WORKING PAPERS 11 facing poverty Politikwissenschaftliche Erkundungen zur Macht des Armutsdiskurses Nadja Lobner University of Salzburg/Austria Poverty Research Group FWF (AUSTRIAN SCIENCE FUND): RESEARCH PROJECT Y 164 Mai 2005 “Facing Poverty” is the Series of Working Papers of an interdisciplinary research group. Editor: Clemens Sedmak We are focussing on (a) interdisciplinarity in poverty research and the effort to establish poverty research as a genuine discipline (b) bridging the gap between academic research and humanitarian practice, between university and NGOs. These Working Papers are intended to be points of reference for discussion: “Administrative and bureaucratic practice has disseminated the terms ‘working papers’ or, notably in American idiom, ‘position papers’. These terms could be useful in defining a certain stage and style of ni tellectual argument. A ‘working’ or a ‘position’ paper puts forward a point of view, an analysis, a proposal, in a form which may be comprehensive and assertive. It seeks to clarify the ‘state of the art’ at some crucial point of difficulty or at a juncture from which alternative directions can be mapped. But its comprehension and assertiveness are explicitly provisional. They aim at an interim status. They solicit correction, modification, and that collaborative disagreement on which the hopes of rational discourse depend. A ‘working paper’, a ‘position paper’, is one which intends to elicit from those to whom it is addressed a deepening rejoinder and continuation.” (George Steiner) In this sense, we would be grateful for any comments and feedback. Contact: Prof. Clemens Sedmak Poverty Research Group, University of Salzburg Department of Philosophy Franziskanergasse 1, A – 5020 Salzburg, Austria/Europe [email protected] Please visit our homepage: www.sbg.ac.at/phi/projects/theorien.htm Working Papers, University of Salzburg, Poverty Research Group ISSN 1814-1021 Politikwissenschaftliche Erkundungen zur Macht des Armutsdiskurses Nadja Lobner 1. Reden/Schreiben über Armut und diskursive Macht ................. 5 1.1. Does Analysis matter? ................................................................................... 6 1.2. Diskursanalytische Methoden in der Politikwissenschaft .................... 8 1.3. Ansätze der Diskursforschung .................................................................... 9 1.3.1. Wissensorientierte Ansätze .................................................................... 13 2. Die Produktion von Wissen über Armut ......................................... 17 2.1. Praxis der Armutsberichterstattung ......................................................... 17 2.2. Fallbeispiel 1: Die „Karriere“ eines Armutsberichts am Beispiel des Salzburger Frauenarmutsberichts 2002 .................... 22 2.3. Zwischenresümee ......................................................................................... 29 3. Die Rahmung von Armut ....................................................................... 33 3.1. Rahmenanalyse politischer Diskurse ....................................................... 33 3.1.1. Zum Forschungsprozess ........................................................................ 35 3.2. Was die politische Rahmenanalyse für die Armutsforschung leisten kann ..................................................................................................... 39 3.3. Fallbeispiel 2: Jugendliche schreiben über Armut .............................. 43 3.4. Zwischenresümee ........................................................................................ 50 4. Armut und soziale Kontrolle ................................................................. 51 4.1. Soziale Kontrolle .......................................................................................... 51 4.2. Soziale Kontrolle und Lebensstil ............................................................ 56 4.2.1. Sozialstruktur – Individualisierung - Disziplinierung .................... 59 4.2.2. Modernisierungsrisiken ........................................................................... 62 4.2.3. Armut und die Individualisierung sozialer Not ................................ 65 5. Schlusswort .................................................................................................. 69 6. Literatur ......................................................................................................... 70 Politikwissenschaftliche Erkundungen zur Macht des Armutsdiskurses Nadja Lobner Das hier vorliegende Working Paper der Reihe facing poverty fasst Überlegungen bezüglich einer Anwendung einer politikwissenschaftlichen Diskursanalyse in der Armutsforschung zusammen. Gefördert wurden diese theoretischen Vorarbeiten für meine Doktorarbeit mit einem sechsmonatigen Dissertationsstipendium des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur durch den Vizerektor für Forschung der Universität Salzburg. 1. Reden/Schreiben über Armut und diskursive Macht Die Verknüpfung von Diskursanalyse und Armutsforschung ist keine „Neuerfindung“ und hat sich bereits in der Praxis der Armutsforschung etabliert. Gearbeitet wird mit verschiedenen Ansätzen. 1 Auf der Suche nach Armutsdefinitionen und -konzepten sollten Armutsforscher/-innen dabei auch ihre Rolle in der Diskursproduktion reflektieren, indem sie sich bewusst machen, dass sie nicht Wahrheit produzieren, sondern Aussageereignisse, die selbst Teil eines Diskurses sind.2 Dabei stellt sich die Frage, 1 2 Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang/Barlösius, Eva (2001), Die Armut der Gesellschaft, in: Dies. (Hg.), 11–68; Bauer, Michael W. (2002), Limitations to Agency Control in European Union Policy-Making: The Commission and the Poverty Programmes, in: Journal of Common Market Studies, 40 (3), 381–400; Nederveen Pieterse, Jan (2000), After post-development, in: Third World Quarterly, 21 (2), 175–191; Berardi, Leda (2001), Globalization and poverty in Chile, in: Discourse & Society, 12 (1), 47–58; Torck, Danièle (2001), Voices of homeless people in street newspapers: a cross-cultural exploration, in: Discourse & Society, 12 (3), 371–392; Blommaert, Jan (2001), Investigating narrative inequality: African asylum seekers’ stories in Belgium, in: Discourse & Society, 12 (4), 413–449; Huckin, Thomas (2002), Textual silence and the discourse of homelessness, in: Discourse & Society, 13 (3), 347–372; Arapoglou, Vassilis P. (2004), The governance of homelessness in Greece: discourse and power in the study of philantrophic networks, in: Critical Social Policy, 24 (Feb. 2004). 102–126. Keller, Reiner (2004), Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, 61. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 6 inwieweit von Armut Betroffene an und in der Armutsforschung partizipieren sollen, damit sie am Armutsdiskurs teilhaben und teilnehmen. Die Politikwissenschaft hat zur Beantwortung dieser Frage bis jetzt wenig beigetragen. Die politische Dimension der Wissensproduktion über Armut, der Transfer dieses Wissens in die Politik und die Umsetzung in Policies wurden bisher nur lückenhaft erfasst. Hinterfragt werden muss hier vor allem die Rolle von Policy-Analysen, die in Form von Armutsberichten den politischen Akteuren Maßnahmen zur Armutsbekämpfung empfehlen. Abgesehen davon werden die Ergebnisse von Armutsberichten medienwirksam in der Öffentlichkeit kommuniziert. Da soziale Kontrolle und Macht immer häufiger diskursiv – über symbolische Praktiken und Kommunikation – vermittelt werden, ist der Kampf um politische Macht und staatliches Handeln auch ein Kampf um Deutungsmacht und um politische, institutionelle und handlungspraktische Durchsetzung dieser Deutungsmacht. Die Auseinandersetzung um die lebensweltliche Bedeutung von wissenschaftlicher Expertise kann als diskursiver Machtkonflikt verstanden und analysiert werden.3 1.1. Does Analysis matter? Policy-Analysen sind durch ihre Ausrichtung auf gesellschaftliche Probleme und durch die Suche nach Problemlösungen gekennzeichnet. Politik erscheint aus der Sicht der Policy-Analyse als Problembearbeitungsprozess und ist anwendungsorientiert. Der Versuch, die Ergebnisse und Empfehlungen der Policy-Analyse in politische Prozesse umzusetzen, wirft jedoch Schwierigkeiten auf, die einerseits das Verhältnis von Wissen und Werten (im Kontext von Evaluation), andererseits das Verhältnis von Wissenschaft und Politik – oder allgemeiner: von Wissen und Macht (im Kontext von Politikberatung) – betreffen.4 3 4 Ders. et al. (2001), Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse – Eine Einführung, in: Keller et al. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden, Opladen, 8. Saretzki, Thomas (2003), Aufklärung, Beteiligung und Kritik: Die „argumentative Wende“ in der Policy-Analyse, in: Schubert, Klaus/Bandelow, Nils C. (Hg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse, München/Wien, 391. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 7 Im Zentrum der Reflexion des Verhältnisses von Wissen und Macht steht die Rolle der Sprache. Gemeint ist damit nicht jede Form von sprachlicher Äußerung, sondern vornehmlich solche sprachlich vermittelten Aussagen, die sich an Kriterien rationaler Nachvollziehbarkeit orientieren und in Form von Argumenten auftreten. Die Ergebnisse von Policy-Analysen versteht man heute als Argumente, die auf den politischen Prozess bezogen sind. Sie können deshalb nicht mehr einfach nur nach wissenschaftlichen Kriterien als „wahr“ oder „falsch“ bewertet werden. Die Bewertungskriterien ergeben sich aus dem politischen Prozess. 5 Dieses veränderte Verständnis der Rolle von Policy-Analysen im politischen Prozess einer Demokratie wird mit dem Begriff „argumentative turn“ zusammengefasst. Policy-Analysten/-Analystinnen erscheinen nunmehr als Produzenten/Produzentinnen von Argumenten. Bei ihren „Produkten“ handelt es sich nicht um Schlussfolgerungen, deren Wahrheit oder Richtigkeit exakt bewiesen oder demonstriert werden kann, sondern um mehr oder weniger gut begründete, mehr oder weniger stark überzeugende Argumente.6 Policy-Analysen können aufgrund dessen Gegenstand politischer und professioneller Kritik werden, vor allem dann, wenn man mit Ansätzen und Methoden der Diskurs- und Argumentationsanalyse an sie herangeht. Mithilfe dieser Methoden können einzelne Argumente, bestimmte Argumentationsstrategien oder die argumentative Begründung von Policies analysiert und im Hinblick auf ihre Rationalität bewertet werden. Für Kritiker/-innen der Policy-Analyse ist der Anspruch auf positivistische Objektivität und Wertneutralität bereits aufgegeben und eine Policy-Analyse nur mehr eine Stimme unter vielen anderen im Kampf um Meinungen und Ideen. Klar ist in jedem Fall, dass Policy-Analysten/-Analystinnen, wenn sie sich in einer öffentlichen Streitfrage oder für eine Interessensgruppe engagieren, offenkundig Partei ergreifen und nicht mehr die Rolle von neutralen Sachverständigen reklamieren können. Der Anspruch der PolicyAnalyse auf unparteiliche Analyse von public policies ist damit fraglich. 7 5 6 7 Ebd., 397. Ebd., 401. Ebd., 408. 8 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Unabhängig davon, welche Rolle Policy-Analysten/-Analystinnen einnehmen, ob sie nun als Advokaten/Advokatinnen auftreten oder im Rahmen von diskursiven Designs versuchen, ihren Argumenten Geltung zu verschaffen – es bleibt die Frage offen, ob und wie es der Policy-Analyse gelingt, tatsächlich auf den politischen Prozess einzuwirken. Laut dem Konzept der „Diskurskoalitionen“ 8 können Policy-Analysen im politischen Prozess dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie problemdefinierende „story lines“ erzeugen und dazu beitragen, dass ihre Problemdefinitionen zum Kristallisationspunkt einer Diskurskoalition werden. Erfolgreich sind Diskurskoalitionen dann, wenn sie den diskursiven Raum um ein Problem dominieren und die dominierende Diskursstrukturierung und die zugehörigen Praktiken im Politikfeld institutionalisiert werden. Erfolg und Scheitern eines Diskurses lässt sich dann analysieren, wenn eine diskursanalytische und eine institutionenbezogene Ebene verknüpft werden. Bedeutend sind jedoch auch der gesellschaftliche und politische Kontext, in dem politische Akteure argumentieren und PolicyAnalysten/-Analystinnen Argumente analysieren und rekonstruieren. 9 1.2. Diskursanalytische Methoden in der Politikwissenschaft In der Politikwissenschaft begann man erst in den 90er Jahren sich mit dem Diskursbegriff systematisch auseinander zu setzen, allerdings sehr zögernd. Erst im letzten Jahrzehnt ist das Interesse an der Diskursanalyse gestiegen. Diskurstheorien wurden im postmarxistischen, poststrukturalistischen, postkolonialen und feministischen Kontext und in den Cultural Studies entwickelt. Angesichts dieser Bemühungen darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich gerade in der Soziologie, den Geschichts- und Politikwissenschaften nur wenige systematische Versuche finden, eine an sozialwissenschaftliche Traditionen anschlussfähige empirische Umsetzung diskurstheoretischer Überlegungen vorzunehmen. Der größte Klärungsbedarf findet sich im Hinblick auf die forschungspraktische Umsetzung von Diskursanalysen. Fragen nach den Bestimmungen der Textkorpora, die der 8 9 Ebd., 412; Nullmeier, Frank (2001), Politikwissenschaft auf dem Weg zur Diskursanalyse?, in: Keller, Reiner et al. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden. Opladen, 295ff. Saretzki, Aufklärung, Beteiligung und Kritik, 411ff. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 9 Diskursanalyse zugrunde liegen, nach den Verfahren und der methodischen Kontrolle von Datenerhebung und -analyse, nach der Interpretation bzw. dem Stellenwert der jeweiligen Ergebnisse bleiben unbeantwortet. Dafür finden sich in den verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Vorschläge. Jede Diskursanalyse bedarf eines Verständnisses davon, was der Untersuchungsgegenstand ist oder sein kann und welcher Stellenwert ihm im gesellschaftlichen Kontext zugesprochen wird. Auch die Selbstreflexion ist notwendig – denn jede Diskursanalyse trägt zur Konstruktion ihres Gegenstandes bei. Deutungen zur Wirklichkeit dieses Gegenstandes werden als wissenschaftlicher Diskurs produziert. 10 Frank Nullmeier weist darauf hin, dass Diskursanalyse auch als Methodenfeld für kleinteilige Herrschaftsanalysen betrachtet werden kann. Dabei sei Vorsicht geboten, denn methodisch sei eine Diskursanalyse aufgrund ihrer Komplexität kaum umsetzbar und laufe außerdem Gefahr, in eine allgemeine politische Institutionenanalyse abzugleiten. 11 Eine andere Möglichkeit wäre, diskursanalytische Politikforschung im methodischen Sinne als kontrollierte Analyse von politischen und politikrelevanten (Massen-)Texten zu betrachten. Diese Massentextanalyse hat das Ziel, grundlegende und großflächige Sinneinheiten ausfindig zu machen, die als organisierender Kern einer (dominanten oder unterlegenen) Politik gelten können. Anzustreben ist eine umfassende Textanalyse, die die verschiedenen Ebenen und Einheiten miteinander verbindet und die Organisierung von Makroeinheiten über den Einsatz von Mikroelementen belegen kann. Politik kann so als Ausdruck eines höchst spezifischen und durchstrukturierten Sprach- und Textspiels beschrieben werden.12 1.3. Ansätze der Diskursforschung Wissensorientierte Ansätze in der Politikwissenschaft stellen den Zusammenhang zwischen den Sozialwissenschaften, dem Staat und ihren Beziehungen her. Diese Zusammenhänge sind gerade für die Wechselwirkung von Armutsforschung, Armutsberichterstattung und Armutsbekämpfung relevant. Armut zu definieren und jemanden als arm zu bezeichnen bedeutet 10 11 12 Keller, Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, 15. Nullmeier, Politikwissenschaft auf dem Weg zur Diskursanalyse?, 303f. Ebd., 304f. 10 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 zum einen Ausübung von Macht (im Sinne von Definitionsmacht), zum anderen weist die Tatsache, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen neu als Risikogruppen anerkannt werden und ihnen staatliche bzw. gesellschaftliche Hilfe zugestanden wird (oder eben umgekehrt: nicht anerkannt werden und ihnen keine staatliche Hilfe zugestanden wird), auf Wandlungstendenzen in Gesellschaft und Politik hin. 13 Auch im Hinblick auf die Frage nach einer adäquaten Einbeziehung von so genannten „Betroffenen“ in Armutsforschung und Armuts-bekämpfung ergibt sich ein Betätigungsfeld für die Politikwissenschaft im Kontext von Überlegungen zur Partizipation. Hier kann mit Ansätzen einer politikwissenschaftlich angelegten Diskursanalyse gearbeitet werden. Es ergeben sich in diesem Zusammenhang Forschungsfragen wie: Was verstehen Akteure unter Partizipation? Welche „Rolle“ übernehmen „die Armen“ im Zuge von Bemühungen um mehr Partizipation? Werden sie im politischen Diskurs zu „Partizipationsverweigerern“? Daneben steht die Critical Discourse Analysis (CDA) mit ihren Konzepten von Ideologie14 und Hegemonie15, die den Einfluss gesellschaftli13 14 15 So fällt zum Beispiel im Kontext des Umbaus des Sozialstaates der politische Diskurs auf, der die Armut von Kindern und ihren Familien stärker betont und eine Umschichtung von Ressourcen von der Sozial- zur Familienpolitik zu rechtfertigen scheint. Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael (Hg.) (2003), Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel. Opladen. In seinen seit den 1980er Jahren zahlreichen Veröffentlichungen verknüpft Fairclough (post-)marxistische Philosophietraditionen mit der Diskurstheorie Foucaults, mit sprachwissenschaftlichen Fragestellungen, Traditionen kritischer Linguistik und sozialwissenschaftlichen Theorieangeboten sowie Gesellschaftsdiagnosen. Dabei greift Fairclough vor allem Althussers dreifachen Zusammenhang von Ideologien und materialen Institutionen auf. Demnach materialisieren sich Ideologien in institutionellen Praktiken, formen das Selbstverständnis von Subjekten, was in den verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen wie Familien, Recht, Medien, Erziehungswesen usw. geschieht. Ideologien stehen zueinander ni Konkurrenz- und Hierarchiebeziehungen. Die jeweils dominierende Ideologie wird als Resultat von Klassenkämpfen begriffen. Keller, Reiner (2004). Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, 27. Der Begriff „Hegemonie“ - den Gramsci schon lange vor Althusser ins Zentrum seiner Überlegungen gerückt hat- bezeichnet Herrschaft, Macht und Meinungsführerschaft einer ökonomischen Klasse und ihrer Verbündeten über die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche bzw. die gesamte Gesellschaft. Das Hegemoniekonzept geht jedoch nicht von einer völligen, sondern einer partiellen und zeitlich begrenzten Vormachtstellung aus. Hegemonie ist das Ergebnis temporärer Machtbündnisse und Allianzen, die auch unterdrückte Klassen einschließen. Ebd., 28. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 11 cher Strukturen auf konkrete Sprachereignisse erklären. Die von Norman Fairclough und Ruth Wodak formulierte Diskursdefinition macht die gesellschaftskritische Intention der CDA explizit. Diskurse werden als Sprachgebrauch im Sprechen und Schreiben und gleichzeitig als eine Form sozialer Praxis definiert. Sprachgebrauch ist sowohl praktisches Tun als auch Zuschreibung von Sinn und Bedeutung. Beide Dimensionen sind als soziale und sozial strukturierende Prozesse zu verstehen. Dabei besteht eine Wechselwirkung zwischen Diskursen und der ihren Kontext bildenden Sozialstruktur: Sie wirken beide als Bedingungen und Effekte. Diskurse konstituieren Welt und werden umgekehrt durch sie konstituiert. Diskurse (re-)produzieren und transformieren Gesellschaft. Sie leisten eine Konstruktion sozialer Identität, stellen soziale Beziehungen zwischen Personen und Wissens- und Glaubenssystemen her. 16 Im Kern der CDA steht der Text. Texte sind „in einem diskursiven Ereignis produzierte, geschriebene oder gesprochene Sprache, Bilder und Töne“ 17. Diese Texte werden im Hinblick auf ihren Produktions- und Rezeptionsprozess und deren kontextuelle Einbettung analysiert. Die Einbettung eines Textes in eine diskursive Praxis der Textproduktion, -verbreitung und -konsumption sowie wiederum deren Einbettung in eine soziale Praxis, einen Zusammenhang von Situation, institutionellem und gesellschaftlichem Kontext. Für deren Analyse werden die Begriffe der Ideologie und Hegemonie bedeutsam. Als ideologisch gelten Diskurse dann, wenn sie etablierte soziale Machtbeziehungen verstärken. In Bezug auf sozialwissenschaftliche Theorien und Gegenwartsdiagnosen erweiterte Fairclough seine Überlegungen zusammen mit Lili Chouliaraki zu einem Ansatz, der sich für die Rolle, Funktionsweise und Problemgehalte von Sprache im Kontext gesellschaftlicher Wandlungsprozesse interessiert. Dabei tritt die kritisch-aufklärerische Intention der CDA in den Vordergrund.18 Den Ansatz der Kritischen Diskursanalyse haben Siegfried Jäger und seine Mitarbeiter/-innen am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung DISS entwickelt. Die Kritische Diskursanalyse unterscheidet sich von der oben skizzierten CDA durch ihre theoretische Fundierung. 16 17 18 Ebd., 28. Ebd., 29. Ebd., 29f. 12 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Aufgebaut wird im Wesentlichen auf die Arbeiten von Michel Foucault, deren Rezeption und Weiterführung durch den Literaturwissenschaftler Jürgen Link und die marxistisch-psychologische Tätigkeitstheorie von A. N. Leontjew.19 Die Kritische Diskursanalyse untersucht interdiskursive Beziehungen zwischen unterschiedlichen Diskursen, vor allem geht es um Funktionsweisen gesellschaftlicher Kollektivsymbole. Jürgen Link versteht unter einem Diskurs institutionalisiertes Spezialwissen, einschließlich der entsprechenden ritualisierten Redeformen, Handlungsweisen und Machteffekte. Texte sind im Sinne der Tätigkeitstheorie Ergebnisse der Denktätigkeit von Individuen. Ihre Produktion beruht auf sozialisatorisch angeeignetem Wissen, den Motiven der sprachlich Handelnden und den verfügbaren Ressourcen der Versprachlichung und sprachlichen Entäußerung. Diskurse sind also institutionalisierte, geregelte Redeweisen, insofern sie an Handlungen gekoppelt sind und Machtwirkungen ausüben. Texte werden als Elemente eines überindividuellen sozio-historischen Diskurses begriffen. Diskurs-Strukturen erschließen sich über die Begriffe Spezialdiskurs/Interdiskurs, Diskursfragment, Diskursstrang und deren Verschränkung, diskursives Ereignis, diskursiver Kontext, Diskursebenen sowie Haupt- und Unterthemen. 20 19 20 Ebd., 31. Als Inter-Diskurs bezeichnet Link all jene Diskurselemente, die mehreren Einzeldiskursen gemeinsam sind. Manche Begriffe stammen aus einem Ausgangsdiskurs, wandern aus diesem als Metaphern heraus und durch eine Vielzahl von Diskursen hindurch, wodurch sie spontan zu fundamentalen ideologischen Konzepten der Zivilgesellschaft werden. Die Gesamtheit der Symbolik, Bildlichkeit, Metaphorik, der anschaulichen Stereotypen und Klischees bildet das „synchrone System von Kollektivsymbolen“. Der Begriff „diskursive Position“ benennt eine bestimmte, relativ kohärente Verwendungsweise des Systems von Kollektivsymbolen. Bestimmte Symbole werden darin negativ, andere Symbole positiv gewertet. Durch „diskursive Ereignisse“ kann eine Veränderung eintreten: Durch diskursive Ereignisse wird die eine oder andere diskursive Position geschwächt. Diskursfragmente sind Bestandteile von Diskurssträngen, die sich auf verschiedenen Diskursebenen (Orte, von denen aus gesprochen wird, also Wissenschaft, Politik, Medien, Alltag) bewegen. In ihrer Gesamtheit machen sie den Gesamtdiskurs einer Gesellschaft aus, den man sich als ein „Gewimmel“ von Diskursen vorstellen kann. Diese Diskurse bilden die jeweiligen Voraussetzungen für den weiteren Verlauf des gesamtgesellschaftlichen Diskurses. Ebd., 32f. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 13 Trotz dieser Ansätze hat sich eine eigenständige politikwissenschaftliche Diskursanalyse noch nicht etabliert. Einige Tendenzen der letzten zehn Jahre weisen allerdings auf eine Öffnung der Politikwissenschaft in Richtung Diskursanalyse hin. 21 Jene Ansätze in der Politikwissenschaft, die Wirklichkeit als Konstrukt begreifen, werden als „wissensorientiert“ 22 bezeichnet. Den meisten „wissensorientierten“ Ansätzen ist in der Politikwissenschaft bis jetzt noch kein Durchbruch gelungen. Es fehlt eine überzeugende Theorie der diskursiven Mechanismen, der Lernprozesse und der Regeln der Wissensdiffusion. Hinzu kommen die grundlegenden methodologischen Vorbehalte und deren Bestätigung durch den geringen Explikationsgrad diskursanalytischer Arbeiten. 23 Der Versuch, politikwissenschaftliche Diskursanalyse mit Armutsforschung verbinden zu wollen, stößt in einen relativ neuen Bereich vor. Ohne den Anspruch zu stellen, theoretische Probleme lösen zu wollen, werde ich in diesem Artikel dennoch auf wissensorientierte Ansätze zurückgreifen. 1.3.1. Wissensorientierte Ansätze Wissensorientierte Ansätze werden heute in Policy-Analysen angewandt. Dies ist allerdings eine recht neue Entwicklung. Es war zunächst die Rolle der Wissenschaften und wissenschaftlichen Experten/Expertinnen in übergreifenden Policy-Entwicklungen, die die Frage nach der Funktion und Bedeutung von Ideen, Wissen und Deutungen für Politikfeld-Entwicklungen aufwarf. Wissenschaftliches Wissen, politische Wissensproduktion und Politikberatung gewannen vor allem in der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik der 80er Jahre an Bedeutung. Daraus ergab sich die theoretische Notwendigkeit, eine umfassende Erklärung der Rolle von 21 22 23 Die Öffnung gegenüber allen Formen der „Konstruktion von Wirklichkeit“ erfolgt allerdings nicht über den Terminus „Diskurs“, sondern Begriffe wie „Ideen“, „Wissen“, „Argumente“, „Interpretationen“. Aufgrund der mangelnden Rezeption poststrukturalistischer Überlegungen wird der Paradigmenstreit nicht mittels des Begriffs „Diskurs“, sondern mittels des Begriffspaares „Ideen versus Interessen“ in einem kausalanalytischen Rahmen ausgefochten. Interessen erscheinen dabei als wissensjenseitig bzw. wird Wissen nur als Instrument zur besseren technischen Umsetzung des von Interessen Angestrebten begriffen. Nullmeier, Politikwissenschaft auf dem Weg zur Diskursanalyse?, 290. Ebd., 286. Ebd., 303. 14 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Ideen, Werten und Wissen in der Politik bei Einbeziehung der Entstehungsbedingungen von Expertise im wissenschaftlichen Bereich wie im Zwischenfeld von Politik und Wissenschaft zu liefern. 24 Die Grundthematiken wissensorientierter Ansätze in der Politikwissenschaft lassen sich als vier Fragenblöcke formulieren: - Konstituieren Diskurse, Ideen oder Wissen politische Realitäten? Mittels welchen Begriffs wird der Gegenstand bestimmt? - Welche weiteren Kategorien stehen bereit, das Feld Diskurs/ Wissen/Ideen detailliert zu untersuchen? Welche Wissensanalytiken werden verwendet? - Wie entstehen politische Gemeinschaften, Koalitionen und Konfliktlinien (politische Koalitionen als Wissensvergemeinschaftungen; Diskurskoalitionen zwischen politischen Institutionen und Sozialwissenschaften)? Welche Termini verwenden die einzelnen Ansätze, um Konsens und Konflikt im politischen Raum zu kennzeichnen? - Wie lässt sich politischer Wandel als Wissens-/Diskurs-/Dieenwandel erklären? Wie lassen sich diskursive Dynamiken beschreiben und erklären? Die wissensorientierten Ansätze in der Politikwissenschaft stellen Wege vor, auf denen Wissen politisch wirksam wird und zur Veränderung des politischen Handelns durch Lernen beiträgt. 25 Policy-oriented learning (Sabatier), social learning (Hall), government learning (Etheridge) und lesson-drawing (Rose) befassen sich als Ansätze mit politischen Lernprozessen, wenngleich sie sich in ihren Ansichten bezüglich dem, was Lernen ist, wer lernt oder Lernprozesse anstößt, unterscheiden. 24 25 Ebd., 287. Einer der Ansätze, der Politik als Lernprozess fasst, wurde von Hugh Heclo im Zuge einer vergleichenden Studie zur Entwicklung von Sozialpolitik entwickelt. Die an Heclo anschließende Debatte über Policy Learning geht von den zentralen Akteursgruppen und Veränderungen in einem Politikfeld zurück auf die Bedingungen, unter denen dort Lernprozesse jenseits der bloßen Verschiebung von Machtkonstellationen stattfinden. Man beginnt nicht mit der Untersuchung von Ideen, Wissen und deren Wirkungswege, sondern fragt nach den Umständen beobachtbarer Veränderungen und Lernprozesse in den Zentren politischer Entscheidungsfindung. Ebd., 300f. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 15 In dieser Tradition stehen die Überlegungen von Maarten Hajer, die darauf zielen, diskursive Dynamiken sowie politische Veränderungen bzw. politisches Lernen auf die Wirkung von diskursiven Mechanismen innerhalb einer Wissenslandschaft zurückzuführen. 26 Die wissensorientierte Policy-Forschung konzentriert sich auf Vernetzungen, Gemeinschaften und Koalitionen, die quer zu Institutions- und Organisationsgrenzen sowie quer zur Grenze zwischen Politik und Wissenschaft die Entwicklung in einzelnen Politikfeldern bestimmen. Als Kategorien wurden hier die Begriffe Epistemic Communities, Advocacy Coalitions und Diskurskoalitionen eingeführt. Wissenschaftler/-innen werden in diesen Konzepten nicht als Einzelakteure außerhalb der politischen Arena, sondern als Mitglieder und Angehörige einer politischen und politikrelevanten Koalition oder Gemeinschaft verstanden. Epistemic Communities lassen sich beschreiben als nationale oder transnationale Verbindungen spezialisierter Experten-/Expertinnengruppen, die durch gemeinsame normative Grundüberzeugungen, geteilte kausale Annahmen, übereinstimmende Bewertungsmaßstäbe für die Gültigkeit von Wissen, aber auch ein gemeinsames politisches Projekt innerhalb des abgesteckten Policy-Feldes getragen werden. Epistemic Communities sind unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Disziplin oder Anhängerschaft einer Theorierichtung, sondern sind hauptsächlich über normative Überzeugungen und politische Interessen verbunden. Wirksam sind Epistemic Communities vor allem unter Bedingungen von Unsicherheit, da die Akteure durch Zuhilfenahme wissenschaftlicher Interpretationsleistungen wissen können, was ihre Interessen sind, wer Gegner und Verbündete sein könnten. Der Advocacy Coalitions-Ansatz versucht den Einfluss von politischen Akteuren an der Übereinstimmung der eigenen Überzeugungen („belief systems“) mit den in staatlichen Programmen und Gesetzen enthaltenen impliziten Theorien normativer und kausaler Art zu ermessen. Indem „belief systems“ ins Zentrum gerückt werden, wird das Wissen das grundlegende Element bei der Erfassung des gesamten politischen Prozesses. Akteure aus verschiedenen Organisationen und Institutionen bilden gemeinsam „Überzeugungskoalitionen“ in einem Politikfeld. In jedem Politikfeld gibt es zwei bis vier Überzeugungskoalitionen. Die politischen 26 Ebd., 302. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 16 Akteure lernen, da sie versuchen, die Welt und die Politikprobleme besser zu verstehen, um ihre Ziele zu erreichen. Es sind vor allem politikfeld-interne Öffentlichkeiten, die zum Lernprozess führen und damit die Politikentwicklung bestimmen. Lernen ist aber auch über die Grenzen der einzelnen Überzeugungskoalitionen hinweg möglich. Voraussetzung dafür ist eine hinreichende Ausstattung aller Akteure mit wissenschaftlichen Ressourcen, um Argumente in Gutachten, Berichten, Stellungnahmen überprüfen und vorbringen zu können. Konfliktfähigkeit, Debattenfähigkeit und ein Ort, an dem diese Debatten ausgetragen werden können, bieten einen Nährboden für Lernprozesse. Das Konzept der Diskurskoalitionen betont die enge Interaktion zwischen Staat und Sozialwissenschaft. Während in den 1960er Jahren policyorientierte Sozialwissenschaften und wissenschaftsoptimistische Reformpolitiker/-innen stark interagierten und sich wechselseitig Legitimität und Ressourcen zuführten, kann heute eher von Tendenzen einer Diskursregulierung – die Realitätsdefinitionen der staatlichen Politik durchdringen die der Sozialwissenschaften – gesprochen werden. Die Wirkungsrichtung verläuft also mehr vom Staat in Richtung Sozialwissenschaft als umgekehrt. Ausgehend von dieser Annahme, ist der wissenschaftliche Wissenstransfer in die Öffentlichkeit nur eine „Verdoppelung“ politisch-administrativer Sichtweisen. Das, was bereits institutionell verankert ist, wird verstärkt.27 27 Ebd., 295ff. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 17 2. Die Produktion von Wissen über Armut In folgenden Abschnitt geht es um die Frage der Praxis der Armutsberichterstattung und dies soll an einem Salzburger Fallbeispiel gezeigt werden. Darin soll deutlich werden, wie sich wissensorientierte Ansätze in der Politikwissenschaft für die Armutsforschung verwenden lassen. 2.1. Praxis der Armutsberichterstattung Das Wissen über Armut wird von Armutsforschern/Armutsforscherinnen produziert. Die Mehrzahl dieser berufsmäßigen Armutsforscher/Armutsforscherinnen ist in staatlichen Administrationen, im sozialstaatlichen Sicherungssystem, in der Wissenschaft beschäftigt oder freien Wohlfahrtsverbänden verpflichtet. Ihre „objektiven Repräsentationen der sozialen Welt“ sind entscheidend dafür, ob und wie Armut gesellschaftlich registriert wird. So groß die Unterschiede unter den Armutsforschern/Armutforscherinnen auch sind und so unterschiedlich ihre Darstellungen von Armut, sie alle berufen sich auf den Stand der Wissenschaft, also auf jene Objektivierungsmethode, die in modernen Gesellschaften als einzig legitime anerkannt wird. Die bevorzugte Objektivierungsmethode in modernen Staaten ist die der statistischen Erfassung. Moderne Wohlfahrtsstaaten nutzen Daten und Statistiken als realistisches Wissen, um sozialen Wandel zu planen, um staatliche Interventionen zu legitimieren, um die Nichtdurchführung von sozialstaatlichen Maßnahmen zu begründen. Neben diesen praktischen Zwecken für die Politik haben Statistiken in Staaten auch symbolische Bedeutung – Zahlen sind die einzig akzeptable Form von Wissen über die soziale Welt. Statistiken sind also nicht nur intellektuell geschaffene Repräsentationen, sie sind auch „symbolische Orientierungsmittel“ und unterliegen dem Kampf um Klassifikationssysteme.28 28 Barlösius, Das gesellschaftliche Verhältnis der Armen, 78. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 18 Die Armutsberichterstattung spielt aus der Perspektive wissensorientierter Ansätze eine besondere Rolle. Armutsberichte unterscheiden sich von anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungsformen dadurch, dass sie als „offizielle“ Darstellung von Sachverhalten anerkannt werden. Berichte rücken dicht an die Repräsentationsform heran, welche die amtliche Statistik für sich behauptet: nämlich neutral, objektiv und wissenschaftlich unabhängig zu sein. Forschungsergebnisse in Berichtform sind deshalb mit einer besonderen Macht ausgestattet. Viele Resultate der Armutsforschung, die der wissenschaftlichen Öffentlichkeit und informierten Experten-/Expertinnenkreisen zugänglich sind, aber politisch weitgehend folgenlos geblieben sind, erhalten durch die Publikation als Bericht einen enormen Zuwachs an öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit. Deshalb erklärt sich von selbst, dass die Mehrzahl der Akteure, die Armut zu einem öffentlichen oder politischen Thema machen wollen, ihre Ergebnisse in Berichtform veröffentlichen. Als Akteure sind in diesem Feld Gewerkschaften, Parteien, freie Wohlfahrtsverbände, Kirchen und die Kommunen tätig, die unmittelbar mit den Folgen von Armut konfrontiert sind. Als hochgradig organisierte Interessenverbände haben sie das Ziel, dem „offiziellen Bild“ von Armut, welches von der staatlichen Sozialstatistik bestimmt wird, eine – wie sie meinen – realitätshaltigere Sicht der Armut entgegenzusetzen. Sie fordern eine nationale Armutsberichterstattung und eine Diskussion über die publizierten Armutszahlen ein und hoffen, eine spezielle Armutspolitik einfordern zu können. Doch wird auch in diesen Berichten nur über solche Formen der Armut berichtet, welche mit den eingeführten Definitionen messbar sind und bei denen gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass sie inakzeptabel und zu beseitigen sind bzw. soll Übereinkunft darüber hergestellt werden. Eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Gruppen findet aber in den Armutsberichten keinen Platz. Dazu zählen zum Beispiel Asylwerber/-innen, illegale Einwanderer, Straßenkinder, Obdachlose. In den Statistiken und Datensätzen, die herangezogen werden, um Armut zu messen, sind sie nicht repräsentiert. Die Verknüpfung von Armut und Unterstützungsanspruch wird hier oftmals in Frage gestellt. 29 29 Ebd., 79f. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 19 Die Mehrheit der wissenschaftlichen Arbeiten über Armut – ob sie nun als Armutsberichte veröffentlicht werden oder nicht – verwendet staatlich anerkannte Armutsdefinitionen, um sich in der politischen Auseinandersetzung Gehör zu verschaffen. Die Grenzen zwischen Armutsforschung und Armutsberichterstattung sind aus diesem Grund fließend. Gleichzeitig wird aber die Armutsforschung dadurch mit ähnlichen Problemen wie die Armutsberichterstattung konfrontiert. Eine verlässliche Armuts- bzw. Sozialberichterstattung scheitert oft daran, dass die notwendigen Daten von Seiten des Sozialamtes nicht verfügbar sind. Ein anderes Hindernis liegt bei den Personen, die in der Sozialarbeit tätig sind. Sie verfügen über ein detailliertes Wissen über soziale Problemlagen und deren Entwicklung. Allerdings muss dieses Wissen dokumentiert sein. Die Anlässe für das Tätigwerden, die Leistungen, die erbracht werden, die Entwicklung der Klienten-/Klientinnenzahlen und der Problemstellungen müssen nachgewiesen und festgehalten werden. Das würde das Führen einer aussagefähigen Arbeits- und Leistungsstatistik notwendig machen, doch besteht tiefe Abneigung dagegen. Grund dafür ist, dass Leistungsstatistiken in der sozialen Arbeit auch für die individuelle Leistungsbewertung der Mitarbeiter/-innen und für gezielte Arbeitseinsatzsteuerung herangezogen werden können. Durch den zunehmenden Wettbewerb unter den sozialen Diensten im Zuge des Umbaus des Sozialstaates hat sich aber immerhin die Datenlage verbessert, da diese zur Absicherung und Ressourcensteuerung notwendig ist.30 Armutsberichterstattung ist aber auch mit einem Hindernis konfrontiert, das weniger leicht behebbar ist. Armutsberichte machen Aussagen, die für manche Adressaten/Adressatinnen, vor allem für die verantwortlichen Politiker/-innen unbequem sind. Sozialberichterstattung wird deshalb oft verhindert oder einfach negiert. 31 So fällt zum Beispiel auf, dass Armutsberichte oft von der jeweiligen Opposition eingefordert und diskutiert werden, mit dem Ziel, dass die Versäumnisse der Regierenden aufgezeigt werden. Diese haben jedoch wenig Interesse daran, als Verursacher/-innen von Armut dargestellt zu werden. Somit verhindert partei30 31 Proksch, Roland (Hg.) (1998), Das Soziale neu denken. Soziale und ethische Herausforderungen an die soziale Arbeit durch Wertewandel, Individualisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Dokumentation zum Symposium vom 21. November 1996, Regensburg. 103f. Ebd., 104. 20 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 politisches Kalkül, dass sich die Sozialpolitik die Grundlagen für effektives und zielgerichtetes Agieren regelmäßig und systematisch beschafft.32 Und zuletzt ist es auch oft die Handhabbarkeit von Armutsberichten, die sie zum Scheitern verurteilen. Studien zum Thema Wohlfahrt oder Armut sind oft nicht operational orientiert. 33 So weist Dimmel darauf hin, dass im Vergleich zu den Forschungsaufwendungen für einschlägige Studien der umsetzbare Ertrag dieser Forschung bescheiden erscheint. Den Studien fehlt es in ihren konzeptionellen Anlagen an konkreter Handlungs- und Verwertbarkeitsorientierung. Es werden auch keine Kontrollstudien in Auftrag gegeben. Die sozialwissenschaftliche Prävalenz der Verfasser/-innen der Studien steht ebenfalls nicht zur Debatte, zumal derartige Studien oftmals auf Basis politischer Konzessionen vergeben werden. Diesbezüglich spricht Dimmel auch vom Dreischritt „Studie-Pressekonferenz-Schublade“.34 Für kleine und mittlere Kommunen sowie für Tätige in Sozialberufen sind Sozialberichte nur schwer umsetzbar. Hier werden modellhafte einzelne Studien als nützlicher erachtet. 35 Jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Armut bedeutet, sich auf die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen über Armut einlassen zu müssen. Die Konflikte darüber, was Armut eigentlich ist, sind ein wichtiger Bestandteil des Diskurses und müssen in einer politikwissenschaftlichen Analyse von Armut einen Forschungsaspekt darstellen. 32 33 34 35 Ebd., 104. Dimmel, Sozialmanagement oder Wohlfahrtsverwaltung, 40. Ebd, 183. Proksch, Das Soziale neu denken, 135. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 21 Um diese Besonderheit der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung und ihre große Nähe zur Sozialpolitik stets präsent zu halten, ist es sinnvoller, von „Interpretationsmodellen zu sprechen, anstatt Armutskonzepte als „Theorien der Armut“ zu qualifizieren. 36 36 Zu diesen Interpretationsmodellen gehören: 1. Die Dynamische Armutsforschung, die den wissenschaftlichen und den politischen Armutsdiskurs in den 1990er Jahren in Deutschland dominiert hat. Die Dominanz dieses Konzepts zeigt sich darin, dass das gesamte Forschungsfeld sich aufgerufen fühlte, sich gegenüber diesem zu positionieren. Entwickelt wurde das Konzept (dynamic approach to poverty and welfare) in den 70er und 80er Jahren von David Ellwood in den USA, der die Lebenslauf-Perspektive und damit die Beachtung der Dauer der Armut in die Armutsforschung einbrachte. Umgesetzt wurde dieses Modell im deutschsprachigen Raum durch die Projekte zu Armutskarrieren, u.a. von Leibfried. Obwohl unbestritten fest steht, dass die Einführung der Dauer als eine Dimension zur Bestimmung von Armut und die Übertragung der Lebensverlaufsoziologie die Armutsforschung bereichert hat, steht das Fazit der Dynamischen Armutsforschung, dass Armut verzeitlicht, individualisiert und sozial entgrenzt ist, jedoch nicht außer Streit, da sich die empirischen Untersuchungen nur auf Sozialhilfeempfänger/innen beschränkt hat. 2. Auf der Ebene der Europäischen Union bestimmte das Interpretationsmodell der „social exclusion“ bzw. die ins Deutsche übersetzte „soziale Ausgrenzung“ die Armutsforschung. Dieses Modell wurde durch die politische Debatte in Frankreich über exclusion sociale inspiriert und setzte sich Anfang der 1990er Jahre schnell in der europäischen Öffentlichkeit durch. Im Vertrag von Maastricht, den Zielen der Europäischen Strukturfonds wie in den EU-Forschungsprogrammen wird deshalb häufiger von social exclusion als von Armut gesprochen. Aktuell findet dieses Interpretationsmodell in den „Nationalen Aktionsplänen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“, die die Regierungen nach Brüssel weiterleiten müssen, damit die gemeinsame Armutspolitik besser koordiniert werden kann, ihren Niederschlag. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass für die Operationalisierung auf europäischer Ebene nicht direkt das französische Modell übernommen wurde und das trotz des gemeinsam verwendeten Begriffs in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU Unterschiedliches zusammengefasst wird. Bei der exclusion sociale wird die Einbindung in jene Institutionen, welche soziale Integration garantieren und soziale Ausgrenzung verhindern in den Blick genommen. Die Vergesellschaftungs- und Integrationsmodi stehen im Zentrum der Forschung, während bei dem Modell der sozialen Ausgrenzung die soziale Lage des/der Einzelnen bzw. des Haushalts den Ausgangspunkt der Analyse bildet. Ob die enge Assoziierung von kumulierter Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung tatsächlich so besteht, ist kaum empirisch überprüft worden. In den empirischen Analysen ist man kaum über einfache Zusammenhänge zwischen Ausgrenzung, sozialen Netzwerken/Kontakten und Einkommensarmut hinausgekommen. Trotzdem berufen sich viele Akteure in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs, in sozialpolitischen Beiträgen und in Forschungsbeiträgen auf dieses Interpretationsmodell. Wahrscheinlich ist der Grund für die Popularität des Modells der sozialen Ausgrenzung ein ähnlicher wie in Frankreich: Mehr als der Bezug auf steigende Armut zeigt es an, dass das gesellschaftliche Integrationsmodell der 22 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 2.2. Fallbeispiel 1: Die „Karriere“ eines Armutsberichts am Beispiel des Salzburger Frauenarmutsberic hts 2002 Der Salzburger Frauenarmutsbericht 200237 war der in den Salzburger Medien präsenteste Armutsbericht der letzten drei Jahre. Abgesehen davon, dass es sich bei dem Bericht um eine Auftragsarbeit des Frauenbüros der Stadt Salzburg sowie des Büros für Frauenfragen und Gleichbehandlung des Landes Salzburg (beide stehen der Salzburger SPÖ nahe) handelte, wurde der Bericht mit dem Förderpreis für Wissenschaft/Forschung des Fonds der Landeshauptstadt Salzburg zur Förderung von Kunst, Wissenschaft und Literatur der Landeshauptstadt Salzburg 2003 ausgezeichnet. Die Wochenzeitung „Salzburger Fenster“ wählte die Autorin Dagmar Aig- 37 gesicherten Arbeitnehmergesellschaft und sozialen Marktwirtschaft, also die breite konsensuale Orientierung auf die mittleren sozialen Lagen, als gefährdet angesehen wird. 3. Das den US-amerikanischen Armutsdiskurs dominierende Interpretationsmodell von der urban underclass wurde deshalb in Europa bedeutend, weil viele Armutskonzepte und –modelle in Abgrenzung zu diesem formuliert und sogar als gesellschaftliche Gegenentwürfe in die Debatte eingebracht wurden. Das vorangegangene populäre Modell der culture of poverty, das eng mit dem Anthropologen Oscar Lewis verbunden ist, trug wesentlich zur Entstehung des Modells der urban underclass bei: Lewis entwickelte seine These, dass es eine Kultur der Armut gäbe, auf der Basis von Studien über Mexiko und Puerto Rico und legte es später auf Amerika um. Charakteristisch für die Kultur der Armen sei, dass sie sich nicht mehr auf die Normen und Werte der Mehrheitsgesellschaft beziehe und sich zu einer Subkultur verständige, was sich wiederum dysfunktional auf soziale Integration und Aufstiegsmobilität auswirke. Lewis leitete daraus die Notwendigkeit staatlich geförderter pädagogischer Programme ab, die die Kultur der Armut aufbrechen sollten, um das Problem der Armut dauerhaft zu beseitigen. Von der politischen Öffentlichkeit wurden Lewis Thesen völlig anders rezipiert: Armut sei das Ergebnis mangelnder persönlicher Fähigkeiten, abweichenden Verhaltens und geringer Motivation, weshalb die Armen weitgehend selbst für ihre soziale Lage verantwortlich seien. Das Konzept der culture of poverty diente damit der Stigmatisierung der Armen und hat zur Folge, dass der gesellschaftliche Unterstützungsanspruch in Frage gestellt und Kürzungen und Streichungen legitimiert werden können. Bei der deutschen Rezeption des Interpretationsmodells urban underclass zeigt sich, dass underclass als abzuwendende mögliche Bedrohung, als gesellschaftlicher Gegenentwurf verstanden wird. Damit wird die Strategie verfolgt, einer wachsenden sozialen Segregation insbesondere in Großstädten entgegenzuwirken. Außerdem wird die individualistische Tradition, die im underclass-Begriff zum Ausdruck kommt, kritisiert und der europäischen Tradition der sozialen Rechte entgegengehalten. Ludwig-Mayerhofer et al., Armut der Gesellschaft, 34ff. Aigner, Dagmar (2002), frauen.armut.bericht. Frauenarmutsbericht für das Bundesland Salzburg. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 23 ner im Jänner 2003 zur viertwichtigsten Salzburgerin 2002. Aigner arbeitete zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts in der Wissenschaftsagentur Salzburg, derzeit ist sie Mitarbeiterin des Salzburger Bürgermeisters Heinz Schaden (SPÖ). Wie die Autorin selbst in einem Interview für „jfk-online“ sagte, erschien es ihr als „paradox, geehrt zu werden“, weil sie „aufgeschrieben habe, dass andere arm sind. Die Armen selbst waren einmal mehr nicht so sehr im Mittelpunkt.“ 38 Angesichts des Anspruchs Armutsberichterstattung aus diskursanalytischer Sicht zu betrachten, ist die Frage zu stellen, ob die „Armen“ Mittelpunkt des Frauenarmutsberichtes waren. Der Anspruch des Frauenarmutsberichts 2002 war es, „Armutsmechanismen aufzuzeigen und auf die Systematik und Struktur dahinter zu verweisen“ 39 und nicht, statistische Daten über Frauenarmut in Salzburg zu liefern. Unter „Armutsmechanismen“ versteht Aigner die Weise, wie Armut unter Frauen entsteht, warum und in welchen Situationen Frauen mit Armut zu kämpfen haben. Betrachtet man die Methoden der Datenerhebung, so fällt auf, dass ausschließlich so genannte „Expertinnen“ der Vereine, Beratungseinrichtungen und öffentlichen Institutionen, die Mitglied der Arbeitsgruppe „Salzburger Netzwerk Frauenarmut“ sind, befragt wurden. Im gesamten Bericht kam keine einzige von Armut oder Armutsgefährdung betroffene Frau zu Wort. Erhoben wurden also nicht die Armutsmechanismen und die dahinter stehende Systematik und Struktur, sondern die Wahrnehmung der Beraterinnen, die aufgrund ihrer Kompetenzen und Qualifikationen als Expertinnen bezeichnet werden. Im Literatur- und Quellenverzeichnis des Berichts finden sich unter den 53 Quellenangaben zehn Statistiken der Statistik Austria bzw. des Landes Salzburg und 29 Berichte, die entweder von öffentlichen Einrichtungen oder von der öffentlichen Hand geförderten Einrichtungen erstellt wurden. Tätigkeitsberichte haben üblicherweise die Aufgabe, die Existenz des Akteurs, der den Tätigkeitsbericht verfasst, zu legitimieren und für die Zukunft zu sichern. Die auffallend dominierenden SPÖ-Seilschaften im Zusammenhang mit diesem Frauenarmutsbericht weisen auf eine Diskurskoalition hin. Der 38 39 JFK – Leute in Salzburg. Dagmar Aigner (http:/www.jfk-online.at/index.php?id=187 ; 16.01.2005) Aigner, frauen.armut.bericht., 10. 24 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Hauptkritikpunkt jedoch ist die fehlende Partizipation der von Armut Betroffenen bei der Erhebung der Daten. Die Armut jener Frauen, die nicht Klientinnen einer der Einrichtungen des Netzwerkes Frauenarmut sind oder waren, konnte dadurch nicht erhoben werden. Möglicherweise ist das die Ursache dafür, dass Obdachlosigkeit von Frauen im Frauenarmutsbericht nur im Kapitel über „Mädchen“ 40 angesprochen wird. Allerdings erscheint die Obdachlosigkeit von Mädchen hier als „eine vorübergehende Phase, die relativ schnell von den Mädchen selbst beendet wird“41, da sie in betreute Wohngemeinschaften aufgenommen werden. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass es eben bestimmte Gruppen gibt, die in Armutsberichten keinen Platz finden, unter anderem Flüchtlinge und Obdachlose. In den Statistiken und Datensätzen, die herangezogen werden, um Armut zu messen, sind sie nicht repräsentiert. Auch der Frauenarmutsbericht 2002, der mit qualitativen Methoden an das Problem herangegangen ist und die offiziellen Datensätze kritisch betrachtet, hat Flüchtlingsfrauen und obdachlose Frauen „übersehen“. Dass Obdachlose in Armutsforschung, Armutsberichterstattung und Armutspolitik kaum Aufmerksamkeit erfahren, ist ein Kreislauf. „Das hat sich erlich damit zu tun, daß Wohnungslose für die Umfrageforschung üblichen Zuschnitts schwer zu erreichen sind – doch ist dies auch eine Frage des Aufwands. Daß dieser Aufwand für eine kleine, aber extrem von Armut betroffene Gruppe nicht betrieben (weil nicht finanziert) wird, dürfte auch damit zusammenhängen, daß es sich nicht um ‘respektable’ Arme handelt: Sie sind nicht so leicht wie beispielsweise Kinder oder Familien als ‘Opfer’ verfehlter Sozialpolitik zu definieren, sie warten auch nicht darauf, von Sozialforschern entdeckt zu werden, sondern präsentieren sich und ihre Armut (manchmal ganz ungeniert) in der Öffentlichkeit – und verweigern sich doch häufig advokatorischer Vereinnahmung durch Dritte ebenso wie den ihnen zugedachten Hilfemaßnahmen.“42 40 41 42 Ebd., 54ff. Ebd., 56. Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang/Müller, Marion/Paulgerg-Muschiol, Larissa (2001), „.. das extremste Phänomen der Armut“. Von der Armut, ohne Wohnung zu leben, in: Barlösius/Ludwig-Mayerhofer (Hg.). Die Armut der Gesellschaft, 286. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 25 Wohnungslosigkeit bei Frauen ist oft Resultat männlicher Gewalt, entspringt Verfügungsansprüchen von Vätern oder (Ehe-)Partnern, die Frauen in die Flucht treibt. In den Interviews, die Ludwig-Mayerhofer et al. mit obdachlosen Frauen und Männern durchgeführt haben, treten Frauen allerdings nicht nur als Opfer, sondern auch als verstrickte Mittäterinnen auf. Manche von ihnen scheinen dazu zu tendieren, gerade solche Männer attraktiv zu finden, die zu Gewaltausübung neigen, so dass sich eine Spirale von Attraktion, Gewaltausübung, Gegenwehr und schließlich Beendigung der Beziehung mit der Gefahr, ohne eigenen Wohnraum dazustehen, mehrfach wiederholt. In Einzelfällen ist es auch nicht die Flucht vor gewalttätigen Männern, sondern gerade der Anschluss an Männer mit einem sehr irregulären Lebensstil, der Frauen zu einem Leben in sehr prekären Wohnverhältnissen und manchmal echter Wohnungslosigkeit im Sinne des temporären Nächtigens in ungeschütztem Wohnraum bringt.43 Auffallend in Bezug auf die „empfohlenen Maßnahmen“, die im Frauenarmutsbericht 2002 vorgeschlagen werden, ist die Mittelschichtorientierung des Frauenbildes. So werden am Ende des Kapitels über Erwerbstätigkeit Maßnahmen vorgeschlagen, die vor allem die Vereinbarkeit von Beruf und Familienaufgaben und den Wiedereinstieg nach der Karenz betreffen. Einige der Maßnahmen beziehen sich auch auf Bildungsangebote.44 Damit wird vorausgesetzt, dass die betroffenen Frauen bereits vor einer Karenzzeit in einem Beschäftigungsverhältnis standen, was dem von der SPÖ propagierten Frauenbild entspricht. Auch die Forderung nach einer Harmonisierung des Karenzurlaubs-Gesetzes mit dem Kinderbetreuungsgeld-Gesetz setzt voraus, dass eine Frau Anspruch auf Karenzurlaub oder Kinderbetreuungsgeld hat. Flüchtlingsfrauen zum Beispiel fallen völlig aus diesem Gesetz heraus. Die Problemlage von Flüchtlingsfrauen fehlt auch im Kapitel über Migration45. Über die Eingliederung von langzeitarbeitslosen Frauen ist an dieser Stelle des Frauenarmutsberichts nichts zu lesen. Ebenso wird die Meinung reproduziert, dass die Ursache für Erwerbslosigkeit in der mangelnden Bildung der Frauen zu suchen ist. Aus diskursanalytischer Perspektive interessant ist das Kapitel über Gesundheit 46, denn auch hier werden Maßnahmen empfohlen, die nur be43 44 45 46 Ebd., 275f. Aigner, Dagmar (2002). frauen.armut.bericht., 23. Ebd., 26–31. Ebd., 42–45. 26 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 dingt mit Armutsminderung zu tun haben. So wird ein Ausbau der Anzahl der Kassenverträge mit niedergelassenen Ärztinnen, besonders im gynäkologischen Bereich, gefordert. Frauen, die nicht krankenversichert sind, würde diese Maßnahme keine Verbesserung bringen. Die Notwendigkeit, Schwangerschaftsabbrüche in öffentlichen Krankenhäusern zu ermöglichen, wird im Text dreimal genannt, unter anderem auch als Maßnahme gegen Armut empfohlen. Hier erfolgt eine Verknüpfung des Abtreibungsdiskurses mit dem Armutsdiskurs, der aus ethischer Sicht äußerst problematisch ist. Es gibt signifikante Hinweise darauf, dass ökonomische Motive (zu hohe Kinderkosten, beengte Wohnverhältnisse) bei der Entscheidung zu einem Schwangerschaftsabbruch relevant sind.47 Die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch verhindert zwar, dass Frauen in prekären ökonomischen Situationen ein (weiteres) Kind bekommen, deren Armut mindert diese Maßnahme aber nicht. Das Kapitel über Scheidung und Trennung 48 im Frauenarmutsbericht ähnelt einer Kritik an der Institution Ehe an sich. Ebenso beschränken sich die empfohlenen Maßnahmen auf Verbesserung der Gesetzeslage bei Scheidungen im Zusammenhang mit Unterhaltsansprüchen und dem Ausbau von Beratung. Auch hier wieder zeigt sich die Orientierung des Frauenarmutsberichts an der Mittelschicht. Die Problemlage von Frauen, die nicht verheiratet waren und damit auch keinen Anspruch auf Unterhaltszahlungen haben, scheinen hier ebenso wenig auf wie die Situation von Müttern, die für ihre ledigen Kinder vom Kindesvater keine Alimentationszahlungen erhalten. Es gilt hier zu hinterfragen, ob das Armutsrisiko ursächlich auf die Trennung oder Scheidung zurückgeführt werden kann und nicht bereits vor diesen Ereignissen angelegt war. Andreß/Güllner haben das Armutsrisiko bei Scheidung und Trennung in Deutschland untersucht und sind zu folgendem Ergebnis gekommen: Bei den verheirateten Personen, die sich trennen, handelt es sich nicht vorrangig um Personen, die dem unteren Einkommensbereich entstammen.49 Sowohl die Höhe der Armuts47 48 49 Wimmer-Puchinger, Beate (2001), Schwangerschaftskonflikt. Motive für bzw. gegen den Schwangerschaftsabbruch. Ludwig Boltzmann Institut für Frauengesundheitsforschung, Wien, 117ff. Aigner, frauen.armut.bericht, 60–65. Andreß, Hans-Jürgen/Güllner, Miriam (2001), Scheidung als Armutsrisiko, in: Barlösius/Ludwig-Mayerhofer (Hg.). Die Armut der Gesellschaft, 187. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 27 quote als auch der Anstieg der Einkommensarmut ist im Zusammenhang mit einer Trennung größer als im Zusammenhang mit einer Scheidung, was darauf hindeutet, dass sich die bedeutenden wirtschaftlichen Veränderungen bereits vor einer Scheidung ereignet haben. Die Frage der Kinderbetreuung ist eine entscheidende Determinante der wirtschaftlichen Situation nach ehelicher Trennung, weil betreuungspflichtige Kinder die Erwerbsmöglichkeiten der betreuenden Person erheblich einschränken. Für die Personen, bei denen nach der Trennung die Kinder und Jugendlichen aus der Ehe verbleiben, zeigt sich eine ganz erhebliche Zunahme der Armutsquoten, während bei den Personen ohne betreuungsbedürftige Kinder keine wesentliche Veränderung im Armutsrisiko vor und nach der Trennung zu erkennen ist. Besonders ausgeprägt ist dieser Unterschied bei den Personen mit Kindern unter sechs Jahren. Ihre Armutsquote steigt von 18% vor der Trennung auf 52% im Jahr der Trennung, um dann in den folgenden Jahren auf einem Niveau um die 30% zu verharren.50 Die Ehedauer ist nur ein sehr kruder Indikator ehelicher Arbeitsteilung. Sowohl bei den jungen, als auch bei den alten Ehen sind Konstellationen denk bar, in denen ein Ehepartner zugunsten von Kinderbetreuung und Hausarbeit eine Erwerbstätigkeit aufgegeben hat. Am höchsten sind allerdings die Armutsrisiken in der jüngsten Ehedauerklasse, von denen bereits ein Jahr vor der Trennung ein ganz erheblicher Teil mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die Armutsquote liegt hier bei 18%. Im Jahr der Trennung steigt die Armutsquote auf 32%, und auch in den Folgejahren ist ca. ein Fünftel dieser Gruppe von Einkommensarmut betroffen.51 Andreß/Güllner heben zusammenfassend hervor, dass sich die wesentlichen wirtschaftlichen Veränderungen bereits im Zusammenhang mit der Trennung einer Ehe ergeben und nicht erst als Folge der Scheidung erweisen. Für tiefer gehende Analysen ist es erstrebenswert, die bereits vor der Trennung bzw. Scheidung angelegten Risikofaktoren zu kontrollieren. 52 Abgesehen davon vernachlässigt eine Sichtweise, die sich einseitig auf ökonomische Armutsrisiken konzentriert, die sozialen Armutsrisiken, die eine Trennung bzw. ein „Verlust der Familie“ 53 verursachen können. Dieser Verlust der Familie kann als Prozess in seiner geschlechtsspezifisch 50 51 52 53 Ebd., 191. Ebd., 191f. Ebd., 195. Ludwig-Mayerhofer et al., „... das extremste Phänomen der Armut“, 274. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 28 unterschiedlichen Ausprägung gesehen werden. So entwickelt sich bei Männern der Verlust der Familie häufig vor dem Hintergrund eines einseitig forciert betriebenen Familienprojekts. Laut einer Untersuchung von Ludwig-Mayerhofer et al. zeigt sich, dass Männer, die nach einer Trennung wohnungslos geworden sind, sehr viel in die Familie investiert haben und die Trennung/Scheidung seitens der (Ehe-)Frau als dramatisches Ereignis interpretieren, welches die Lebenskonzepte und -orientierungen der betroffenen Männer nachhaltig zerstört. Hier muss von einer starken narzisstischen Kränkung gesprochen werden, die mit dem Angriff auf die eigene Rolle als männlicher Familienversorger verbunden ist. Die Familienprojekte später obdachloser Männer waren nach patriarchalischen Bildern von der Familie modelliert. Indem die emotionale Verkoppelung von Ehe bzw. Familie mit der Wohnung sehr stark gewesen ist, überträgt sich das Ende der Beziehung auf das Wohnen insgesamt. Eine Fortsetzung des Lebens in der alten Wohnung erscheint unmöglich, der Wunsch nach einer eigenen Wohnung fehlt. Der häufig geschilderte Fall eines Umzugs in eine andere Stadt ist gekoppelt mit dem Gefühl der Heimatlosigkeit und bedeutet auch den Verlust von sozialen Netzwerken. In Wechselbeziehung mit fehlenden finanziellen Ressourcen war der Einstieg in ein Mietsverhältnis entweder gar nicht oder nur unter eher prekären Bedingungen möglich. „Daß in Einzelfällen die Wohnungslosigkeit gezielt gesucht wurde, um Unterhaltsansprüchen seitens der (Ex-)Frau und/oder der Kinder auszuweichen“ 54, wurde von den Befragten zwar nicht explizit berichtet, für Ludwig-Mayerhofer et al. scheint das aber durchaus plausibel. Geschlechtsspezifische Facetten hat im Kontext der Wohnungslosigkeit aufgrund von Trennung auch die „Wohnunfähigkeit“ 55 vieler (männlicher) Wohnungsloser. Gemeint ist damit die Unfähigkeit, sich im Haushalt selbst zu versorgen – nicht nur mit Nahrung, sondern auch mit sauberer Wäsche und die Wohnung zu pflegen. Angesichts der zahlreichen Hinweise auf traditional-patriarchalische Orientierungen und Lebensformen getrennter/geschiedener Paare lässt sich annehmen, dass nicht die Institution Ehe an sich, sondern eine traditional-patriarchalische Arbeitsteilung in der Partnerschaft sowohl für Männer als auch für Frauen ein erhöhtes Armutsrisiko in sich trägt. 54 55 Ebd., 275. Ebd., 278. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 29 2.3. Zwischenresümee Wie die Ausführungen in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt haben, sind es bestimmte Armutskonzepte, die im aktuellen öffentlichen Diskurs über soziale Probleme erfolgreich sind und so eine „hegemoniale“ Stellung einnehmen. Dass in postindustriellen Gesellschaften europäischsozialstaatlicher Prägung gerade das Konzept der sozialen Ausgrenzung erfolgreich ist, könnte auf die Mittelstandsorientierung sozialstaatlicher Modelle zurückzuführen sein – oder aber auch auf eine gesellschaftliche Entwicklung, die Barlösius in der Tradition Bourdieus als „Reproduktionskrise der Sozialstruktur“ bezeichnet. Auch ein „Frauenarmutsbericht“ kann In diesem Kontext der Mittelschichtorientierung der österreichischen Gesellschaft verstanden werden. Auf die österreichische Gesellschaft trifft nämlich genau das zu, was Bourdieu für Frankreich und Barlösius für Deutschland konstatieren: Die Auseinandersetzung über die sozialstrukturellen Folgen der aktuellen Neubestimmung des politisch-institutionellen Gefüges werden gerade von jenen sozialen Gruppen geführt, welche einen sozialen Abstieg wahrnehmen. Es ist vor allem die Mittelschicht, die über viele Institutionen, die sich derzeit wandeln, abgesichert war. Die Institutionen funktionieren immer weniger, eine auf die Mittelschicht ausgerichtete Sozialstruktur zu reproduzieren. Ihr Versagen misst sich nicht direkt materiell, also über einen massiven Abstieg in den sozialen Positionen, vielmehr besteht das Versagen darin, dass diese Institutionen – wie zum Beispiel die Ehe oder ein Arbeitsplatz – in Krisenzeiten keine lebensstandardgemäße Absicherung mehr garantieren. 56 Der gesellschaftliche Grundkonsens, den man auch als Integrationsmodell bezeichnen kann, ist der einer gesicherten Arbeitnehmer-, Eheund Familiengesellschaft. 57 Dieser Integrationsmodus ist in den Perspektiven der Menschen so stark verankert, dass das Aufbrechen dieses Konsenses als ein „sich außerhalb der Gesellschaft stellen“ beurteilt wird.58 56 57 58 Barlösius, Das gesellschaftliche Verhältnis der Armen, 90f. Ebd., 89. Ebd., 91. 30 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Um diese Zusammenhänge zu verstehen, eignen sich Bourdieus Konzepte von der „Misere der sozialen Position“ und der „Misere der sozialen Stellung“.59 Unter „Misere der sozialen Position“ ist das augenfällige Leiden bei den Mittellosen, die zu wenig für ihren Lebensunterhalt haben, gemeint. Damit sind jene Formen der Benachteiligung gemeint, die mit dem Begriff „Armut“ erfasst werden. Die „Misere der sozialen Stellung“ ist schwieriger zu beschreiben. Bourdieu drückt dies mit der Metapher von der „Gespaltenheit des Habitus“ aus. Der Habitus ist die Vermittlungsinstanz zwischen sozialer Position und Perspektive, das Verbindungsglied von sozio-ökonomischer Lage und den Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata. Der Zusammenhang ergibt sich daraus, dass sich Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata sowohl im individuellen Lebensverlauf als auch im Gesellschaftsprozess aufeinander abgestimmt entwickeln. Sie können sich im Laufe der Zeit auch wieder voneinander entfernen. Dies kann auf der individuellen Ebene durch Veränderungen im Lebenslauf und auf der gesellschaftlichen Ebene durch einen massiven strukturellen Wandel geschehen. Die Einzelnen passen ihren Habitus einer veränderten sozialen Laufbahn innerhalb bestimmter Grenzen an. Weichen die neuen Lebensbedingungen aber zu stark von den früheren und erwartbaren ab, dann bewirkt diese Abweichung eine innere Spaltung des Habitus. Ein derartiger Laufbahnwechsel kann durch einen gravierenden sozialen Aufstieg als auch durch einen ebenso gravierenden sozialen Abstieg ausgelöst werden. In beiden Fällen passen die Praktiken der Auf- oder Absteiger/-innen nicht zu den verfügbaren Ressourcen, es setzt sich kein stimmiges Bild aus sozialer Position und Perspektive zusammen. Dies drückt Bourdieu mit dem Begriff der „Gespaltenheit des Habitus“ aus. Widersprüche, Missklänge und Disharmonien, die augrund der „Gespaltenheit des Habitus“ zu einer inneren Zerrissenheit führen, schlagen sich im Innersten des Subjekts nieder, werden als persönliche Tragödien erlebt und nicht als das, was sie sind, nämlich gesellschaftliche Brüche und Widersprüche. Meist handelt es sich um Reproduktionskrisen der Sozialstruktur, die daraus resultieren, dass bisherige Rekrutierungsmodi, die ge59 Eva Barlösius, die Bourdieus Konzept theoretisch bearbeitet hat, empfiehlt, den Begriff „Misere“ beizubehalten, da Bourdieu nicht von Armut, sondern eben von Misere spricht. Die deutsche Übersetzung als „Elend“ führe zu Missverständnissen. Ebd., 85. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 31 sellschaftlichen Aufstieg garantierten, nicht mehr funktionieren. Reproduktionskrisen zeigen sich derzeit in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Die Widersprüche des Arbeitsmarktes bestehen darin, dass die beruflichen Rekrutierungswege nach dem Modell der gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter/-innen aufgebaut sind, die Betriebe aber keine entsprechenden Arbeitsmöglichkeiten mehr anbieten. Im Bildungssystem zeigt sich der Widerspruch darin, dass die Chancengleichheit nur ideologisch verwirklicht ist, aber nicht tatsächlich. Formal wurde die Selektionsinstitution Schule für alle Schüler/-innen geöffnet, doch intern blieben die sozialen Grenzen starr. Die völlige Entwertung der nun für größere soziale Gruppen erreichbaren Bildungstitel war die Folge, weshalb ehemals wertvolle Bildungszertifikate nun auf dem Arbeitsmarkt einen geringeren Wert besitzen. Der soziale Selektionsprozess wurde nur zeitlich verlagert, denn das berufliche Scheitern wird nun als persönliches Versagen wahrgenommen. Die Schule verspricht damit Chancen, die sie nicht hält. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sich Strukturen so schnell wandeln, dass die Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata – der Habitus – überholt werden. Davon sind nicht nur einzelne Personen, sondern gesellschaftliche Großgruppen wie Klassen, Schichten, regionale Einheiten betroffen. „Ehemals projektierte und gesellschaftlich versprochene Laufbahnen sind verschlossen, angestrebte Positionen werden unerreichbar und sicher geglaubte Aussichten verbaut, und dies, obwohl die betroffenen Gruppen alles getan haben, die in ihrer sozialen Position angelegte ‘gesellschaftliche Flugbahn’ zu nehmen. Die Folge ist, daß die Zukunftspläne nichtig werden.“ 60 Neue strukturelle Entwicklungen können von den betroffenen Gruppen nicht mehr habituell aufgefangen werden. Ihre eingeübten Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster sind ungeeignet, um angemessen auf die veränderten Strukturen zu reagieren. Bislang erfolgreiche Mittel zur sozialen Positionierung wie berufliche Qualifikation, solidarische Zugehörigkeiten, familiale Beziehungen eignen sich nicht mehr, um gewohnte und gesellschaftlich in Aussicht gestellte Ziele zu erreichen. Dieses Scheitern bestimmt die Problematik der betroffenen Gruppen, die eine „Misere der sozialen Stellung“ ist. Ausgelöst wird sie, indem die vorhandenen Erfah60 Ebd., 86. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 32 rungen und Erwartungen, das angeeignete Können und Wissen und das eingeübte Reaktions- und Handlungsrepertoire vom gesellschaftlichen Wandel überholt wurden. Daraus erwachsen die alltäglichen Nöte und Enttäuschungen, die sich nicht wie die Not der materiellen Mittellosigkeit quantifizieren und messen lassen, aber trotzdem für den Menschen existentiell und bedrohlich sind. Führt man die verschiedenen Reproduktionskrisen zusammen, um einen allgemeinen Mechanismus zu erkennen, gelangt man zu den aktuellen gängigen Beschreibungen des Strukturwandels moderner Gesellschaften. Dazu gehören Begriffe wie „Individualisierung“ (mehr dazu in Abschnitt 4.2.1), „Pluralisierung“, „Modernisierung“. Für Bourdieu realisieren sich in den Reproduktionskrisen die praktischen Folgen der Konversion zur neoliberalen Sichtweise. Welche Beschreibung angemessen ist, sei dahingestellt. Die Auseinandersetzung über die richtige Darstellung des sozialstrukturellen Wandels ist Teil der Misere, weil darin Sichtweisen und Stellungnahmen transportiert werden, welche die Betroffenen nutzen, um ihre eigene Lage zu verstehen. Oder die Sichtweisen werden ihnen aufgedrängt, um ihr Scheitern gesellschaftlich zu rechtfertigen.61 In der Armutsforschung wird das Konzept der „subjektiven Armut“ oft als problematisch, weil nicht wertfrei, eingestuft und deshalb vernachlässigt. Kombiniert man jedoch Simmels Konzept von „arm sein“ und Bourdieus Konzept von der „Misere der sozialen Stellung“, erscheint subjektive Armut in einem völlig neuen Licht: Beurteilt sich jemand als „arm“, so ist das nicht bloß subjektiv und beliebig, sondern drückt aus, dass der sozialstrukturelle Wandel als illegitim und ungerecht wahrgenommen wird, weil er dem gesellschaftlichen Grundkonsens zuwider läuft. Diese Bewertung kann sich auf die eigene Lage, aber auch auf eine Neuordnung der gesamten Sozialstruktur beziehen. Doch wie lässt sich das empirisch nachweisen? Wie können wir als Armutsforscher/-innen erfahren, wie die Menschen Ungerechtigkeiten – und damit auch Armut – wahrnehmen? Hierzu braucht es ein Konzept, das sich den Denksystemen der Rezipienten/Rezipientinnen von Diskursen annähert. Die Rahmenanalyse ist ein Ansatz, der dies ermöglicht. 61 Ebd., 87f. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 33 3. Die Rahmung von Armut 3.1. Rahmenanalyse politischer Diskurse Spezifisch für diesen Ansatz ist die Verknüpfung von qualitativen Textanalysen mit der quantifizierenden Auswertung großer Datenkorpora62, die aus Artikeln und Printmedien bestehen. Auch bildliche Darstellungen werden untersucht. Der Ansatz, der auf William A. Gamson zurückgeht, eignet sich besonders zur quantifizierenden Analyse von Themenkarrieren in den Massenmedien. Gamson hat die frame analysis im Kontext der symbolisch-interaktionistischen Forschungen über Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen entwickelt. Untersucht wurden die Prozesse der Mobilisierung von Zustimmung durch den Einsatz spezifischer Deutungsstrategien. Allgemeiner ausgedrückt heißt das: Akteure konstruieren in öffentlichen Auseinandersetzungen über strittige Themen ihre Problemdeutungen in der strategischen Absicht, möglichst breite öffentliche Resonanz zu er62 Methodisch schlägt Gamson folgende Vorgehensweise vor: Da es um die Massenanalyse umfangreicher Datenmengen geht, erfolgt zunächst eine qualitative Mikroanalyse einzelner Texte oder Bilder. Diese werden als Bestandteile eines nach thematischen Kriterien identifizierbaren Diskurses aufgefasst und in einem ersten Interpretationsprozess im Hinblick auf ihre wichtigsten bedeutungstragenden Elemente hin analysiert. Die einzelnen Deutungsbestandteile eines Diskurses werden zu Deutungspaketen („packages“) gebündelt. Jedes package hat eine spezifische innere Struktur, sodass man davon ausgehen kann, dass jedem package jeweils ein zentrales Deutungsmuster – ein Deutungsrahmen („frame“) – zugrunde liegt. Im Weiteren können Argumentationsfiguren („reasoning devices“) und rhetorische Deutungsmittel („framing devices“ – z.B. Metaphern, Verdichtungen) unterschieden werden, die zur sprachlichen Materialisierung des frame eingesetzt werden. Packages enthalten auch eine „story line“ bzw. ein „scenario“, durch das sie neue Ereignisse im Zeitverlauf integrieren. Nach der qualitativen Analyse exemplarischer Texte und der Rekonstruktion der packages wird in einem zweiten Schritt ein Codierschema für die Verarbeitung größerer Datenmengen entwickelt. Argument- und Deutungsbausteine, die in den zu codierenden Texten immer wieder auftauchen, gelten als Indiz für das Vorkommen des jeweiligen package, aus dem es stammt. Diskurspositionen müssen nicht immer vollständig wiedergegeben werden. Vom Auftauchen spezifischer package-Elemente in einem Text kann auf die Aktualisierung des betreffenden Deutungsrahmens und damit des gesamten package bei Rezipienten geschlossen werden. Das sagt aber nichts über die Position der Rezipienten – also deren Zustimmung oder Ablehung – aus. Mit Hilfe des Codierschemas werden große Textmengen im Hinblick auf das Vorkommen der rekonstruierten packages untersucht. Keller, Diskursforschung, 38. 34 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 zielen, sich selbst als legitime, verantwortungsbewusste Akteure und Anbieter von Problemlösungen zu präsentieren. Öffentliche, in den Printmedien dokumentierte Auseinandersetzungen sind Austragungen der erwähnten Interpretationskonflikte. Aus diesem Grunde gelten Medien als zentrale Arena der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion. 63 Frames sind Kategorien, mittels derer Menschen (=Rezipienten/Rezipientinnen) die Welt wahrnehmen. Es handelt sich dabei um Kategorien, die bereits in der Kultur oder im Gedächtnis der Menschen präsent sind. Kognition ist in diesem Sinne nicht mehr als Re-Kognition (im Extremfall Restrukturierung bestehender Muster nach Maßgabe neuer, angemessener Muster). Akteure verleihen den Dingen Sinn eben durch deren Wieder-Erkennung als Elemente einer sinnhaft geordneten Welt. Die Konsequenz davon ist: Es kann nicht wahrgenommen werden, was nicht bereits zuvor bekannt war, daher ist die Bedeutung stets in der bestehenden Kultur zu suchen. Welcher Deutungsrahmen in konkreten Situationen aktualisiert wird, hängt von der Kultur der Rezipienten/Rezipientinnen ab, d.h. von der Verfügbarkeit der Kategorie in der Enzyklopädie der Rezipienten/Rezipientinnen. Frames haben die Eigenschaft, Daten oder Elemente, die nicht in das bestehende Schema passen, entweder anzupassen oder zu eliminieren. Datenlücken werden durch den frame ergänzt, um das wieder erkannte Muster zu vervollständigen. Außerdem kann jedes einzelne Bündel von Wahrnehmungsdaten in eine größere Menge unterschiedlicher Rahmen eingepasst werden.64 Ein frame ist also eine vorstrukturierte, standardisierte und generelle Struktur. Sie ist bereits Teil des Wissens der Rezipienten/Rezipientinnen, erlaubt Re-Kognition und strukturiert auf diese Weise die Wahrnehmung. Diese Wahrnehmungsstrukturen umfassen relevante Fakten, Ursachen und Folgen des Deutungsmusters. Akteure rufen in jeder (neuen) Situation diese Wahrnehmungsstrukturen ins Gedächtnis, verdichten das Wissen der Rezipienten/Rezipientinnen und ermöglichen ihnen, bestimmte Erwartungen über das, was zu tun ist oder geschehen wird, zu formulieren. 63 64 Ebd., 38. Donati, Paolo R. (2001), Die Rahmenanalyse politischer Diskurse, in: Keller, Reiner et al. (Hg.). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen, 150. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 35 Sprache ist aus dieser Perspektive nicht ein Instrument zur Beschreibung von Realität, sondern ein Instrument zur Definition von Realität. Der Prozess der Realitätsdefinition ist sozial relevant, weil er praktische Konsequenzen hat. Akteure entscheiden und handeln entsprechend ihrer Kategorien und verleihen den Fakten Sinn. Die unterschiedlichen Kategorien werden zu Quellen sozialer Kämpfe um legitime Realitätsdefinitionen. „Diskurse sind der soziale Ort, an dem diese Bemühungen um die Definition sozialer Wirklichkeit stattfinden, so daß diese überhaupt kollektive Geltung erlangen können. Frames sind also gleichsam die grundlegenden Werkzeuge oder gar Waffen, die in diesen Deutungskämpfen genutzt werden.“ 65 Die politische Rahmenanalyse dient als Instrument, um die Art und Weise, wie die politische Realität durch Diskurse definiert – framed – wird, zu analysieren. Im Forschungsprozess rekonstruiert man Deutungsrahmen, wie sie in der themenbezogenen politischen Rede und Debatte benutzt werden. Es sind meist kontroverse Problemdefinitionen, die einen Sachverhalt, wie zum Beispiel Armut, zu einem sozialen und politischen Thema machen. Diskurse, die sich um ein Thema formieren, sind der Hauptgegenstand der politischen Rahmenanalyse, die die unterschiedlichen frames der in den Diskursen involvierten Akteure rekonstruiert. Das bedeutet also für die Rahmenanalyse, dass der Forschungsgegenstand durch das soziale Problem oder das politische Thema vorgegeben ist. Was durch die Akteure definiert wird, ist nicht das Problem selbst, sondern ist ein Objekt, um das herum ein themenbezogener Diskurs entsteht. Dieses Objekt wird zumeist von unterschiedlichen, mehr oder weniger kontroversen Blickwinkeln aus betrachtet.66 3.1.1. Zum Forschungsprozess Bei der Definition und Selektion von Themen stellt sich im Forschungsprozess die Frage, welches Objekt ausgewählt werden soll. Wie findet man den richtigen Schlüssel zu den Argumenten, durch die ein Thema kommuniziert und definiert wird? Meistens werden argumentative Verbindun65 66 Ebd., 151f. Ebd., 152f. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 36 gen zwischen den verschiedenen Objekten in den Diskursen explizit, sodass die Wahl des Forschungsthemas weniger dramatisch ist, als es sich zunächst anhören mag. Es ist wichtig zu beachten, dass das, was durch die Akteure definiert wird, nicht das Problem selbst ist, sondern das Objekt, um welches ein themenbezogener Diskurs entsteht. In einem weiteren Schritt ist zu entscheiden, welche „Stimme(n)“ als relevante Elemente des Diskurses betrachtet werden. Sie müssen nicht alle aus dem gleichen sozialen Setting kommen. Dies können politische Institutionen sein, Massenmedien, aber auch soziale Bewegungen. Die Stimmen repräsentieren jedoch nicht die Analyseeinheiten. Vielmehr sind die Diskurse Sprechakte in mündlicher und schriftlicher Form. Sie werden als „Text“ betrachtet. Rekonstruiert wird in der Diskursanalyse die Argumentationsstruktur, die in den Texten benutzt wird. Das Problem besteht darin, das vollständige Set an Texten zu definieren. Diskurse in klar abgrenzbaren Settings sind relativ einfach zu analysieren. Schwieriger wird es, wenn ein Mediendiskurs untersucht wird. In diesem Fall kann eine Liste mit Schlüsselworten ein erstes Selektionsprinzip bilden. 67 Texte bestehen also immer aus zwei Elementen, nämlich aus einem Deutungsrahmen (frame) und aus einem Thema (topic ). Ist man mit einem bestimmten Text konfrontiert, besteht die schwierigste Aufgabe darin, zu entscheiden, welcher Rahmen verwendet wird, um das Forschungsthema zu definieren. Wichtig ist, dass die Analyse ein prinzipiengeleiteter Prozess ist. Bislang folgte man im Forschungsprozess eher der Intuition. Jeder Text eines selektierten Textkorpus wird durch eine bestimmte argumentative Form konstituiert, deren Rolle darin besteht, bereits bekannte Strukturen, Modelle oder Wahrnehmungsmuster, mit denen das Thema implizit oder explizit gleichgesetzt wird, wieder erkennbar zu machen. Dabei spielen rhetorische Figuren und Stile bei der Definition eine wichtige Rolle. Ein Rahmen wird nicht notwendigerweise wörtlich im Text entfaltet, sondern diskursive Elemente können den Rezipienten/Rezipientinnen Dinge verraten, die nicht auf der wörtlichen Ebene des Textes abzulesen sind, die aber nichtsdestoweniger dort sind. Es müssen also auch symbolische Aspekte decodiert werden, um die fundamentale semantische Struktur des Textes zu rekonstruieren. Die fundamentale Struk67 Ebd., 152ff. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 37 tur ist nicht notwendigerweise kompakter als der zu analysierende Text selbst. In einigen Fällen weist diese über den vorliegenden Text hinaus. Manchmal lässt sich ein Text durch einen sehr kurzen Satz repräsentieren, der aber wiederum selbst ein sehr komplexes kulturelles Deutungsmuster in sich birgt. Vorsicht ist auch angebracht, wenn der Text das gewählte Forschungsobjekt nicht direkt adressiert, sondern vielmehr ein angrenzendes Thema. Solche Fälle erfordern einen weiteren Forschungsschritt, um zum eigentlichen Forschungsgegenstand zu gelangen: Es muss der sekundäre Deutungsrahmen identifiziert werden und die Beziehung dieses Deutungsrahmens zum framing des eigentlichen Forschungsobjektes. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die relevanten Elemente des framing im Text enthalten sein müssen. In vielen Fällen erfolgt das framing über Kontext, Zeitpunkt und Ort der Äußerung. Die wörtliche Ebene des Textes ist keinesfalls die einzige Ebene, die bei der Interpretation in Betracht gezogen werden kann. Unterthemen und Re-Definitionen des Themas sind andere Elemente. Eine andere Frage im Forschungsprozess betrifft die Benennung (labeling) von Deutungsrahmen. Bei der Interpretation des Textes geht es darum, zu erkennen, welcher frame verwendet wurde, um das relevante Objekt oder Thema zu definieren. Bei der Analyse von Deutungsrahmen trifft man auf verschiedene Typen von Deutungsrahmen. Erkennbar sind jene Deutungsrahmen, die Analogien mit Bezug auf Objekte konstituieren. In der Politik wesentlich häufiger verwendet werden Deutungsrahmen, die Analogien bezüglich von Handlungen und Ereignissen bilden. In diesem zweiten Typ von frames werden Ereignissequenzen einbezogen, die Ursachen, Voraussetzungen und Folgen implizieren. 68 Das Besondere an der Rahmenanalyse ist, dass sie ihre Analyseeinheiten nicht auf der Basis manifester Inhalte definiert. Bevor die Analyseeinheiten festgelegt werden, wird die argumentative Struktur eines Textes berücksichtigt, indem dessen Inhalte synthetisiert werden. So können latente Sinnstrukturen (frames) rekonstruiert werden. Die zweite Besonderheit der Diskursanalyse liegt in ihrem Umgang mit Kategorien. Diskursanalysen übersetzen Inhalte nicht in analytische oder soziologische Kategorien, wie es Inhaltsanalysen tun. Diskursanalyse 68 Ebd., 155ff. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 38 ist nicht an abstrakten Kategorien – wie für oder gegen etwas zu sein – interessiert, sondern will herausarbeiten, warum jemand für oder gegen etwas ist. Was verstehen Akteure unter einem Problem, wie betont der Gebrauch von Metaphern bestimmte Aspekte und verbirgt oder unterdrückt andere? Wie fungieren diese Metaphern als argumentatives und überzeugendes rhetorisches Mittel? Erzielt eine bestimmte Art des framing Resonanz in der Kultur der Rezipienten/Rezipientinnen? Werden die Rezipienten/Rezipientinnen dadurch mehr oder weniger überzeugt, zum Beispiel dann, wenn der Diskurs wenig rational erscheint? Ein Text lässt sich auf diese Weise aber nur verstehen, wenn es gelingt, ihn in die Common Sense-Kategorien der Lebenswelt der Rezipienten/Rezipientinnen zu übersetzen. Diskursanalyse kann als Prozess der Übersetzung von der Sprache des geschriebenen oder gesprochenen Textes in die Alltagskategorien gesellschaftlicher Akteure verstanden werden. Es wird nach Indikatoren für die Kultur der Rezipienten/Rezipientinnen gesucht – ganz anders, als es Inhaltsanalysen tun, denn diese suchen nach Indikatoren der Sprecher-/Sprecherinnenintentionen. 69 Was die politische Diskursanalyse bis jetzt noch nicht geleistet hat, das ist eine angemessene Verknüpfung der Ebene der ideologischen Konstrukte mit der Ebene des kollektiven Handelns. Indem Diskurse/Ideologien und Realität als Dualität gedacht werden, erscheint Realität demnach immer durch die Diskurse verzerrt, verschleiert oder umdefiniert zu sein. Das Diskursmodell ersetzt das Einstellungskonzept, mittels dessen Untersuchungen über politische Kultur durchgeführt werden. Betrachtet man Diskurse jedoch als Teil der Handlungen, fasst man sie als Interaktionen auf, die durch Akteursäußerungen ausgeführt werden, erleichtert das die Antwort auf die Frage, welcher frame sich in einem symbolischen Kampf durchsetzt. Die Frage, warum und aufgrund welcher Bedingungen eine soziale Bewegung in einem sozialen System entsteht, wird damit allerdings nicht beantwortet. Aus dieser Perspektive sind soziale Probleme Ausdruck der Art und Weise, wie unterschiedliche Akteure die Realität sehen. Soziale Probleme sind aber nicht lediglich das Ergebnis sozialer Konflikte um die legitime Definition der Realität. Der umstrittene Sachverhalt ist selbst ein Terrain, 69 Ebd., 163ff. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 39 auf dem ein Diskurs stattfindet und ist eine durch Interaktion entstandene Konstruktion. 70 3.2. Was die politische Rahmenanalyse für die Armutsforschung leisten kann Die politische Rahmenanalyse erlaubt eine genauere Beschreibung der Entwicklung und des Wandels von Wissens-, Glaubens- sowie Meinungssystemen und Ideologien. Außerdem ermöglicht sie eine Analyse der Beziehungen zwischen kulturellen und ideologischen Systemen. Die politische Rahmenanalyse eignet sich auch zur Untersuchung deliberativer Prozesse, in denen und durch die Akteure von einer Wirklichkeitsdefinition zu einer anderen wechseln und folglich Situationen, Fakten, Ereignisse in neuen Begriffen Sinn und Bedeutung zuschreiben. Dies geschieht, so ist theoretisch anzunehmen, durch die Nutzung und Anwendung eines neuen frames und im Rahmen des Prozesses des frame-alignment.71 Das frame-Konzept berücksichtigt die realitäts- und bedeutungskonstituierenden Praktiken der Akteure, indem es mit einem Modell symbolischen Handelns arbeitet. Deutungsrahmen sind Kategorisierungen, die auf Analogien und Metaphern beruhen. Sie haben das Ziel, Bedeutung zu vermitteln und eine Übertragung von etwas bereits Bekanntem auf etwas Neues zu erzeugen. Auch Ideologien und Glaubenssysteme (beides sind komplexe und artikulierte Konstrukte) sind als auf verschiedenen Ebenen miteinander verwobene und hierarchisch geordnete frames zu betrachten. Deren Artikulation folgt aber keinen formal-logischen, sondern rhetorischen und symbolischen Regeln. Ideologien können durchaus mit verschiedenen frames des gleichen Problems und desselben Ereignisses konsistent sein, auch wenn diese verschiedenen frames unterschiedliche Konsequenzen für das Verhalten und die ihm zugrunde liegenden Ideen haben mögen. Ideologien sind gerade deshalb oft widersprüchlich, und zwar nicht aufgrund der fehlenden logischen Struktur, sondern weil Strukturierung und Legitimierbarkeit nicht von einer formalen Logik, sondern der Sprache selbst abhängen.72 Frames verrichten „konstruktiv-definitorische und 70 71 72 Ebd., 169ff. Ebd., 165. Ebd., 165ff. 40 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 semantische Arbeit“: Sie verknüpfen „Erfahrung mit Kultur“ und ermöglichen „ideelle und ideologische“ Verbindungen. So strukturieren sie die „gesamte Bedeutungsdimension von Erfahrung ..., während die Erfahrung gleichzeitig ... im Sprechakt ... vollzogen wird. Kultur wird also durch fortwährende Manipulation von Verknüpfungen und Konflikten zwischen frames geformt. Wenn man analysiert, wie Akteure ... ihre frames konstruieren, sie verändern und verknüpfen, so bedeutet dies zu untersuchen, wie Akteure um die Definition der Realität kämpfen, und warum und weshalb sie bei der Mobilisierung der öffentlichen Meinung und kollektiven Handelns Erfolg haben oder aber scheitern.“ 73 Lenken wir nun den Blick wieder auf das Thema „Armut“. Mithilfe der Rahmenanalyse kann der Frage, wie unterschiedliche Policies als Armutsbekämpfungsmaßnahmen gerahmt werden und welche Formen struktureller Ausgrenzung dadurch entstehen, nachgegangen werden. So zeigt zum Beispiel eine Untersuchung von Michael Bauer, welche Rolle das Konzept der „social exclusion“ in den EU-Armutsbekämpfungsmaßnahmen als „Rahmung“ von Armut spielt. 74 Ein zweites Beispiel für die „Rahmung“ eines sozialen Problems findet sich im Kontext Familienarmut wieder: So wurde von Ministerin Gehrer im August 2003 eine so genannte „Wertedebatte“ 75 losgetreten, 73 74 75 Ebd., 168f. Bauer, Michael W. (2002), Limitations to Agency Control in European Union PolicyMaking: The Commission and the Poverty Programmes, in: Journal of Common Market Studies, 40 (3), 381–400. In einer Rede in Alpbach forderte Gehrer die junge Generation auf, ihren Beitrag zum Generationenvertrag zu erfüllen. Kinder seien die beste Zukunftssicherung. „Was macht das Leben lebenswert? Etwa, wenn man von Party zu Party rauscht, ist es das Single-Leben?“ Die Debatte weitete sich schnell aus, verebbte aber ebenso schnell wieder. Der Wertediskurs, der sich sehr schnell auf die Formen „Kinderkriegen oder Partyleben“ zuspitzte, löste massive Kritik aus. Die Reaktionen auf Gehrers Aussagen fielen großteils ablehnend, aber trotzdem sehr unterschiedlich aus. Die ÖVP-Jugendsprecherin Silvia Fuhrmann zeigte sich über die klischeehaften Bilder verärgert und wies darauf hin, dass die Anforderungen an die heutige Jugend andere seien als an die Nachkriegsgeneration. Heute führe der Leistungsdruck, eine gute Ausbildung abzuschließen und sich rasch im Berufsleben zu etablieren dazu, dass keine Zeit bleibe, um ans Kinderkriegen zu denken. Außerdem würden nach wie vor die Rahmenbedingungen fehlen, um Kinder und Beruf besser vereinbaren zu können. Fuhrmann sprach sich deshalb für eine Aufhebung der Zuverdienstgrenzen beim Kinderbetreuungsgeld und für flexiblere Arbeitszeiten für Eltern aus. Der Grünen-Sprecher Alexander van der Bellen bemerkte, Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 41 die eine sehr subtile Form der Ausgrenzung von Armut – nämlich durch einen Diskurs – ins Spiel brachte. Im Zusammenhang mit diesem, die Sommerpause 2003 füllenden Streit, wurde öffentlich über „Kinderkosten“ diskutiert. Damit ist diese „Wertedebatte“ über Kinder in der Tradition des Sozialstaat-Diskurses zu verorten, der derzeit in beinahe allen dass sich für viele junge Menschen die Frage stelle, „ob sie sich Kinder finanziell leisten können. Für Frauen geht es darüber hinaus um ihre beruflichen Zukunfts- und Karriereaussichten.“ Johannes Fenz, der Präsident des Katholischen Familienverbandes, nützte die Gelegenheit, um bessere Rahmenbedingungen für Familien zu fordern. Er forderte vor allem eine Erweiterung der Betreuungsmöglichkeiten: „Es geht nicht nur um das Kindergebären, sondern darum, dass Eltern auch Betreuungseinrichtungen in Anspruch nehmen können, ohne dass sie in Armut abgleiten.“ Ähnlich reagierte auch die ÖGB-Frauenvorsitzende Renate Csörgits, die „flächendeckende Kindergärten und Ganztagsschulen“ forderte. Unterstützung erhielt Gehrer für ihre Aussagen von der ÖVP-Familiensprecherin Ridi Steibl, indem sie meinte, dass eine Wertediskussion über künftige Familienkonstellationen forciert werden müsse. Auch der ÖVP-Generalsekretär Reinhold Lopatka meinte, dass die „Keine-Kinder-Mentalität“ vieler Österreicher/-innen nach „Gegensteuerung“ verlange. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel nahm, mehrere Tage nachdem Gehrer die Wertediskussion angestoßen hatte, zu der Thematik Stellung und stärkte Gehrer den Rücken. Schüssel kritisierte, dass alles und jedes in unserer Gesellschaft sich in Form einer ökonomischen Betrachtung materialisieren müsse. Das Materielle sei wichtig und bedeutsam, könne aber nicht die Entscheidung für oder gegen das Leben substituieren. Man müsse hingegen zu einer neuen Form der Lebensbejahung finden, zu einer neuen Form der Herzlichkeit und der Bindung. Geborgenheit, Heimat und Wurzeln zu geben sei das Wichtigste in der Kindheit, doch wäre das die Aufgabe der Eltern. Auch Vizekanzler Herbert Haupt unterstützte Gehrers Argumentation. Die Gesellschaft habe sich „allzu stark egoistisch entwickelt“. Man dürfe den Sozialstaat nicht im Sinn des eigenen „Egoismus“ und „Hedonismus“ ausnützen. Dabei räumte er ein, dass er selbst als Kinderloser sich gegen eine Adoption entschieden hätte und damit den Generationenvertrag nicht eingehalten habe. Er würde es deshalb verstehen, wenn er in der Pensionsversicherung schlechter gestellt würde. Die FPÖ-Frauensprecherin Elke Achleitner kritisierte sowohl die Oppositionsparteien als auch den Koalitionspartner für die Drohung, dass der Geburtenrückgang durch stärkere Zuwanderung ausgeglichen werden müsse. Achleitner sieht die Ursachen für den Kindermangel darin, dass die Öffnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen nicht mit den Arbeitszeiten der Mütter übereinstimmen und deshalb Mütter großen Stress hätten und nur eingeschränkt bestimmte Jobs ausführen können. Achleitner unterstützt außerdem Haiders Vorschlag, Kindergartenförderung an die Gemeinden mit der Einführung entsprechend flexibler und bedarfsgerechter Öffnungszeiten zu koppeln. Die Anspruchsberechtigung des Kinderbetreuungsgeldes solle außerdem bis zum sechsten Lebensjahr ausgedehnt werden. Bis September/Oktober entwickelte sich die Diskussion insofern weiter, als über ein „Recht auf Teilzeitarbeit für Eltern“ nachgedacht wurde. Schließlich diskutierte man über die ökonomische Benachteiligung von Eltern am Arbeitsmarkt und fehlende Kinderbetreuungsplätze. Letztendlich einigte sich die Regierung auf die Gründung einer Kommission zum Thema Kinderbetreuung. 42 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 westlichen Industriegesellschaften geführt wird. Niedrige Fertilitätsraten werden zunehmend als politisches Problem für den Fortbestand des Systems sozialer Sicherung gesehen. Üblicherweise geschieht die Bezugnahme auf Familienarmut in diesem Zusammenhang unter einer starken Fokussierung auf die Armut von Kindern und Jugendlichen. Die Armut der Pflegepersonen bzw. der Eltern dieser Kinder, die sich dahinter verbirgt, bleibt versteckt. Diese Art des Benennens von Armutslagen von Familien lässt sich auf die Macht des öffentlichen Diskurses um Generationengerechtigkeit im Zusammenhang mit der Reform des Pensionssystems zurückführen. Das wachsende Gewicht von Kinderarmut „im öffentlichen Diskurs lenkt von einer dramatisch wachsenden Ungleichheit innerhalb aller Generationen ab. Kinderarmut wird als politisch -ideologischer Hebel benutzt, um Teile der Armutspopulation, aber auch Eltern und Kinderlose, gegeneinander auszuspielen. Ähnliches gilt für Diskussionen zum demografischen Wandel, zur ‘Vergreisung’ der Gesellschaft und zu den daraus (angeblich) erwachsenden Finanzierungsproblemen für die Systeme der sozialen Sicherung“ 76. Der Diskurs geht sogar soweit, dass der Begriff „Kinderarmut“ seine Bedeutung als „Not junger Menschen“ verliert und umgedeutet wird zum „Mangel an Nachwuchs“.77 Ein mögliches Konzept innerhalb der Rahmenanalyse, das für die Untersuchung des Armutsdiskurses geeignet ist, ist jenes der textual silence78. Aus dieser Perspektive wurde von Thomas Huckin der Diskurs über Obdachlosigkeit untersucht. Huckin geht davon aus, dass im Armutsdiskurs gerade das, was nicht gesagt oder geschrieben wird, wichtig ist. So stehen gerade manipulative „Leerstellen“ – also jene relevanten Informationen, die absichtlich vor den Lesern/Leserinnen oder Zuhörern/Zuhörerinnen zum Vorteil des Sprechers/der Sprecherin oder des Autors/der Autorin verschwiegen wird – im Mittelpunkt des Interesses. Selbstver76 77 78 Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael (Hg.) (2003), Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Opladen, 7f. Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael (2003), Die Demografie als Ideologie und Mittel sozialpolitischer Demagogie? Bevölkerungsrückgang, „Vergreisung“ und Generationengerechtigkeit, in: Butterwegge/Klundt (Hg.), 66. Huckin, Thomas (2002), Textual silence and the discourse of homelessness, in: Discourse & Society, 13 (3), 347–372. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 43 ständlich ist es eine methodische Herausforderung für die Diskursanalyse, genau das, was nicht da ist, zu analysieren. Es gilt zu fragen: Was wurde nicht gesagt, was gesagt werden hätte müssen? Mit dem Blick auf den Kontext des Sprechaktes erfolgt ein reframing.79 Texte über Armut enthalten in den meisten Fällen Aussagen über Ursachen und Folgen von Armut, öffentliche Verantwortung und demografische Daten. Von diesen Aussagen ausgehend lässt sich auf deren Rahmung schließen. Konservativen Rahmen liegt meist der Individualismus amerikanischen Zuschnitts zugrunde (der Mythos vom „American Dream“). Wer versagt, trägt selbst Schuld an seinem Schicksal. Strukturelle Ursachen von Armut und Lösungen werden meist nicht erwähnt. Strukturelle Ursachen und strukturelle Lösungen stehen hingegen in Zusammenhang mit einem liberalen Rahmen. Hier werden vor allem die im System grundgelegten Aspekte von Armut betont, individuelle Ursachen und Lösungen werden verschwiegen.80 Es ist wichtig zu betonen, dass jede Art von framing zu einer ideologischen Manipulation der Rezipienten/Rezipientinnen von Texten beiträgt. Manipulationen „can be passed down the food chain“ 81, sie werden von Armutsforschern/Armutsforscherinnen über Armutsberichte und Medien in die Öffentlichkeit übertragen und zeigen kognitive Effekte bei den Rezipienten/Rezipientinnen. Was das in der Praxis bedeutet, zeige ich im folgenden Fallbeispiel. 3.3. Fallbeispiel 2: Jugendliche schreiben über Armut Wie gehen Rezipienten/Rezipientinnen mit dem Armutsdiskurs um? Was leiten sie daraus für ihr eigenes Leben und das Leben von den so genannten „Armen“ ab? Diese beiden Fragen standen im Vordergrund einer kleineren, diskursanalytisch angelegten Untersuchung von Schüler-/Schülerinnenaufsätzen über Armut. Ziel war es zu entdecken, ob sich in der Argumentationsweise von Schülern/Schülerinnen frames erkennen lassen und ob diese Schlüsse auf die Hegemonie eines Diskurses zulassen. 79 80 81 Ebd., 353f. Ebd., 361ff. Ebd., 366. 44 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Klassen von AHS und BHS in zwei Schulen im Bundesland Salzburg w urden gebeten, Problemarbeiten über Armut zu schreiben. Drei Aufsatzthemen wurden zur Auswahl gestellt, es konnte eines davon gewählt werden. Die Themen lauteten: 1. Obwohl Österreich zu den reichsten Ländern der Erde zählt, gibt es auch bei uns immer mehr – teils versteckte – Armut. Worin siehst du die Gründe dafür, welche Maßnahmen sind von Seiten des Einzelnen und von Seiten der Gemeinschaft notwendig? 2. Besonders armutsgefährdet sind in Österreich Alleinerzieherinnen und deren Kinder. Für viele Frauen ist bereits während der Schwangerschaft absehbar, dass sie von Armut bedroht sein werden. Sollen Menschen überhaupt Kinder bekommen, wenn sie wissen, dass sie sie nur mit finanziellen Schwierigkeiten großziehen können? Welche Lebensumstände sind die Grundvoraussetzung für eine Familiengründung? 3. In Österreich, einem der wohlhabendsten Länder Europas, sind rund 11% der Bevölkerung armutsgefährdet und rund 4% akut von Armut betroffen. Erörtere, was es in unserer Gesellschaft bedeutet, als Familie armutsgefährdet oder arm zu sein und wie man Familienarmut vermeiden könnte. Es waren insgesamt 54 Schülerund Schülerinnen, die Problemarbeiten zu je einem dieser drei Themen schrieben. Thema 1 wurde von 24 Schülern/Schülerinnen gewählt, Thema 2 von 12 Schülern/Schülerinnen und Thema 3 von 18 Schülern/Schülerinnen. Alle Aufsätze wurden von mir nach der Methode von Bohnsack analysiert. Diese Methode wird üblicherweise zur Analyse von Interviews nach semistrukturierten Leitfäden verwendet und dient dazu, Argumentationsweisen und zentrale Begriffe herauszuarbeiten. Untersucht wurden die Aufsätze nach folgenden Fragestellungen: 1. Mit welchen impliziten Armutsbegriffen arbeiten die Schüler/Schülerinnen bzw. machen sie ihre verwendeten Armutsbegriffe explizit? 2. Wer ist für die Schüler/Schülerinnen arm? 3. Welche Ursachen für Armut geben die Schüler/Schülerinnen an? 4. Welche Folgen hat Armut laut den Aussagen der Schüler/Schülerinnen? Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 45 5. Welche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung betrachten die Schüler/ Schülerinnen als sinnvoll? Sind diese Maßnahmen auf struktureller oder auf individueller Ebene angesiedelt? In den Problemarbeiten zu Thema 1 wird Armut hauptsächlich als ökonomisches Problem betrachtet – das wird in einigen Arbeiten explizit gemacht, in den meisten aber ist erst nach einer Analyse der verwendeten Argumente zu erkennen, dass die Schüler/Schülerinnen von ökonomischer Armut ausgehen. Nur in vier Arbeiten wird mit einem sozialen Armutsbegriff gearbeitet. Ein/e Schüler/-in fasst den Armutsbegriff als „Machtlosigkeit, Hunger, Elend“ auf. Als Ursachen für Armut werden großteils Arbeitslosigkeit und atypische Beschäftigungsverhältnisse genannt. Der Konsumdruck in der Wohlstandsgesellschaft wird von elf Schülern/Schülerinnen angekreidet – damit steht dies als Ursache für Armut an zweiter Stelle. Scheidung und Trennung, hohe Lebenshaltungskosten, materialistische gesellschaftliche Werthaltungen, Schicksalsschläge und Katastrophen, fehlende Solidarität und die Unfähigkeit der Politik werden als weitere Gründe für Armut angegeben. Erwähnt werden auch fehlender Arbeitswille, Krankheit und Behinderung, eine schlechte wirtschaftliche Lage, teure bzw. ungenügende Bildung, Sucht, Diskriminierung von Frauen, der Zerfall der Institution Ehe/Familie und mangelnde Eigenvorsorge. Die Folgen von Armut, die die Schüler/Schülerinnen angeben, sind sehr vielfältig. Genannt werden: – – – – – – – – – – – – Anhäufung von Schulden Sucht Jugendarbeitslosigkeit Ausgrenzung und Einsamkeit Stress Vernachlässigung der Kinder, Vererbung von Armut an die Kinder Krankheit Macht- und Ausweglosigkeit Zerbrechen von Familien, familiäre Probleme Kinderlosigkeit Leben mit Einschränkungen Obdachlosigkeit Die vorgebrachten Argumente bezüglich Ursachen und Folgen von Armut zeigen eine große Ähnlichkeit, was darauf schließen lässt, dass von Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 46 den Schülern/-innen erkannt wird, dass es sich um einen Armutskreislauf handelt. Als benachteiligte Bevölkerungsgruppen bzw. Risikogruppen werden von den Schülern/-innen angeführt: – – – – – – Kinder und Jugendliche (zehn Nennungen) Familien (neun Nennungen) Süchtige und Kranke (sechs Nennungen) Obdachlose (fünf Nennungen) Alleinerziehende (vier Nennungen) weiters noch Katastrophenopfer, Behinderte, Sozialhilfeempfänger/-innen, Geschiedene, Alte, Flüchtlinge, Arbeitslose, Ausländer/-innen und Frauen. Ein Großteil der Schüler/-innen, die das Thema 1 bearbeitet haben – nämlich dreizehn - , betrachten Maßnahmen, die beim Individuum ansetzen, als zielführend. Die Gemeinschaft solle mehr spenden, umgekehrt sollten „Arme“ sorgfältiger mit Geld umgehen und mehr sparen. Sieben Schüler/-innen erkennen die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens von strukturellen Rahmenbedingungen und individuellem Engagement bei der Armutsbekämpfung. Die Schüler/-innen, die sich mit dem Thema 2 beschäftigt haben, definieren Armut in erster Linie als ökonomisches Problem. Ursachen für die Armut von Alleinerziehenden seien vor allem – – – – – – – – – – Scheidung und Trennung Vereinbarkeitsprobleme ein zu geringes Einkommen eine familienfeindliche Politik eine traditionelle Arbeitsteilung hohe Kinderkosten Brüche und Schicksalsschläge im Leben eines Menschen Probleme bei der Bezahlung von Alimenten Mobilitätszwang, der Familien zerreißt Veränderung der Familienstrukturen Unter dem Begriff „Alleinerziehende“ stellen sich die Schüler/-innen Frauen mit Kindern vor, die entweder – nie verheiratet waren oder – geschieden sind, Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 47 – Hausfrauen sind, – berufstätig sind, – junge Mütter in Ausbildung sind Als Folgen der Armut von Alleinerziehenden erkennen die Schüler/-innen – – – – – – – – – Vereinsamung Stress gesundheitliche Probleme die Vererbung der Armut an die Kinder Ausgrenzung Chancenungleichheit Eltern können ihre Ausbildung nicht abschließen zunehmende Kinderlosigkeit, Geburtenrückgang ethische Probleme hinsichtlich der Haltung gegenüber (ungeborenen) Kindern Jene Schüler/-innen, die notwendige Maßnahmen auf individueller Ebene ansiedeln, empfehlen, den Kinderwunsch so lange hinauszuzögern, bis die Voraussetzungen für eine Familiengründung geschaffen sind: eine stabile, liebevolle Partnerschaft, Kinderwunsch, ein geregeltes Einkommen und ein Haus bzw. eine Wohnung. Kinder sollen demnach „geplant“ werden. Adoption oder Abtreibung werden von wenigen Schülern/Schülerinnen in Betracht gezogen, sollte die werdende Mutter nicht die Verantwortung für ihr Kind tragen können. Der Gedanke, dass man sich ein Kind „leisten können muss“, wird von sieben Schülern/Schülerinnen in unterschiedlicher Weise formuliert. Nur zwei Schüler/-innen betonen, dass das Leben nicht planbar sei, Kinder nicht mit Materiellem gleichgesetzt werden können und das eigene Leben nicht gesellschaftlichen Normen entsprechen muss, um Kinder bekommen zu können. Gewünscht werden von den Jugendlichen – mehr staatliche Unterstützung von Alleinerziehenden bzw. jungen Familien, – dass Väter mehr in die Verantwortung genommen werden, – mehr Aufklärung über den Alltag mit Kind, – bessere Vereinbarkeit von Ausbildung und Kinderbetreuungspflichten, – politische und wirtschaftliche Sicherheit, Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 48 – Anerkennung der Leistungen von Alleinerziehenden, – Umverteilung zugunsten von Alleinerziehenden. Das Thema 3 wurde von 18 Schülern/Schülerinnen bearbeitet. Es geht darin um Familienarmut. Die Ergebnisse der Auswertung zeigen, dass diese Lebenswelt den Schülern/Schülerinnen sehr viel näher ist als die Armutssituationen, die im Kontext der anderen beiden Fragestellungen zu behandeln waren. Die Beschreibungen und Argumente sind hier sehr „dicht“ und werden vor allem aus der Sicht der Jugendlichen geschildert. Dichte Beschreibungen finden sich bereits bei der Definition von Armut, die – auch hier wieder implizit als auch explizit – als Zusammenspiel von ökonomischer und sozialer Armut betrachtet wird. Einige der Schüler/-innen definieren Armut auch mit eigenen Worten, zum Beispiel „arm ist, wer am Alltagsleben nicht teilhaben kann“, „wer zuwenig Geld hat, um Grundbedürfnisse zu befriedigen“, „Familien sind arm, wenn die Kinder nicht versorgt werden können“. Als Ursachen für Familienarmut betrachten die Schüler/-innen – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Arbeitslosigkeit unregelmäßiges Einkommen Wirtschaftskrise, zunehmende Konkurse Einsparungen in der Sozialpolitik Verschuldung durch den Wunsch nach einem Eigenheim Krankheit hohe Lebenshaltungskosten Scheidung Vereinbarkeitsprobleme der Eltern Schicksalsschläge und Katastrophen zu viele Kinder fremd sein Konsumzwang hohe Risiken für Arbeitgeber, wenn sie „Sozialfälle“ einstellen Gesellschaftsstruktur das Zusammentreffen mehrerer Armutsrisiken das Abschieben von Familienarmut in die private Sphäre fehlende Aufklärung und Bildung Leben über die eigenen Verhältnisse Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 49 – wenig Toleranz bei Zahlungsrückständen Die Folgen von Familienarmut würden in erster Linie die Kinder treffen und sind laut den Argumentationen der Schüler/-innen: – Ausgrenzung und Einsamkeit (17 Nennungen bei 18 Aufsätzen) – psychische Probleme und höhere Anfälligkeit für Suchtmittel (7 Nennungen) – Einsparungen bei der Ausbildung der Kinder – weniger Chancen – Angst – Druck – Scham – Abhängigkeit von sozialen Einrichtungen – erhöhtes Gesundheitsrisiko – Vererbung von Armut Einer der Schüler/Eine der Schülerinnen bringt Familienarmut folgendermaßen auf den Punkt: „Armut (für Familien) in unserer Gesellschaft bedeutet, dass Familien die wesentlichen Kriterien, die eine Familie auszeichnen, aus finanziellen Gründen nicht verfolgen können, wie zum Beispiel der Wunsch nach Kindern oder auf ein Eigenheim.“82 Wesentlich häufiger als bei den Themen 1 und 2 erkennen die Schüler/-innen das Zusammenwirken von individuellen und strukturellen Ursachen als Auslöser von Familienarmut, scheinen aber die sozialen Auswirkungen, nämlich Ausgrenzung und psychische Probleme, stärker zu bewerten. Auffallend bei den Erörterungen zu Thema 3 ist, dass die erwünschten bzw. empfohlenen Maßnahmen gegen Familienarmut wesentlich stärker auf struktureller Ebene angesiedelt sind als bei Erörterungen zu den Themen 1 und 2. Gewünscht wird: – ein stärkeres Eingehen auf die Bedürfnisse von (jungen) Familien durch die Politik – stärkere Umverteilung zugunsten der Familien – ein Wertewandel bzw. gesellschaftliches Umdenken, mehr Solidarität 82 Aufsatz Nr. 9/3. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 50 – kostengünstigere Bildung – konkrete Armutsbekämpfungsmaßnahmen – eine Senkung der Lebenshaltungskosten (Wohnen, Kleidung, Lebensmittel, Gesundheitsvorsorge) – eine positive Diskriminierung von Müttern in der Arbeitswelt – bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie – eine stärkere Einbeziehung von Familien und Jugendlichen in die Politik (Partizipation) – Individuelle Maßnahmen gehen in Richtung mehr Selbstbewusstsein, weniger Schulden eingehen, mehr Hilfe. 3.4. Zwischenresümee Hier stehen also „dünne Beschreibungen“, die nur die Oberfläche spiegeln im Gegensatz zu „dichten Beschreibungen“, die von Tiefenschichten und Innenansichten des „Sparen-Müssens’“ in der Familie erzählen. 83 Die Idee, Jugendliche Problemarbeiten über Armut schreiben zu lassen, beruht auf der Annahme, dass diese öffentlichen Diskurse rezipieren und mit ihrer Erfahrungs- und Lebenswelt in Verbindung bringen. Die schein-objektive Argumentationsweise, die vom Schulsystem beim Verfassen von Problemarbeiten verlangt wird, lässt persönliche Erfahrungen hinter rezipierte Rahmungen treten. Gerade der Vergleich der Erörterungen nach Themen zeigt aber, dass es den Schülern/Schülerinnen sehr wohl möglich ist, das Thema „Familienarmut“ mit ihrer Lebenswelt zu verbinden und die Schwierigkeiten in ihren eigenen Familien aus der Sicht des Jugendlichen/Kindes wahrzunehmen. Umgekehrt sind Themen, die Armut allgemein betreffen oder sich mit ethischen Fragen bezüglich der „Leistbarkeit“ eines Kindes der Lebenswelt der Jugendlichen eher fremd. Die Schüler/-innen tendieren in diesen Fällen eher dazu, Diskurse zu rezipieren und Rahmungen nicht als öffentliche Meinung, sondern als „Wahrheiten“ anzunehmen. 83 Die Begriffe „dichte“ und „dünne Beschreibungen“ verwendet Clemens Sedmak, um den Prozess des Verstehens von Armut zu erklären. Damit greift er auf die von Gilbert Ryle eingeführten Kategorien zurück. Sedmak, Clemens (2003), Erkennen und Verstehen. Grundkurs Erkenntnistheorie und Hermeneutik, Innsbruck/Wien, 116; Sedmak, Clemens (2003), Kleine Verteidigung der Philosophie, München, 15. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 51 Der wissenschaftliche Anspruch, noch „dichtere“ Beschreibungen von Armut von Schülern/Schülerinnen zu bekommen, stößt schnell an Grenzen. Jegliche „Umfragen“ – d.h. Gespräche mit Schülern/Schülerinnen – müssen von den zuständigen Landesschulräten genehmigt werden. Weiters braucht es eine Zustimmung durch die Eltern der Schüler/-innen. Das charakterisiert in der Gegenwart die Institution Schule, die nur wenig Raum lässt für philosophische Protoerfahrungen wie Staunen, Neugierde, Zweifel, Verwirrung, Fragen und Angst. Schule ist, sofern nicht einzelne Lehrpersonen einen „anderen“ Weg gehen, ein System sozialer Kontrolle. 4. Armut und soziale Kontrolle 4.1. Soziale Kontrolle Soziale Kontrolle wird als Charakteristikum von Gegenwartsgesellschaften, die mit den Schlagworten Individualisierung und Pluralisierung charakterisiert werden, meistens vernachlässigt. 84 Die Ursache dafür liegt laut Silvia Hahn darin, dass sich die klassische Frage nach sozialen Kontrollen in der Sozialstrukturanalyse deshalb nicht stellt, „weil ‘soziale Kontrolle’ ausschließlich mit den Handlungsrestriktionen traditioneller Gesellschaften in Verbindung gebracht wird und damit angesichts des beschriebenen ‘Freisetzungsprozesses’ als inadäquate Analysekategorie erscheinen muß. [...] Es fragt sich jedoch, ob die ‘neue Eigenständigkeit’, durch die die modernen Gemeinschaftsformen gekennzeichnet sind, wirklich Ausdruck des Verlustes sozialer Kontrolle ist.“ 85 Bei genauer Betrachtung der sozialen Wirklichkeit lassen sich aber Phänomene entdecken, die ehemals im Kontext traditioneller Lebensformen oder vormoderner Gesellschaften mit dem Begriff „soziale Kontrolle“ beschrieben worden sind. Diese neuen Zwänge beschreibt Hahn folgendermaßen: 84 85 Hahn, Cornelia (1995), Soziale Kontrolle und Individualisierung. Zur Theorie moderner Ordnungsbildung, Opladen, 9. Ebd., 20f. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 52 „Mit dem Wandel der sozialen Struktur müssen sich danach jedoch auch die Formen der sozialen Kontrolle verändern. Wie von den Klassikern herausgearbeitet worden ist, variieren diese Formen im gesellschaftlichen Prozeß, ohne daß hierdurch ihre Funktion berührt würde: zunehmende Individualisierung und Lockerung der Handlungsordnung zum Beispiel lassen nicht auf das Fehlen sozialer Kontrolle schließen.“86 Die ausschließliche Konzentration auf Handlungsspielräume als gesellschaftliche Strukturkategorie verstellt den Blick auf Handlungsbeschränkungen, bemerkt Hahn. 87 Die sozialstrukturelle Freisetzung und Bindung in der Moderne kann jedoch als Prozess von zunehmender Individualisierung und gleichzeitig zunehmender sozialer Kontrolle beschrieben werden.88 „Sieht man soziale Kontrolle nämlich weniger unter dem Aspekt von gesellschaftlich produzierten Restriktionen, die die ‘eigentlich’ unbegrenzte Handlungsautonomie der Einzelnen beschneiden, sondern unter dem Aspekt, welche und wieviel Kontrollarbeit dem Einzelnen innerhalb eines bestimmten sozialstrukturellen Gefüges zugemutet wird, um nicht als ‘deviant’ deklassiert zu werden, so läßt sich erkennen, daß das Gesamtvolumen sozialer Kontrollen zugenommen haben muss.“89 Hahn führt aus, dass es gerade in der individualisierten Gesellschaft keine zwingende Handlungslogik, wohl aber eine Kontrolllogik gebe. Auf soziale Kontrolle könne reagiert werden, indem entweder dem nahe gelegten Verhalten entsprochen wird – also mit Konformität –, oder aber indem aktive Gegenkontrolle versucht werde, die dann mit einem größeren Arbeitsaufwand verbunden sei. Komplexe soziale Systeme können dem Einzelnen zwar keine systemische Handlungslogik aufzwingen, kontrollieren aber dadurch, dass Individuen nur in einer bestimmten mediatisierten Form handeln können, wenn sie die Ordnungsleistungen, die das System erbringt, in Anspruch nehmen wollen. Individuelle Kontrollstrategien sind damit ausgeschlossen – oder der Systemerhalt wird gefährdet. Ein Kennzeichen der Moderne und die Voraussetzung von Individualisierung ist 86 87 88 89 Ebd., 54. Ebd., 41. Ebd., 119. Ebd., 169. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 53 der sozialstrukturelle Tatbestand, dass die Individuen gerade nicht an einem sozialen System teilnehmen, sondern im Schnittpunkt von zunehmend vielfältigeren sozialen Systemen stehen. Individuelle Kontrollstrategien beziehen sich darauf, wie unterschiedliche Systemstrukturen in der Alltagspraxis kompatibel gemacht werden bzw. gemacht werden müssen. Die Individualisierung des Lebensstils ist also vor allem auch mit hohen und möglicherweise belastenden Anforderungen verbunden.90 Betrachtet man soziale Kontrolle dabei in Verbindung zu staatlichen Institutionen, so zeigt sich, dass mit zunehmendem institutionellem Ausbau eine immer subtilere Form sozialer Kontrolle konstatiert werden kann. So zum Beispiel wird die Eigenverantwortung für soziale Problemlagen von der öffentlichen Subsistenzsicherung vorläufig als „Normalität“ dargestellt. 91 Es finden sich aber auch Hinweise dafür, dass soziale Kontrolle durch sozialpolitisch reglementierte „Instanzen sozialer Kontrolle“ ausgeübt wird, indem das Personal dieser Institutionen gemäß den Verwaltungsvorschriften handelt. 92 Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass innerhalb eines institutionellen Rahmens ein Symbolgehalt auf alle Interaktionspartner/-innen und nicht nur auf die Klientel wirkt. So zum Beispiel leiden auch die Beschäftigten des Sozialamtes unter ihrer gesellschaftlichen Etikettierung.93 Der Begriff der „sozialen Kontrolle“ bezieht sich aber auch auf die Kapazität einer Gesellschaft, sich selbst zu regulieren. Dies kann durch in diesen Strukturen inhärente kulturelle Handlungsmuster, Regeln, Symbole, Werte, Ideen und Ideale geschehen. 94 Prinzipiell existiert ein breites Spektrum von Kontrollmechanismen, was nahe legt, dass soziale Kontrolle durch vielfältige Formen ausgeübt werden kann.95 90 91 92 93 94 95 Ebd., 169f. Ebd., 8. Ebd., 15. Ebd., 16. Ebd., 63. Ebd., 84ff. 54 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Formen bzw. Mechanismen sozialer Kontrolle können sein: 96 - „Ethische sowie politische Instrumente der Kontrolle, die auf der Konstitution von kollektiven Gefühlen“ basieren, wie zum Beispiel ‘public opinion’, ‘suggestion’, ‘personal ideal’, ‘social religion’, ‘art’, ‘social valuation’ - Ethische und politische Instrumente der Kontrolle, die „auf gesellschaftlicher Nützlichkeit und gesellschaftlichem Eigeninteresse“ basieren, wie zum Beispiel ‘law’, ‘belief’, ‘ceremony’, ‘education’, ‘illusion’ - „Ausübende Organe der sozialen Kontrolle, die sich nach dem gesellschaftlichen Wertesystem richten, das jeweils eine bestimmte Gruppe von Positionsinhabern mit Machtbefugnissen ausstattet“ - „Bewertungskriterien sozialer Kontrolle wie ‘economy’, ‘inward’, ‘simplicity’, ‘spontaneity’, ‘diffusion’[,] ..., ‘laissez faire’“ Cornelia Hahn, die verschiedene Formen sozialer Kontrolle auf theoretischer Ebene diskutiert, kommt zu dem Schluss, dass besonders das „laissez-faire“-Prinzip in einer individualisierten Gesellschaft als Kontrollinstrument wirken kann, wenn dadurch Ordnungsleistungen, die aus dem kulturellen Potential der Individualisierung oder des Freiheitsdranges resultieren, ausgeschöpft werden können. 97 Das Problem moderner Gesellschaften, soziale Ordnung herzustellen, ist demnach nicht durch rigidere soziale Kontrolle möglich, sondern durch ein kontrolliertes „laissezfaire“.98 Hahn geht sogar soweit, dass sie das gesellschaftliche Strukturprinzip „Individualisierung“ als Kontrollprinzip interpretiert, da dadurch Handlungspraktiken zugelassen und gefördert werden, „die auf einem individuellen Gestaltungsspielraum basieren. Dieser Gestaltungsspielraum ist zur Konstitution einer komplexen Gesellschaftsstruktur notwendig, in der allgemein verbindliche, aber ausdifferenzierte Handlungsregeln nicht mehr entwickelt werden können. (...) Die Grenzen individueller Kontrolle liegen da, wo formalisierte Kontrollen wirksam werden; diese können jedoch wie- 96 97 98 Ross, E., On social control. A survey of the foundations of order, London/New York 1970, 428ff., zit. nach: Hahn, C. (1995), Soziale Kontrolle und Individualisierung. Zur Theorie moderner Ordnungsbildung, Opladen, 85. Ebd., 92. Ebd., 157. Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 55 derum sowohl als Zwang als auch Entlastung angesehen werden.“99 Die Ausübung von Kontrolle als auch die kreative Reaktion auf Kontrollversuche anderer werden in der Soziologie als „Kontrollarbeit“ bezeichnet. Universale Kontrollstrukturen wirken als Entlastungsmechanismen, die die individuelle Kontrollarbeit vermindern, gleichzeitig aber die formalisierte Kontrolle über Handlungen verstärken. In manchen Bereichen sind diese Entlastungsmechanismen so stark institutionalisiert, dass die Entscheidung zu individueller Kontrolle nur durch verstärkte Kontrollarbeit zu erzielen ist. Die Entscheidung zu unformalisierten Handlungsformen ist außerdem immer auch mit Verständigungsrisiken oder Sanktionierungen verbunden, so dass sich aus den möglichen Folgeproblemen dieses Verhaltens erneut individuelle Gestaltungszwänge ergeben können. Deshalb kann es sein, dass in Situationen verstärkter Kontrollanforderungen standardisierte Handlungsmuster subjektiv als Unterstützung angesehen werden. Diese Unterstützungen sind jedoch ambivalent: Sie lösen einerseits ein Kontrollproblem, andererseits wirken sie selbst sozial kontrollierend oder evozieren durch die Art der nahe gelegten Kontrolle wieder Folgeprobleme, auf die mit aktiver Gestaltung reagiert werden muss.100 Betrachtet man aus dieser Perspektive den Stil der Lebensführung, erscheint dieser als ein individuell gewähltes Problemlösungsmuster bzw. Kontrollmuster zur Herstellung eines subjektiv geordneten Lebensverlaufs, wobei auf standardisierte Problemlösungsangebote zurückgegriffen werden muss. Hier bieten sich Möglichkeiten für vielfältige soziale Kontrollen. Auch hier zeigt sich deutlich, dass das Strukturprinzip Individualisierung zum Kontrollprinzip werden kann. Denn: „Je standardisierter die verfügbaren Mittel zur Bewältigung dieser Aufgabe sind, desto höher werden die kulturellen Anforderungen an die Herstellung eines individuellen Lebensstils.“ 101 Demnach darf die Frage also nicht ausschließlich lauten, welche Muster sozialer Kontrolle in einer individualisierten Gesellschaft wirken, sondern es muss auch danach gefragt werden, welchen Beitrag die zunehmende Individualisierung zur gesellschaftlichen Kontrolle leistet. Ebd., 174. Ebd., 174f. 101 Ebd., 175. 99 100 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 56 Die Individualisierungsthese vernachlässigt, dass persönliche Autonomie in der Moderne einen kulturellen Wert darstellt. Der gegenwärtige Anomisierungsprozess verschleiert, dass er in eine kulturelle Umwelt eingebettet ist, die persönliche Autonomie für alle zum Anspruch gemacht hat. 102 Autonomie ist zu etwas wie einem „Mythos der Moderne“ geworden. Politische und wirtschaftliche Freiheit sowie die Lösung aus überkommenen Fesseln durch Aufklärung gilt als Indikator des gesellschaftlichen Fortschritts. 103 4.2. Soziale Kontrolle und Lebensstil Soziale Kontrolle manifestiert sich auch im Lebensstil der Individuen. Lebensstil umfasst die Art und Weise der praktischen Lebensführung und gilt zudem als Ausdruck individueller Persönlichkeit. Konstruktionsmerkmale von Lebensstil können sein: 104 – „die Familien- und Haushaltsstrukturen, insbesondere die Zusammensetzung der Haushalte und die Erwerbsbeteiligung der Haushaltsmitglieder – die Muster des Konsums, insbesondere die Verwendung des nichtrestitutiven Einkommens – die Zeit- und Aktivitätsbudgets – die sozialen Beziehungen der Haushalte und die Mitgliedschaften der Haushaltsangehörigen – die Wohnformen, Einrichtungen und Ausstattung – die Werteinstellungen – die Lebensziele und Lebenspläne“ Sicherlich gibt es Unterschiede hinsichtlich der Möglichkeiten und auch Restriktionen in der Gestaltung der eigenen Lebensführung. Dies hängt eng mit den dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen zusammen, mit objektiven Bedingungen, unter denen und auf diese bezogen Menschen handeln müssen und können. Doch die Feststellung der Tatsache, dass es Ebd., 25. Ebd., 26. 104 Zapf, W., Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland, München 1987, 16, zit. nach: Kraft, S. (1992), „Modernisierung“ und „Individualisierung“. Eine kritische Analyse ihrer Bestimmungen. [Masch.-schr.] Diss. Regensburg, 207. 102 103 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 57 ausdifferenzierte Lebensstile gibt, darf nicht eine Analyse der Bedingungen, unter denen diese Differenzierung stattfindet, ersetzen. 105 Wenn man die neuen Abhängigkeiten und Zwänge inhaltlich benennt, wenn man beginnt herauszuarbeiten, wie die neuen Freiheiten mit den neuen Zwängen zusammenhängen, wird deutlich, dass es heute einen „Zwang zur Individualisierung“ gibt. Die Ernsthaftigkeit und Verbissenheit, mit denen Menschen versuchen, die Selbstverwirklichungsziele zu erreichen und wie sehr sie sich unter Druck setzen lassen, etwas Besonderes sein und machen zu müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden, entgeht einem Blick, der Individualisierung und Entscheidungsdruck als Phänomen privilegierter Schichten abtut. 106 Individualisierung hat in jedem sozialen Milieu und in jeder Generation eine andere Färbung und weltanschauliche Einbettung. Individualisierung als allgemeines kulturelles Muster wird individuell, unter je spezifischen Bedingungen und je spezifischen Ressourcen, angeeignet und umgesetzt. Individualisierung allein für das Intellektuellen- und Selbstverwirklichungs-Milieu für gültig zu erklären, verharmlost sogar die Situation. Schroer betont in seinen Ausführungen, dass auch Arbeiter/-innen, Arbeitslose und Arme nicht vom Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit ausgenommen sind und deshalb auch an den gesellschaftlichen Umbrüchen beteiligt, die mit den Stichworten Individualisierung, Pluralisierung, Erlebnisorientierung, Stilisierung des Lebens, Enttraditionalisierung beschrieben werden.107 Schroers Auffassung wird durch einige empirische Untersuchungen belegt. So weisen unter anderem Leibfried et al. darauf hin, dass auch arme und randständige Menschen grundsätzlich Handelnde sind, die Chancen haben, zu einer Veränderung ihrer Lage oder zu einem aktiven Umgang mit ihr beizutragen. 108 Auch die Untersuchung über die postmoderne Familie von Judith Stacey widerlegt die These, dass es sich bei den in der Familiensoziologie diskutierten neuen Formen des Zusammenlebens um ein Mittelschichtphänomen handelt. Im Gegenteil tauchte die Ebd., 208. Schroer, Markus (2000), Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven, Frankfurt/Main, 428. 107 Ebd., 425. 108 Leibfried, Stephan et al. (1995), Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat. Frankfurt/Main. 105 106 58 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Zunahme von Scheidungen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften, von erwerbstätigen Müttern, Zwei-Verdiener/-innen-Haushalten, Alleinerziehenden oder unverheirateten Paaren, matrilinearen, erweiterten und künstlich geschaffenen, verwandtschaftlichen Unterstützungssystemen unter Armen und Angehörigen der Arbeiterschaft wesentlich früher und in größerem Maßstab auf.109 Dass Individualisierung, Erlebnisorientierung, Inszenierung und Stilisierung auch auf gesellschaftliche Randgruppen angewendet werden könnte, rührt an einem Tabu, an einem – keineswegs stillschweigenden – Konsens der Soziologie der Moderne darüber, dass allenfalls privilegierte Gruppen es sich leisten können, ihr Leben aktiv und kreativ zu gestalten. 110 Von mehreren Seiten wird die Behauptung eines universellen Individualisierungstrends in Zweifel gezogen. Kann es sein, dass es sich dabei um eine Erscheinung großstädtisch-akademischer Milieus ha ndelt?111 In der Haltung, „Individualisierung, Stilisierung und postmoderne Lebens- und Liebesformen“ als Phänomen „einiger weniger Privilegierter abzutun“, verberge sich jedoch ein „typisch intellektuelles Selbstmißverständnis“, so Schroer. „Während sich Intellektuelle diese Fähigkeit zur Selbstinterpretation und Selbstdarstellung wie selbstverständlich zutrauen, sprechen sie es anderen Gruppen schlichtweg ab.“112 Gerade deshalb wird die Individualisierungsthese von der klassentheoretischen Strömung innerhalb der Sozialstrukturanalyse kritisiert, da im Hintergrund eine Generalisierung eines Mittelschichtphänomens auf andere Schichten vermutet wird: Man verschleiere damit soziale Ungleichheiten. Mit der Individualisierungsthese verbunden sei die Überzeugung, dass gesellschaftliche Randgruppen keine Wahlmöglichkeiten haben. Arbeiter/-innen oder einfache Angestellte, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger/-innen, Alte, Ausländer/-innen und Angehörige unterer Einkommensgruppen werden als Erdulder/-innen ihrer alternativlosen Position betrachtet. 113 Stacey, Judith (1991), Zurück zur postmodernen Familie. Geschlechterverhältnisse, Verwandtschaft und soziale Sicht im Silicon Valley, in: Soziale Welt, 42, 301–322. 110 Schroer, Individuum der Gesellschaft, 424. 111 Burkart, Günter (1994), Die Entscheidung zur Elternschaft. Eine empirische Kritik von Individualisierungs- und Rational-Choice-Theorien, Stuttgart, 129. 112 Schroer, Individuum der Gesellschaft, 427. 113 Ebd., 422f. 109 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 59 4.2.1. Sozialstruktur – Individualisierung - Disziplinierung Der gesellschaftliche Individualisierungsschub, den Ulrich Beck beschreibt, hat sich vor dem Hintergrund eines relativ hohen materiellen Lebensstandards und sozialstaatlicher Sicherheit vollzogen. Dadurch wurden die Menschen aus traditionalen Versorgungsbezügen der Familie und Klassenbedingungen herausgelöst und auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen.114 Die Individuen wurden zu Akteuren ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und der darauf bezogenen Biografieplanung und -organisation. 115 Beck behauptet, dass die Dynamik des sozialstaatlich abgesicherten Arbeitsmarktes die sozialen Klassen im Kapitalismus ausgedünnt bzw. aufgelöst hat. Es handelt sich beim modernen Kapitalismus um einen Kapitalismus ohne Klassen, aber mit allen damit verbundenen Strukturen und Problemen sozialer Ungleichheit. Die Tendenz zur Klassenlosigkeit sozialer Ungleichheit zeigt sich in der Verteilung der Massenarbeitslosigkeit. 116 Beck weist darauf hin, dass der Wirklichkeitsgehalt des Klassen- und Schichtungs-Paradigmas in Zweifel gezogen werden muss. Das ständische Gepräge und die soziale Wahrnehmbarkeit der Klassen im Sinne von Großgruppen, die sich durch Kontakt-, Hilfs- und Heiratskreise abgrenzen, ist niemals ein nur wissenschaftlicher Begriff. Die Gesellschaft versteht und ordnet sich selbst in Klassen und der soziologische Begriff nimmt dies auf und reflektiert die darin enthaltenen Annahmen. Deshalb ist eine Gesellschaft, die nicht mehr in sozial wahrnehmbaren Klassenkategorien handelt, auf der Suche nach einer anderen Sozialstruktur. Den Begriff der „Schicht“ versteht Beck als liberalisierten Klassenbegriff. Schicht ist demnach ein „Übergangsbegriff, dem die soziale Realität der Klassen bereits unter den Händen verschwimmt, der sich aber die eigene Ratlosigkeit noch nicht einzugestehen wagt und der dann das willig mit Beck, Ulrich (1986), Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main, 116; Kraft, „Modernisierung“ ..., 191ff. 115 Hahn, Soziale Kontrolle ..., 23. 116 Beck, Risikogesellschaft, 117. 114 60 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 sich geschehen läßt, was Wissenschaftler gerne tun, wenn sie ratlos werden: ihr Handwerkszeug putzen.“ 117 Die Individualisierungstheorie löst sich von Begriffen wie Klasse und Schicht, weil sie die Frage nach den Abständen zwischen unterstellten Großgruppen stellt und damit nach dem Relationsaspekt sozialer Ungleichheit fragt. Außerdem stellt sie den Klassen- bzw. Schichtcharakter der Sozialstruktur in Frage. Ins Zentrum tritt hier, dass die Relationen sozialer Ungleichheit und ihr sozialer Klassencharakter sich unabhängig voneinander verändern können. 118 „Bei konstanten Abständen im Einkommen usw. sind im Zuge von Individualisierungsprozessen in der wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegsentwicklung die sozialen Klassen enttraditionalisiert und aufgelöst worden, und umgekehrt: die Auflösung sozialer Klassen (Schichten) kann unter anderen Rahmenbedingungen – etwa der Massenarbeitslosigkeit – mit einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten einhergehen. Dieser ‘Fahrstuhl-Effekt’ nach unten gewinnt seit den achtziger Jahren an Bedeutung.“119 Arbeitsmarktrisiken werden somit nicht mehr klassensolidarisch abgefedert und es kommt dadurch zu neuen Ungleichheiten in Konsum- und Lebensstil, die aber nicht entlang der alten Klassengrenzen liegen. 120 Verschärfung und Individualisierung sozialer Ungleichheiten greifen ineinander. Systemprobleme werden in persönliches Versagen abgewandelt und politisch abgebaut. Dadurch geraten Individuum und Gesellschaft in eine neue Unmittelbarkeit: Gesellschaftliche Krisen erscheinen als individuelle und werden in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch bedingt wahrgenommen.121 Die Freisetzung aus ständisch geprägten sozialen Klassen und die Freisetzung aus Geschlechtslagen darf nicht mit Emanzipation gleichgesetzt werden, denn die Individualisierung geht einher mit Tendenzen der Institutionalisierung und Standardisierung von Lebenslagen. Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und bildungsabhängig, Ebd., 140. Ebd., 142. 119 Ebd., 142f. 120 Burkart, Entscheidung zur Elternschaft, 113; Beck, Ulrich (1994), Jenseits von Stand und Klasse?, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hg.), 43–60. 121 Beck, Risikogesellschaft, 118. 117 118 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 61 konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen. Dies verweist auf eine besondere Kontrollstruktur, die auch offen ist für implizite politische Gestaltung und Steuerung. Die ausgeprägte materielle Kultur wirkt als Integrationsmechanismus und Disziplinierungsmaßnahme der Industriegesellschaft. „In den entwickelten westlichen Industriegesellschaften richtet die – schrumpfende – Mehrheit ihr Leben im Rahmen der materiellen Kultur ein. Sie entwickelt Formen der Lebensführung, die an individuellen Neigungen und Interessen orientiert sind, die sich wiederum durch Selektion aus den jeweils zugänglichen Angeboten und Möglichkeiten ergeben haben. Diese Formen der Lebensführung sind in hohem Maße individualisiert und zugleich weitgehend gesellschaftlich standardisiert. Denn die individuellen Varianten sind ja nichts anderes als Kombinationen aus dem standardisierten Baukasten gesellschaftlicher Möglichkeiten.“122 Damit stellt die materielle Kultur eine universelle Lebensgrundlage dar. Für den Bürger/die Bürgerin in der Industriegesellschaft gibt es essentielle zivilisatorische Standards. Diese Standards müssen nahezu ausnahmslos individuell bezahlt werden. Zu diesen Standards gehört, dass der Mensch informations-, handlungs- und bewegungsfähig sein muss, mit den Gegebenheiten der Industriegesellschaft umgehen kann, aber sich nicht mit allen gesellschaftlichen Fragen direkt befassen muss. Das Individuum zahlt Steuern, konsumiert, steht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung bzw. betreibt ein Unternehmen. Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Englisch und EDV werden beherrscht. Das Individuum verfügt über Führerschein, Fernseher, Telefon und einem Grundlebensstandard. Nach Möglichkeit sollte es sich auch für die demokratische Grundordnung einsetzen und sich für ökologische Lebensgrundlagen mitverantwortlich fühlen.123 Wenn Menschen aus diesem alltagskulturellen Rahmen herausfallen, hat das einschneidende Konsequenzen. Menschen beziehen teilweise ihre Identität aus den Mechanismen der Wohlstandsgesellschaft und entwickeln ihre private Lebenssphäre danach. Sie greifen selbstverständlich auf verschiedenste gesellschaftliche Leistungen zu. Wenn sie aus dieser Alltagskultur herausfallen, müssen sie lernen, ihr Leben auf Grundlagen auBrock, Ditmar (1994), Rückkehr der Klassengesellschaft? Die neuen sozialen Gräben in einer materiellen Kultur, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hg.), 70. 123 Ebd., 68f. 122 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 62 ßerhalb der materiellen Kultur umzustellen. Der Ausschluss breiter Bevölkerungsteile ist ein Modernisierungsproblem ersten Ranges.124 4.2.2. Modernisierungsrisiken Die Verteilungslogik von Modernisierungsrisiken ist eine wesentliche Dimension der so genannten „Risikogesellschaft“. Die damit entstehenden Gefährdungslagen und die darin enthaltene soziale und politische Dynamik werden jedoch überlagert durch gesellschaftliche, biografische und kulturelle Risiken und Unsicherheiten, die das industriegesellschaftliche Beziehungsgefüge, wie soziale Klassen, Familienformen, Geschlechtslagen, Ehe, Elternschaft und Beruf, verändert haben. So gehen soziale Gefährdungslagen mit der Verteilung und dem Anwachsen der Risiken einher. In einigen Dimensionen folgen sie der Ungleichheit von Schicht- und Klassenlagen. Es gibt breite Überlappungszonen zwischen der Klassenund Risikogesellschaft und die Risiken scheinen die Klassengesellschaft zu verstärken, indem sich zu dem Mangel an Versorgung ein Mangel an Sicherheit gesellt. 125 Die entwickelte Industriegesellschaft nährt sich von den Risiken, die sie selbst produziert und wirtschaftlich ausschlachtet, schafft auf diese Weise soziale Gefährdungslagen und politische Potentiale, die die Grundlagen bisheriger Modernisierung in Frage stellen. 126 Die Verbreitung und Vermarktung von Risiken brechen nicht mit der kapitalistischen Entwicklungslogik, sondern heben diese auf eine neue Stufe. „Modernisierungsrisiken sind big business. Sie sind die von den Ökonomen gesuchten unabschließbaren Bedürfnisse. Hunger kann man stillen, Bedürfnisse befriedigen. Zivilisationsrisiken sind ein Bedürfnis-Faß ohne Boden, unabschließbar, unendlich, selbstherstellbar.“ 127 Das Wissen um die Gefährdungslagen gewinnt eine neue politische Bedeutung. Beck weist darauf hin, dass das politische Potential der Risikoge- Ebd., 67f. Beck, Risikogesellschaft, 46ff. 126 Ebd., 75. 127 Ebd., 30. 124 125 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 63 sellschaft in einer Theorie der Entstehung und Verbreitung des Wissens um Risiken entfaltet und analysiert werden müsste.128 Während Einkommen, Bildung etc. konsumierbare, erfahrbare Güter sind, sind die Existenz und Verteilung von Gefährdungen und Risiken prinzipiell argumentativ vermittelt. Viele der neuartigen Risiken – Naturzerstörung, Gesundheitsbeeinträchtigungen durch nukleare oder chemische Verseuchungen, Schadstoffe in Nahrungsmitteln – entziehen sich dem unmittelbaren menschlichen Wahrnehmungsvermögen. Viele der Gefährdungen bedürfen der Wissenschaft, um durch Theorien, Experimente und Messinstrumente überhaupt Gefährdungen sichtbar und interpretierbar zu machen. Die Wissenschaften machen es sich zur Aufgabe, den Risikogehalt des Risikos sachlich zu ermitteln, doch entkräften sie sich damit selbst. Mehr als Wahrscheinlichkeitsaussagen sind den Wissenschaften meist nicht möglich. Und von Wertfreiheit kann nicht gesprochen werden, da man einen Wertstandpunkt beziehen muss, um überhaupt über Risiken reden zu können.129 „Risikofeststellungen basieren auf mathematischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Interessen selbst und gerade dort, wo sie sich mit technischer Gewißheit präsentieren. In der Befassung mit Zivilisationsrisiken haben die Wissenschaften immer schon ihren Grund experimenteller Logik verlassen und sind eine polygame Ehe mit Wirtschaft, Politik und Ethik eingegangen (…).“ 130 Das Alltagswissen beruht also nicht mehr nur auf Eigenerfahrungen, sondern eigenerfahrungsloses Allgemeinwissen wird zum bestimmenden Zentrum der Eigenerfahrung.131 In Risikogesellschaften ist das Greifbare nicht mehr evident. Das Sichtbare gerät in den Schatten unsichtbarer Gefährdungen.132 „Was sich der Wahrnehmbarkeit entzieht, fällt nicht mehr zusammen mit Unwirklichem, kann sogar einen erhöhten Grad von Gefährdungswirklichkeit besitzen. Das unmittelbare Bedürfnis konkurriert mit dem gewußten Risikogehalt. Die Welt des sichtbaren Ebd., 30. Ebd., 35f. 130 Ebd., 39. 131 Ebd., 96. 132 Ebd., 59. 128 129 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 64 Mangels oder Überflusses verdunkelt sich unter der Übermacht der Risiken.“ 133 Es gibt breite Überlappungszonen zwischen der Klassen- und Risikogesellschaft. Die Risiken scheinen die Klassengesellschaft zu verstärken, indem sich zu dem Mangel an Versorgung ein Mangel an Sicherheit gesellt.134 Klassen- und risikogesellschaftliche Ungleichheiten können sich überlagern und gegenseitig bedingen. Der wesentliche Unterschied zwischen Klassen- und Risikogesellschaften besteht darin, dass es in Klassengesellschaften um die sichtbare Befriedigung materieller Bedürfnisse geht. Hunger und Überfluss, Macht und Ohnmacht stehen sich gegenüber. In Risikogesellschaften ist das Greifbare nicht mehr evident. Das Sichtbare gerät in den Schatten unsichtbarer Gefährdungen.135 Entsprechend unterscheide sich auch die soziale Grundsituation, in der sich die Menschen befinden, schreibt Beck und bringt dies pointiert auf den Punkt: Die treibende Kraft in der Klassengesellschaft könne in dem Satz „Ich habe Hunger!“ gefasst werden. Die Bewegung, die mit der Risikogesellschaft in Gang gesetzt wird, komme in der Aussage „Ich habe Angst!“ zum Ausdruck. Aus dieser Angst entstehe in der Risikogesellschaft auch Solidarität. Es stellt sich letztendlich aber die Frage, ob diese Solidargemeinschaft der Ängstlichen stabil genug ist, um eine Basis für politisches Handeln sein können. 136 Unter den Bedingungen der Mangelgesellschaft vollzieht sich der Modernisierungsprozess unter dem Anspruch, mit den Schlüsseln der wissenschaftlich-technischen Entwicklung verborgene Quellen gesellschaftlichen Reichtums aufzuschließen und so von unverschuldeter Armut und Abhängigkeit zu befreien. Diesem Denken liegen jedoch Kategorien sozialer Ungleichheit zugrunde, die von der Klassen- über die Schichtungs- bis zur individualisierten Gesellschaft reichen. 137 Oder anders ausgedrückt: Der als Um- oder Abbau bezeichnete Rückzug des Sozialstaates kann als Durchsetzung der versicherungsmathematischen gegen die soziale Gerechtigkeit verstanden werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund neoliEbd., 59. Ebd., 46ff. 135 Ebd., 59. 136 Ebd., 66. 137 Ebd., 26f. 133 134 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 65 beraler, auf Eigenverantwortung, Effektivität und Effizienz gründender Rationalität. 138 4.2.3. Armut und die Individualisierung sozialer Not In den erlebbaren Gefährdungen selbstbewusst wahrgenommener, expansiv angelegter, privater Handlungs- und Entscheidungsräume liegt laut Beck der „Funke“, an dem sich heute soziale Konflikte und Bewegungen „entzünden“.139 Ungleichheiten werden nicht beseitigt, sondern umdefiniert in eine Individualisierung sozialer Risiken. Damit scheint die Individualisierungstheorie das Eigentümliche an der „neuen Armut“ zu erklären. Unter den Bedingungen der Individualisierung wird Massenarbeitslosigkeit den Menschen als persönliches Schicksal aufgebürdet. Die Menschen werden nicht mehr sozial sichtbar und kollektiv, sondern lebensphasenspezifisch von ihr betroffen. Während armutserfahrene Betroffene mit klassengeprägten Lebenszusammenhängen entlastende Gegendeutungen, Abwehr- und Unterstützungsformen bereithielten und tradierten, wird das Kollektivschicksal in den klassenzusammenhanglosen, individualisierten Lebenslagen zum persönlichen Schicksal, zum Einzelschicksal. Die Bezugseinheit der Armut ist das Markt-Individuum. Die Gesellschaft spaltet sich in eine Mehrheit von Arbeitsplatzbesitzern/Arbeitsplatzbesitzerinnen und eine wachsende Minderheit von Arbeitslosen, Frühpensionisten/Frühpensionistinnen, Gelegenheitsarbeitern/Gelegenheitsarbeiterinnen und solchen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt nicht schaffen. Dies wird an der Strukturierung der Arbeitslosigkeit und den wachsenden Grauzonen zwischen registrierter und nichtregistrierter Arbeitslosigkeit deutlich. 140 Die lebensphasenspezifische Verteilung von Armut macht ihre Ambivalenz deutlich. Die „neue Armut“ erscheint dadurch als etwas Vorübergehendes, als Zwischenereignis. Wenn die Armut nicht mehr abzuschütteln ist, sind viele Menschen ihr allerdings viel schonungsloser ausgesetzt, Schmidt-Semisch, Henning (2000), Selber schuld. Skizzen versicherungsmathematischer Gerechtigkeit, in: Bröckling, Ulrich et al. (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart, 171. 139 Beck, Jenseits von Stand ..., 56. 140 Beck, Risikogesellschaft, 144. 138 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 66 da sie nicht mit den Abschirmungsmöglichkeiten und Umgangsformen einer Kultur vertraut sind, die mit Armut zu leben weiß.141 „Entsprechend verkriecht sich die neue Armut hinter den eigenen vier Wänden, bleibt in dem schrillen Skandalcharakter, die das Ereignis hier hat, aktiv verborgen. Nicht klar ist, was schlimmer ist – entdeckt zu werden oder nicht entdeckt zu werden, Hilfe empfangen zu müssen oder noch länger zu entbehren. Die Zahlen sind da. Aber man weiß nicht, wo die Menschen sind. Es gibt Spuren. Das abgemeldete Telefon. Der überraschende Austritt aus dem Club. Aber sie verweisen nur noch einmal auf die Mauern des scheinbar Vorläufigen, mit dem sich die neue Armut auch dort noch umgibt, wo sie endgültig geworden ist.“142 Beck, der die Armut in direktem Zusammenhang mit Massenarbeitslosigkeit sieht, bezeichnet diese Verteilungsform als „demokratisiert“, da sie nicht mehr eine Klasse trifft, sondern sich auf vielen Schultern verteilt. In diesem Stück „Demokratisierung der Massenarbeitslosigkeit“ liegt demnach ein Stück Umverteilung des Mangels, ein Stück Chancengleichheit nach unten. Dem entspricht ein bestimmtes biografisches Verteilungsmuster: Was früher als Gruppenschicksal zugewiesen wurde, wird heute biografisch querverteilt. Die Lebensläufe werden durch die Individualisierung vielfältiger, gegensätzlicher, brüchiger, unsicherer, aber auch bunter, umfassender, widersprüchlicher, bis hin zu der Tatsache, dass ein wachsender Teil der Gesamtbevölkerung mindestens vorübergehend Arbeitslosigkeit und Armut ausgesetzt ist. 143 Die neue Armut ist aber nicht nur ein materielles Problem. „Es ist auch diese in die Stummheit hineingenommene, im rituellen Durchlaufen der vergeblichen Abwendungsversuche sich vollziehende Selbstzerstörung, mit der das Massenschicksal unter der Oberfläche wuchert.“ 144 Gesellschaftliche Probleme erscheinen durch die Individualisierung als psychische Dispositionen, persönliches Ungenügen, Schuldgefühle, Ängste, Konflikte, Neurosen. Es entsteht dadurch eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft: Gesellschaftliche Krisen erscheinen als individuell. Zur Bewältigung dieser gesellschaftlichen Probleme Ebd., 148. Ebd., 148f. 143 Ebd., 149. 144 Ebd., 150. 141 142 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 67 werden Menschen in soziale und politische Koalitionen gezwungen, die jedoch nur punktuell, situations- und themenspezifisch sind. Die Konfliktlinien und -themen erfahren dadurch eine Pluralisierung und werden zu „Modekonflikten“.145 Soziale Risiken sind jene Sorte von Modernisierungsfolgen, die sich unmittelbar auf das soziale Handeln, auf Subjektstrukturen und zwischenmenschliche Interaktionsformen auswirken. Risiken sind einerseits Begleiterscheinungen des Umbaus der Industriegesellschaft, entstehen aber auch durch die dadurch möglich gewordenen neuen Optionen und Möglichkeiten sozialen Handelns jeweils neu und werden von den Individuen selbst erzeugt: Risiken sind Folgen von Entscheidungen im Umfeld von Beruf und Arbeitsmarkt, ohne dass die Individuen die Folgen ihrer Entscheidungen überblicken und kontrollieren können. Die Menschen befinden sich damit plötzlich in sozial riskanten Lebenslagen oder Situationen, die sie nur schwach beeinflussen können. Aufgrund der Vielfalt der Optionen werden Entscheidungen angesichts der ungewissen Auswirkungen zu einem Wagnis. 146 „Normalität, so könnte man pointieren, vervielfältigt sich – und zwar so lange, bis sie sich als Orientierungsmaßstab, an den man sich ebenso anlehnen wie dezidiert davon absetzen kann, von selbst auflöst: Die ganz alltägliche Lebensbewältigung und die ganz gewöhnliche Lebensführung wird so zu einer selbst zu lösenden Herausforderung, zu einer selbst zu bewältigenden Lebensaufgabe, zu einer ungewißheitsbelasteten, riskanten sozialen Aufgabe.“ 147 Gesellschaftliche Widersprüche – sollte es solche überhaupt geben – treffen in den Individuen und in den eigenen Lebensentwürfen zusammen. Risikolagen führen zu psychischer und sozialer Instabilität im Innenleben der Menschen und werden zum Nährboden für psychosoziale Krisen. 148 Um diese zu bewältigen, sind persönliche Anpassungen und Entwicklungen notwendig, die in die Richtung von „multiplen Identitäten“ – aus Einzelstücken zusammengesetzten, nicht unbedingt harmonischen Identitäten – gehen. Beck, Jenseits von Stand ..., 58f.; Beck, Risikogesellschaft, 158f. Rauschenbach, Thomas (1994). Inszenierte Solidarität: Soziale Arbeit in der Risikogesellschaft. In: Beck/Beck-Gernsheim (Hg.), 89f. 147 Ebd., 91. 148 Ebd., 93. 145 146 68 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 Dass soziale Not individualisiert wurde, lässt sich auch an den Reaktionen der Sozialarbeit erkennen. Diese orientiert sich heute an der sozialpädagogischen Einzelfallhilfe, da Sozialhilfeleistungen mit individuellen Notlagen begründet werden. Der Trend zur Therapeutisierung und Pädagogisierung der Sozialarbeit wird von zunehmender Professionalisierung begleitet. 149 Herausgefordert wird die Sozialarbeit durch die „sozialen Risiken“, die die Individualisierung mit sich bringt. 150 Für soziale Dienste ist es eine beinahe unlösbare Aufgabe, stabile und flexible Subjektstrukturen unter riskanten und ungewissen Kontext- und Zukunftsbedingungen hervorzubringen und Krisen abzumildern. Rauschenbach bezeichnet deshalb die expandierenden sozialen und pädagogischen Dienste als „wohlfahrtsstaatlich inszenierte Maßnahmen gegen die Nebenwirkungen individualisierter Lebensformen“151. Während sich neue, modernisierte Formen des sozialen Bedarfsausgleichs ausweiten, verliert jene Organisation der sozialen Hilfe, die auf Gegenseitigkeit und Solidarität beruht, an Kraft und Bedeutung. Es lässt sich daher die These formulieren, dass in einer individualisierten Gesellschaft privat-lebensweltliche Formen der Hilfe tendenziell abnehmen und durch eigens dafür bereitgestellte, inszenierte soziale und pädagogische Dienste ergänzt oder ersetzt werden.152 Gewerkschaftliche und politische Wahrnehmungs- und Bearbeitungsformen geraten in Konkurrenz zu individualisierenden rechtlichen, medizinischen und psychotherapeutischen Betreuungen und Kompensationen, die unter Umständen konkreter und für die Betroffenen evidenter die entstandenen Zerstörungen und Belastungen zu bewältigen vermögen.153 Riedmüller, Barbara (1994), Sozialpolitik und Armut. Ein Thema zwischen Ost und West, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hg.), 74–88. 150 Rauschenbach, Inszenierte Solidarität, 89. 151 Ebd., 93. 152 Ebd., 94. 153 Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, 54. 149 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 69 5. Schlusswort Kommen wir nach diesen Ausführungen über Individualisierungsthese(n) und Mechanismen sozialer Kontrolle zurück zu der eingangs gestellten Frage. Wenn wir uns als Armutsforscher/-innen als Produzenten/Produzentinnen von Diskursen begreifen, haben wir dann nicht auch die Pflicht und die Verantwortung, aus einem „menschenunfreundlichen“ Armutsdiskurs auszusteigen, der ignoriert, dass es sich bei „den Armen“ um Menschen handelt und nicht um bloße „Forschungsobjekte“? (Politikwissenschaftliche) Armutsforschung, wie sie derzeit praktiziert wird, reproduziert Strukturen sozialer Kontrolle, indem sie dünne Beschreibungen liefert und weiterhin dazu anregt, dass Partizipationsspezialisten/Partizipationsspezialistinnen jene Menschen, die nicht in vollem Ausmaß am gesellschaftlichen Leben und/oder an den Märkten partizipieren, dazu anleiten, sich nicht mehr anleiten zu lassen. Jene, die „am Rand der Gesellschaft“ stehen, werden damit weiter an den Rand gedrängt, ni dem ihnen per definitionem die Fähigkeit zur Partizipation abgesprochen wird. Umgekehrt werden jene, die partizipieren sollen, aber nicht wollen, von der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Möglichkeit zur Partizipation ist also gleichzeitig ein Zwang zur Partizipation. Aber auch wenn wir über die Einbeziehung von Betroffenen in der Armutsforschung und Armutsbekämpfung reden bzw. schreiben, erliegen wir sehr leicht der Gefahr, hier einem von Praktiken neoliberaler Selbstdiszip linierungstechnologien geprägten Diskurs zu folgen. Welchen Anspruch haben wir aber an uns selbst? Wollen wir den Status quo erhalten oder Wege der Menschlichkeit gehen? Wenn wir Wege der Menschlichkeit gehen wollen, werden wir uns auf die „Armut“ einlassen, so genannte „Arme“ kennen und verstehen lernen müssen. Wir werden sie als Handelnde wahrnehmen, als Menschen mit eigener Sprache, die die Macht haben, sich selbst und ihre Lebenssituation zu definieren. Kategorien wie Armut und Reichtum werden neue Dimensionen entfalten und nicht mehr in ihrer etablierten Form aufrecht zu erhalten sein. 70 Working Papers Facing Poverty Nr. 11, Mai 2005 6. Literatur Aigner, Dagmar (2002), frauen.armut.bericht. Frauenarmutsbericht für das Bundesland Salzburg. Andreß, Hans-Jürgen/Güllner, Miriam (2001), Scheidung als Armutsrisiko, in: Barlösius/Ludwig-Mayerhofer (Hg.). Die Armut der Gesellschaft, 169–197. Arapoglou, Vassilis P. (2004), The governance of homelessness in Greece: discourse and power in the study of philantrophic networks, in: Critical Social Policy, 24 (Feb. 2004), 102–126. Barlösius, Eva (2001), Das gesellschaftliche Verhältnis der Armen – Überlegungen zu einer theoretischen Konzeption einer Soziologie der Armut, in: Barlösius/Ludwig-Mayerhofer (Hg.). 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(Juni 2003) 04 Daiva DÖRING/Magdalena HOLZTRATTNER/Clemens SEDMAK (Hg.): Armutsforschung in Österreich. (Dezember 2003) 05 Andreas BAMMER/Thomas B ÖHLER: Best Practices. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis. (Jänner 2004) 06 Thomas BÖHLER: Der Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen und die ‚Bevorzugte Option für die Armen’ in der Befreiungstheologie. Zwei Ansätze auf dem Weg zur ethischen Begründung von Armutsforschung und Armutsreduktion. (Februar 2004) 07 Thomas BÖHLER/Clemens SEDMAK : Armutsforschung und Armutsminderung. Eine Bestandsaufnahme aus einem ethischen Blickwinkel. (Februar 2004) 08 Andreas EXENBERGER/Josef NUSSBAUMER: Über praktische und theoretische Armut. Vom Vergessen wichtiger Fährten in der Ökonomik und von ihrer aktuellen Relevanz. (April 2004) 09 Margit EBERHARTER/Sabine KUNRATH: Einbeziehung von Betroffenen. Eine Studie. (September 2004) 10 Gebhard Kirchgässner: Option für die Armen: Eine ökonomische Perspektive. (Jänner 2005) Homepage: http://www.sbg.ac.at/phi/projects/start/index.htm