Königs Erläuterungen und Materialien Band 438 Erläuterungen zu Friedrich Dürrenmatt Der Verdacht von Bernd Matzkowski Über den Autor dieser Erläuterung: Bernd Matzkowski ist 1952 geboren. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Lehrer (Oberstudienrat) am Heisenberg Gymnasium Gladbeck Fächer: Deutsch, Sozialwissenschaften, Politik, Literatur/ Theater (in NRW in der Sek. II eigenes Fach mit Richtlinien etc.) Beratungslehrer für Suchtprävention Ausbildungskoordinator Die Rechtschreibung wurde der amtlichen Neuregelung angepasst. Zitate Dürrenmatts müssen aufgrund eines Einspruchs in der alten Rechtschreibung beibehalten werden. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt oder gespeichert und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. 4. Auflage 2008 ISBN 978-3-8044-1816-5 © 2005 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten! Titelabbildung: Friedrich Dürrenmatt Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk 2 Inhalt Vorwort ................................................................. 4 1. 1.1 1.2 1.3 Friedrich Dürrenmatt: Leben und Werk ........... Biografie .................................................................. Zeitgeschichtlicher Hintergrund .............................. Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken ....................................... 1.3.1 Der Einzelne und die Verantwortung. Anmerkungen zu einigen Figuren Friedrich Dürrenmatts ............................................................ 1.3.2 Vom Essen und Trinken – Motivverbindungen ........ 1.3.3 Über die Rolle des Zufalls ........................................ 6 6 9 12 12 19 21 2. 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.5 2.6 2.7 Textanalyse und -interpretation ......................... Entstehung und Quellen .......................................... Inhaltsangabe .......................................................... Aufbau .................................................................... Erzählstruktur und Spannungsbogen ....................... Ort und Zeit ............................................................ Motive und Symbole ............................................... Personenkonstellation und Charakteristiken ............ Sachliche und sprachliche Erläuterungen ................ Stil und Sprache ...................................................... Interpretationsansätze .............................................. 25 25 28 56 56 58 61 68 79 80 83 3. Themen und Aufgaben ......................................... 88 4. Rezeptionsgeschichte ............................................ 90 5. Materialien ............................................................ 92 Literatur ................................................................ 95 3 Vorwort Vorwort Mit dem Namen Friedrich Dürrenmatt verbindet man in erster Linie den erfolgreichen Dramatiker, dessen Theaterstücke Der Besuch der alten Dame und Die Physiker die Bühnen der Welt erobert und das Publikum begeistert haben. Dürrenmatt ist aber auch ein erfolgreicher Kriminalschriftsteller, dessen Kriminalromane Der Richter und sein Henker, Der Verdacht und Das Versprechen in aller Welt ein Millionenpublikum gefunden haben. Dürrenmatts Krimis gehören mittlerweile zum Kanon der Schullektüren, die immer wieder im Unterricht behandelt werden. Dürrenmatt spielt in seinen Kriminalromanen mit dem Genre und treibt es, besonders im Roman Das Versprechen, über seine Grenzen hinaus; die Aufklärung eines Verbrechens ist im Roman Das Versprechen Dürrenmatts Ansatz dafür, den Glauben an die Ratio und die Muster detektivischer Arbeit, so wie sie das Genre Krimi abbildet, in Zweifel zu ziehen. Der Roman soll ein Requiem – eine Totenmesse – für die Gattung Kriminalroman sein. Aber auch in den Romanen Der Richter und sein Henker und Der Verdacht zeigen sich starke Tendenzen, den Glauben an die Macht der Vernunft in Zweifel zu ziehen und die Wiederherstellung der Ordnung, die durch die Aufklärung eines Verbrechens erfolgt, in Frage zu stellen. Der Detektiv, der sich als Einzelner und Einzelgänger auf den Weg macht, um die Welt vom Verbrechen und von Verbrechern zu befreien, wird im Roman Der Verdacht bereits als Auslaufmodell gezeigt, das von der gesellschaftlichen und geschichtlichen Entwicklung überholt worden ist. Kommissar Bärlach muss sich vom Juden Gulliver, der ihn gerettet hat, sagen lassen: „Wir können als einzelne die Welt nicht retten, das wäre eine ebenso hoffnungslose Arbeit wie die des armen Sisyphos (…).“ (119) 4 Vorwort Vorwort Einige wesentliche Aspekte des Kriminalromans Der Verdacht von Dürrenmatt zu erläutern, ist das Anliegen dieses Bandes. Als Textgrundlage dient die Ausgabe des Diogenes Verlages. Zitate aus diesem Band werden durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt hinter dem Zitat gekennzeichnet, wobei auf eine Sigle verzichtet wird.1 Zu danken habe ich für die freundliche Unterstützung bei der Arbeit Ursula Schlauch, Wally Woggon und Peter Theiler. Bernd Matzkowski 1 Ausgabe: Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht, detebe Bd. 21436, Diogenes Verlag, Zürich 1985 Vorwort 5 1.1 Biografie 1. Friedrich Dürrenmatt: Leben und Werk2 1.1 Biografie Ort 1921 Konolfingen Dürrenmatt wird am 5. Januar (Kanton Bern) als einziger Sohn des protestantischen Pfarrers Reinhold Dürrenmatt und seiner Ehefrau Hulda (geb. Zimmermann) geboren. Bern Die Familie zieht nach Bern um; Dürrenmatt besucht zunächst das „Freie Gymnasium“ und später das „Humboldtianum“. Bern Maturität (schwz. Hochschulreife) Zürich, Dürrenmatt nimmt das StudiBern um der Philosophie und der Literatur- und Naturwissenschaften auf. Erste schriftstellerische Versuche. Es entsteht u. a. das Theaterstück Komödie, das aber weder im Druck noch auf der Bühne erscheint. Basel Dürrenmatt zieht nach Basel. 1935 1941 1943 1946 2 6 Alter Jahr Ereignis 14 20 22 25 Zum folgenden Kapitel des Bandes vergl. u. a. Anton Krättli, S. 1–30. Die genannten Werke und Ehrenpreise Dürrenmatts stellen eine Auswahl dar! 1. Friedrich Dürrenmatt: Leben und Werk 1.1 Biografie Jahr Ort 1947 1948 Ligerz 1949 1950/52 1952 Neuchâtel 1953 1954 1955 1956 1957 Bern Ereignis Alter 26 Heirat mit Lotti Geißler Es steht geschrieben (Uraufführung) Dürrenmatt lebt in Ligerz am 27 Bielersee. Der Blinde (Uraufführung) Romulus der Große (Urauffüh- 28 rung) Der Richter und sein Henker 29/31 (Kriminalroman) Die Ehe des Herrn Mississippi 31 (Uraufführung) Das Theaterstück wird zu Dürrenmatts erstem großen Bühnenerfolg. Dürrenmatt erwirbt ein Haus in Neuchâtel und lebt dort fortan mit seiner Frau sowie den Kindern Peter, Barbara und Ruth. Ein Engel kommt nach Babylon 32 (Uraufführung) Der Verdacht (Kriminalroman) 33 Literaturpreis der Stadt Bern Grieche sucht Griechin (Eine 34 Prosakomödie) Der Besuch der alten Dame (Ur- 35 aufführung) Die Panne (Erzählung/Hörspiel) Hörspielpreis der Kriegsblinden 36 1. Friedrich Dürrenmatt: Leben und Werk 7 1.1 Biografie Jahr Ort 1958 1959 1962 1963 1966 1967 1970 1973 1977 Nizza/ Jerusalem Beerscheba 1981 Neuchâtel 1983 1984 1985 1986 1990 8 Neuchâtel Alter Ereignis Das Versprechen (Roman) Prix Italia Frank der Fünfte (Uraufführung) Die Physiker (Uraufführung) Herkules und der Stall des Augias (Uraufführung) Der Meteor (Uraufführung) Die Wiedertäufer (Uraufführung/ eine Neubearbeitung von Es steht geschrieben) Porträt eines Planeten (Uraufführung) Der Mitmacher (Uraufführung) Buber-Rosenzweig-Medaille Ehrendoktor der Universität Nizza und der Hebräischen Universität Jerusalem Ehrenmitglied der Ben-GurionUniversität in Beerscheba Ehrendoktor der Universität Neuchâtel Tod seiner Frau Lotti Achterloo (Uraufführung) Heirat mit der Schauspielerin Charlotte Kerr Österreichischer Staatspreis für Literatur Justiz (Roman) Der Auftrag (Novelle) Tod am 14.12. (Herzinfarkt) 37 38 41 42 45 46 49 52 56 60 62 63 64 65 69 1. Friedrich Dürrenmatt: Leben und Werk 1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund 1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Als Dürrenmatts Roman erscheint, sind erst 8 Jahre seit dem Ende des 2. Weltkrieges vergangen. Man hat sich gerade im Frieden eingerichtet und ist dabei, die Zeit des Nationalsozialismus zu vergessen bzw. zu verdrängen. Und schon stehen die Menschen wieder an der Schwelle zu einem nächsten, noch größeren und dann wahrscheinlich auch letzten Krieg, denn die einstige Anti-Hitler-Koalition ist längst zerfallen. Die USA und die „Kalter Krieg“ Sowjetunion stehen sich im „Kalten Krieg“ als Führungsmächte von zwei militärischen und zugleich politischen und ideologischen Blöcken in Europa am „Eisernen Vorhang“ hochgerüstet gegenüber. Mitte der 50er Jahre beläuft sich das Arsenal an Atomwaffen auf rund 50 000 Stück; die Menschheit ist längst in der Lage, sich selbst und alles Leben auf der Welt mehrfach auszulöschen. Die Blockade Berlins (1948/49) und der Koreakrieg (1950– 1953) sind deutliche Zeichen der Blockkonfrontation, deren steinernes Symbol die Mauer in Berlin werden sollte (13. August 1961). In Deutschland ist man im Jahre 1953 noch dabei, die letzten Trümmer des „Wirtschaftswunder“ und Krieges wegzuräumen, das so genannRestauration te Wirtschaftswunder der „sozialen Marktwirtschaft“ setzt ein und die Westintegration der Bundesrepublik hat begonnen, denn die BRD wird Mitglied des Europarats und durch die Pariser Verträge (1954) auch Mitglied der Westeuropäischen Union und der NATO. Politisch ist das Klima dieser „Restaurationsjahre“ durch die konservativen Regierungen aus CDU und CSU bestimmt, die 1957 unter Konrad Adenauer einen Wahlsieg erringen, bei dem sie 50,2 % aller Stimmen auf sich vereinigen können. Der zentrale Wahlslogan hieß (bezeichnenderweise): Keine Experimente! 1. Friedrich Dürrenmatt: Leben und Werk 9 1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Die Menschen in Deutschland sehen – trotz der weltpolitisch angespannten Lage – eher optimistisch in die Zukunft, wenn auch die atomare Bedrohung durchaus Ängste hervorruft. Die Einkommen lassen den ersten bescheidenen Wohlstand zu, man sieht vermehrt Autos auf den Straßen (1953 hat der Bestand an PKW und Motorrädern den von 1939 bereits überschritten, bei Volkswagen laufen täglich rund 1 500 „Käfer“ vom Fließband). „Um 1950 begann eine neue Zeit. (...) Die Wirklichkeit bekam wieder Glanz. Sonntag und Alltag waren wieder zu unterscheiden. Es gab wieder eine Spur von Luxus, wieder etwas, worauf sich Ehrgeiz und Träume projizieren ließen.“3 Die ersten weiteren Reisen werden geplant. Ein Land vieler Träume sind die USA, das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, das in Deutschland nicht nur durch seine Soldaten, sondern auch durch seine Musik (Elvis Presley), seine Hollywood-Filme und seinen Lebensstil präsent ist. Was für die noch junge Bundesrepublik und ihren wirtschaftlichen Aufschwung gilt, gilt erst recht für die schweizerische Heimat Dürrenmatts. Die Schweiz, vom Krieg und seinen Folgen nur wenig berührt, vollzieht die Entwicklung zur Prosperität und zum Modernen rascher als etwa Deutschland: Ein Baumboom erfasst nach Das Modell „Schweiz“ dem Krieg das Land, eine Motorisierungswelle ergreift seine Bürger, die Konjunktur zieht an. Jan Knopf schreibt über die Entwicklung der Schweiz nach dem Krieg: 3 10 Paul Maenz, Die 50er Jahre. Formen eines Jahrzehnts. dumont taschenbücher Bd. 157, DuMont Verlag, Köln 1984, S. 34 1. Friedrich Dürrenmatt: Leben und Werk