalten eine Fülle von Fachdiensten und Facheinrichtungen zur Unterstützung von Behinderten und Benachteiligten jeder Art. Sie unterhalten in Deutschland Therapiezentren, Werkstätten für behinderte Menschen, betreute Wohnungen, Beratungszentren etc. Exemplarisch seien genannt: CBP - Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V., Deutsches Katholisches Blindenwerk e.V., Fraternität der Körperbehinderten und Langzeitkranken in Deutschland, Verband der katholischen Gehörlosen Deutschlands e.V., Bundesverband Psychiatrie in der Caritas e.V., Arbeitsstellen für katholische Blinden- und Gehörlosenseelsorge, Arbeitsstelle Behindertenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz etc. Analoge Verbände finden sich beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche und auf allen Ebenen der Diözesen und Landeskirchen bis hin zu den Regionalebenen der Kirchen. Im Christentum erhielt das Hilfeverhalten für behinderte und benachteiligte Menschen weltweit seine größte institutionelle Ausformung und Offenheit. In beiden Kirchen sind darüber hinaus eine Fülle von Schriften der offiziellen Kirchenleitungen zur Optimierung der Behindertenarbeit durch Politik und Einrichtungen wie zu einer behindertengerechten Lebenskultur in den Kommunen und Pfarreien erschienen. Exemplarisch sei die Schrift: „unBehindert Leben und Glauben teilen - Wort der 135 deutschen Bischöfe zur Situation der Menschen mit Behinderungen" (Die deutschen Bischöfe 2003) genannt (vgl. ferner Deutsche Bischofskonferenz, Kommission für caritative Fragen 1999; Deutsche Bischofskonferenz, Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen/Kommission für caritative Fragen 2003; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland 1997, 1998). Spezifische Konflikte und Probleme der kirchlichen Einrichtungsdiakonie für behinderte Menschen Mit ihrer Option für behindertes Leben und ihrer Bereitschaft, Familien mit behinderten, insbesondere mit geistig schwer eingeschränkten Familienmitgliedern zu unterstützen, kommen die christlichen Kirchen im Unterschied zu den anderen Weltreligionen, die keine Hilfsstrukturen für behinderte Menschen unterhalten, in diverse soziale und ethische Konfliktlagen. Die Problemkonstellationen verstärken bzw. verkomplizieren sich zudem dadurch, dass christlich zu verantwortendes soziales und pädagogisches Handeln vom sich ständig ändernden Erkenntnisstand der Humanwissenschaften abhängig ist, sei es der Pädagogik, der Psychologie oder der Medizin. Aber auch aus menschlicher Schwachheit blieb und bleibt die christliche Hilfe für Behinderte immer wieder hinter ihren Idealen zurück. • So waren die im 19. Jahrhundert entstehenden christlichen Einrichtungen der Hilfe für Behinderte beeinflusst durch die Übernahme der zeitgeschichtlichen Erziehungsverständnisse. Der Erziehungsstil seit dem 17. Jahrhundert (vgl. die Erziehungshäuser z. B. für Kinder der Armen in England) war von der Idee geprägt: Lebensinkompetenz hat seine Ursachen in Müßiggang und Lasterhaftigkeit (sexuelle Unmoral, Alkoholmissbrauch, Habgier, Lügenhaftigkeit etc.) . Diese verhindern selbstverantwortliches Handeln (Geremek 1988, 272 f.) . In Verbindung mit der calvinistischen Leistungsmoral führte dies zu einem disziplinierenden Erziehungsstil, der auch auf Menschen in prekären Lebenslagen übertragen wurde. Im 19. Jahrhundert waren außerdem die Kadettenanstalten der Wilhelminischen Ara „Vorbild" für die Erziehung. Selbst die Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Wandervogel 1901 in Deutschland, Pfadfinderbewegung 1905 in England) verband in ihrer Pädagogik die Selbstentfaltung mit Selbstdisziplinierung. Ebenso war die Pädagogik von Adolf Wilhelm Ferdinand Damaschke (1865-1935) dirigistisch, paternalistisch inspiriert. Folglich war die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommende staatliche oder kommunale Sozialarbeit vom Fürsorge-Verständnis geprägt. Es verwundert nicht, dass die paternalistischen Berufsbezeichnungen „Erzieher" und „Fürsorger" bis in die 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts allgemein gebräuchlich waren. Da es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den sog. Reformpädagogen ent136 weder um die sozial-revolutionäre Emanzipation der Gesellschaft durch eine entsprechende Pädagogik ging oder um Selbsttätigkeit, Erlebnisfähigkeit, körperliche Ertüchtigung bzw. um freie individuelle Selbststeuerung, wandten sich die sog. Reformpädagogen nicht der erzieherischen Begleitung von behinderten Menschen, insbesondere von geistig Eingeschränkten, zu. Somit gab die Reformpädagogik den Behinderteneinrichtungen der Kirchen bis zum 2. Weltkrieg keine neuen Impulse. Christliche Sozialarbeit und Pädagogik respektieren die Autonomie der Wissenschaften und sind auf die Erkenntnisse der Humanwissenschaften angewiesen. Vielleicht erweist sich manche humanwissenschaftlich vertretene Erziehungsoption - die wie damals auch heute stark von Ideologien geleitet sein kann - in künftigen Zeiten als falsch z. B. im Blick auf eine kompetente Lebensbefähigung in einem Land, das seine Hilferessourcen einschränkt und den einzelnen - sei er behindert oder nicht - der Härte der Lebensbewältigung überlässt und keine Chancen für eine freie Selbstverwirklichung bietet. Folglich waren auch die stationären Einrichtungen für Schwerbehinderte, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich die Kirchen den Familien zur Entlastung und Hilfe anboten, in ihrem Erziehungsverständnis — analog zum allgemeinen Erziehungsverständnis — nicht frei von den paternalistisch-fürsorglichen Erziehungsstilen ihrer Zeit. Trotzdem versuchten kirchliche Dienste für Menschen in prekären Lebenslagen stets Lebensdisziplin mit einer Befähigung zur Lebenskultur zu verbinden. Geleitet vom christlichen Menschenbild arbeiten heute christliche Häuser — wie alle anderen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen — nach Konzepten der Selbstwerdung der Betroffenen (vgl. z. B. den Ausbau dezentraler Wohnprojekte für Menschen mit Behinderungen zum Teil oft gegen den Widerstand einer sog. christlichen Nachbarschaft). • Die seit dem vergangenen Jahrhundert zunehmend in den europäischen Ländern herausgestellte sexuelle Selbstverwirklichung des Menschen brachte für die Träger von kirchlichen Einrichtungen für geistig beeinträchtigte Klienten vielfältige Probleme. Dementsprechende Fragen wurden weder für behinderte noch für unverheiratete Mitglieder einer bäuerlichen und handwerklichen Großfamilie — sie war für zwei Drittel der Bevölkerung bis vor drei Generationen der normale Lebensraum — gestellt, so wie dies noch heute in Ländern der großen anderen Weltreligionen der Fall ist. Erst mit der wohngemeinschaftlichen Zusammenführung von geistig behinderten Personen und der Einführung von geschlechtsgemischten Lebensgruppen entstand das Problem der Partnersexualität in Verbindung mit einer ungewollten Schwangerschaft und den daraus resultierenden Fragen z. B. der Sterilisation 54 , der Einnahme von Verhütungsmitteln, der Abtreibung. Paternalistische Kontrollen des sexuellen Intimbereichs zweier MenAnmerkung 54 siehe nächste Seite. 137 schen können hier keine Lösung sein, denn die Intimität ist zu respektieren, auch wenn die Personen schwer geistig behindert sind. Ferner ist auf die ethische Bedenklichkeit einer Sterilisation zu verweisen. Hinsichtlich der Verwendung von mechanischen oder biologischen Verhütungsmitteln sowie der Zulassung von Abtreibung sind generelle Regelungen für die Kirchen wie für die Träger christlicher Einrichtungen unvertretbar, vielmehr bedarf es jeweils individueller situations- und personbezogener, ethisch verantwortbarer Entscheidungen." Ebenso schwierig ist die Frage der Eheschließung und Familiengründung durch zwei geistig schwer behinderte Menschen. Sind die Fähigkeiten zur Selbst- und Familienverantwortung gegeben, kann den geistig leichter behinderten Personen eine Eheschließung nicht verwehrt werden. Für Personen mit einem schweren Behinderungsgrad ist eine Eheschließung rechtlich wie theologisch nicht möglich und nicht „ sinnvoll ". 55 Nur über das praktisch-ethische Prinzip der Einzelfalllösung lässt sich das Dilemma der Sexualität bei geistig behinderten Personen wie das Problem einer Familiengründung — sei es im Blick auf die Betroffenen wie in Rücksicht auf die Folgen für die Gesellschaft — lösen. Da die Katholische Kirche — das gilt nicht für die anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften — die Abtreibung werdenden menschlichen Lebens ablehnt" undrieatülchFmnpug(NP)akzetir,hdsnpcede Auswirkung im Blick auf eine freie Sexualität in ihren Einrichtungen insbesondere für geistig behinderte Menschen. 57 54 Das Dilemma der freien Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung in Verbindung mit einer Zwangsterilisation wird nicht nur von christlichen, sondern ebenso von anderen Einrichtungsträgern als problematisch angesehen, zumal das Thema der Zwangsterilisation durch NS-Praxis schwer belastet ist. Nicht zuletzt deshalb sieht das zum 1. Januar 1992 in Kraft getretene „Betreuungsrecht" in § 1905 BGB sehr restriktive Regelungen im Zusammenhang mit der Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung vor. Gemäß dem Willen des Gesetzgebers ist eine Sterilisation wegen der Schwere des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit und in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen nur ausnahmsweise und unter Einhaltung eines rechtsstaatlichen Verfahrens zulässig (vgl. Trompisch 1998) . 55 Ohne umfassende wie flankierende Hilfen ist das Wohl eines oder mehrerer Kinder von Eltern mit erheblichen kognitiven Beeinträchtigungen nicht zu sichern. Dazu gehören Beratung und Begleitung der Eltern selbst wie auch außerfamiliäre Unterstützung der Kinder z. B. durch Tagesmütter. Forschungs- und Modellprojekte belegen die Bedeutung solcher Hilfen (Pixa-Kettner et al. 1996; Pixa-Kettner 1998, 1999) . Ob unser Sozial- und Gesundheitssystem dafür ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, ist die kritische Frage in diesem Zusammenhang. 56 Schließlich ist ethisch eine Abtreibung von werdenden Kindern bei behinderten Müttern nicht gegenüber einer Ablehnung der Abtreibung von Kindern bei gesunden Müttern plausibel zu rechtfertigen. Auch die Argumentation der Katholischen Kirche für den Lebensschutz in Zusammenhang mit der Diskussion zur Pränataldiagnostik und der Amniozentese-Debatte würde ebenfalls unglaubwürdig. Anmerkung 57 siehe nächste Seite. 138 • Mehr als bedauerlich ist der Sachverhalt, dass in der NS-Zeit auch kirchliche Häuser wie andere private oder kommunale Häuser sich gegen den Druck der sog. „Zuführung" zur Vernichtung von Menschen mit geistiger Behinderung nur begrenzt wehren konnten (wobei hier nicht beurteilt werden soll und kann, ob sie dies auch immer hinreichend taten) . Die kirchlichen Häuser wurden - wie auch die damals zahlenmäßig noch wenigen Einrichtungen freier nicht-kirchlicher Träger - gezwungen, ihre Bewohnerlisten herauszugeben. Es war ihnen nicht möglich, die staatlich verfügten Abtransporte zu verhindern oder die Personenzahl zu reduzieren. Die Verantwortlichen der NS-Gesundheitsbehörden kamen mit fertigen Listen. Fehlten Personen oder waren sie nicht zu finden, wurden dafür andere mitgenommen. Es war nur möglich, die Familien der Behinderten vertraulich zu informieren und aufzufordern, ihre Kinder heimzuholen. Doch auch den Familien wurden ihre geistig behinderten Kinder entrissen. Demgegenüber waren die mutigen und klaren öffentlichen Predigten des Bischofs von Münster Clemens-August Graf von Galen gegen die Vernichtung behinderter Menschen ein eindrucksvoller Protest gegen die Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten. Leider wurde er von vielen Christen wie auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen darin öffentlich nicht unterstützt. Zusammenfassung Im Vergleich zu Medizin, Psychologie, Soziologie, Pädagogik etc. haben Religionen ein umfassenderes, zum Teil stärker ganzheitlich geprägtes Verständnis von Behinderung sowie von helfender Unterstützung von Menschen in prekären Lebenslagen. In der religiösen Sicht zeichnet sich menschliches Leben ebenso durch seine nicht materiellen „Wirk"-lichkeiten aus, d. h. durch seine seelische, geistige und soziale wie durch seine Gott-bezogene Dimensionalität. Das rein materielle Verständnis vom Leben stellt eine verhängnisvolle Engführung bei manchen Wissenschaften wie auch im allgemeinen Bewusstsein der Menschen unserer Gesellschaft dar und gefährdet das Existenzrecht behinderten menschlichen Lebens, wie die Debatte um das Gesetz zur Spätabtreibung zeigt (Seibel 2007). Demgegenüber möchten Religionen Motivationen des Helfens und der Solidarität zum Wohl der behinderten und benachteiligten Menschen freisetzen. Die Propagierung der größtmöglichen Autonomie des einzelnen Menschen macht das Leben gefährlich verfügbar und bedroht behindertes Leben. Die bewusste Weigerung, ein behindertes Kind abzutreiben, kann - angesichts der Ausbreitung dieser Lebenssicht in der Gesellschaft - schnell zum Entzug der solidarischen Unterstützung der Versicherungsgemeinschaft für Eltern mit behinderten Kindern führen. 57 139 Beurteilung von Benachteiligung und Behinderung Physische, emotionale oder kognitive Behinderungen des Lebens sowie soziale und materielle Benachteiligungen werden als Krankheits- oder Armutsschicksal in den Weltreligionen unterschiedlich bewertet. In den fernöstlichen Religionen werden sie religiös relativiert bzw. ignoriert. Nur als Strafe für unmoralischen Lebenswandel oder als religiöse Provokation Allahs spielt im Islam ein Leidensschicksal eine Rolle. Darum müssen Behinderung und Benachteiligung den Mitmenschen nicht unbedingt zu Hilfe motivieren. Anderseits möchte Allah als Barmherziger, dass auch die Muslime untereinander barmherzig sind und sich helfen. Seit dem späten Judentum darf Leid nicht unbedingt auf Sünde zurückgeführt werden, wie das Buch Hiob zeigt. Leid fordert demgegenüber zu Hilfe auf. Im Christentum erfährt ein Leidensschicksal einen besonders hohen Respekt. Gott inkarniert in die Leidenswelt des Menschen. Armut und Krankheit dürfen im Christentum nicht monokausal auf das Versagen des Menschen zurückgeführt, d.h. keineswegs mit Sünde gleichgesetzt werden, obschon generell das schuldhafte Versagen der ersten Menschen eine Ursache für das Leid in der Welt ist. Solidarität und Hilfeverhalten bei Benachteiligung und Behinderung als interreligiöses Anliegen Bei den fernöstlichen Religionen wird sozial-karitatives Hilfeverhalten religiös nur im Mahayana- und Vajrayana-Buddhismus Tibets und auch nur indirekt motiviert. Für sie ist nicht das vordergründige Handlungsziel, leidvolle Lebensbedingungen zu beseitigen, sondern Bewusstsein zu verändern. Darum favorisieren sie eher die spirituelle Hilfe bei der Bewältigung von Leid und Behinderung. Von daher ist es leicht nachvollziehbar, warum manche Hindus und Buddhisten gern in Armut leben und trotzdem glücklich sind. Insgesamt ist das Verstehen des Menschen, des Leids und des Helfens bzw. der Solidarität im Hinduismus und Buddhismus sehr verschieden im Vergleich zu den abrahamitischen Religionen. Das religiös inspirierte und motivierte soziale Hilfeund Solidaritätsverhalten ist stärker indirekter Art als bei den abrahamitischen Religionen. Die allgemeine Lösung sozialer Probleme obliegt dem Staat bzw. den Kommunen. Der starke Ausbau der institutionalisierten Hilfe für Menschen mit Behinderungen brachte neue soziale Probleme wie ethische Konflikte für die christlichen Träger der Einrichtungsdiakonie mit sich, die sich nicht einfach auflösen lassen. Aus den aufgezeigten interreligiösen Aspekten wird deutlich, wo Anknüpfungspunkte für die Verbindung von sozialen Energien und sozialen Optionen zum Wohl der leidenden Menschen erschließbar sind und wie Christen hinsichtlich Solidarität und Hilfeverhalten partizipative Verantwortung für das Gelingen von Leben in nichtI 40 christlichen Ländern übernehmen und sich gemeinsam mit Nicht-Christen zum Wohle der Behinderten karitativ-sozial engagieren bzw. gegenseitig verstehen können, damit die Menschen das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10), seien sie ausgegrenzt oder krank. Andererseits machen die Ausführungen deutlich, dass Christen die Mitglieder anderer Weltreligionen - im Hilfeverhalten und in einer offenen Solidarität mit leidenden Menschen - schnell missverstehen und überfordern können. 58 Literatur Badische Zeitung vom 7.3.2001 Behnen, J. (2007) : Weggesperrt oder ausgesetzt — Die Kirche macht sich zum Anwalt von vernachlässigten behinderten Kindern im Himalajastaat Nepal. In: Die Tagespost vom 10.2.2007, 8 Benedikt XVI. (2006): Enzyklika Deus Caritas est. In: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 171 Bhagavad Gita. Der Gesang des Erhabenen (2007). Übersetzer und Hrsg.: Brück, M. von. Frankfurt/Main, Leipzig Chuengsatiansup, K. (2005) : Buddhismus, Krankheit und Heilung. Ein vergleichender Überblick über den kanonischen und volkstümlichen Buddhismus. In: Weiß, H.; H.; Temme, K. (Hrsg.): Ethik und Praxis des Helfens in verschiede- Fedrschmit,K. nen Religionen. 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