Seite1 Konstantin Kaiser: JURA SOYFER - SPIEL MIT DER ZEIT 1. In Jura Soyfers Mittelstücken 1936-38 ist vielfach ein Spiel mit der Zeit im Gange. Im Weltuntergang ist der Menschheit vor ihrer Vernichtung durch den Kometen Konrad eine beschränkte Frist gesetzt, die sie zu ihrer Rettung nicht nützt. Die Handlung verläuft auf zwei Zeitebenen: auf der Ebene des mit rasender Geschwindigkeit ablaufenden Weltuntergangs-Ultimatums (Radiomeldung: "Die Welt geht in vier Wochen unter!") und auf der Ebene des Fortlebens der Menschheit im alten Trott. Im Vergleich zu der Geschwindigkeit, mit der sich der Komet Konrad der Erde nähert, um sein Zerstörungswerk zu verrichten, scheint die Zeit, in der die Menscheit, leicht irritiert aber im Grunde ungerührt, fortlebt, stillzustehen. Alle Bemühungen, die in diesem dickflüssigen Medium unternommen werden, dem Unheil zu steuern, sind zum Scheitern verurteilt. Die im blinden Vertrauen auf eine uneingeschränkt bevorstehende Zukunft verausgabte Zeit der Menschheit erweist sich als versäumte Zeit. Der Mittler zwischen der versickernden Zeit des Versäumens und der rasenden Zeit des Unheils ist "Professor Guck, ein Gelehrter", dessen Erfindung, den Kometen von der Erde abzulenken, von den irdischen Machthabern nicht angenommen wird. Mit dem Kopf lebt Professor Guck in der rasenden Zeit, aber mit den Füßen muß er in der versickernden Zeit weiterkommen.1 Im Lechner Edi wird die Maschine, mit der der mittlerweile arbeitslose Lechner Edi einst Schuhe herstellte, zur Zeitmaschine, die den Edi und seine Freundin Fritzi komfortabel durch das Kontinuum der geschichtlichen Zeit transportiert – bis hin zum sechsten Schöpfungstag. Das Kontinuum der geschichtlichen Zeit ist den Beteiligten dabei so gewiß, daß sie sich an verschiedene Zeitpunkte so getrost wie an verläßlich angegebene Adressen verfügen.2 Anders als im Weltuntergang 1. Die Idealisierung des Professor Guck als eines der kompakten Dummheit und Bosheit der Menschen (oder gar der Massen) unversöhnt gegenüberstehenden Intellektuellen (ein Beispiel dafür ist die von dem Librettisten Daniel Wolfkind und dem Komponisten Wilhelm Zobl zusammengeschusterte Weltungergang-Oper; Uraufführung: Wiener Festwochen, Theater an der Wien 1984) übergeht gewaltsam die Kritik, die Soyfer im Weltuntergang an der Figur des einsamen Intellektuellen übt. Der Zwiespalt, in den Guck gerät, ist nicht nur tragisch, sondern vor allem auch komisch. So singt er am Ende sein Narrenlied: "Wahr ist falsch und falsch ist wahr./Merk dir's, Narr! ..." Auch ist Guck zum Schluß ein betrogener Prophet, dessen Prophezeiung sich nicht erfüllt hat - wie die seines Propheten-Vorgängers Jona im Alten Testament. Wie im Buche Jona ist nicht der Prophet der Aufklärer. Der Auklärung dient vielmehr die Geschichte, die von ihm erzählt wird. Der "Kometen-Song" (das Lied von der Erde), den der Komet Konrad anstimmt, um sein Ausweichen vor dem zerstörerischen Zusammenstoß mit der Erde zu rechtfertigen, wäre weniger als bekenntnishafte Zutat des menschenfreundlichen Autors denn als integrierender Bestandteil eines keineswegs menschen- oder massenfeindlichen Stückes zu lesen. 2. Im Lechner Edi "wird auch von der formalen Seite der Zeitbehandlung der Gedanke des geschichtlichen Fortschritts nicht gefährdet." (Gerhard Scheit: Theater und revolutionärer Seite2 verläuft die Handlung nicht auf zwei verschiedenen Zeitebenen. Eher ist die Vorstellung der Zeit perspektivisch gespalten. Während das Kontinuum der Zeit nach rückwärts, nach hinten intakt scheint, ist es für den Arbeitslosen Edi nach vorne, in die Zukunft hin fragwürdig geworden. Dem Lechner Edi ist das Eingespanntsein in die menschliche Geschichte zunächst ununterscheidbar von der Bestimmtheit durch eine fremde Macht (der Anwendung der technischen Errungenschaften als Kapitalverwertung, die ihn je nach Bedarf in den Arbeitsprozeß hineinzieht oder aus ihm hinausschleudert). Alle Vergangenheit scheint mit dieser fremden Macht im Bunde. Der Lechner Edi votiert daher an den Toren des Pradieses für die Nichterschaffung des Menschen. Greif, o Herr, den Lehm nicht an! Schlag Dich nicht mit eignen Waffen! Oder, wenn Du's schon getan, Mach ihn wieder ungeschaffen.3 Dem Nein des Lechner Edi setzt seine Freundin Fritzi ihr Ja entgegen, "und auf ja und nein war der Mensch da"4. Der Lechner Edi macht sich darauf den Reim "auf uns kommt's an" und fordert den Motor auf, die Zeitreisegesellschaft wieder in die "Gegenwart" zu bringen (und, wie Fritzi hinzufügt, in die "Zukunft"). Die Gegenwart ist nun der Ort, an dem der Mensch seine Entscheidung zwischen dem "Nein" und dem "Ja" fällt und sich so auch eine Zukunft erschließt. Die bedrohlische Spaltung der Zeitperspektive scheint überwunden, das Vertrauen in die Fortsetzung des geschichtlichen Kontinuums wieder hergestellt. Freilich die Gegenwart ist mit einer neuen Spannung aufgeladen: Sie ist zum Ort der Entscheidung geworden. Man kann den Lechner Edi als Weiterführung der 1931 begonnenen Auseinandersetzung mit Ernst Fischers Schrift "Krise der Jugend" (Wien 1931) lesen. Wie Horst Jarka berichtet, sei Fischers Studie "in Juras Freundeskreis lebhaft diskutiert worden, er selbst habe mit Begeisterung davon gesprochen und Stellen daraus auswendig hersagen können".5 Die Arbeiter-Zeitung hatte am 1. Mai 1931 unter dem Titel "Ungeduld der Jugend" einen Vorabdruck aus Fischers Schrift gebracht. Soyfer antwortete in einem Leserbrief, der mit dem Titel "Verzweiflung der Jugend" am 24. Mai Humanismus. Eine Studie zu Jura Soyfer. Wien: Verlag f. Gesellschaftskritik 1988. S.30). 3. Jura Soyfer: Das Gesamtwerk. Hg. von Horst Jarka. Wien, München, Zürich: Europa Verlag 1980. [Im folgenden zitiert als: Soyfer, ...] S.586. 4. Ebenda, 587, 5. H. Jarka: Jura Soyfer. Leben, Werk, Zeit. Wien: Löcker 1987. S.63. [Im folgenden zitiert als: Jarka, ...]. Seite3 erschien.6 Soyfers Einspruch richtete sich gegen den im Vorabdruck gewählten, zuversichtlich anmutenden Titel. Die Krise bringe nicht nur Tatkraft und Entschlossenheit zum Widerstand mit sich, sondern ebenso und im gleichen Takt Lähmung und Skeptizismus. Für Soyfer ist die Jugend seiner Zeit "nie ganz und immer halb". Krankheit der Jugend (so der Name des damals berühmten Stückes von Ferdinand Bruckner aus dem Jahr 1924) wäre für Soyfer die treffendere Charakteristik der Situation, die ebenso führen konnte zur Herausbildung von SALeuten wie von erbitterten Revolutionären.7 Soyfers Einspruch hatte seinen Grund wohl in dem für den Vorabdruck in der Arbeiter-Zeitung gewählten Ausschnitt. Denn Fischers Schrift als ganze wird den Einwänden Soyfers durchaus gerecht. Die Fragestellung, mit der das Stück Lechner Edi anhebt, ist in dem folgenden Zitat aus Fischers Schrift umrissen: Daß die Technik den Menschen überflüssig macht, daß sie ihn hinausdrängt ins Nichts der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, daß sie zwar imstande ist, das Überflüssige, nicht aber das Notwendige zu erzeugen, das ist der ungeheuerliche Eindruck, den die Jugend von dem Fortschritt der Rationalisierung gewinnt.8 Und ein anderes Zitat Fischers scheint die Erkenntnis auszudrücken, die der Lechner Edi am Ende seiner Zeitreise gewonnen hat: ... die Weltgeschichte arbeitet nicht für uns, wie ein Handlanger für den Unternehmer arbeitet, die Weltgeschichte ist nicht eine Gottheit, die durch Gebet und Opfer günstig gestimmt wird, die Weltgeschichte sind wir selber, unser Wollen und Tun, unser Planen und Vollbringen, unsre Gesinnung und unsre Entschlossenheit.9 Die naheliegende Frage, ob diese Auflösung des sozialdemokratischen Glaubens an einen objektiven, vom Zutun der einzelnen unabhängigen Mechanismus des Fortschritts in die subjektive Entschlossenheit der Jugend nicht in ein dezisionistisches Konzept (Dezisionismus: rechtsphilosophische Auffassung, nach der das als Recht anzusehen ist, was die Gesetzgebung zum Recht erklärt) des Handelns führen muß, wird hier deshalb nicht weiter erörtert, weil die dezisionistische Konsequenz in Soyfers Lechner Edi abgebogen ist. Im Lechner Edi wird ja, wie bereits gesagt, das Vertrauen in das Kontinuum der geschichtlichen Zeit am Ende wieder 6. Jarka, 62f.; Soyfer, 277f. 7. Die Figur des Lechner Edi steht gerade in dieser Unentschiedenheit. Aus solchem Stoff wurde auch die SA geformt. Im Stück kommt es nicht dazu; aber Adolf Müller-Reitzner, der in der Uraufführung von 1936 den Lechner Edi spielte, gehörte insgeheim der in Österreich verbotenen NSDAP an. 8. Zitiert nach: Ernst Fischer: Kultur. Literatur. Politik. Frühe Schriften. Hg. von KarlMarkus Gauß. Frankfurt: Sendler 1984. S.182. 9. Fischer, ebenda, S.190. Seite4 hergestellt, die panische oder gewalttätige Reaktion auf die scheinbar mit allem Vergangenen verbundene Übermacht des Fremden überwunden. Nicht überwunden ist aber der aus dem Weltuntergang bekannte dichotome Ablauf der Zeit. Er nimmt, wenn wir die Handlung des Stückes mit der Frage: "Was geschah, als Lechner Edi in die Gegenwart zurückkehrte?" weiterführen, eine gewandelte, konkretere Form an. Eine mögliche Antwort auf die Frage wäre: "Der Lechner Edi kam nach Vineta, und die weitere Geschichte ist aus dem gleichnamigen Stück bekannt." Die Dichotomie der Zeit hätte sich somit in die Dichotomie des Lebendigen und des Toten verwandelt, in den Gegensatz des lebendigen und daher alternden Matrosen Jonny zu der Zeitlosigkeit der versunkenen Stadt Vineta. Gehen wir jedoch zuvor noch einmal zurück, zu Ernst Fischers Krise der Jugend. Da heißt es im ersten Abschnitt: Die ungeheuerliche Krise der kapitalistischen Wirtschaft, die wir nun erleben, reizt zwar Millionen Menschen zu nie gekannter Erbitterung und Verzweiflung - aber zugleich deprimiert sie diese Millionen Menschen, zermürbt sie ihre Entschlußfähigkeit, zerstört sie ihre Initiative.10 Der in die Gegenwart zurückgekehrte Lechner Edi sieht sich einem objektiven Ablauf der Krise gegenüber, der bei den von der Krise Betroffenen zur Zerstörung und Irreleitung dessen, was durch die Krise in ihnen aufgebrochen ist, führen wird. Die Zeit, die ihm gegeben ist, die vor den Toren des Paradieses gewonnene Erkenntnis in die Tat umzusetzen, ist befristet. Sein Tun befindet sich von nun an in einem Wettlauf mit dem verhängnisdrohenden Ablauf der Krise, in einem Wettlauf mit der Zeit. Die eine Zeit ist die des verhängnisvollen Ablaufs. Die andere Zeit ist die, die genutzt oder versäumt werden kann, die Lage zum Besseren zu wenden. Aus der Erbitterung über das Versäumte resultiert die satirische Energie Jura Soyfers. Es ist dies eine angesichts der Geschichte der österreichischen Ersten Republik naheliegende Erbitterung. Die Jahre bis zum vorläufigen Ende Österreichs 1938 verstrichen ungenutzt; die inneren Kämpfe, in denen die Republik und der Ständestaat sich aufrieben, lenkten oft eher von den wirklichen Lebensfragen der Nation ab, statt daß sie jene, die das Herannahen des Unheils noch durch eigene Tat förderten, wirksam beiseite geschoben hätten. Das Maß, das der Satiriker Jura Soyfer den Zeitgenossen anlegte, war im wesentlichen ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit, der "aufhaltsamen" Katastrophe zu begegnen. Nichts war ihm widerwärtiger als der gemütliche Umgang mit der Apokalypse, wie er heute wieder und schon damals gepflegt wurde. Ein Karl Hans Strobl, Dramatiker und nachmals Landesleiter der Reichsschrifttumskammer für Wien, notierte auf ein Blatt Papier: 10. Fischer, ebenda, S.161. Seite5 Uns Österreichern kann der Weltuntergang keine besonderen Überraschungen bringen. Wir sind die allgemeine Konfusion so gewohnt, daß wir eine erhebliche Steigerung in den letzten Stunden nicht einmal bemerken werden. Um aber für alle Fälle gerüstet zu sein, treffe ich schon jetzt Vorkehrungen, mich im kritischen Augenblick der großen Vernichtung zu entziehen.11 Der Text schlingert dann weiter zwischen dem Makabren und dem Albernen dahin und gipfelt in der Idee, daß beim Weltuntergang jedenfalls Karl Hans Strobl überbleiben müsse, in einer Arche Noah des Schwachsinns. (Vorkehrungen dafür hatte er, wie seine Karriere nach 1938 beweist, in ganz anderer Weise getroffen). Das humoristische Herbeizitieren des Weltuntergangs erfüllt für Strobl die Funktion, die Gegenwart Österreichs als ein lästiges Provisorium (im Unterschied zum schicksalhaften Ringen der deutschen Nation) handhabbar zu machen. Das Herbeizitieren des Weltuntergangs erfüllt für Soyfer offenbar die entgegengesetzte Funktion – nicht um den lässigen Umgang mit einer als provisorisch empfundenen Gegenwart ist es ihm zu tun, sondern um die Wiedergewinnung der Gegenwart als eines Orts der Entscheidung. Der Weltuntergang ist darum nicht einfach als Chiffre für ein bevorstehendes historisches Ereignis – den Sieg des Faschismus, den Ausbruch eines neuen Weltkrieges, den Untergang Österreichs – zu lesen. Er stellt eher ein Bild der sozialen Entropie (in der das Spiel von Kräften und Gegenkräften erloschen, die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft ununterscheidbar geworden ist) dar, die dann eintreten wird, wenn die das Leben zerstörenden Mächte ihrem blinden Selbstlauf überlassen bleiben. Die historischen Katastrophen, die sich den politisch Denkenden seit Beginn der 30er Jahre am Horizont abzeichneten, bestätigen und verdeutlichen nur die elementare Gefährdung, der Soyfer das Menschlich-Lebendige ausgesetzt sah. 2. Die Zeit oder die Zeiten in den Stücken Jura Soyfers gehören in ihrer Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit dem "Zeitbewußtsein der Moderne" an, welches der Philosoph Jürgen Habermas, einen Faden aus dem fast unentwirrbaren Knäuel der philosophischen Diskussion über die Zeit seit Hegel herausziehend, 1985 etwa folgendermaßen charakterisiert hat.12 Mit dem "profanen Begriff der Neuzeit" bereits ist ein - im Unterschied zum Mittelalter - unerhört neues Verständnis der gegenwärtigen Epoche ausgedrückt: Die Neuzeit ist "die Epoche, die auf die Zukunft hin lebt, die sich dem künftigen Neuen geöffnet hat." Zugleich damit bildet sich jedoch "die Vorstellung von der 11. Karl Hans Strobl, Handschrift im Nachlaß, Wiener Stadt- und Landesbibliothek. 12. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt: Suhrkamp 1985. Seite6 Geschichte als eines einheitlichen, problemerzeugenden Prozesses", und die Gegenwart, die eben als der offene Horizont der Welt proklamiert wurde, erfährt die Zeit nun "als verknappte Ressource für die Bewältigung entstehender Probleme, nämlich als Zeitdruck". Die Gegenwart schrumpft damit zu einem bloßen Übergang zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen zusammen. Und doch bleibt diese unerträglich zusammengedrückte Gegenwart mit dem Pathos geladen, in jedem Moment der Ort eines "epochalen Neubeginns" werden zu können. Die armselige, als "Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit" punktualisierte, ihrer geräumigen Ausdehnung beraubte Gegenwart soll unentwegt "Neues aus sich" gebären.13 Habermas' Thesen werden hier nicht als Argumente, sondern als Zeugnisse eines für die Moderne wichtigen Gedankeninhalts angeführt. Es erübrigt sich daher eine eingehende Kritik der unilinearen und monolithischen (idealtypisch konzipierten) Vorstellung der Moderne, die Habermas gibt. Die Kritik sei hier nur angedeutet. Zum einen verfolgt Habermas eine ununterbrochene Entwicklungslinie von der frühromantischen Ästhetik über Charles Baudelaire zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Was nicht auf dieser Linie liegt, wird systematisch nicht wahrgenommen. Zum anderen projiziert Habermas eine Zeiterfahrung, die sich meines Erachtens erst im 20. Jahrhundert in dieser Radikalität (vor allem in der Avantgarde-Kunst) hergestellt hat, ins 19. Jahrundert zurück. Das 19. Jahrhundert wird Habermas gewissermaßen zur Ontologie des 20. Er vermeidet damit eine Untersuchung der in dieser Zeiterfahrung sich manifestierenden aktuellen sozialen und kulturellen Widersprüche. Das für die Moderne schlechthin charakteristische Erlebnis der Beschleunigung der Zeit resultiert nicht aus der Schnelligkeit der durch den technischen Fortschritt zur Verfügung gestellten Transport- und Kommunikationsmittel, sondern aus dem Verschwinden der Gegenwart, aus dem Gegebensein der Gegenwart in ihrem Verschwinden. Das Erlebnis des rasenden Ablaufs stellt sich subjektiv mit dem Versuch ein, die Gegenwart in ihrem Verschwinden festzuhalten. Die Schnelligkeit der Transport- und Kommunikationsmittel ist in diesem Zusammenhang eher als Reaktion, denn als Ursache zu deuten: als Versuch, der sich zum Punkt zusammenziehenden Gegenwart dennoch Ausdehnung zu verleihen. Ist das "Zeitbewußtsein" der Moderne, wie Jürgen Habermas es schildert, ein erwartungsfroh dem Neuen zugewandtes (einem Neuen, das in der Zukunft schon auf Vorrat bereitliegt, und dessen man sich bemächtigen kann, wenn man die Probleme rechtzeitig löst und den Übergang von Vergangenheit zu Zukunft bewältigt), so ist mein "Grunderlebnis" beim Lesen der Stücke Soyfers 1936-38 der rasende Ablauf der Zeit zum Verhängnis hin und die Empörung des Dichters gegen die drohende Vernichtung eines noch nicht zur Geltung gelangten Lebendigen. Je gleichgültiger einer sich zum Ablauf der Ereignisse verhält, neben und unter ihnen sein Glück sucht, umso mehr entrinnt ihm die Zeit. Das Ideal Soyfers 13. Habermas, ebenda, 14f., 18. Seite7 ist aber nicht der verzweifelt "auf der Höhe der Zeit" sich halten wollende rasende Schritt - dagegen zeugen nicht zuletzt die beiden schachspielenden Bewohner der Neuen Welt in "Broadway-Melodie 1492". Trotz solch gravierender Unterschiede (zwischen der bejahenden Darstellung Habermas', die zur Aporie der klassischen Moderne fortgeht, und der verneinenden Stellung Soyfers, die auf Rettung der klassischen Moderne sinnt) gehören die Stücke Soyfers in ihrem Spiel mit der Zeit durchaus dem mit Habermas skizzierten "Zeitbewußtsein der Moderne" oder, besser gesagt, der modernen Problematik der Zeit an. 3. Dreißig Jahre vor Habermas hat der Literaturwissenschaftler Peter Szondi in seiner "Theorie des modernen Dramas"14 die moderne Problematik der Zeit am Drama des 20. Jahrhunderts expliziert und präzisiert. Seine Darstellung stimmt in wesentlichen Gesichtspunkten mit der Habermas' überein, obwohl sich Szondi seinem Thema immanent nähert - also ohne Diskussion der philosophischen Literatur zum Zeitbegriff, getragen allein von dem, was die Entwicklung der modernen Dramatik 'von selbst' zeigt. Die Immanenz wird durch Szondis Konzept des "absoluten Dramas" nahegelegt (welches, wie immer anfechtbar, sich für seine Studie als sehr fruchtbar erweist). In Bezug auf die Zeit hat die Absolutheit (die souveräne Selbstbestimmung) des Dramas die Bedeutung: "Das Drama ... stiftet seine Zeit selbst. Deshalb muß jeder Moment den Keim der Zukunft in sich enthalten ..."15 In der modernen Krise des Dramas, die in seiner Episierung chronisch wird, liegt für Szondi auch ein befreiendes Element, eine Aufhebung des Banns des Dramatischen, eine Auflösung seiner nahezu magischen Macht (in der sich die kultischen Anfänge des Theaters in Erinnerung bringen). Die Krise des Dramas, könnte man sagen, schafft in der dramatischen Gattung erst den Spielraum für das Wirksamwerden jener "freien Kunst", die Hegel im Ausgang der Herrschaft von Weltanschauungsweisen postuliert hatte. Erst in der Krise des Dramas verlieren die drei Einheiten (von Zeit, Ort und Handlung) ihre bannende Macht. Die Krise ergibt sich aus dem Problematischwerden (und damit auch GegenständlichWerden) der zuvor selbstverständlich erscheinenden Momente wie Zeit, Handlung und Ort. Die Zeit als solche ist erst jener nachklassischen Epoche zum Problem geworden, die man die bürgerliche nennt und deren bedeutendster Dramatiker wohl für immer Ibsen bleiben wird.16 Szondi handelt die Problematik des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart nicht explizit unter dem Stichwort Zeit ab. Aber auch bei ihm radikalisiert sich die Zeitproblematik wie bei Habermas implizit dadurch, daß die 14. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. (1956). Frankfurt: Suhrkamp 1963. 15. Szondi, ebenda, 17. 16. Szondi, ebenda, 147. Seite8 Gegenwart sich von der Vergangenheit abstößt (nach vorne, doch nicht nach hinten offen ist), sich als auf der arithmetischen Zeitlinie vorlaufender Bruch, als permanente Neusetzung versteht. Auf der Bühne wird die Scheidelinie zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch einen neuen Deus ex machina hergestellt: den Tod. Obwohl der Tod, wie das Märchen kündet17, überall zu finden ist, was man von Göttern nicht sagen kann, stellt er im Drama doch einen willkürlichen Eingriff von außen dar, sofern er nämlich nicht als Resultat, sondern als Voraussetzung in die Handlung tritt. Durch den Deus ex machina des Todes kann das aus dem flüssigen Zusammenhang des lebendigen Handelns hinausgestoßene Vergangene vergegenwärtigt werden: "... die Vergangenheit wird den Toten zur ewigen Gegenwart." Der Tod leistet nicht nur Hilfe bei der Vergegenwärtigung, sondern auch bei der Vergegenständlichung: Das Gegenständlichwerden des eigenen Lebens fand seinen adäquaten Ausdruck in diesem Rückblick, den der Tod ermöglicht. (...) Dieses Motiv geistert ... durch die ganze Literatur des 20. Jahrhunderts. ... A. Salacrou läßt in seinem Drama L'Inconnue d'Arras (1935) einen Selbstmörder "35 Jahre in einem kleinen Bruchteil der Sekunde" wieder erleben, gespielt von den Menschen, die sein Leben bestimmten.18 Ins Positive gewendet, ist damit das Bauprinzip von Soyfers Stück Vineta19 gegeben. Die ausgedehnte Zeitspanne, die der Matrose Jonny in der versunkenen Stadt Vineta erlebt, ereignet sich in der realen Zeit zwischen seinem Bewußtloswerden und dem Eintreten der vollkommenen Bewußtlosigkeit - in einem Sekundenbruchteil. Er rekapituliert nicht, wie Salacrous Held sein Leben zwischen Tod und Tod, sondern besucht, zwischen Leben und Leben, den Tod. Wie Gerhard Scheit nachgewiesen hat20, war die Auseinandersetzung mit Salacrous 17. Hinweis für auch daran Interessierte: die weise Rede des Esels in den Bremer Stadtmusikanten. 18. Szondi, ebenda, 103. 19. Wie bei den anderen Stücken Soyfers ist die Authentizität der Textgestalt nicht gesichert. Bei den Proben wurde geändert, gestrichen, hinzugefügt. Auf den Manuskripten drängen sich verschiedene Handschriften. Auch Zusätze, die lange nach Soyfers Tod hinzugefügt wurden, sind nicht auszuschließen. Es fehlt sozusagen eine Ausgabe 'letzter Hand'. Diese Schwierigkeit ist aufgrund der Überlieferung unüberwindbar; und doch plädiere ich dafür, zwei Stellen in Vineta als nicht authentisch zu eliminieren. Soyfer, 640, sagt der Stadtschreiber: "Auch ein toter Intellektueller bleibt, was er ist, nämlich ein Intellektuer." So anfechtbar diese Stelle (die, wie Horst Jarka mich tröstet, nicht nachweislich von Soyfer stammt) schon für sich selbst ist, so widerwärtig ist das fröhliche Gelächter, das fortschrittlich Gesinnten bei Aufführungen an dieser Stelle (ich habe es gehört) entfährt. Die andere Stelle ist der unsäglich peinliche Monolog Jonnys im Schlußbild (Soyfer, 647). Er schlägt dem dramaturgischen Grundgedanken von Vineta mit dem erhobenen Zeigefinger ins Gesicht. 20. Jura Soyfer und die Aporien der Avantgarde - "Vineta". In: Scheit, wie oben, 28-37. Seite9 Stück21 für die Konzeption von Vineta recht bedeutsam. Durch Primus-Heinz Kuchers Beitrag in diesem Band ("Jura Soyfers Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen französischen Avantgarde") werden die Details dieser Auseinandersetzung nun besser nachvollziehbar. Was hier, im Zusammenhang des Spiels mit der Zeit, interessiert, ist zweierlei. Zum einen sollte durch die flüchtige Diskussion einiger Gedanken Peter Szondis gezeigt werden, daß Soyfer sich der modernen Problematik der Zeit in seinen Stücken stellt und nicht weiter als ein Autor gelesen werden kann, der uns geistreich an den Aporien der Avantgarde, an der Krise der Moderne vorbei in eine gesunde sozialistische Zukunft führen will. Bezeichnenderweise setzt Soyfer bei der Unbekannten von Arras mit einem Stück an, das Szondi als ein besonders prägnantes Beispiel des Problematischwerdens der Zeit im modernen Drama anführt. Zum anderen wurde versucht, die in dem (in Vineta) manifesten Gegensatz von Leben und Tod weiterprozessierende Problematik der Zeit anzudeuten. Der Tod, der in Vineta allgemein ist, ist keine Chiffre, keine Allegorie des realen Todes, sondern, im Gegensatz zu dem lebendigen Protagonisten Jonny, ein Zeitverhältnis; ein problematisches, gestörtes vielleicht, doch ein Zeitverhältnis.22 Dieses Zeitverhältnis wird durch die historischen Umstände des Jahres 1937 zu einer äußerst dringlichen Frage, aber die Fragestellung selbst ist durch die ganze Epoche bedingt, der das Stück Soyfers angehört. Ein Blick auf die literarischen Vorbilder, die Soyfers Wahl und Behandlung des Stoffes möglicherweise beeinflußt haben, kann vielleicht helfen, Soyfers Stück nicht allzu intim aus der österreichischen Zeitgeschichte 1934-38 zu interpretieren. 4. Wer für Wien die Chiffre der versunkenen Stadt Vineta zuerst eingeführt hat, weiß ich nicht. Aber bei Karl Kraus findet sich Vineta bereits als Chiffre für ein Wien, das gestorben ist und weiterlebt, ohne etwas zu bemerken. Daß Soyfer von Kraus die Chiffre übernommen hat, ist vorstellbar. "In der Erinnerung seiner Freunde ist nicht Soyfers Kritik, sondern seine Bewunderung für Kraus der stärkste Eindruck geblieben."23 Kraus' Glosse "Vineta"(1924) gibt zunächst einen Zeitungsausschnitt 21. Die Unbekannte von Arras. (Avantgardistisches Theater im Hagenbund). In: Soyfer, 473-476. 22. Daran krankt die von Herbert Arlt vorgeschlagene Interpretation "Vineta oder Die Folgen eines heutigen Kriegs. Vorschlag einer Leseart für ein Soyfersches Drama". (In: Weg und Ziel. 45. Jg., H.12/1987, 442-444). Arlt setzt bei der Warnung des Jonny vor einer bevorstehenden Sturzflut im Schlußbild von Vineta an: "Die zu befürchtende Sturzflut ist ... nicht nur im Zusammenhang mit der drohenden Okkupation Österreichs zu sehen, sondern mit einem zweiten imperialistischen Weltkrieg. (...) Die Soyferschen Figuren sind in diesem Sinn Tote eines Krieges." 23. Jarka, 165. Seite10 wieder, einen Bericht über einen "Heurigenabend" der Genossenschaft bildender Künstler in den Sälen des Künstlerhauses, bei dem es so "fidel und gemütlich" zuging, daß man sich "tatsächlich für wenige vergnügte Stunden in das Wien vergangener besserer Tage zurückversetzt fühlen" konnte. "Der gelungene Abend bewies, daß im Künstlerhaus die Geister des Frohsinns und Humors erfreulicherweise immer noch herrschen." Die Betrachtung, die Kraus daran schließt, will eigentlich nur mehr verständlich machen, daß dem Bericht nichts mehr hinzuzufügen ist: Die müssen alle einmal verzaubert worden sein und wir schauen sie in der Erstarrung. Oder es ist wahr, es hat sich begeben, wie alljährlich so auch heuer, und da hätte ich den Traum ausgesponnen, daß Wien gerade in dem Augenblick, wo im Künstlerhaus die Geister des Frohsinns und Humors zu herrschen beginnen, was sie nie aufgehört hatten zu tun, wenn sie also gerade ihr Szepter schwingen und ein Professor als alter Drahrer seinen Zylinder: untergeht und daß man dann nach zweitausend Jahren diese Figuren ausgräbt. ... alle Besucher würden sich die Seiten halten vor Lachen und ein ungeheurer Fremdenverkehr würde sich entwickeln.24 Kraus unterzieht den "Heurigenabend" der Künstler-Genossenschaft einer schockhaften Konservierung, indem er den Bericht über ihn aus der gewohnten Umgebung herausbricht. Damit ist der Satire bereits genüge getan. Der Hintergrund, auf dem das Konservierte zur Satire seiner selbst wird, ist durch die Plazierung in der Fackel gegeben: Sie ist der Lebensfunke, ausgesetzt auf das Wuchern des Toten. Das von Kraus vermittelte Empfinden eines täglich prozessierenden Gegensatzes des Lebendigen und Toten, spricht sich auch in dem Gedicht "Wiedersehen des Tages"(1926) aus, das Horst Jarka im Zusammenhang mit Soyfers Vineta zitiert. An den Häusern und Läden war alles erneut, die Waren lebendig, verblichen die Leut, kein Gefühl, kein Gedanke, kein wirkender Wille, nur Kinolarven mit starrer Pupille, viel irdische Hülle auf allen Wegen, kein Hinterbliebner kam mir entgegen; du lebst noch? schienen sie zu fragen und um Lebendiges zu klagen ...25 Das Lokalkolorit Vinetas entspricht bei Soyer aber nicht Wien, sondern eher einer Hafenstadt an der Nord- oder Ostsee im späten Mittelalter. Die Rahmenhandlung stützt sich bis in Details auf die Reportage "Dampfer, Dirnen, Senatoren", die Soyfer während seiner Deutschland-Reise im Sommer 1932 verfaßt hatte.26 Aber 24. Karl Kraus: Vineta. In: Die Fackel XXVI, Nr.657-667, August 1924, 210f. 25. Jarka, 333. 26. Soyfer, 264-267. Erstdruck in: Arbeiter-Zeitung, 25.8. 1932. Seite11 Hamburg dürfte Soyfer auch durch einen Dichter vertraut gewesen sein, "der ihn seit den ersten literarischen Versuchen der Kindheit begleitet hat: Heinrich Heine."27 In Heines Schrift "Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski" (1834) findet sich eine Stelle, die in frappanter Weise die Einrichtung der Stadt Vineta in Soyfers Stück vorwegnimmt: ... in diesem Augenblick durchschauerte mich die schreckliche Bemerkung, daß ein unergründlicher Blödsinn auf allen diesen Gesichtern lag, und daß alle Menschen die eben vorbeigingen in einem wunderbaren Wahnwitz befangen schienen. Ich hatte sie schon vor zwölf Jahren, um dieselbe Stunde, mit denselben Mienen, wie die Puppen einer Rathausuhr, in derselben Bewegung gesehen, und sie hatten seitdem ununterbrochen in derselben Weise gerechnet, die Börse besucht, sich einander eingeladen, die Kinnbacken bewegt, ihre Trinkgelder bezahlt, und wieder gerechnet.28 Die bürgerlichen Bewohner Hamburgs bewegen sich wie die Figuren eines Glockenspiels in immer demselben Umkreis ritueller Verrichtungen. An ihnen ist Leben und Tod ununterscheidbar geworden. Alles, was die Menschen hier tun, scheint der ständigen Vorsorge für eine nahe Zukunft geschuldet, und dennoch ist es nur die Vergangenheit, die durch die schmale Pforte der Gegenwart alle Zukunft in sich saugt. Für Heine ist diese Vergangenheit das Geldkapital, das durch Zins und Zinseszins die lebendige Zeit für sich vereinnahmt, ein Geldkapital, das im historischen Hamburg Heines hauptsächlich aus Handelsprofiten zustandekam. Im Hamburg des frühen 19. Jahrhunderts blieb der Zusammenhang zwischen Kapitalbildung und Ausbeutung menschlicher Arbeit verdeckt. Die betreffenden Stellen bei Heine stellen auch eine indirekte Auseinandersetzung mit der eigenen Familie, deren Oberhaupt der Bankier Salomon Heine war, dar. Soyfer müssen sie schon deshalb affiziert haben, weil sein eigener Vater, in Charkow Industrieller, nach seiner Emigration aus Rußland in Wien nur mehr im ExportImport-Handelsgeschäft tätig war. Vineta ließe sich als Soyfers Abrechnung mit seiner eigenen Familie lesen, einer Familie, die weiterlebte, obwohl ihr Zusammenhalt, die gewichtigen gemeinsamen Zwecke, mit der Emigration aus Rußland verloren gegangen waren, und die sich in ihrem Lebenserwerb einer Sphäre anvertraut hatte, in der die wirklichen Lebensverhältnisse der Gesellschaft wohl mitunter katastrophal, aber doch in äußerster Abstraktion zur Geltung gelangen. Abgeschnitten vom wirklichen Leben (ein Zustand, den Soyfer offenbar perhorreszierte), mußten die zum Gelderwerb veranstalteten Operationen des Vaters dem Heranwachsenden als ein sinnlos sich wiederholendes Ritual erscheinen. Im sorgenvollen Dasein der Zirkulationsagenten wird die moderne Zeitproblematik immer nur als Zeitdruck, nie als in die Zukunft gesetzte Erwartung fühlbar. Die Hoffnung, die den Zusammenhang mit dem alltäglichen tätigen Ablauf verloren hat, gerät zur Illusion. Die Ungeduld Soyfers, aus dieser ihn einschließenden Sphäre scheinbarer Gehaltlosigkeit zum wirklichen Leben 27. Jarka, 456f. 28. Heinrich Heine: Werke in fünf Bänden. Berlin, Weimar: Aufbau 1974. Bd.2, 566. Seite12 vorzustoßen, ist in dem in Vineta geschilderten Albtraum, alt zu werden, ohne in Verbindung mit gleichgesinnten lebendigen Wesen gekommen zu sein, als latente Energie gegenwärtig. Der Hinweis auf eine mögliche Widerspiegelung der familiären Situation Soyfers in Vineta verfolgt nicht die Absicht, die ins Allgemeine gehende Aussage des Stückes durch die Einführung eines partikulären Motivs gleichsam auf die Couch zu legen. Denn zum einen sind die Familienverhältnisse Soyfers nicht untypisch für seine Generation.29 Und zum anderen erfolgt die Widerspiegelung der Familienverhältnisse im Stück ja nicht in anekdotischer, sondern in leidenschaftlich verzerrter, projektiver Form. Daß einer sich an seinen Familienverhältnissen reibt, ist nichts kleinbürgerliches. Daß man dergleichen an einem politischen Dichter grundsätzlich nicht wahrnehmen will, deutet weniger auf ein besonderes politisches Engagement als auf einen verengten Begriff des Politischen. 5. Ich versuche eine ziemlich vorläufige, dafür umso emphatischere Zusammenfassung. Die Modernität Jura Soyfers erweist sich darin, daß ihm Subjektivität erst gewinnbar scheint in einem problematisch gewordenen Zeithorizont. Soyfer, als Vertreter seiner politischen und literarischen Generation, hat dieses die Allmählichkeit der Entwicklung skeptisch verwerfende Bewußtsein der vorhergehenden politischen Generation voraus. Soyfer unternimmt jedoch künstlerisch den Versuch, diese relativ neue Zeitproblematik zu vergegenständlichen, zu gestalten (indem er mit ihr spielt, sie zur Fabel gerinnen läßt, einer Vieldeutigkeit anheimstellt). Das bedeutet, daß er sich nicht panisch oder enthusiastisch dem Pathos der Zerrissenheit der Zeit überläßt, sich nicht einfach in dem Gefälle, das die epochale - objektiv-subjektive - moderne Zeitproblematik der Künstlerin oder dem Künstler anbietet, treiben läßt. Geschickter noch als die direkt politische Pointe vor der Zensur hat er die großen Fragen, die ihn bewegten, in seinen Stücken vor der platten politischen Zurechnung versteckt. Nicht in der Aktualisierung seiner Stoffe, sondern in der Verständigung über die von ihm gestellten Fragen liegt seine Aktualität.30 29. Man vergleiche die interessanten Ausführungen Waltraud Strickhausens über Hilde Spiels Jugendroman "Kati auf der Brücke"(1933): "Im Gegensatz zu Jugendromanen früherer Epochen sind die Eltern hier keine unterdrückende Instanz. Sie sind vielmehr durch die Umwälzungen in ihrem eigenen Leben so sehr auf sich selbst zurückgeworfen, daß sie ihrem Kind keine Unterstützung und Orientierung bieten können." (Margit [sic!] Strickhausen: Der "Zwang zur Vernunft". Zur politischen Dimension im Werk Hilde Spiels. In: Mit der Ziehharmonika 8.Jg., Nr.1, März 1991, S.2). 30. Der wichtigste Gesichtspunkt überhaupt ist die in seinen Stücken artikulierte Empörung eines noch nicht zur Geltung gelangten Lebendigen gegen seine drohende Vernichtung durch ein böses Allgemeines. Das wurde weiter vorne bereits angedeutet. Die Wahrheit liegt nie in der Prophezeiung des Untergangs, immer nur in der Empörung gegen den Untergang. Seite13