Publikation - Karl-Franzens

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Musikinhärente Strukturen als Basis der Neuen Künste
Dissertation
zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie
an der Karl–Franzens–Universität Graz
eingereicht von: Mag.phil. Jon GRIEBLER
am
Institut für Musikwissenschaft
Erstbegutachter: ao.Univ.–Prof. Priv.–Doz. Dr. Werner JAUK
Zweitbegutachter: Univ.–Doz. Dr. Arnulf ROHSMANN
2011
Das Eigentümliche des Kunstwerks liegt offenbar darin, daß sein
Reichtum das Wahrnehmungsvermögen des Empfängers übersteigt.
Abraham A. Moles 1971
Nam June Paik, »Zen for Head«, 1962
.
INHALT
1
EINLEITUNG
1.1
AMBIVALENZ: MUSIK / BILDENDE KUNST
1.2
THEORIE
1.3
METHODE / KERNLITERATUR
3
3
5
6
2
DIE RELEVANTEN AVANTGARDEN (DER MODERNE)
2.1
FUTURISMUS / DADA / PUNK
2.2
BERGSON, DUCHAMP, ERRATUM MUSICAL / JOHN CAGE
2.3
BEWEGTES, UNBEWEGTES (UND FLÜCHTIGES)
FUTURISMUS, MASCHINE UND MUSIK
2.3.1
2.3.2
KINETISCHE KUNST UND ALGORITHMUS
ARCHITEKTUR / RAUM
2.3.3
2.3.4
FILM UND LICHTKUNST
2.4
KRIEG, ZÄSUR UND POSTMODERNE
9
9
19
30
30
39
47
54
63
3
(BILDENDE) KUNST – INFORMALISIERUNG, GESTE, CODE
3.1
MUSIK – BEFREIUNG VOM NOTIERTEN
3.2
DAS BILD – BEFREIUNG VOM NARRATIVEN ?
3.3
MUSIKALISIERUNG / SYNÄSTHESIE /
MULTIMODALE WAHRNEHMUNG
73
73
83
90
4
WAHRNEHMUNGSSTRATEGIEN
4.1
ZEICHENSYSTEME / SELBSTREFERENZIALITÄT
4.2
ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG
4.2.1
PSYCHOLOGISCHE ÄSTHETIK / (KOGNITIVE ÄSTHETIK)
4.3
KOMMUNIKATION
4.3.1
KONSTRUKTIVISTISCHES KOMMUNIKATIONSMODELL
4.3.2
WAHRNEHMUNG DER WAHRNEHMUNG
96
96
103
106
112
116
118
5
DIE KUNST DES Y2K+
5.1
TECHNOLOGIE / HIDDEN HIGHTECH
5.1.1
KÖRPER VS. / & MASCHINE
5.1.2
MECHANISTISCH / SYSTEMISCH
5.2
DER DIGITALE CODE
5.2.1
DAS ENDE DER DISTANZ
5.2.2
VERSCHRÄNKUNG VON INFORMATION & WIRKLICHKEIT
121
121
124
128
130
133
136
6
DISKUSSION: PROZESS VS. KONTEMPLATION
139
7
LITERATUR
INTERNET – REFERENZEN / BILD –
143
168
2
UND TONTRÄGER
1
Einleitung
Die Typologien von Musik und bildender Kunst seien inkommensurabel, so die
paradigmatische Grenzziehung zwischen den heterogenen Kunstformen. Dies
ist, wie auch deren Hierarchisierung, eine über die Jahrhunderte tradierte
Konzeption „geordneter Verhältnisse“. Platon attestierte der Musik, mit teils
drastischen Einschränkungen, eine erzieherisch – konstruktive Wirkung auf die
Seele, die Malerei sei demgegenüber unwahrhaftig und täusche die Seele (vgl.
Platon 2000: 183[401d], 442[602d]). Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah einen
reziproken Dualismus zwischen Musik als Äußerung der Innerlichkeit und der
Malerei als Innerlichkeit im Äußerlichen, (vgl. Hegel / Gethmann 2005: 215,
206). Der Hinweis auf die abstrakte Innerlichkeit der Musik gegenüber dem
Bewusstsein des Gegenständlichen 1 der Malerei (vgl. ebd.: 216) impliziert eine
Dialektik der Künste in den Überschneidungsbereichen von Zeitlichkeit und
Räumlichkeit. Für Theodor Wiesengrund Adorno ist die Verfransung der
Künste, genauer: ihrer Demarkationslinien (Adorno 1977: 433) ein Griff nach
der außerästhetischen Realität, die dem Prinzip […] Abbildung strikt
entgegengesetzt (ebd.: 450) sei. Adorno attestiert den verfransenden Künsten –
mit dem Hinweis auf das happening – die Entledigung vom idealistisch–
kunsthaften der „geordneten Verhältnisse“ und die Sehnsucht nach Schaffung
einer einzigartigen (sui generis) Wirklichkeit (ebd.: 452).
1.1
Ambivalenz: Musik / bildende Kunst
Die rezeptive Ambivalenz von auditiven und visuellen Künsten basiert auf
deren Formalisierung der jeweilig spezialisierten Wahrnehmungsfunktion
Hören / Sehen; es ergibt sich die – künstliche – Differenzierung zwischen
ephemerem
1
und
nicht–ephemerem
Werk,
phylogenetisch
sind
„Die Handlung, [die im Bild dargestellt wird], muß verständlich sein, die allegorische
Malerei ist unverständlich“ (Hegel / Gethmann 2005: 212).
3
beide
Wahrnehmungsformen obligat. Die Flüchtigkeit des Klanges 2 erfordert ein
adäquates Codesystem / Notation, eine Instanz der Vermittlung, die von dem
zu Vermittelndem entkoppelt ist. Die Abstraktions– und Informalisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts gehen einher mit der Dynamisierung und
Digitalisierung der bildenden Kunst (vgl. Jauk 2009: 389ff) und formen die
Theoriengebäude, die ein Einbringen von bedeutungsneutralen Codes in die
bildende Kunst ermöglichen. Zusammen mit der Befreiung von der Abbildung
nähert dies die bildende Kunst an den Formalakt „Musik“ an, als formale
Struktur zur Regelung von syntaktischen Ereignissen.
Die ikonologische Ambivalenz von Musik und bildender Kunst basiert auf der
bildinhärenten Analogie zum „Außen“; die grundlegend abbildende Struktur
der bildenden Kunst steht einer im Ausnahmefall abbildenden Struktur der
Musik gegenüber. Die Programme des Futurismus / Dadaismus, zum einen die
Simultaneität dynamistischer Elemente (vgl. Boccioni 2002 [1914]: 157 – 169),
die eine ganzheitliche Sensibilität vermitteln soll, zum anderen die Gestaltung
abseits von logischem Verhalten und im kreativen Dilettieren stellen
ikonografische Referenzen der bildenden Kunst in Frage. Technischer
Fortschritt und die Verfügbarkeit dieser Technologie realisieren diese
Programme des funktionalen Zusammenhanges von Kunst / Leben in der
Ästhetik der Popkultur. Der willkürlich veränderbare Algorithmus entkoppelt
das „Bild“ von seiner grundlegend abbildenden Struktur und nähert es über die
Medienkunst an das Zeichensystem „Musik“ an.
Die Frage nach der Lösung der modalen Ambivalenz von Musik und bildender
Kunst wird anhand der Codierung der Kunst des Y2k+ 3 und der Information
als Wirklichkeitskonzept behandelt. Eine Multiplikation von Information (vgl.
Weibel 2004c: 221) in den Netzen impliziert die Interaktion und
Kommunikation in den Kunstprozess und formalisiert diesen in der
Medienkunst.
2
Klang ist im Zeitraum des psychologischen Momentes (~50 Millisekunden) – im Gegensatz
zur visuellen Erkennbarkeit – ohne Bezugssystem nicht erkennbar.
3
Die Bezeichnung Y2k+ als Allegorie für den Zeitraum ab dem Jahr 2000 wird bewusst im
Hinblick auf eine Internet basierte Terminologie gebraucht.
4
In den Fragen nach den assoziativen Strukturen in Musik und bildender Kunst,
wie Farbe – Klang – Korrespondenzen (vgl. v. Maur 1985: 14f), die unterschiedlichen Wellen–Charakteristika von Schall und Licht, oder der
wechselseitigen Durchdringung von Raum und Zeitvorstellungen in den
Theorien der Künste (vgl. Motte – Haber 1990: 252ff), ist eine explizite, der
Wichtigkeit dieser Themen angemessene Bearbeitung innerhalb dieser Arbeit
nicht möglich. Hier sei auf die angeführte Literatur verwiesen. Metaphorismen
wie Komposition des Bildes, Farbe der Musik, sind Hilfsmittel und sprachliche
Ergänzungen und in dieser Arbeit ohne eigenen Schwerpunkt.
1.2
Theorie
Die radikalen Manifeste der Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts
beschreiben das Zueinander führen von Kunst / Leben, basierend auf den
Veränderungen in Technologie, Wissenschaft und Industrialisierung. Zum
einen die Zäsur der beiden Weltkriege, zum anderen eine noch unzulängliche
Technologie verunmöglichen dieses Vorhaben, es bleibt vorerst auf der Ebene
des Postulats. Die Kommensurabilität von Musik und Bild und die digitale
Technologie als deren Prämisse könnten gegen Ende des Jahrhunderts dieses
Postulat einlösen, ohne dass jeweils Charakteristika eliminiert werden
(müssen).
Sind also musikinhärente Typologien und Typologien der bildenden Kunst
kommensurabel? Die Kompatibilität von Wahrnehmungskonzepten in Musik
und Medienkunst weist darauf hin; das Konzept von Information als Meta–
Referenz von Wirklichkeit (vgl. Zeilinger 2003: 229f) ist eine Anleihe aus dem
Forschungsgebiet der theoretischen Physik, die diesen Schluss stützt. Die
Informalisierung von Musik, bildender Kunst und Lebenskonzepten im 20.
Jahrhundert
verfranst
deren definierte Grenzen,
die
so
entstandene
Intermedialität an den Rändern der heterogenen Bereiche stützt die Annahme
von einer Kommensurabilität auditiver und visueller Kunst.
5
1.3
Methode / Kernliteratur:
Die Betonung der Gleichgewichtung (Gleichwertigkeit) von Musik und
bildender Kunst in der Kunst des 20. Jahrhunderts ist ein Paradigma der
Zusammenführung von Kunst / Leben, deren historische Entwicklung aus den
Avantgarden der Moderne bedingt die Untersuchung relevanter Strukturen in
beiden Künsten. Die vorliegende Arbeit berücksichtigt – und betont – diese
Gleichwertigkeit und subsumiert die kunsthistorische Sicht ikonologischer
Interpretation und die musikalischen Entwicklungen in Avantgarde und Pop
systematisch im Bereich des (Kunst)Prozesses. Auf der Basis zweier
technologischer Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, der Dynamisierung und
der Digitalisierung (vgl. Jauk 2009), ist der Eingangsteil dieser Arbeit eine
kunsthistorisch – systematische Analyse der relevanten Avantgarden der
Moderne im Hinblick auf deren Musikalisierung. Die musikinhärenten
Strukturen dynamischer Zeitgestaltung, der musikalischen Codierung und des
Ephemeren in der musikalischen Handlung werden mit der Entwicklung der
bildenden Kunst der Moderne / Postmoderne in Beziehung gesetzt und als
Parameter der Medienkunst untersucht. Die Gleichgewichtung der Disziplinen
(neueste) Kunstgeschichte und (systematische) Musikwissenschaft bildet so
den interdisziplinären Rahmen dieser Arbeit und ist eine methodische
Bedingung der Fragestellung hinsichtlich der Kommensurabilität beider
Kunstformen.
Richtungsweisend für die vorliegende Arbeit ist Werner Jauks Arbeit
„pop/music + medien/kunst. Der musikalisierte Alltag der digital culture“
(Jauk 2009), basierend auf dessen Habilitierungsschrift „Der musikalisierte
Alltag der digital Culture“ (Jauk 2005a). Die technologischen Entwicklungen
von Dynamisierung und Digitalisierung und damit Virtualisierung der Umwelt
als Mediatisierung der körperlichen Bezüge zur Umwelt (Jauk 2009: 455) sind
Paradigmen des Mediatisierungsprozesses, die Werner Jauk innerhalb der
Musikwissenschaft theoretisch begründet (vgl. Jauk 2009). Der Übergang von
Natur zu Kultur, thematisiert in der Medienkunst, wird mit den Körper –
Umwelt – Interaktionsprozessen unter besonderer Berücksichtigung der
6
phylogenetisch älteren 4 auditiven Wahrnehmungsformen und der Musik als
deren Formalisierung in Beziehung gesetzt und von Jauk empirisch zusammengefasst. Die gestaltende Interaktion der digital culture orientiert sich wie die
der Popmusik am hedonistischen Körper, der Umgang
mit
gering
mediatisiertem Material und unmittelbarem Ausdrucksverhalten bringt den Pop
und die digital culture in Wechselbeziehung zum Kunst / Leben und vice
versa.
Alternativ dazu werden von Helga de la Motte – Haber die Interferenzen von
Musik und bildender Kunst anhand der Prinzipien von Zeit – als räumliche
Kategorie der Malerei und des Raum[es] als musikalische Kategorie diskutiert
(vgl. Motte – Haber 1990: 22). Die Korrelation von Musik und Malerei und die
Musikalisierung der Malerei (ebd.: 124) wird anhand von Entwicklungen des
19. Jahrhunderts – wie dem Begriff der „Composition“ bei Philipp Otto Runge,
als Verweis auf die Abstraktion im 20. Jahrhundert – mit der klassischen
Moderne verknüpft. Der Raum als musikalische Zeit beschreibt die Konzepte
elektronischer Musik der Mitte des 20. Jahrhunderts speziell und die
Raumkonzepte der Avantgarde nach dem WK II allgemein im Zusammenhang
mit der Performance– und Installationskunst des Fluxus und der Postmoderne
(vgl. Motte – Haber, Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur
Klangskulptur, 1990).
Die Implikationen von Technologie und Techno–Ästhetik beschreibt Peter
Weibel als „Transformationen der Technoästhetik“ (Weibel 1991) und
weiterführend als „Ortlosigkeit und Bilderfülle – Auf dem Weg zur
Telegesellschaft“ (Weibel 2004). Weibel sieht die Medienkunst als eine
Transgression der klassischen Künste (Weibel 1991: 205); basierend auf
technologischen Transformationen wird der statische Seinsbegriff, die
Ontologie des Bildes, abgelöst von der Ontologie der Medienkunst als der
Zeitform des dynamischen Systems. Dass die anthropomorphe Erfahrung von
Dauer und Distanz durch maschinelle Beschleunigung und Teletechnologien in
die Erfahrung der Ortlosigkeit transformiert wird, weist unmittelbar auf die
durch telematische Mediatisierung entstehenden Kommunikationsräume hin
4
Anm.: im Gegensatz zur visuellen Wahrnehmung.
7
(vgl. Weibel 2004: 220ff). In der Ortlosigkeit des Bildes und dem damit
einhergehenden (Sinn)Verlust des Originals wird das Bild – laut Weibel – in
einer virtuellen Realität zur Schnittstelle für die Handlungen verschiederner
Personen in Echtzeit (Weibel 2004: 225). Die Transformation des räumlichen
und / oder zeitlichen Codes in digitale Information ist die Basis dafür. Die
Arbeiten von Peter Weibel sind im Umfeld der vorliegenden Arbeit als
Orientierung innerhalb einer technologiebasierten Kunst(produktion) von
Wichtigkeit.
Im Zusammenhang mit Kausalität und Zufälligkeit ist die naturwissenschaftliche Weltbeschreibung aus der Sicht der Quantenphysik adäquat, die
Verwendung des bedeutungsneutralen Codes und in Folge bedeutungstragender Information als Mittel der Wirklichkeitskonstruktion zu diskutieren. Die
These, dass Information ein offenbar tieferliegendes Konzept als das der
räumlichen Trennung und das der Zeit sei, stellte Anton Zeilinger in einem
Vortrag 5 2003 vor, der Verlust des singulären Originals wird von Zeilinger in
quantenphysikalischen Experimenten bestätigt (vgl. Zeilinger, Einsteins
Schleier, 2003). Die Informationsübertragung erfolgte im Experiment instantan
(ohne Zeitverlust), dies fasst Zeilinger zum Postulat, dass Information und
Wirklichkeit in Wahrheit dasselbe seien, zusammen. Zeilinger diskutiert diese
Frage weiterführend im Zusammenhang mit Ereignis, Beobachtung und
Information im Umfeld des Postulates einer von uns unabhängigen und nicht
direkt zugänglichen „wirklichen Wirklichkeit“ der Quantenwelt (vgl. Zeilinger
2003).
5
„Nicht – Lokalität in der Quantenphysik“. Vortrag im Rahmen der Vorlesungsreihe “Iconic
Turn“ an der Ludwig – Maximilians – Universität München, gemeinsam mit Peter Weibel,
gehalten am 30. Jan. 2003. [online:
http://netzspannung.org/cat/servlet/CatServlet?cmd=netzkollektor&subCommand=showEntr
y&entryId=105606&lang=de 17.01.2011].
8
2
Die relevanten Avantgarden (der Moderne)
2.1
Futurismus / Dada / Punk
Der Futurismus markiert nicht nur die Bruchstelle zwischen der Kunstsicht des
bürgerlichen–romantischen
Bildungsadels und der durch pandemische
Urbanisierung, wissenschaftliche und technologische Entwicklungen 6 sich
drastisch verändernden Moderne, sondern auch die damit einhergehende
Darstellung und Vermittlung von Lebensprinzipien (vgl. Baumgarth 1966: 56,
142) wie Dynamismus, Geschwindigkeit und Simultaneität oder des élan
vital 7. Die Maschine und das Maschinelle werden im Futurismus dem
Geräusch vorangestellt, das Alltags–Geräusch ist das Artefakt der Maschine
und somit ein Ausdruck der Verbindung der Maschine mit dem Menschen und
des Kunst / Leben. Eine Zueinanderführung von Kunst und Leben und die
damit verbundene Abkehr von einer Kunst als romantizistische Flucht vor dem
Leben wird von den Futuristen als folgerichtig aus den dynamistischen
Äußerungen des modernen Lebens (vgl. Baumgarth 1966: 126) abgeleitet:
„Der Futurismus beruht auf einer vollständigen Erneuerung der menschlichen
Sensibilität, die eine Folge der großen wissenschaftlichen Entdeckungen ist.
Wer heute [...] den Zug, das Fahrrad, das Motorrad, das Auto, den
Überseedampfer [...] benutzt, denkt nicht daran, daß diese verschiedenen
Arten der Kommunikation, des Transportes und der Information auf seine
Psyche einen entscheidenden Einfluß ausüben“ (Filippo Tommaso Marinetti
1913, zit. in Asholt / Fähnders 1995: 39).
6
Für die Änderung der Lebensumstände [in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts] leisteten
vor allem die Fortschritte in Technik und Wissenschaft einen gewaltigen Beitrag. Neue
Kommunikationsmittel (Telegraf), technische Verbesserungen der Medien (Rotationspresse)
führen zu einer Verbreiterung des Informationsangebotes. Erfindungen wie Auto, Telefon
oder Elektrizität bereichern das tägliche Leben, wenngleich auch nur einiger weniger. […]
Hygienische Situation und medizinische Versorgung verbessern sich (Zweite Wiener
Medizinische Schule) (vgl. Vocelka 2000: 225f).
7
„Wenn wir [...] von Zeit reden, denken wir für gewöhnlich an das Maß der Dauer und nicht
an die Dauer selbst. (Henri Bergson 1948: 23). „[...] Intuitiv denken heißt in der Dauer
denken. [...] Die Intuition geht von der Bewegung aus, setzt sie oder vielmehr erfasst sie als
die Wirklichkeit selber und sieht in der Unbeweglichkeit nur eine Abstraktion.“ (Henri
Bergson 1948: 46f).
9
Symptomatisch für die – in einer großen Anzahl von Manifesten beschriebene
– Sensibilität des modernen Lebens ist die Emanzipation des Geräusches und
die Darstellung von Gemüts– oder Seelenzuständen (Stati d´animo) auf der
Basis von Rhythmisierung, Simultaneität und Geschwindigkeit und der Begriff
des Stato d´animo 8 sollte auch eine gesamt–künstlerische Konzeption
fokussieren (Noller 1999: 78). In der Darstellung der Stati d´animo würde laut
Boccioni auf eine universelle Urempfindung zurückgegriffen, einer Synthese
aller Sinne, die uns erlaubt zur ursprünglichen Einfachheit zurückzukehren
(vgl. Baumgarth 1966: 71) 9. Dies ist einerseits eine programmatische
Demontage der als bourgeois empfundenen Konventionen der Trennung von
Kunst und Leben des romantischen (Kunst)Geniekultes, andererseits eine
Absage an die Statik des gemalten Bildes, das dem geforderten universellen
Dynamismus (Boccioni 2002 [1914]: 160)10 nicht mehr genügt.
Die von Marinetti postulierte neue Sensibilität basiert auf einer – in den
futuristischen Konzepten freilich nicht explizit gemachten – intermedialen
Transposition, also einer Übersetzung inhaltlich–formaler Konzepte eines
Mediums in ein anderes (vgl. Wolf 2002a: 171). Das musikalische Konzept des
Aufbaues von Bedeutungen aufgrund von Beziehungen (vgl. Riemann 1975
[1914/15])11 definiert Marinetti als die Grundlage des bildnerischen
Dynamismus, der neuen Musik, der Geräuschkunst und der befreiten Worte. In
Francesco Balilla Pratellas atonalen und polyrhythmischen Kompositionen
wird die musikalische Syntax ebenso in Frage gestellt wie die linguistische in
Marinettis Manifesten über die futuristische Literatur, sie wird durch Konzepte
des Nicht–Künstlerischen und Nicht–Virtuosen ersetzt. In der bruitistischen
Geräuschkunst Luigi Russolos werden die Alltagsgeräusche als der Ausdruck
der Verbindung von Kunst / Leben in die musikalische Konzeption
8
Die Erläuterung der verschiedenen Begriffe stati d´animo, stato d´animo, stato d´anima
genauer in Noller 1999.
9
Umberto Boccioni, Vortrag über futuristische Malerei im Circolo Artistico Internazionale,
Via Margutta, Roma, am 29. 5. 1911. F.T. Marinettis Artikel La peinture futuriste im Pariser
Journal L´Éxcelsior vom 15. 2. 1912 transferiert Boccionis Vortrag ins Französische. (vgl.
Baumgarth 1966: 71; Lista 2003: online)
10
Vgl. auch Gino Severini, Die bildnerischen Analogien des Dynamismus. Futuristisches
Manifest, 1913, zit. in Baumgarth 1966: 189.
11
Hugo Riemann: „Musik ist beziehendes Denken“; somit ein künstliches und willkürliches
Konstrukt.
10
einbezogen, das Geräusch ist das triviale Material des Alltags, das die
selbstgefällig erhabene Kunst des Bürgertums (vgl. Stahl 1997: 76) infiltriert
und die Kunst mit dem Alltagsleben und der Wirklichkeit zu vereinigen sucht.
Über die Verwendung „armen“ Materials Geräusch, dessen Emanzipation im
Bruitismus und die Negation der „Abbildung“ von Themen und Interessen der
bürgerlichen Kultur (vgl. Zeller 2006: 262) zugunsten eines physischen
Transzendentalismus (Boccioni 2002 [1914]: 170ff) stellt die futuristische
Avantgarde,
zumindest
in
deren
theoretischen
Manifestationen,
die
Intermedialität in das Zentrum futuristischer Haltung. Die Übernahme der
verschiedenen medientechnischen, wissenschaftlichen, künstlerischen und
ideologischen Konzepte der Zeit führt zur Programmatik des Intermedialen mit
der
dilettierenden
Internalisierten
zu
Grenzüberschreitung
Neuem
zu
gelangen
als
Methode
(Jauk
2005a:
abseits
des
472).
Die
Grenzüberschreitung zwischen den Künsten wird – unabhängig von der
praktischen Anwendung – explizit auch in den häufigen Manifesten
theoretisiert und so stellen diese ebenfalls eine
Form von intermedialer
Transposition dar. Die theoretischen Schriften, Manifeste oder Vorträge
nehmen auf praktisch alle Lebensumstände, künstlerischen Ausformungen und
Wissenschaften (vgl. Henri Bergson, Albert Einstein, C. F. Gauß) jener Zeit
Bezug und integrieren sie in die futuristische Ideologie, was einen
programmatischen Dilettantismus zumindest impliziert.12
Der radikale Bruch, den der Futurismus Anfang des 20. Jahrhunderts anstrebt,
besteht im Begreifen der veränderten Sehweise durch die Urbanisierung, im
Verlassen des „hermetischen“ Kunstraumes, in der Technologie– und
12
„Die Futuristen waren Zuspätgekommene. Sie wollten eine Bewegung schaffen, doch waren
sie selbst die Bewegten. Sie wurden des Neuen nicht im eigenen Innern, sondern nur in der
äußeren Wirklichkeit gewahr. In der modernen Großstadt idealisierten sie das Ergebnis eines
strukturellen Wandels, den sie selbst in ihrem eigenen Bereich - dem Bereich der Kunst nicht nachvollzogen hatten. Der sozialgeschichtliche Umbruch, mit dem sie sich
identifizierten, blieb ihnen seinem Wesen nach völlig fremd. [...] In unzähligen Manifesten
umschreiben sie, was zu tun und was zu lassen sei und wie die neue Kunst aussehen sollte,
ohne dazu fähig zu sein, die jeweiligen Vorsätze in einer überzeugenden und gültigen Form
zu verwirklichen. Obwohl die Flut ekstatischer Proklamationen keine unmittelbaren
Resultate zeitigte, weckte sie unerhörte Hoffnungen auf eine völlig neue, ungeahnte Kunst
und [...] schuf damit einen geistigen Freiraum, wie ihn die europäische Kunst in diesem
Ausmaß noch nie gekannt hatte.“ (Bocola 1994: 315f)
11
Maschinenbegeisterung und im Dynamismus, in der Geschwindigkeit und der
Simultaneität
als
Paradigmen
technologischen
und
wissenschaftlichen
Fortschritts. Giacomo Balla verknüpft die Simultaneität der Bewegungsphasen
einer bürgerlichen Flaneurin und ihres Hundes (vgl. Giacomo Balla,
Dynamismus eines Hundes an der Leine, 1912) mit der fotografischen
Ausschnitthaftigkeit des Sujets und antizipierter urbanistischer Dynamik oder
die Simultaneität der Chronophotographie (vgl. Etienne – Jules Marey in
Mulligan / Wooters 2005: 300f) mit dem divisionistischen Simultankontrast
(vgl. Giacomo Balla, Mädchen, das über einen Balkon läuft, 1912).
Intermedialität ist somit explizit ein Zentrum futuristischer Haltung, Import
und Synthese externer medialer Typologien zeigen sich in sämtlicher
futuristischer Kunstproduktion und sind so eine
Funktion futuristischer
Interdisziplinarität.
Im physischen Transzendentalismus und in der non–kausalen Sichtweise der
Simultaneität wendet sich der Futurismus vom kausal–mechanistischen
Weltbild des Materiellen ab und dem Immateriellen zu. Wenn auch ein
„immaterielles“ Denken im Futurismus sich entsprechend erfahrungsabhängiger
Körper–Umwelt–Beziehungen
entwickelt,
die
implizite
Musikalisierung stellt sich in Form einer Illusion von Bewegung dar. Diese
Darstellung der Illusion von Bewegung ist gekennzeichnet von einem – nach
wie vor – mechanistisch orientierten Denken in virtuellen Kraftlinien, derer
entlang sich eine virtuelle – eine mögliche – Bewegung ausbreitet. Man
vergleiche hier das Denken in der Möglichkeitswelt des Doppelspaltexperimentes, wo dem Teilchen jeder mögliche Weg zum Detektorschirm offen
steht (vgl. Greene 2004: 212 – 218), oder die Unschärferelation Heisenbergs,
die besagt, dass ein Teilchen sich wahrscheinlicher weise an diesem oder
jenem Ort aufhalte. Im futuristischen Illusionismus findet sich aber auch noch
ein Rest romantischer Kunst–Tradition, durch die sich – unabhängig von deren
revolutionären Inhalten – schon wegen der Fülle an Manifesten futuristischer
Kunstvorstellung(en) wiederum eine Erhebung der geforderten Alltagskunst
auf die Ebene der Kunsttheorie und damit der höheren Kunst zeigt (Keppler
2001: online).
12
Konsequenterweise wird auch in den radikalen Postulaten zur Veränderung der
Musik im Sinn der futuristischen Destruktion der in der Romantik idealisierten
Trennung
der
Kategorien
Kunst
und
Leben
die
Einbindung
des
Alltagsgeräusches in das musikalische Werk impliziert. So kann als die
wirkliche Neuerung im Umfeld der futuristischen Musik die Emanzipation des
Geräusches gesehen werden, das, als eine Typologie des Lebendigen und
unmittelbare Hervorbringung des Alltäglichen, mit dem Künstlichen, dessen
Form eine idealisierend regelgerechte Verarbeitung ist, zum Künstlerischen im
Postulat Kunst / Leben verknüpft wird. Luigi Russolo, „eigentlich“
futuristischer Maler, emanzipiert das Geräusch aus der Umklammerung des
Profanen und entfernt die negative Punzierung des Lärms als niederes
Alltagsvorkommnis durch dessen explizite Hervorhebung im Bruitismus. Die
Emanzipation des Geräusches im Futurismus ist eine Form von intermedialem
Denken; hier werden Strukturen eines musikfremden Mediums, nämlich das
auch als solches konnotierte Alltagsgeräusch, als eine mimetische Entlehnung
aus der Alltagswelt in die Musik transponiert. Der künstliche Charakter der
geräuschhaften Mimesis bleibt durch die Künstlichkeit des Erzeugers, des
Klangapparates der Intonarumori (vgl. Russolo 1986 [1913]), erhalten. Hier
zeichnet sich der Futurismus durch einen gewollten, praktikablen und in der
Propagierung der Demokratisierung der Kunst theoretisch untermauerten
Dilettantismus aus. So ist Russolo als Maler ein – im Sinn des Wortes –
dilettierender Musiker, der die Strategie des Futurismus konsequent in der
Musik des Bruitismus umsetzt und dessen erheblicher Einfluss auf die Musik
des 20. Jahrhunderts sich generell auf die Musikalisierung der Kunst auswirkt.
„Die letzte Neuheit in der modernen Musik [...] ist nicht etwa die futuristische
Musik Balilla Pratellas [Anm.: ein ausgebildeter Musiker] [...]; ein besserer
Versuch, als es zunächst scheinen mag, ist die Geräuschmusik des Malers
Russolo.“ (Sebastiano Arturo Luciani 1919, zit. in Nicolodi 1999: 52).
Trotz der formalen Nähe zum Futurismus grenzt sich der Dadaismus von
diesem vor allem ideologisch ab, die Gemeinsamkeiten liegen in der konkreten
Poesie, genauer der Parole in libertà Marinettis und im Bruitismus Russolos.
Der dadaistische Aktionismus ist deutlich nihilistisch – und eine absurdistische
13
Reaktion auf das soziale Umfeld der Zeit des WK I. Die dadaistischen
Aktivisten konstituieren sich, im Gegensatz zu den Futuristen,
aus
Kriegsgegnern, Flüchtlingen, Deserteuren und Pazifisten (vgl. Partsch 2002:
50), deren – anfängliche – Aktivitäten im Züricher Cabaret Voltaire nicht durch
eine
kriegsbedingte
Zensur
beeinflusst
wurden.
Im
Gegensatz
zur
futuristischen, auf Technologie–Fetischismus und Fortschritts–Affirmation
basierenden, systemimmanenten Lebensbewegung im Zeichen einer Vielzahl
provokatorischer Manifeste, entwickelt sich im Dadaismus der Gestus der
Verweigerung und das Vergnügen am Provozieren.
Das körperbezogene Spektakel und die Geste, in sich ein Ausdruck
musikalischen Körperverhaltens, werden parallel zur dadaistischen Lautpoesie
in ein anarchistisch–hedonistisches Szenario eingebunden. Die Sprache wird
im dadaistischen Lautgedicht zum akustischen Material, sie verliert ihren
semantischen Wert reziprok zu ihrer Verklanglichung, das resultierende
akustische Material ist aber nicht völlig frei von Bedeutungen und lädt so mit
der assoziationsreichen Musikalisierung des Sprechens zur Imagination ein.
(Korte 1994: 55). Die Musikalisierung, in Verbindung mit der Zufälligkeit,
bedingt so vor dem Hintergrund der dadaistisch–subversiven Gegenhaltung
eine anarchische Wirklichkeitskonstruktion.
Exemplarisch ist das Element des Zufalls in Verbindung mit der poetischen
Aktion, die sich öfters mit Zweckfreiheit mischte (Tristan Tzara 1976 [1931]:
243). Tristan Tzara konzeptualisiert das Entstehen dadaistischer Gedichte im
Zusammenfügen von willkürlich einer Tüte entnommenen Zeitungsschnipsel:
„[...] Schneidet dann sorgfältig jedes Wort [...] aus und gebt es in eine Tüte. /
Schüttelt leicht. / Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. [...]“
(Tristan Tzara [1924] zit. in Korte 1994: 57).
Im zufallsgenerierten Konstruktionsprinzip verliert das Kunstbewusstsein
seinen Status des Außergewöhnlichen, des Romantisch–Genialen und so
erscheint in der dadaistischen Denkweise der Negation der Kunst folgerichtig
der Dilettantismus wiederum als die Avantgarde der Anti–Kunst. Die
Begriffsform der Anti–Kunst als Anti–Haltung und Reaktion auf bürgerliche
14
Bombast–Kunst findet sich – von den New Yorker Readymades Marcel
Duchamps über den gesamteuropäischen Dadaismus bis zu den russischen
Nitschewoki – in verschiedenen geographischen Zentren und wird durchaus als
eine Erscheinung des Zeitgeistes gesehen (vgl. Partsch 2002: 52; Korte 1994:
107).
Eine parallele Entwicklung als Anti – Haltung gegenüber einer aufklärerischen,
semiotischen Ästhetik (vgl. Bense 1971) der 1960er – Jahre wird sich später in
deren popkulturellen Halo im Hedonismus / Nihilismus der Punk–Kultur
zeigen.
Die postulierte Verbindung zwischen Kunst und Leben ist im Dadaismus, trotz
der dadaistischen Negation des Kunstwerkes, durch die notwendige
Extrapolation der Kunst im Kunst / Leben als Kunst bestehen geblieben. Die
sich unter anderen aus den Einflüssen des Dadaismus konstituierenden
Situationisten radikalisierten die Forderung nach der Überführung der Kunst
ins >Leben<, indem sie die traditionelle Kunst »abschaffen« wollten (Zeller
2006: 290). Die Verbindung von Kunst / Leben ist in der wechselseitigen
Anbindung beider Bereiche ein Ereignis, das die (inter)medialen Bezüge dieser
Verbindung voraussetzt. Die Funktion der angestrebten Verbindung von Kunst
/ Leben ist das mediatisierte Spektakel, die – im Selbstverständnis des im
deutschen Idealismus verhafteten Bürgertums notwendige – Autonomie der
Kunst als Sphäre zweckfreien Schaffens und interesse– und begriffslosen
Wohlgefallens 13 (Grimberg 2006: 191) wird durch die Verbindung der Kunst
mit dem authentischen Leben und so durch die Ästhetisierung des Alltags
ersetzt.
Der Amateur als Mitgestalter der dadaistischen Theorie ist einerseits eine Form
jenes kreativen Dilettierens, das die dadaistische Denkweise prägt, die als die
Parole „Dilettanten, erhebt Euch gegen die Kunst!“ in der Installation Der
13
Vgl. Immanuel Kant, (1790), Kritik der Urteilskraft, Erstes Moment des Geschmacksurteils,
§5: „Aus dem ersten Momente gefolgerte Erklärung des Schönen. Geschmack ist das
Beurtheilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein
Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen
Wohlgefallens heißt schön.“ (Kant 1913 [1790]: 48).
15
Preussische Erzengel 14 erscheint und andererseits ist dies ein Anfang einer
Horizontalisierung der Kunst. Die Egalisierung der Verhältnisse zwischen
Produzenten und Konsumenten und die Umkehrung (Reversion der Wertigkeit)
im Kunstprozess vom Rezipienten zum Produzenten ist eine Hinwendung vom
Besonderen zum Allgemeinen, die sich im Hedonismus begründet (Jauk 2004b:
229). Die Collage und die Montage, bevorzugte Techniken des Dadaismus,
sind Techniken des Trivialen in Anwendung von banalen Materialien der
Alltagskultur, eine Bricolage (Lévy – Strauss 1972: 29f) von Fundstücken, die
dekonstruiert und neu kontextualisiert werden. Die Collagen und Montagen
sind darüber hinaus Paradigmen intermedialer Ästhetik in einem Verbund des
Kunst / Lebens, es sind medienästhetische Verfahren, die aus ihren
ursprünglichen Signifikations–Kontext gelöst, und als Grundlage für neue
Bedeutungsprozesse fungieren (vgl. Bonz 2002: 14). In Verbindung mit der
dadaistischen Dilettantismus–Doktrin (vgl. Dadaistisches Manifest in Asholt /
Fähnders 1995: 145ff) ergibt sich ein offener Möglichkeitsraum der Kunst, in
dem
das
musikalische
Paradigma
des
beziehenden
Denkens
Wahlmöglichkeiten schafft. Der dem Dadaismus wie auch dem Punk
zugeschriebene Nihilismus scheint somit extrem empfundenen Künsten
inhärent zu sein, denn letztlich wird extreme Kunst [...] immer Nihilismus
ermöglichen, da sie ganz generell Wahlmöglichkeiten schafft (Marcus / Stöger
2006).
Das Postulat des anyone can do it ist eine, in enger Verknüpfung mit der
Popkultur und vor allem mit dem Amateurismus der Beat Generation stehend
und ist im DIY (Anm.: Do–It–Yourself) des Punk und Indie–Pop
weitergedacht. DIY ist im Punk ein wichtiger Faktor der Horizontalisierung,
denn das D.I.Y. Postulat führt zu eigenständigen musikalischen Konventionen,
die einzig und allein die Funktion erfüllen, den authentischen Charakter der
Musik aufrechtzuerhalten (Budde 1997: 50); wenngleich die Musik auch nicht
von allen gemacht wird, sie könnte von allen gemacht werden. Die
Mechanismen stilistischer Armut sind im Punk wie im Dadaismus eine
durchaus gewollte Attitüde einer fiktiven Working Class Boheme (Budde 1997:
14
John Heartfield und Rudolf Schlichter 1920; Erste internationale Dada – Messe.
16
94), hier wie da werden die Genrespezifischen Vorgänger durch einen
künstlerischen Minimalismus und Reduktionismus konterkariert. Der Punk ist
eine Antwort auf einen wirklichkeitsfremden, kontemplativen Klangbombast,
den bis ins letzte ausgefeilten Klanggebilden einer auf »Inhalt« bedachten
Rock»kunst« war ein herausfordernder Dilettantismus entgegengestellt (Wicke
1987: 190), der Dadaismus gibt der futuristischen Worttechnik einen
karikierenden [...] Sinn, der ihr ursprünglich fremd war (Baumgarth 1966:
141).
Punk ist in musikalischer und soziologischer Gestalt ein polystrukturelles
Ereignis und somit ein übertragbares Phänomen, die der Musik des Punk
immanente Anästhetik (vgl. Welsch 1993: 10) bietet verschiedene Ebenen
komplexer Bearbeitungs– und Rezeptionsmöglichkeiten. In der subkulturellen
Kommunikation mit der Umwelt wird der Stil ein Angriff auf die Syntax des
Alltagslebens (Hebdige 1983: 96), der Punk zum Bricoleur, der Diskurs wird
durch die Bricolage und deren anarchistische Deutung unterminiert, das rückt
Punk in die Nähe von Dada und umgekehrt. Die Zusammenhänge von
Dadaismus, Situationismus und Pop–Art finden sich nach Malcolm McLaren in
den Sex Pistols:
„Nachdem ich dann die Antimode kreiert hatte, eine Mischung aus billigem,
zerfetztem Straßen-Look und S&M-Chic, kam die Antimusik.“ (McLaren /
Reinert 2001).
Der in den verschiedenen Manifesten per Eigendefinition parodistisch –
paradoxe Dadaismus sieht sich im Dadaistischen Manifest (1918) als der
alleinige Vertreter einer Gegenkunst im Maschinenzeitalter (Seifert 2004: 129).
Die bruitistische Musik Russolos wird – ohne deren Philosophie zu
hinterfragen – von den Dadaisten mit den bruitistischen Lautgedichten zum
Gesamtkunstwerk propagiert. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die
Rezeption der dadaistischen Manifeste kaum Aufschluss über das künstlerische
Wollen der Dadaisten gibt, im Gegensatz den Manifesten futuristischer
Gründlichkeit und mit einer Botschaft (vgl. Luigi Russolo, L´arte dei rumori,
1913):
17
“Man darf also genau genommen kaum Aufschlüsse über Wesen und
Stoßrichtung des Dada erwarten, wenn man die Manifeste studiert, weil sie
nicht nur uneinheitlich, sondern auch zu bunt widersprüchlich und stärker der
Selbstironie verpflichtet sind als der Aufklärung über das künstlerische
Programm“ (Petersen 2006: 126).
Die Verwendung von verschiedenen radikalen ästhetischen Prinzipien weist
eine gewisse ästhetische Prinzipienlosigkeit (Petersen 2006: 126) auf und ist
programmatisch für den dadaistischen Dekonstruktivismus, so übernahmen die
Dadaisten den Bruitismus der Futuristen und setzten ihn für ihre
kabarettistischen Zwecke ein (vgl. Jürgen Bohle zit. in Korte 1994: 50). Die
Emanzipation des Geräusches, im Futurismus von Luigi Russolo postuliert,
findet im Dadaismus seine Dekonstruktion: Während der musikalische
Futurismus das Lebendige, das Alltags–, Umwelt–, Kriegsgeräusch mit dem
künstlichen Klang der Intonarumori zum Künstlerischen verbindet, wird das
Geräusch und Spektakel bei den Dadaisten zur Nicht–Kunst.
„Nichts
war
uns
heilig.
Unsere
Bewegung
war
weder
mystisch,
kommunistisch, noch anarchistisch. Alle diese Bewegungen hatten eine Art
Programm, aber unseres war vollkommen nihilistisch. Wir spuckten auf alles,
uns eingeschlossen. Unser Symbol war das Nichts, ein Vakuum, eine Leere.“
(George Grosz zit. in Hebdige 1983: 97).
Es wird deutlich, dass Dada nicht in das Konzept der Homologie passt, das der
Subkultur im Allgemeinen und dem Punk im Besonderen zugeordnet wird; die
Ähnlichkeiten sind nicht in der einheitlich subkulturellen Gruppe, sondern in
der nihilistischen Ideologie, der Provokation und der Verweigerung zu sehen.
Malcolm McLaren erfindet im Bewusstsein des Situationismus die Sex Pistols
– stellvertretend für den Punk – als Antikunst gegenüber der Rock–Hochkultur
und deren kapitalistisches Ausbeuterimage.
In
den
futuristischen
Manifesten
wird
die
Einbindung
industrieller
Errungenschaften und des technischen Fortschritts in die Ästhetik gefordert
und auch, ohne dieses so exakt und / oder explizit zu planen, ein Programm für
die (Wieder)Zusammenführung von Kunst und Leben im 20. Jahrhundert
erstellt. Das Konzept der Brüder Luigi und Antonio Russolo, mit den
18
Intonarumori das urbane Geräusch in musikalische Formen zu implementieren,
scheitert zwar zu seiner Zeit an der technischen Machbarkeit, es nimmt aber
die Überwindung der Natürlichkeit
zugunsten der Künstlichkeit
als
popkulturelle Entwicklung des späten 20. Jahrhunderts vorweg. Dies wird
später mit dem technologischen Fortschritt realisiert und diffundiert über
Institutionen der Bildungselite in die Allgemeinkultur.
Die andere Seite derselben Medaille ist der praktizierte Nonsens der Dadaisten,
der Zufall – im Sinne der Erzeugung von Chaos („Bruitismus ist das Leben
selbst“ [Richard Huelsenbeck zit. in Korte 1994: 50]) – ist der radikale
Versuch, das Rationale und dessen willentliche Prägungen zu überwinden und
sollte keine referentielle Beziehung zum Außen haben. Die Zusammenführung
von Kunst / Leben ist im Dadaismus eine Schnittmenge aus Chaos und dem
mit dessen Realisierung einhergehenden Hedonismus.
2.2
Bergson, Duchamp, Erratum musical / John Cage 15
Im Fin de siècle 16, einer Epoche radikaler Urbanisierung und Technisierung,
entsteht in Folge eines im 19. Jahrhundert parallel zu einem elitären
Bildungsbürgertum ausgebildeten Szientismus, vornehmlich bei Künstlern und
Intellektuellen eine ambivalente Haltung gegenüber der beschleunigten
Großstadt und auch der Wissenschaftsgläubigkeit und der Übermacht von
Szientismus und Determinismus (vgl. Buck 2003: 156f). Einerseits üben der
wissenschaftliche Fortschritt, die technologischen Neuerungen und die
dynamisierten urbanen Zentren Anziehungskraft aus und andererseits verbreitet
sich eine Desillusionierung, die auch auf eine soziale Informalisierung als
substanzielle Erhöhung sozialer und existenzieller Unsicherheit durch die
Auflösung von Normen der industrialisierten Gesellschaft zurückgeht.
Die Epoche ist eingebettet in eine Balance zwischen Zukunftseuphorie und
Endzeitstimmung, es entsteht eine ästhetizistische Gegenwelt verschiedener
Interessensrichtungen wie Dandys, Flaneuren, Dilettanten, Bohèmiens, (vgl.
15
16
Vgl. Griebler, Erratum Wirklichkeit (Griebler 2010).
Der ungefähre Zeitraum von 1890 – 1914.
19
Beyme 2005: 35ff) als transdependente Subkulturen. Gemeinsam ist diesen
Subkulturen die Abwendung von einem positivistischen Fortschrittsglauben,
eine
neurasthenisch
gesteigerte
Sensibilität
und
ein
ästhetizistischer
Eskapismus (vgl. Haupt / Würffel 2008). In dieser Periode einer
individualistischen Renaissance mit einer Tendenz zu Spiritualismus und
Mystizismus stellt Henri Bergson einen Gegenentwurf zum, zu dieser Zeit
paradigmatisch gültigen, linearen Zeitverständnis vor. Bergson postuliert die
These der Intuition der Dauer 17, die mit der Unterwanderung der mathematisch
messbaren Zeit durch das subjektiv empfundene Zeiterleben, eben auch die
Hegemonie der Exaktheit in den Naturwissenschaften in Frage stellt. Die
Beschreibung (subjektiver) Wirklichkeit im objektiv–empirischen Zusammenhang im Psychologismus wird von Bergson und auch Martin Heidegger
(vgl. Heidegger 1978 [1913]: 55ff) in Frage gestellt. Der Psychologismus des
19. Jahrhunderts bezieht sich auf die Logik als Erkenntnislehre (vgl. Lipps
1923) und beschreibt die Psychologie als Basis aller Wissenschaften, insofern
sei der Erkenntnisvorgang als ein rein psychischer Prozess streng von der
Philosophie zu trennen.
Das lineare Zeitverständnis, das im Umfeld der deterministischen Physik
Newtons die Neuzeit bestimmend prägt, ist ein kataphorisch orientiertes. Ohne
lineares
Zeitverständnis
wären
die
gesellschaftlichen
Bezüge
und
Vereinbarungen unter den Menschen der Neuzeit und die Koordination von
Handlungen so nicht möglich geworden (vgl. Sandbothe 2002). Nicht zuletzt
im industriellen Zeitalter ist das (bei der Synchronisation von Uhren) die
Möglichkeit, unsere Handlungen mit den Handlungen anderer Menschen zu
koordinieren, um Wirklichkeit verändernd zu gestalten und mit der Umwelt auf
intelligente Art und Weise zu interagieren (ebd.). Das lineare Zeitverständnis
ist das der irreversiblen Zeit, definiert über eine empirisch beobachtbare
17
„Der zentrale Begriff der Philosophie Bergsons ist […] der Begriff der Dauer (la durée)
[…]. Die Dauer muss in Opposition zum Raum (espace) gesehen werden, und weiterhin, dass
sie von der Zeit (temps) zu unterscheiden ist. Dauer und Raum sind entgegengesetzte Pole
und die Zeit ist eine unreine Mengform beider“ (Einleitung v. Ernst Oger in: Bergson 1991
[1908]: XII]).
20
Asymmetrie von Zeit 18 (den Zeitpfeil), eine nicht wiederkehrende Zeitbewegung wird nach kausal–mechanistischen Prinzipien beurteilt. Sie wird durch
eine Gedächtnisleistung, wie der Geschichtsschreibung, dokumentiert und
ermöglicht mittels Erfahrungswissen eine antizipative Zukunftssicht.
Die Zeitvorstellung von Henri Bergson beinhält eine Kritik an Kants Definition
von homogener Zeit einerseits und andererseits die der Vorstellung einer Zeit
als subjektabhängige innere Dauer (durée). Bergson deutet die Zeit in Distanz
zu Kant nicht als apriorische Eigenschaften der Dinge, sondern die Zeit sei
eines 19 der Schemata unserer Wirksamkeit auf die Materie (Bergson 1991
[1908]: 210). Als solches konstituiert sich die Dauer bei Bergson nicht als
abstrakte
Folge
[von
Sukzessionen],
sondern
als
wechselseitige
Durchdringung und [kann] damit Zeit (Folge) und Gegenwart (Simultaneität)
zugleich sein. Das bedeutet, daß innerhalb der ursprünglichen Dauer
Gegenwart und Zeitfolge überhaupt noch nicht unterschieden sind und
unterschieden werden können. (Kümmel 1962: 21 – 22).
In der klassischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird dieser
neuformulierte Zeitbegriff – als Artefakt eines naturwissenschaftlichen
Paradigmenwechsels – in verschiedenen Ausformungen übernommen, es
wurden Prinzipien entwickelt wie die transzendente Dimension der Zeit
künstlerisch zu verarbeiten war. Neben den Kubisten und de Stijl waren dies
die Futuristen, die sich mit der neuen Gestaltung in vier Dimensionen
beschäftigten und die eine neue, erweiterte Sensibilität für eine simultane
Gesamtheit des Ereignisses postulierten. Während der Futurismus die
Vorstellung von Intuition an der Simultandarstellung exemplifiziert 20, ist die
Verwendung des Zufalls über den Begriff der Indeterminiertheit (vgl. Bergson
1991[1908]: 26ff, 51ff) im Dadaismus in Verbindung mit Sinnfreiheit (als dem
Verlust der Ikonografie) und Dilettantismus exemplarisch.
18
Einige Gedankenexperimente zu einer theoretisch möglichen, in der Realität aber nicht
beobachtbaren Umkehr der Bewegungsrichtung der Zeit finden sich in einem Essay von
Thomas Richter (vgl. Richter 2007).
19
Das zweite wäre der homogene Raum.
20
Ohne expliziten Bezug auf Bergson. Bergson wird bei Marinetti ein einziges Mal und bei
Boccioni lediglich am Rande erwähnt, in einem Hinweis auf die Synthese von Intuition und
Sinnlichkeit (vgl. Hinz 1985: 83 – 86).
21
Das Denken und die Diskussion um die Zeit als vierte Dimension des Raumes
erzeugt einen parawissenschaftlichen Diskurs, den sich Marcel Duchamp – mit
der ihm eigenen feinen Ironie – aneignet und den Aspekt des Visuellen, die
Ästhetik des Sehens karikiert, insofern explizit nicht–artifizielle Gegenstände
zum Kunstgegenstand erhoben werden. Demensprechend sieht Duchamp erst
in der konstruktivistischen Komponente des Rezipierens die Vollendung des
Kunstwerkes, nämlich in der dem Konzept sinngebenden Wahrnehmung durch
das Rezipieren. Die Vorstellung, dass die vier Dimensionen der Raumzeit so
miteinander verwoben sind, dass ein dreidimensionales Objekt, das um eine
Dimension und deren Informationsgehalt verminderte Repräsentativ eines
vierdimensionalen Objekts sei, verarbeitet Duchamp in den Arbeiten Das
Große Glas 21 (1915 – 23) und Trois Stoppages – Étalon22 (1913 – 14). Das
mathematische Postulat eines sich nur über eine abstrakte Imagination, nicht
jedoch über ein konkretes Erfahrungswissen erschließenden vierdimensionalen
Raumes, wie es Henri Poincaré 23 formulierte, war bei dieser Arbeit
grundlegend.
Duchamp eignete sich die nicht–euklidische, vierdimensionale Geometrie
Poincarés 24 an, um einerseits die in der abendländischen Malerei gängige
Praxis des euklidischen Raummodells in Frage zu stellen, andererseits eine
Erkenntnis eines unzugänglichen, mit den Wahrnehmungsmöglichkeiten des
Menschen nicht fassbaren, Kontinuums zu vermitteln (vgl. Molderings 2004:
116). Die Schnitte durch die postulierte vierdimensionale Raumzeit Geometrie
(vgl. Poincaré 1974 [1902]: 71f) seien vergleichbar mit dem Schlagschatten,
den ein dreidimensionales Objekt auf eine Fläche wirft, oder aber mit einer
Leinwand auf der sich höher dimensionale Objekte, mathematischen Regeln
folgend, abbilden (ebd.). Duchamp bediente sich des Poincaréschen
Konventionalismus mit der ihm eigenen Meta–Ironie (vgl. Bocola (1994: 292).
21
auch: Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar.
Auch „Musterfäden“, Duchamps ironische Hommage an das Ur – Meter.
23
„Duchamp schöpfte sein Wissen über die moderne geometrische Raumtheorie hauptsächlich
aus Henri Poincarés Abhandlungen Wissenschaft und Hypothese (1902), Wert der
Wissenschaft (1905) und Wissenschaft und Methode (1908)“ (Molderings 2007: 231).
24
Schon Bernhard Riemann formulierte 1854, ausgehend von C. F. Gauss, einen Ansatz zur
Beschreibung n – dimensionaler Flächen, die später als riemannsche Mannigfaltigkeiten die
Relativitätstheorie beeinflussten.
22
22
„Ich fand heraus, daß der Schatten eines dreidimensionalen Objektes eine
zweidimensionale Form konstituiert, [...] und schloß daraus, auf analogischem
Weg, daß die Vierte Dimension ein Objekt mit drei Dimensionen projizieren
könne, [...] daß alle dreidimensionale Gegenstände [...] Projektionen von
vierdimensionalen Gegenständen sind. [...] Eine sophistische Argumentation
zwar, aber immerhin im Bereich des Möglichen.“ (Marcel Duchamp im
Gespräch mit Pierre Cabanne 1966, in: Cabanne 1972 [1966]: 53f).
Jeder zufällig gewählte Gegenstand lässt sich also als ein Abbild, als n–1
dimensionale Projektion einer unsichtbaren n–dimensionalen Entität verstehen
(Molderings 2007: 228) und so ist das durch die Signatur bestätigte
Readymade eine parazufällige Manifestation eines Wirklichkeitsausschnittes.
Dementsprechend ist das Readymade keine künstlerisch–subjektive Intention
oder ein Sujet des Wahrnehmbaren, sondern eine Form der medialen
Sichtbarmachung (vgl. Wetzel 2007: 149) über das Medium (Kunst)Werk als
Artefakt des kreativen Prozesses. In Duchamps Konzeptkunst wird die
Gestaltung (auch der Zeit) an eine außerhalb der erfahrungsgestützten
Wirklichkeit
agierende
Instanz
delegiert,
die
als
Einbindung
des
Zufallsprinzips die Unbestimmtheit in das künstlerische Konzept einbringt.
Das Artefakt wird, aufgrund chaotischen Verhaltens der Beziehungen aller
relevanten Einflüsse zueinander, eine explizit indeterministische Position zur
Ausgangssituation des Konzeptes einnehmen (vgl. Trois Stoppages – Étalon).
Somit ist das (Kunst)Werk eine Manifestation jener Unschärfe des
Wirklichkeitsausschnittes, die dem Rezipienten zur Verfeinerung dieser
künstlerischen Rohmasse (Wetzel 2007: 149) zur Verfügung gestellt wird.
Duchamp
übernimmt
im
Erratum
musical
das
Zufallsprinzip
als
Kompositionsform und den Gedanken des Readymade als Form des medialen
sichtbar–Machens, dessen Gesamtheit in einem höher dimensionalen Raum
existiert und im musikalischen Konzept der Zufalls–Komposition zugänglich
wird. Das Konzept des Erratum musical verbindet die – musikalische –
Gestaltung der Zeit mit der Abkehr von der Künstlerpersönlichkeit und einer
Hinwendung zum absichtsvollen Dilettantismus wie es auch in den Konzepten
des Fluxus der 1960er Jahre zu erkennen sein wird. Die Immaterialität (im
23
Sinne von Stofflosigkeit) der konstitutiven Elemente Ton / Klang 25
neutralisiert die retinale Komponente 26 der Kunst zugunsten der mental–
kognitiven Zugangsform. Die Loslösung von der visuell dominierten Ästhetik
der retinalen, also der Netzhaut–Kunst des romantischen Idealismus, liegt in
der Transzendenz, deren adäquates Formmittel die immaterielle Struktur von
Musik ist. Als willkürliches Zeichensystem ist der Musik die Immaterialität zu
eigen (vgl. Jauk 2005: 503) und in der Willkürlichkeit des Zeichensystems
Musik liegt auch deren Prozesshaftigkeit, in der relativen Offenheit der
Semantik dieses Zeichensystems ist das Werk permanent im Werden.
Die zufallsgesteuerte Musikkomposition hat jedenfalls nichts mit einem
ästhetischen Gesamturteil zu tun, das – musikalische – Readymade ist nicht an
den persönlichen Geschmack gebunden und kann als jederzeit verfügbare
Massenware der artifiziellen Einmaligkeit entkommen. Erratum
musical
ersetzt Virtuosität und Komposition durch die Freiheit des Zufälligen und der
befreiten Form, das bedeutet für Duchamp das Erscheinen 27 durch die
Symbolik der Beziehungen. Das – nach Duchamp – unabgeschlossene Werk
ist
in permanentem Werden, einem Prozess, dessen Elemente die
musikalischen Strukturen Immaterialität und daran unmittelbar gekoppelt,
Information sind. Aus dieser Sicht ist das Zur–Verfügung–Stellen von
Information jene ästhetische Osmose die als kreativer Akt des Rezipienten
dessen Rolle bestimmt, das tatsächliche Gewicht des Werkes auf der
ästhetischen Waage zu gewichten. (Duchamp 2002 [1957]: 43f).
Musical Sculpture (um 1916 / 1934) ist eine Handlungsanweisung für eine
Formwahrnehmung im Raum durch deren akustische Parameter, im Gegensatz
zu den beiden Errata musicaux 28 ist hier das Zufallsprinzip nicht explizit, die
25
Diese Differenzierung in der Musik, im Gegensatz zur Akustik, bezieht sich auf mehrere,
sich überlagernde Sinusschwingungen mit ganzzahligen (Ton) Frequenzverhältnissen und
nicht ganzzahligen (Klang) Frequenzverhältnissen (vgl. Hall 1997: 146ff).
26
[...] Duchamp rejected „retinal“ painting precisely in order to deny this conventional,
passive viewing experience. (Kuenzli 1989: 8).
27
[Duchamps] Notizen definieren [...] die Erscheinung als sinnlichen Gesamteindruck des
Gegenstandes, Erscheinen dagegen als das Bezugssystem des Gegenstandes, das nicht selbst
sichtbar ist, dennoch auf die Erscheinung wirkt und der Erscheinung zugrundeliegenden
Wirklichkeit vorausgeht. (Held 1997: 22 – 23)
28
Erratum Musical (1912) und La mariée mise à nu par ses célibataires, même. Erratum
Musical (1913).
24
Kognition eines skulpturalen Gebildes sollte – ausschließlich – durch dessen
akustische Parameter erfolgen:
"...like...luminous electric lights which light up successively, a line of identical
sounds could turn around the listener in arabesques (on the right/ left/ over/
under)...To develop: one could, with training of the listener's ear, manage to
draw a profile which resembles and is recognizable – with more training make
large sculptures where the listener would be at the center. E.g. an immense
Venus de Milo made with sounds around the listener – this probably
presupposes training the ear from childhood and for several generations.
(Paul Matisse / Marcel Duchamp: note 183, zit. in James 1989: 114)
Die Raumerfahrung der Form über akustische Parameter des Klanges oder
simpler, die des Lautes ist die Konstruktion eines imaginären Raumes durch
das Erfahrungswissen um akustische Sinneswahrnehmungen. Wenngleich die
Theorie der musikalischen Skulptur einen konkreten Raum impliziert, ist es im
Gegensatz zu Eric Saties musique d’ameublement die Unschärfe, die nicht
konkreten Beziehungen, Knotenpunkte und deren Differenz, die ein solches
Gebilde ahnen lassen. Parallelen zum Denken Bergsons über die Intuition der
Dauer sind in der intuitiven Wahrnehmung einer Musical Sculpture und deren
Gesamtheit der klanglichen Zeitgestaltung erkennbar.
„[...] Dass Bergson einerseits die Erkenntnis der Realität als unmittelbar und
durch Intuition fassbar beschrieben hat und andererseits an Mechanismen
glaubte, die kinematografischer Natur sind, heißt, dass Abläufe (ähnlich wie
im Film) automatisch zusammengerafft werden und letztlich zeitliche
Zuständlichkeiten in die Gegenständlichkeiten einer Dauer überführt werden.“
(Motte – Haber 1990: 37).
Der imaginäre Raum, den die musikalische Skulptur einnimmt, definiert sich in
den Beziehungen zu der pataphysischen 29 (vgl. James 1989: 114), sinnlich
unrealisierbaren Dimension, die Schlagschatten (vgl. Molderings 2007: 228)
dieser Beziehungen werden durch das ephemere Material Klang formalisiert.
29
Pataphysik; Ein Terminus des Schriftstellers Alfred Jarry (1893), der ein einigermaßen
absurdistisches Wissenschaftskonzept beschreibt.
25
Der Paradigmenwechsel in den Raum / Zeit Vorstellungen im 20. Jahrhundert
mit
dem Postulat
der vierdimensionalen Raumzeit
evoziert
in der
Zeitphilosophie drei grundsätzliche Tendenzen aktueller Zeitperspektiven
(Sandbothe 1997: 42). Einerseits die Aufhebung des Konfliktes zwischen
physikalischem und philosophischem Zeitdenken, der für die Zeitphilosophie
des beginnenden 20. Jahrhunderts charakteristisch war und wo im Umfeld der
Selbstorganisationstheorie Methoden entwickelt werden, diese Dualität zu
überwinden.
Zweitens
deren
Antipoden,
die
eine
unhintergehbare
Inkommensurabilität von Geschichtszeit und Naturzeit sehen (Paul Ricoeur,
zit. in Sandbothe 1997: 43).
Die dritte Tendenz nach Sandbothe ist eine Tendenz zur Historisierung und
Relativierung der Zeit, die von dem Grundgedanken ausgeht, dass die Zeit
Aspekt eines kulturell divergierenden und sich innerhalb einer Kultur
geschichtlich
wandelnden
Weltverständnisses
ist.
Der
amerikanische
Pragmatist Richard Rorty vertrat dementsprechend die These, dass alles, die
Sprache, das Bewusstsein, die menschliche Gemeinschaft, Produkte von Zeit
und Zufall sind und als kontingent behandelt werden sollten. Kommunikation
in einer bestimmten Form von Sprache evoziere ein bestimmtes Weltbild,
verändert sich die Sprache, so ändert sich auch das Weltbild. Demnach sei die
Zeit nicht zu mystifizieren, sondern die konkreten Zeitverhältnisse, die unser
Leben in unterschiedlichen Bereichen auf je unterschiedliche Weise
bestimmen, [seien] radikal reflexiv als Kinder des Zufalls [zu] verstehen.
(Rorty zit. in Sandbothe 1997: 44).
Die in Duchamps konzeptuellen Arbeiten aufgenommene Prinzip des Zufalls,
der Unbestimmtheit findet sich auch bei John Cage als Indeterminacy in der
kompositorischen Vorgangsweise. Einerseits werden in der grafischen Notation
die offenen Möglichkeiten der vorliegenden grafischen Handlungsanweisung
an den ausführenden Agenten weitergegeben, dieser unterliegt in der
Ausführung einer Art neuronal–kybernetischen Regelkreis, da die grafische
Notation unbestimmte Tonhöhen suggeriert, die sich verändern können,
während sie hervorgebracht werden (Motte – Haber 1990: 245). Der Rückzug
des kompositorischen Subjekts von der aktiven Gestaltung von Zeit – in der
26
grafischen Notation – (ebd.: 238) hebt wegen ihrer Unbestimmtheit und so
durch den ständigen Prozess der Veränderung der musikalischen Gestalt die
Erfassung von Musik im Sinn der Bergsonschen durée auf. Andererseits wird
die Methode der Komposition von Cage an eine außerhalb von kausalen
Prinzipien befindliche, metaphysische Instanz delegiert, das Prinzip der
Synchronizität setzt über zufällige Methoden des Kompositionsvorganges die
individuelle Zeitlichkeit und die Kausalbeziehungen außer Kraft.
Die zufällige Ermittlung von musikalischen Zeitmaßen, in denen in einem
nicht–intentionalen
Zusammenhang
stehende
Alltagsgeräusche
das
musikalische Werk bilden, wie in John Cages Stück 4´33´´, sieht die Zeit als
konstitutiven Parameter des Raumes. Der Raumzeit–Ausschnitt 4´33´´ definiert
den Raum so über die subjektiv stochastische Dynamik synchronistischer
Ereignisse. Der Prozessbegriff, der das zeitliche Moment des musikalischen
Werkes betont (vgl. Sanio 2004: 361), ist im Zusammenhang mit aleatorischen
Kompositionsformen und deren chaotisch–dissipativen Strukturen im engeren
Sinn nicht aufrechtzuerhalten. Die aleatorischen Kompositionen, deren
scheinbar nicht verknüpfte Einzelheiten sich einer kausallogischen Artikulation
von Zeit und somit auch dem Prozessbegriff entziehen, sind eine
Zeitkonzeption, die den isolierten Augenblick favorisieren (vgl. Kutschke
2002: 111) und
ersetzen
die Form der linearen Zeit durch die der
Synchronizität.
Die Form der linearen Zeit beschreibt eine geschichtsorientierte, durch
Gedächtnisleistung dokumentierte, irreversible Zeit, sie ist kataphorisch
orientiert und ermöglicht unter Voraussetzung empirischen Wissens eine
antizipative Zukunftssicht. Ohne dieses Zeitmodell wären wohl gesellschaftliche Bezüge, Vereinbarungen und technologische Innovationen in der Neuzeit
und / oder im industriellen Zeitalter nicht möglich gewesen:
„Die Geschichte der Industrialisierung basierte auf dem linearen Zeitmodell.
Wie Lewis Mumford feststellte, war deshalb die Uhr und nicht die
Dampfmaschine das wichtigste Instrument der industriellen Moderne. Für das
kommende Zeitalter der Telematik gilt das alte, lineare Zeitmodell jedoch
27
nicht mehr, vielmehr entwickelt sich zunehmend ein nichtlineares Verständnis
der Zeit.“ (Schmidt 1999: online Kap 3.2).
Der Begriff der Synchronizität stammt von Carl Gustav Jung, der mit
Wolfgang Pauli über Ereignisketten diskutierte, die in keinem offensichtlich
kausalen Zusammenhang standen. Jung und Pauli verbindet die Untersuchung
von symmetrischen Mustern zum einen im Unbewussten (Jung nennt das später
das kollektive Unbewusste) und zum anderen im Teilchenbereich (Pauli
formuliert das Ausschließungsprinzip 30 für Teilchen gleichen Zustandes im
Atom). C.G. Jung definiert Synchronizität als eine zeitliche Koinzidenz zweier
oder mehrerer kausal nicht miteinander verknüpfter Ereignisse (Peat 1989b:
32), eine ähnliche Beschreibung findet sich bei F. David Peat als das sinnvolle
Zusammentreffen
kausal
nicht verbundener
Geschehnisse (ebd.:
43).
Synchronizität ist ein Zeitmodell, das im Zufall lediglich nicht erkennbare
Verknüpfungen erkennt, es ist der besondere Aspekt von Sinn und Bedeutung
(vgl. Peat 1999: online), der Ereignisse mit zeitlicher Koinzidenz in eine non–
kausale Wechselwirkung treten lässt.
Im Modell der Synchronizität verbindet nicht die kausale Kette von Ursache
und Wirkung Ereignisse, sondern der in ihrer Gleichzeitigkeit verborgene
tatsächliche gemeinsame „Sinn“. Jung benutzte den Begriff der Synchronizität
auch als Verbindung zu der Philosophie des Dao. In der Praxis des Daoismus
erreicht der Mensch die innere Harmonie nicht durch das verstandesgemäße,
bewusste Handeln, sondern durch die Intuition, sich dem Lauf und den
Wandlungen der Phänomene anzupassen.
„Die Wissenschaft des I Ging beruht nämlich nicht auf dem Kausalprinzip,
sondern auf einem bisher nicht benannten, weil uns nicht bekannten Prinzip,
das ich versuchsweise als synchronistisches Prinzip bezeichnet habe.“ (C.G.
Jung, zit. in Peat 1989b: 31).
30
Nach dem Paulischen Ausschließungsprinzip können sich zwei gleiche Materieteilchen
(Anm.: jene Teilchen mit dem Spin ½) nicht im gleichen Zustand befinden, das heißt sie
können innerhalb der Grenzen die die Unschärferelation steckt, nicht die gleiche Position und
die gleiche Geschwindigkeit haben. (vgl. Hawking 1988: 92).
28
Der während der Komposition angeregte Prozess zufälliger Ereignisse setzt das
gelassene Akzeptieren der Verantwortungslosigkeit gegenüber den Dingen, die
vorkommen könnten, voraus. Das verdeutlicht die Haltung John Cages
gegenüber der Beziehung und Differenz zwischen Kunst und Leben, Kunst ist
eine Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert 31 (Cage zit. in Sanio 2004:
364; Cage 1973: 139). Eine weitere Form von synchronistischem Denken bei
Cage und auch George Brecht ist die Verwendung und der zufällige Einsatz
von Readymades, wie Spielkarten oder Unreinheiten im Notenpapier, als ein
Verweis auf die Gleichwertigkeit des Alltäglichen in Kunst und Leben.
In der multimodalen Vernetzung, die dem Prinzip der Synchronizität immanent
ist, müsste das simplifizierte Modell der Kausalketten also ersetzt werden
durch komplexe Kausalnetzwerke, in denen letztlich „alles alles andere
verursacht“ (Peat 1999: online). Dies revidiert das Verständnis und die
Konzeption von Zeit dahingehend, dass die in der Theorie nichtlinearer
Systeme postulierten Phasen und Phasenübergänge (vgl. Briggs / Peat 1990: 34
– 38) Strukturen jener Kausalnetzwerke sind, die auch auf die Prozesse der
Kreativität und der damit verbundenen Zeitkonzeption wirken:
„Zeit konstituiert sich nicht mehr über kausal miteinander verknüpfte,
reversible oder determinierte Ereignisfolgen, sondern muss, wie Prigogine
betont, auch Elemente des Sprunghaften und kausallogisch Nicht–Mehr–
Nachvollziehbaren in sich aufnehmen.“ (Kutschke 2002: 198).
Cage verbindet die Idee des musikalischen Prozesses mit der Abkehr vom in
sich geschlossenen Werkbegriff und dessen Abgrenzung von einer Alltags–
Wirklichkeit. Die Inszenierung von konkreten Situationen ist ein Angebot an
das Publikum (Sanio 2004: 361) die Beziehung von Kunst und Leben
herzustellen und deren Separation zu relativieren, ohne deren Differenzierung
außer Acht zu lassen. Das bedeutet in der konzeptuellen Frage, dass eine
Trennung von Musik und bildender Kunst obsolet wird, wenn das spezifisch
ästhetische Moment gemieden und die Aufmerksamkeit auf das jeweilige
augenblickliche Ereignis fokussiert wird. Diese Anpassung des Kunstwerkes
31
im Original (sic): „[…] art
is a sort of experimental
out living; […]“ (Cage 1973: 139).
29
station
in which one tries
an die Wirklichkeit abstrahiert dessen Werkcharakter und somit dessen Form
als Vergegenständlichung des Ästhetischen. Musik als immaterielles Medium 32
eignet sich für jede Art von Abstraktion, gerade aber und vor allem für die der
Dauer, deren Abstraktion durch das Ephemere des musikalischen Aktes
gestützt wird. Es ist die Qualität des Immateriellen, die Musik und Außenwelt
verbindet und das Prinzip des Zufalls als Anpassung an die Wirklichkeit
fördert, indem sie Beziehungen zwischen beiden konstituiert.
Marcel Duchamp nahm die Brüche im Großen Glas gelassen hin, indem er sie
als Form einer immateriellen und zufälligen Intervention und somit zum Werk
gehörend ansah. John Cage sah den Verkehrs– oder Alltagslärm, der in den
musikalischen Akt diffundiert, analog zu Duchamp, als Form der ebenso
rechtmäßigen wie zufälligen Intervention an und bestätigt so die Transparenz
zur Alltagswelt. Beiden musikalischen Vorgangsweisen (Duchamps und
Cages) ist die nicht–integrative Struktur des Kompositionskonzeptes, die
Auflösung von linearen deterministischen Beziehungen zwischen den Klängen
gemein, aber auch die kontingenten Beziehungen der Klangereignisse als durée
der Komposition.
2.3
Bewegtes, Unbewegtes (und Flüchtiges)
2.3.1 Futurismus, Maschine und Musik
Die in den futuristischen Texten und Manifesten des beginnenden 20.
Jahrhunderts formulierten Thesen (vgl. Baumgarth 1966) zur Synthese von
Kunst und Leben als Folge einer radikal–destruktiven Abkehr von einer
klassisch–romantischen Bildungstradition negieren einerseits die Grenzen
zwischen den Künsten und integrieren andererseits folgerichtig die Maschine
in den Prozess futuristischer Ästhetik. Die sich verändernde Wahrnehmung –
provoziert durch den dem wissenschaftlich–technologischen Wandel des Fin
32
„Sie [Anm.: die Musik] ist damit Vorreiterin und Modell Neuer Künste, weil sie in ihrer
Schriftlichkeit über den willkürlichen Code als immaterielles Werk existiert; sie ist darin
Vorreiterin der Immaterialität des Digitalen.“ (Jauk 2009: 33).
30
de siècle impliziten Geschwindigkeitszuwachs im urbanen Raum – ist ein
weiterer Aspekt eines futuristischen Dynamismus. Für die futuristische
Avantgarde in ihrer strikt technoid–mechanistischen Orientierung sind die
Maschine und die resultierende Maschinenwelt die Basis einer synthetischen
Rezeptionsästhetik von audio–visueller Dynamik und Simultaneität.
Die durch neue Technologien – wie elektrische Beleuchtung, Eisenbahn,
Automobil, die Röntgenfotografie und wie neueste Raum–Zeit–Theorien, das
Atommodell, oder auch die Verwissenschaftlichung der Künste – initiierte
Beschleunigung, auch der kognitiven Prozesse, evoziert als Reaktiv eine
Veränderung der Wahrnehmung von Zeit und Raum (Marx 1999: 25). Diese
Vermittlung der Wahrnehmung möglichst vieler sinnlicher Sensationen und
deren kognitive Bewältigung, also die zahlreiche[n] und gleichzeitig
ablaufende[n] Bewusstseinsvorgänge in einem einzigen Individuum (ebd.: 26)
bedingt durch jene, später von F. T. Marinetti übernommene, Rimbaudsche
Aufforderung nach einer Entregulierung der Sinne 33, sollte in einen
psychischen Transzendentalismus münden, wo das Wesen der Dinge intuitiv
erfasst wird (Umberto Boccioni, zit. in Baumgarth 1966: 143; vgl. Boccioni
2002 [1914: 170ff).
In einer Melange von Lamarckismus 34, Wissenschaftsverherrlichung und
mediumistisch–okkulter Phänomene entwickelt sich die mechanistische
Denkform einer vervielfältigbaren und mit austauschbaren Ersatzteilen
ausgestatteten Mensch–Maschine und dem folgend die einer futuristischen
Maschinenästhetik als deren Extension (vgl. Baumgarth 1966: 135 – 138).
Wenngleich Enricio Prampolini, Ivo Pannaggi und Vinicio Paladini 1922 im
Manifest Die mechanische Kunst (Baumgarth 1966: 221ff) die Maschine
vordergründig als beherrschende Gottheit des futuristischen Zeitalters
charakterisieren, betrifft dies nicht den äußeren Aspekt oder Selbstzweck der
Maschine, sondern die ihr zugrunde liegende Technologie:
33
34
Arthur Rimbaud (1871): Lettre du voyant an Paul Demeny (Marx 1999: 25)
Nach: Jean-Baptiste de Monet, Chevalier de Lamarck, 1744 – 1829, Biologe, Evolutionstheoretiker. „Alles was nach seiner [Lamarcks] Ansicht die höchsten organischen Formen
von den rudimentärsten unterscheidet, ist durch unbedeutende Hypertrophien oder Atrophien
hervorgebracht worden, von denen die Individuen schon früh im Leben beeinflußt worden
sind und die sie auf ihre Nachkommen übertragen haben.“ (Peirce 1988: 247).
31
„WIR FUTURISTEN WOLLEN,
1. daß man den Geist der Maschine und nicht ihre äußere Form wiedergibt
und so Kompositionen schafft, die sich jedes Ausdrucksmittel und auch
richtige mechanische Elemente zunutze machen;
2. daß die Ausdrucksmittel und mechanischen Teile von einem ureigenen
lyrischen Gesetz und nicht von einer aus der Wissenschaft übernommenen
Regel koordiniert werden;
3. daß man unter dem Wesen der Maschine ihre Kräfte, ihren Rhythmus und
die unendlich vielen Analogien besteht, die die Maschine suggeriert;
4. daß die so verstandene Maschine die Inspirationsquelle für die Entfaltung
und die Entwicklung der bildenden Künste wird.“ (Enrico Prampolini, Ivo
Pannaggi, Vincino Paladini 1922, zit. in Baumgarth 1966: 223).
Diese Instrumentalisierung von Lärm und Getöse ist auch ein politisches Mittel
des italienischen Nationalismus, die Niederlage im ersten abessinischen
Krieg 35 zu verarbeiten. Die Eingliederung der terre irredente, der „unerlösten“
italienischen Territorien auf ausländischem Hoheitsgebiet und die damit
einhergehende Oberhoheit im adriatischen Meer wird in Gabriele D´Annunzios
Tragödie
„La Nave“ (1908)
zu
einem politischen
Bekenntnis der
Wiederauferstehung des italienischen Expansionismus (vgl. Schmidt –
Bergmann (2009 [1993]: 37f).
Trotz der von Jonathan Crary beschriebenen Veränderungen im Sehen des 19.
Jahrhunderts – von einer unverrückbar–mechanistischen Wahrheit der
Weltabbildung zur holistisch–subjektiven, den Betrachter mit einbeziehenden
Wahrnehmung (vgl. Crary 1990) – ist Anfang des 20. Jahrhunderts nach wie
vor die Wahrnehmung der Dinge [...] eine Wahrnehmung in Fragmenten (Jean
Epstein 1923 zit. in Kosinski 1994: 25). Die Maschine wird in der Sicht der
Klassischen
Moderne
zum
fragmentierten,
zerlegbaren
mechanischen
Gegenstand, bestehend aus einer Anordnung von bestimmter, zu einer mehr
oder
weniger
exakt
definierten
(Gesamt)Funktion
instrumentalisierter
Elemente, sie ist demontier– und / aber auch rekonstruierbar. Die mögliche
35
Der (erste) Italienisch–Äthiopische Krieg (1895 – 1896) endete mit der italienischen
Niederlage 1896 in der Schlacht bei Adua.
32
Demontage der Maschine wie auch deren mögliche Stasis weist auf den – im
futuristischen Sinn – missverstandenen Aspekt der Äußerlichkeit als
künstlerischen Selbstzweck in der mechanischen Kunst hin.
Epstein findet auch Fernand Léger mit dieser „Wahrnehmung der Dinge [als]
Wahrnehmung in Fragmenten [...] in voller Übereinstimmung mit den geistigen
Gewohnheiten seiner Zeit“ (Epstein in Kosinski 1994: 25). Léger re–
konstruiert fragmentierte Maschinenmotive oder Motive der Großstadt in einer
dynamisch–räumlichen Vielschichtigkeit und in gegenseitiger Überlagerung zu
Kompositionen multiplikativer Kontraste, sie sollen in schriller Dissonanz das
Maximum an Ausdruckskraft (vgl. Boehm 1994: 33) erreichen. Die Maschine
oder das Mechanische an sich scheint bei Léger wie bei Ezra Pound ähnlich
wie bei den Futuristen anthropomorphisierende Reaktionen auszulösen (vgl.
Kosinski 1994: 24). Léger beschreibt die Maschine in seiner Rezension des
Films La Roue (Das Rad, 1922) von Abel Gance als selbständig agierendes
Objekt und wichtigsten Darsteller (Léger 1971: 184) und nach Ezra Pound sei
es nur angebracht, dass die Maschine in den Menschen Empfindungen (Ezra
Pound zit. in Kosinski 1994: 25) wecke. Pound pointiert in seinem Buch
Antheil and the Treatise on Harmony (1924) die Sichtweise der klassischen
Moderne von der Dynamik geräuscherzeugender Maschinen:
„Maschinen sind musikalisch. Ich bezweifle sogar, daß sie überhaupt
besonders bildhaft oder plastisch sind; [...] ihr kennzeichnendes Merkmal ist
jedoch nicht die Form, sondern ihre Bewegung und Energie; auf skulpturale
Starre reduziert, verlieren sie ihren Daseinszweck, der gleichsam ihr Wesen
ist.“ (Ezra Pound zit. nach John Alexander 1985 in Kosinski 1994: 25).
Der Rhythmus der Maschine wird von Léger und George Antheil in der Arbeit
an Film und Musik für Ballet mécanique (1924) als sowohl visuell–
fragmentarischer als auch auditiv–mechanistischer Prozess inszeniert. Die –
auch aufgrund der fehlenden technischen Machbarkeit – vorerst voneinander
unabhängigen Kompositionen wurden erst Ende des 20. Jahrhunderts nach der
Originalpartitur
36
mithilfe der
MIDI
Technik
synchronisiert.36
Antheil
Vgl. Paul D. Lehrman, The Ballet Mécanique Page. [online: http://www.antheil.org/
16.01.2011].
33
komponierte die Filmmusik für Ballet mécanique zwar im Sinne einer
futuristischen Maschinenästhetik (Motte – Haber 1999a: 49), es stehen aber
eher die musikalisierten Maschineneffekte und weniger die reproduzierende
Technologie im Vordergrund (Scherliess 1999: 246). Die Orchestrierung der
Originalpartitur mit Pianolas, Türklingeln, Flugzeugpropeller und Sirene
scheint einerseits den Schluss bruitistischer Funktionalität zuzulassen, ist aber
andererseits auch eine Möglichkeitsanalyse von den neuen wissenschaftlichen
Theorien und deren technischer Machbarkeit. So sollte die Synchronisation
der vorgesehenen sechzehn mechanischen Klaviere (Pianolas) über eine
zentrale Rolle gesteuert werden, das war zur Zeit der ersten Aufführungen ab
1925 trotz eines technologischen Machbarkeitskultes offensichtlich nicht
realisierbar, so wurden verschiedene revidierte Versionen produziert (vgl.
Peters / Vogt 2000: 399). Eine relativ reduzierte Version wurde 1953 zum Film
synchronisiert, dies scheint aber eher eine museale Herausforderung gewesen
zu sein, denn die Musik scheint verwandelt, domestiziert und [...] geschrumpft
(Peters / Vogt 2000: 401) und somit der Intension Antheils entfremdet, dass die
Musik des Ballet mécanique eine physikalische Realisation von Zeit als der
vierten Dimension zu verstehen sei (Motte – Haber 1990: 196; Peters / Vogt
2000: 397).
Die Kategorie des Rhythmus, bei Wassily Kandinsky als Voraussetzung für
Kunstproduktion (vgl. Kandinsky 2006 [1952]: 144) gesehen, später auch von
Kurt Schwitters als eine Metapher für Kunst 37 genannt, wird von Antheil durch
Gestaltung und Form des Gleichgewichtes zwischen Tönen und Nicht–Tönen
in ungleichförmigen, asymmetrisch verschieden schnellen Zeitfeldern (Motte –
Haber 1990: 197) zur Verwirklichung
jenes Zeit–Raumes der die vierte
Dimension – in Anlehnung an die wissenschaftlichen Erkenntnisse jener Zeit –
darstellt, verwendet. Simultaneistisches Denken in Form der Polyphonie und
auch der Polyrhythmik führt zu einer Kompositionstechnik bei der die
Vertikale und die Horizontale gleichgesetzt wurden (ebd.: 195), das
Gleichgewicht von Ton und Maschinengeräusch sieht Antheil als diagonales,
37
„Was Kunst ist, wissen Sie ebensogut wie ich, es ist nichts weiter als Rhythmus. [...] jedes
Kunstwerk aller Zeiten mußte diese primäre Forderung erfüllen, Rhythmus zu sein, sonst war
es nicht Kunst.“ (Schwitters 1981, Bd. 5: 244 – 245).
34
zusätzliches
(Raum)Element
für
eine
ästhetische
Umbewertung
der
Wirklichkeit, die Kunst, Alltag und Wissenschaft zusammenführt.
Umberto Boccioni nennt Francesco Balilla Pratella im Zusammenhang mit
dessen Forderung (vgl. Pratella, Technisches Manifest der futuristischen Musik,
1911) nach Enharmonik, Polyrhythmik und der Schaffung einer absoluten
Polyphonie durch Verschmelzung von Harmonie und Kontrapunkt (Baumgarth
1966: 149) als denjenigen, dessen futuristische Musik die taktzählende
Tyrannei des Rhythmus [der bürgerlichen Musik- und Tanzkultur] durchbricht
(Boccioni zit. in Baumgarth 1966: 198). Boccioni selbst postuliert im Manifest
der futuristischen Malerei und Plastik (vgl. Boccioni 2002 [1914]), dass das
Leben als in Form gefasste Bewegtheit die Grundform sei, die die dynamische
Kontinuität im Raum gibt. Die dynamische Form sei eine „Art“ 38 vierte
Dimension, eine „Art“ unsichtbares Strahlenfeld zwischen Gegenstand und
Aktion, zwischen Gegenstand und seinem Umfeld (Baumgarth 1966: 210).
Boccionis Skulpturen, (vgl. Boccioni, Testa + Casa + Luce und Synthese des
menschlichen Dynamismus, 1913) erweitern die räumliche Ebene um die der
Zeit, sie formalisieren den geforderten Dynamismus in der dargestellten
Simultaneität
übereinander
gelegter
Zeitebenen
der
Bewegung.
Die
Auswirkung von Bewegung und deren Darstellung zugleich in der Zeit und im
Raum rekurriert auf Pratellas Manifest Die Zerstörung der Quadratur (1912)
wo die futuristische Musik (Anm.: neben der futuristischen Dichtung
Marinettis) die völlige Freiheit des Rhythmus erreicht, jene Freiheit, die in
einer futuristischen plastischen Komposition [...] den Begriff des Raumes [...]
mit dem Begriff der Zeit vereint, [...] bei der sich die beiden Begriffe Raum und
Zeit gegenseitig das Gleichgewicht halten, um die Emotion auszulösen.
(Boccioni zit. in Baumgarth 1966: 197, 216; vgl. Boccioni 2002 [1914]: 159,
165).
38
Boccionis diffuse Terminologie von „Art“ weist auf dessen Vermutungen bezüglich der
Vorkommnisse innerhalb des neuen Raum–Zeit–Denkens hin.
35
Edgard Varèses 39 Konzeption einer nichts mehr repräsentierenden Musik, die
nur ein prozessuales Klanggeschehen entwickelt (Motte – Haber 1999b: 198f),
bedingte auch die Suche nach neuen Kompositionsformen und nach neuen
Möglichkeiten der Klangerzeugung. Für die Befreiung des Klanges von den
Beschränkungen
des
willkürlich
temperierten
Systems
und
für
Klangkonzeptionen wie einer Musik als Bewegung im Raum, in Form von
parabolischen und hyperbolischen 40 Klangkurven (vgl. Varèse 1983: 16 – 21),
fordert Varèse die Genese eines neuen elektronischen Instrumentariums:
„Ich persönlich benötige für meine Konzeptionen ein völlig neues
Ausdrucksmedium: ein Klang produzierendes Gerät – nicht ein Klang
reproduzierendes. Es ist heute möglich, ein solches Gerät mit einer gar nicht
so großen Menge an zusätzlicher Forschung zu bauen.“ (Varèse 1983: 15).
Die Dynamik der Klanggruppen Varèses zeigt eine innere Struktur, die sich
beständig in Gestalt, Richtung oder Geschwindigkeit, angezogen oder
abgestoßen durch verschiedene Kräfte, verändert (Varèse 1983: 19). Als
Konsequenz dieser Interaktion sieht Varèse die Form des musikalischen
Werkes und lehnt somit auch die Diskussion über den Unterschied zwischen
Form und Inhalt, eben wegen ihrer wechselseitigen Bedingtheit, ab (ebd.). Die
Musik sollte keinen mimetischen Verweischarakter haben, sie sollte über
Bewegung und bestimmte körperliche Eigenschaften der Klänge, wie Dichte,
Höhe, Masse oder Volumen, die Geometrie der Raum–Zeit repräsentieren und
sinnlich erfahrbar machen (vgl. Motte Haber 1999a: 245). Wenngleich Varèse
der Radikalität der futuristischen Kulturideologie von einer Synthese von
Kunst und Leben und dem Eindringen des Alltags in die Kunst wenig
abgewinnen konnte (vgl. Motte – Haber 1990: 193), zeigen sich ähnliche
Ansätze einerseits in der artifiziellen Gestaltung von – körperlicher – Dynamik
im Raum wie bei Boccioni, andererseits in der Suche nach neuen Medien der
Musikerzeugung, basierend unter anderem auf den Erkenntnissen der
Elektrotechnik.
39
Varèse kannte die futuristische Denkhaltung seit ca. 1907 und später aus der Bekanntschaft
mit Russolo, distanzierte sich aber stets vehement vom Bruitismus. (vgl. Motte – Haber
1999b: 197).
40
Hier scheint es sich um einen Bezug zur nicht–euklidischen Geometrie zu handeln, den
Varèse (möglicherweise) im Zuge seines Physikstudiums (ab 1905) kennenlernte.
36
Luigi Russolo, futuristischer Maler und durchaus in Kenntnis seiner
musiktheoretisch–kompositorischen Unzulänglichkeit, rekurrierte bewusst auf
diese
scheinbare
Außenseiterrolle
und
den
damit
verbundenen
Amateurismus 41. Konsequenterweise spricht Russolo in seinem Manifest L'arte
dei rumori (1913) von einer neuen musikalischen Sensibilität in Verbindung
mit
maschinengenerierten
Geräuschen,
die
die
tonale
Limitiertheit
herkömmlicher Instrumente überwinden sollten. Im anwachsenden Lärm durch
die Vervielfachung der Maschinen im industriellen Zeitalter und der sich
parallel entwickelnden Urbanisierung sieht Russolo die Annäherung der Musik
zum Geräuschklang und somit zum Alltagsgeräusch (vgl. Russolo 1986: 24f).
Diese Theorie des Bruitismus, der Lärmmusik, stand auch im Gegensatz zu den
noch in der romantischen Bildungstradition verhafteten Kompositionen
Pratellas oder Franco Casavolas deren futuristisches (Musik)Denken sich eher
an der Synthese von Dynamik und Affekt, der Stati d´animo als
Gemütsverfassungen (vgl. Noller 1999: 72f), orientiert. Wurde hier die
Interna, die psychische Verfasstheit über traditionelle Orchestrierung
transportiert, emanzipiert Russolo die Externa, das Geräusch der Großstadt und
der Maschine als gleichrangig zu den musikalisch–instrumentalen Tönen. Ohne
Intention einer Imitation des Alltagsgeräusches (Russolo 1986: 27 – 28)
konstruiert Luigi Russolo zusammen mit Ugo Piatti und Antonio Russolo ein
Instrumentarium, die Intonarumori, die einhergehend mit der postulierten
Dominanz der Geräusche der modernen Gesellschaft deren artifizielle Formen
konkreter Klänge zur Verfügung stellen sollten.
Wollte Russolo eine orchestrale Verwendung der Intonarumori in denen
artifizielle Geräusche, den Tönen gleichgestellt, die Hereinnahme der
Maschinenwelt in das musikalische Kunstwerk (vgl. Keppler 2001: 11)
dokumentieren, so stellte bei Arseni Avraamow 42 1922 ein großer Teil der
Stadt Baku die vielschichtige Instrument–Maschine für eine Sirenensinfonie
41
„I am a futurist painter who projects beyond himself, into an art much – beloved and studied,
his desire to renew everything. Thus, bolder then a professional musician not worried about
my apparent incompetence, and convinced that audacity has all rights and possibilities, I was
able to devine the great renewal of music through the Art of Noises.”(Russolo 1986 [1913]:
30).
42
Anm.: Arseni Krasnokutskij alias Arseni Avraamow.
37
dar (vgl. Zielinski 2007). Avraamow instrumentarisiert die kinetische
Lauterzeugung von mechanischen Vorgängen – wie in Sirenen oder
Maschinengewehren – zur ideologischen Überhöhung revolutionärer Thematik.
Die
Implementierung
monumentale
von
musikalische
artifiziell–pseudourbanen
Formen
und
auch
Geräuschen
die
in
Verwendung
bedeutungsbeladener Musik wie die Internationale und La Marseillaise,
suggeriert
eine
auditive
Manipulation
des
urbanen
Raums;
eine
Zusammenführung von Kunst und Alltag, wo [...] niemand mehr den Zwang
verspüren sollte, arbeiten zu müssen, weil Leben, Technik und Arbeit eins
wären und so die Entfremdung aufgehoben wäre (Aleksei Gastew zit. in
Zielinski 2007).
Trotz der Radikalität der futuristischen Manifeste kann der futuristische
Maschinenkult keine dieser Radikalität angemessene Umdeutung romantisch–
elitärer Kulturtradiertheit herbeiführen. Die Synthese von Technik und Kultur
bleibt im Pathos von Industrialisierung und Neuem Menschen unrealisiert, sie
scheitert an der verfügbaren Technologie, aber auch an der Widersprüchlichkeit der Theorie. Kunst, Maschine und Geräusch sollte sich in einer
Alltagskunst
vereinigen, durch die Theoretisierung
wurde eben die
Alltagskunst aber wiederum in den Kunststatus gehoben (vgl. Keppler 2001:
14).
Dennoch wirkt das Postulat der technologischen Evolution in der außer–
futuristischen Musik des 20. Jahrhunderts und vor allem in der Ästhetisierung
des Alltags und im Kunst/Leben (vgl. Jauk 2005a: 80) als kreatives Dilettieren
im Pop weiter. Die Verwendung von explizit nichtmusikalischen Klangerzeugern ist gleichzeitig die Absage des 20. Jahrhunderts an die bildungsromantische Verklärtheit der präsumtiven Kausalbeziehung von Kunst und
Können.
38
2.3.2 Kinetische Kunst und Algorithmus
Die Instrumentarisierung beliebiger Objekte oder von Prozessen (vgl.
Barthelmes 2004: 337) zur Musik– oder Klangerzeugung, ist eine Folge der
von der Avantgarde der klassischen Moderne vehement kritisierten
Kunstautonomie, die sich als formelhafter Geniekult im romantisch–
bürgerlichen Kunstverständnis etablierte. Die Aufhebung der Hierarchie
zwischen Ton und Geräusch findet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als
Konstrukt explizit in den Manifesten des Futurismus (vgl. Baumgarth 1966),
parallel zur Auflösung der Trennung von Alltag, Wissenschaft und Kunst.
Zugleich wird auch die Autonomie des Werkes zur Diskussion gestellt, mit der
Einbeziehung allgemein–kultureller ästhetischer Phänomene in den kunstimmanenten Prozess vollzieht sich eine Verschiebung vom Kunst–Werk zum
Kunst–Ereignis (Steinert 1989: 103).
War die Maschine per se in der futuristischen Denkweise ein Artefakt technologischer Möglichkeiten und in ihrem äußeren Aspekt, in ihrer skulpturalen
Form irrelevant (vgl. Baumgarth 1966: 222), wurde deren Mechanik zur
Allegorie von Bewegung und Fortschritt. Eine kokettierende Paraphrasierung
der Mechanik über Schrottteile und Fundstücke findet sich in dadaistischen
Collagen, die in sinnfreien Maschinenkonstruktionen das expressionistische
Zukunftspathos deformieren und verspotten (vgl. Bocola 1994: 324). Dieser
militante Nihilismus gegenüber jede[r] Art von Wertestruktur, gegenüber
jede[r] bestehende[n] Ordnung (Bocola 1994: 325) findet sich bei Marcel
Duchamp (À bruit secret 1916, als Klang – Raum – Beziehung ) und auch in
den
neodadaistischen
Maschinenkonstruktionen
von
Jean
Tinguely.
Wenngleich Tinguely über seine Konstruktionen, bestehend aus Schrott des
mechanisch–industriellen Zeitalters sagt, sie hätten keine Grundfunktion, außer
so zu tun als tun sie nichts (Jean Tinguely zit. in Gertich 1999: 144), resultiert
aus ihrer funktionalen Dynamik jene Meta–Position der organisierten
Disharmonie
(ebd.:
146),
nicht
zuletzt
Zusammenfügens disharmonischer Bauteile.
39
wegen
des
willkürlichen
Die Meta–Maschinen (Métamatics) Jean Tinguelys sind produziert um zu
produzieren, einerseits die Geräusche der mechanischen Bewegung als Teil
ihres tautologischen Funktionierens, andererseits abstrakte Zeichnungen
entsprechend ihrer Funktion als klingende Metaroboter–Malmaschinen (vgl.
Gertich 1999: 145). Der Algorithmus der Ablaufbewegungen ist in seiner
Gesamtstruktur stringent, innerhalb dieses Kreislaufes entstehen aber der
fragilen Mechanik implizite Unschärfen, die einer exakten Wiederholung des
Vorhergegangenen widersprechen.
Werden die Métamatics in ihren absurd–geräuschhaften Bewegungen auch als
kinetische Neuauflage des Dadaismus [...] ohne ideelle Erneuerung (Bocola
1994: 488) gesehen, so entsteht in ihrer Konstruktion eine Meta–Kunst, die –
ähnlich wie die digitale Programmierung eines Kompositionsalgorithmus in
MAX/MSP oder SuperCollider – die Maschine zur Erzeugung aleatorischer
Prozesse anregt (vgl. McCartney 2003: 266). Die immerwährende, in gewisser
Weise unerbittliche Repetition mit der die Maschine ihre skulpturale Form in
einem Raum–Zeitlichen Bewegungsvorgang
auf ihr virtuelles Volumen
erweitert (vgl. Jean Tinguely, Virtuelles Volumen 1, 1955)
und simultan
Geräusche und Bilder – möglicherweise mit Hilfe eines Mitspielers –
produziert, ist eine vom Künstler unabhängige Wirklichkeit des Funktionierens
(Buderer 1993: 67). Dieser, den mechanistischen Regeln folgende Ablauf von
in einer algorithmischen Zeitgestaltung eingebetteten stochastischen Prozessen
schwankt zwischen präziser Prädisposition und Spontaneität, ereignet sich also
in einem dynamischen chaotischen System (Weibel 2004a: 157), ist aber auch
mit
der
Körper–Umwelt–Erfahrung
des
Betrachters
gekoppelt.
Der
Bewegungsablauf und die damit verbundene Inanspruchnahme des Raumes als
virtuelles Volumen wird wegen der mechanistisch geprägten kognitiven
Erfahrung der Sinne als reales Objekt in der möglichen Wirklichkeit
interpretiert. Hier kann eine – analoge – Vorstufe der computerbasierten Kunst
gesehen
werden
(vgl.
Weibel
2004a:
156),
in
der
die
digitalen
Programmprozesse die Zeit und das virtuelle Environment befehlsorientiert
gestalten.
40
Die programmierte Selbstzerstörung von Tinguelys Maschinen (vgl. Jean
Tinguely, Hommage to New York, 1960 und Study for an End of the World,
1961) ist ein Hinweis auf das dadaistische Moment des „sich der Macht
Verweigerns“, der Macht des Kapitalismus und dessen Institutionen, wie die
der Museen, in der die Gesellschaft durch ein kontrolliertes Zugeständnis – das
des Ankaufes – das Werk kontrolliert:
„I wanted something ephemeral, that would [...] most importantly be
impossible for museums to reabsorb. I didn´t want to be ‚museumized‘.“ (Jean
Tinguely zit. in Hulten 1987: 350)
Die Vorstellung des Ephemeren verweist einerseits auf Alexander Calders
fragile Mobiles und Naum Gabos virtuelle Skulpturen, andererseits in der
Selbstmord begehenden Maschine (ebd.) auf die fehlende Kausalbeziehung
zwischen dem Maschinen–Objekt und dessen abgeschlossener Ontologie als
Kunstwerk. Bei Tinguelys Maschinenobjekten – und hier speziell bei den
selbstzerstörenden Maschinen – greift der tradierte Werkbegriff nicht, hier ist
das Objekt als Artefakt des Kunstwerks 43 eine Parabel für die Interdependenz
von Kunst und Alltag. Das von vornherein nicht als solches konzipierte
Kunstwerk landet im Mistkübel („...everything go back to the garbage cans“
[Jean Tinguely zit. in Hulten 1987: 350]). Was bleibt, ist die am beziehenden
Denken orientierte Interpretation der funktionellen Disharmonie der Maschine
im Kontext mit deren Dekonstruktion als flüchtig–kommunikativem Prozess.
Die Einbeziehung des Rezipienten in den mechanischen Ablauf der
Métamatics ist eine vorsichtige Horizontalisierung der Künste in Richtung
Alltagskultur durch Interaktion, in ähnlicher Form wird sich das Happening zu
einer Form der (informellen) künstlerischen sozialen und politischen
Gestaltung (vgl. Jauk 2005a: 49) entwickeln. Die Métamatics konstruieren eine
mechanistisch definierte Wirklichkeit, die zumindest theoretisch in den
Grenzen des analog–mechanischen Systems umgestaltbar (durch Veränderung
bestimmter physikalischer Größen wie ein Raddurchmesser oder die
Energiezufuhr) ist. Diese Umgestaltung ist ein Prozess, der – gebunden an das
43
Anm.: Das Kunstwerk ist explizit der Prozess der Destruktion.
41
mechanistische Trägheitsprinzip – in seiner überschaubaren Langsamkeit die
Beschränkungen kausaler Körper–Umwelt–Erfahrungen nicht beeinträchtigt.
Im Gegensatz dazu steht die willkürliche Strukturierung durch Programmalgorithmen, durch digitale Codes und deren Veränderung in Echtzeit.
Die Dynamisierung des dreidimensionalen Objektes in der Kinetischen Kunst
ist eine weitere Entwicklung durch Einbeziehung von Bewegung als Raum–
Zeit
Wahrnehmung,
folgend
aus
der
im
Futurismus
angewandten
indexikalischen Darstellung des Dynamismus durch Interpretation der Raum–
Zeit Wahrnehmung. Dies basiert auf einem Wechselverhältnis mit zwei
‚gleichberechtigten‘ Wirkungsgrößen (Dietrich Busse zit. in Kohlmayer 1997:
70), vom Werk, als Symptom eines kommunikativen Wollens (ebd.) und dem
Rezipienten oder Betrachter als (Mit–)Initiator des Prozesses. Der intuitiv
verwendete Algorithmus als Handlungsanweisung für die interaktiven und
virtuellen Beziehungen zwischen Werk und Betrachter (vgl. Weibel 2004b) ist
ein Regelsystem dieser Interdependenz.
Die, im Sinn des Wortes, Ausgewogenheit von Alexander Calders Mobiles 44
repräsentiert einen virtuellen Zustand, der durch seine Sensibilität auf
Energiezufuhr durch äußeren Einfluss reaktiv in einen pseudo – chaotischen
Bewegungszustand übergeht. Wenngleich hier ein prinzipiell nichtlineares
dynamisches System vorliegt, kann aber nicht von einem deterministisch –
chaotischen System im mathematischen Sinne gesprochen werden, die
Erzeugung von Abfallenergie (oder Entropie) innerhalb des Systemgefüges
führt zu dissipativen Strukturen.
„Der Name dissipative Struktur [Hervorhebung im Orig.] drückt ein Paradox
aus, das im Mittelpunkt von [Ilya] Prigogines Vision steht. Dissipation läßt an
Chaos und Auseinanderfallen denken; Struktur ist das Gegenteil davon.
Dissipative Strukturen sind Systeme, die ihre Identität nur dadurch behalten
können, daß sie ständig für die Strömungen und Einflüsse ihrer Umgebung
offen sind.“ (Briggs / Peat 1990: 207).
44
Ein Begriff, der Marcel Duchamp (ca. 1932) zugeschrieben wird (vgl. Bocola 1994: 488;
Motte – Haber 1990: 282).
42
Die Wechselwirkung dieser fragilen kinetischen Mobiles Calders mit der
Umwelt ist letztlich eine reaktive, eine auf dem Prinzip der schwachen
Kausalität (vgl. Davies / Gribbin 1993: 36) beruhende, wonach ein Systemverhalten bei gleicher Ausgangslage jederzeit reproduzierbar sei. Dieses
Prinzip lässt jedoch keine Aussage über die Stärke der Auswirkung von
geringfügig veränderten Ausgangswerten auf den folgenden Bewegungsablauf
zu (Skirke 1998: 74f). Die Dynamik des Systems der Mobiles erscheint vorerst
chaotisch, ist aber, nach Maßgabe der Komplexität der Objekt–Umwelt–
Beziehungen mechanistisch determiniert.
High Technology Art, eine Entwicklung aus kinetischer und kybernetischer
Kunst der sechziger Jahre (vgl. Popper 1991: 249), exemplifiziert das
mechanistisch–deterministische
Weltbild,
die
mechanistisch
geprägten
Dingvorstellungen der bildenden Künste (vgl. Jauk 1996), an der Vorstellung,
dass Interaktion, oder besser Partizipation, von der
(Weiter)Entwicklung
besser beherrschbarer und differenzierter Technologien ermöglicht werde
(Popper 1991: 263). Die virtuelle Kunst des beginnenden 21. Jahrhunderts sieht
sich in diesen erweiterten Technologien als Artefakt weiterer Stufen von
technologischer Evolution und einer subsequenten Humanisierung von
Technologie (vgl. Popper 2007: 395f), realisiert mit Hilfe von immer
aufwendigeren Mensch–Maschine–Interfaces. Deren Einbindung in eine
künstlerisch relevante Strategie ist an die Evolution der Datenverarbeitung und
an eine enorme Rechenleistung angewiesen (vgl. Grau 2003: 193ff), um eine
artifizielle Simulation von Realität zu generieren. Deren anzustrebende
Realitätsnähe und die damit verbundene optische Aufhebung der Grenze
zwischen Simulation und Realität (vgl. Grau 2003: 220) manifestiert das
Primat der Sicht der Dinge (Jauk 2005a: 488) und den ihr zugrundeliegenden
Maschinenglauben.
Der Umgang mit dieser Hochtechnologie erfordert aber auch eine
Beobachtungstheorie, die auf zunehmende Komplexitäten vorbereitet ist und
diese erfordern eine intensive Interaktion oder, wie es heißt, den ‚Eintritt‘
(Immersion) in den Medienraum (Faßler 1999: 77). Das immersive Medium ist
somit erst nutzbar, wenn der Nutzer Teil des Mediums wird und mit dem
43
Algorithmus
des
artifiziellen
Systems
oder
dessen
Analogie,
der
Handlungsanweisung, interagiert. Die Interaktivität in der kinetischen Kunst
und deren Derivate unterliegen so primär mechanistischen Gesetzmäßigkeiten,
deren
jeweils
machbare
Ausformungen
technologische
Artefakte
wissenschaftlicher Entwicklungen repräsentieren.
Prozedurale Instruktionen als rudimentäre Algorithmen finden sich nicht nur in
den Kunstformen des 20. Jahrhunderts (in der kinetischen Kunst, im
Happening, Fluxus und Op–Art), in der Musik und bildenden Kunst erscheinen
Algorithmen als intuitive Kontrollsysteme seit Jahrhunderten (vgl. Weibel
2007: 24f). Leon Battista Alberti (Della Pittura 1486) systematisierte die
Komposition von Farbe, Form und Licht in geometrischen Perspektivkonstruktionen, die eine Beziehung von Realraum und Fiktion schaffen (Pochat
1986: 225 – 226) und wo eine illusionistische Wirkung auf die Psyche des
Betrachters (ebd.) gewährleistet wird. Johann Philipp Kirnberger entwickelte
in seiner Schrift Die Kunst des reinen Satzes in der Musik (1771) eine
musiktheoretische Gebrauchsanweisung, in der unter anderem – intuitive –
Algorithmen in Form sukzessiver Modulationen in Johann Sebastian Bachs
Musicalisches Opfer (BWV 1079) diskutiert werden. Die Ricercari 45 in Bachs
Musicalischem Opfer sind komplexe Konstruktionen von Modulationen, es
sind musikalische Konstrukte, deren Thema von jeder beliebigen Kopie aus
rekonstruiert werden kann und deren Transformationen eine informationsbewahrende Isomorphie (vgl. Hofstadter 2007: 9) bei bemerkenswerter Selbstähnlichkeit aufweisen.
Die intuitive Anwendung von Algorithmen in den aleatorischen Prozessen (vgl.
Meyer – Eppler 1955: 24), die John Cage als Kompositionsverfahren teilweise
aus dem I Ging 46 entlehnt, sind einerseits ein Vorläufer des Fluxus und eine
Absage an den (musikalischen) Werkbegriff; andererseits weisen die den
45
Anm.: Das Ricercar, eine Vorform der Fuge, später auch als Bezeichnung für eine besonders
streng und kompliziert angelegte Kunstfuge. (vgl. Wolff, Christoph (1973); Ricercar, in:
HmT 3/1973, [online: http://www.sim-berlin.de/static/hmt/HMT_SIM_Ricercar.pdf 17. 01.
2011]).
46
I Ging oder I Ching, Buch der Wandlungen. Chinesische Textsammlung mit explizitem
Orakelcharakter, großteils aus der Han – Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.), (vgl. I Ging,
Texte und Materialien 1986).
44
Kompositionen zugrundeliegen Zufallsoperationen auf die Tendenz im
wissenschaftlichen Denken 47 jener Zeit hin.
„[...] von einem Werk im gegenständlichen Sinn oder als in sich geschlossener
Zusammenhang ist häufig keine Rede mehr, an seine Stelle tritt ein
ästhetischer Prozess [...]“ (Sanio 2004: 360).
Die Prozessorientiertheit betont den zeitlichen Aspekt, die konzeptuelle
Inszenierung ersetzt den Objektbegriff, sie bedingt den immersiven Charakter
der Aufführungen. Die aktive Interaktion der Rezipienten sieht Cage noch
problematisch, da sich aus seiner Sicht nur ausgebildete Musiker bei der
Umsetzung offener Kompositionen der Versuchung widersetzen könnten, in
musikalische Klischees zu verfallen (Föllmer / Gerlach 2004: online). Die
algorithmischen Zufallsoperationen als Kompositionsmethode sind – bei Cage
wie auch in ähnlicher Form bei Rauschenberg – ein Aufgeben der
Zweckgerichtetheit,
der
Intentionalität
und
der
Kontrollinstanz
des
Komponisten, ähnlich der Komposition von Fundstücken im Informel bei
Robert Rauschenberg:
„Ich hasse Ideen. Und wenn ich trotzdem mal eine habe, dann gehe ich
spazieren, um sie zu vergessen. Ich brauche die Unsicherheit, das Nichtwissen
[und] am liebsten ist es mir, wenn Sie meine Bilder nicht als Bilder ansehen.
Es sind Spielfelder. Sie sollen Lust bekommen, selbst weiterzumalen und
weiterzubauen.“ (Robert Rauschenberg im Interview mit H. Rauterberg 2006:
online).
Die Partituren als Handlungsanweisungen mit Zeitraster sind die Basis für
Aufführungen, die bestimmte Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen
innerhalb derer in der Weise des Happenings improvisiert wird. Diese so
entstehenden Prozesse sieht Cage als Musiktheater, wo es immer was zu sehen
und zu hören gibt (Sanio 2004: 363), ohne dass ein Ereignis zwingend auf ein
anderes bezogen ist, die Ereignisse haben eine gleichwertige Simultanität ohne
eine Kausalitätsbeziehung. In dieser beziehungslosen Ästhetik wird die
47
Stellvertretend seien hier David Bohms Theorie der verborgenen Variablen, das Einstein
Podolsky Rosen (EPR) – Paradoxon und die Heisenbergsche Unschärferelation genannt (vgl.
Peat 1989a: 29; 36; 222).
45
Trennung der Kunst vom Alltagsleben ebenso obsolet wie eine Grenzziehung
zwischen bildender Kunst und Musik (vgl. Diederichs 1979: 33f), es wird
anstelle der Rezeption eine Situation als Verschränkung von Kunst / Leben
evoziert.
Die Problematik einer Zwei–Wege–Kommunikation als Interaktionskonzept
zwischen Werk und Zuschauer (vgl. Popper 1991: 258) scheint in der
notwendigen Verwendung von High–Tech–Tools zu liegen, ohne deren
Vermittlung die Kommunikation zwischen Agent und Rezipient in einer
technoiden Kunst nicht möglich sei. Abseits der Ontologie des statischen
Kunstwerkes, das mit den Begriffen des Originals oder der Erhabenheit
definiert wurde, sei eine Ontologie der interaktiven Kunst nur mit Bezug auf
die dies ermöglichenden technologischen Apparate erklärbar. Die in der
klassischen Ästhetik eindeutige Isomorphie zwischen Objekt und Bild (Weibel
1991: 228) wird ersetzt durch den apparativen, technoiden Prozess der
Konstruktion:
„Die Technik setzt erst das Werk ins Sein. Ohne Technik gibt es bei der
technischen Kunst keine Ontologie. [...] Die Technologie begründet also bei
der Techno – Kunst die Ontologie und nicht umgekehrt.“ (Weibel 1991: 229).
Der dem technischen Apparat zugrundeliegende Algorithmus begründet die,
laut Weibel, technische Natur jeder Kreativität, somit bietet der technische
Apparat aber auch eine Plattform für eine virtuelle Präsenz von Information
und Kunst (Piene 1991: 296), die eine partizipative Wissensoptimierung (im
Sinne des Rauschenbergschen Terminus der Spielfelder) ermöglichen kann.
Das Nomen Qualitatis der Immaterialität als einer virtuellen Präsenz von
Information ist eine technoide Entbergung (vgl. Heidegger 1962: 25f) von
mechanistischen, aus der Erfahrung formalisierten Denksystemen.
46
2.3.3 Architektur / Raum
Der Terminus der gefrorenen Musik findet sich in der architekturbezogenen
Literatur – ohne eine explizite Zuweisung der Autorenschaft zu versuchen –
(vgl. Saleh Pascha 2004: 24) als Metapher für eine Arithmetik basierte
Beziehung zwischen Musik und Architektur. Die bei Boetius als musica
humana bezeichnete Formulierung der metaphysischen Überhöhung von
harmonischen Zahlenbeziehungen als Verbindung von Körper und Seele
(Pietzsch 1968: 41ff)
leitet ihre Struktur vom platonischen Postulat der
mathematischen Grundverhältnisse 48 der Natur ab. Eine daraus hervorgehende
und in der Spätantike und im frühen Mittelalter noch vorstellige Bindung der
musikalischen Zeitlichkeit an das Wort und somit an den mechanischen Körper
findet in der Codierung von Musik und so in der Zeitlichkeit von Musik als
Abstraktum (Walter 1994: 91) in der musikalischen Linienschrift ihre
Auflösung. Diese optische Trennung von Melodie und Sprache in der
Neumenschrift ergibt eine Voraussetzung einer musikalischen Raumbeschreibung auf der Basis
der exakte[n] Verknüpfung von geometrischer
Linie und musikalischer Tonhöhe (Walter 1994: 266) und so der
Theoretisierung einer musikalischen Raum–Zeit. Die Topologie der Töne im
Raum ist bei Guido von Arezzo erstmals gekoppelt mit der Beschreibung von
Intervallen als Kraftlinien anhand derer eine konstruktive Entscheidung über
die tonale Fortschreitung (vgl. Walter 1994: 285f) vom Ausführenden zu
erwarten ist.
Leon Battista Alberti definierte in der Architekturästhetik 49 die Harmonie und
den Gleichklang in der Baukunst mit dem Begriff der connicitas, die auf die
Ausgewogenheit
der
platonischen
Harmonielehre
mittels
numerischer
Proportionalität rekurriert (vgl. Pochat 1986: 234f). Aus den pythagoräischen
Zahlenharmonien leitet Alberti die Zusammenführung musikalischer Intervallstrukturen und architektonischer Propotionalstrukturen (vgl. v. Naredi – Rainer
1984) in den Begriff der connicitas über und legt erstmals in einer
48
Vgl. Platon (2003 [ca. 360 v. Ch.]): Timaios. Griechisch – Deutsch, übers. v. Thomas
Paulsen / Rudolf Rehn, (Universal – Bibliothek, 18285), Stuttgart: Reclam.
49
Vgl. Alberti, Leon Battista, (1912), De Re Aedificatoria – Zehn Bücher über die Baukunst,
(Übers. v.. Max Theurer), Wien und Leipzig: Heller.
47
architekturtheoretischen Schrift eine wissenschaftlich orientierte Handlungsanweisung der Architektur basierend auf musiktheoretischen Überlegungen
(vgl. Saleh Pascha 2004: 69ff) dar.
Das Prinzip der Raumerfahrung als ein auditiv generiertes, kognitives space
imagery, in der wahrnehmungstechnischen Lokalisation des Tones im Raum in
den Begriffen hoch und tief definiert, wird Anfang des 20. Jahrhunderts um
den Rhythmusbegriff erweitert. In seiner Antrittsvorlesung referiert August
Schmarsow über den Rhythmus als eines von drei Gestaltungsprinzipien
psychologischer Raumkonstruktion:
„Jede dieser Axen hat ihr eigenes Gestaltungsprincip: in der ersten Dimension
waltet die Proportionalität, in der zweiten die Symmetrie, und in der dritten
das Moment der Richtung (wie Gottfried Semper es genannt hat) oder des
Rhythmus (wie ich es nennen möchte, weil die successive Auffassung, die
Bewegungsvorstellung das Entscheidende ist).“ (Schmarsow 2007 [1896]:
119).
Dem statischen Rhythmus der festen architektonischen Form wird der
dynamische Rhythmus des Raumes als zeitlich bewegendes Element
hinzugefügt (vgl. August Schmarsow zit. in Saleh Pascha 2004: 194) und eine
Erfahrung der Zwischenräume ermöglicht. Die wahrnehmende Erfahrung des
Betrachters wird (abhängig von seiner Bewegung im Raum) so auf die
folgende
Konstruktion
des
Raumes
fokussiert.
Einer
tendenziellen
Fragmentierung des Raumes durch das Auseinanderstreben einzelner
wahrnehmungsbezogener Konstrukte kann, wie in der musikalischen
Wirkungsästhetik Ernst Kurths 50 beschrieben, durch ein wahrnehmungspsychologisches Konzept eines Systems der Gravitationsbeziehungen (Lissa
1975: 204) eine extrem dynamische Formkonstruktion (Motte Haber 1990: 24)
gegenübergestellt werden. In der Vorstellung eines zeitlich expandierenden
musikalischen Raumbegriffes in der wirkungsästhetische Intervalle durch
spannungsvolle Verstrebungen (ebd.) in ein stabiles Ordnungssystem integriert
werden, ist die wechselseitige Beziehung zwischen musikalischen und
architektonischen Raumstrukturen synthetisiert.
50
Vgl. Kurth, Ernst (1931), Musikpsychologie, Berlin: Hesse.
48
Die Konstruktion virtueller Räume, als das Resultat akustischer Erfahrung
durch visuelle Bestätigung in der Realität, ist eine erkenntnistheoretische
Antizipation kausaler Mechanismen. Ein durch Klang inszenierter virtueller
Raum basiert auf der kognitiven Körper–Umwelt–Erfahrung der Klangwelt des
realen Raumes. Vertikale Klangereignisse wie Höhen und Tiefen werden in
einer
unmittelbaren
Ausprägung
dominant
wahrgenommen,
die
Klangereignisse in der Zeit sind horizontalisiert als die Erfahrung einer
zeitlichen Progression und deren indizierter Bewegung (vgl. Motte – Haber
1990: 44ff; Jauk 2005a: 516). Sind vertikale Klangereignisse Mittel zur
Konditionierung 51 des Raumes, so ist die dem Beziehungsgefüge des Vorher –
Nachher implizite Rhythmisierung des (virtuellen) Raumes unmittelbar ein
System zur Artikulierung 52 eines Raumes (vgl. Zelli 2001: 145ff). In der
Simulation von Bewegung durch die Artikulierung des Raumes (in der
akusmatischen Musik mit Hilfe von elektroakustischen Tools) sieht Robin
Minard
analog
zur
Lichtkunst
eine
Ausbildung
architektonischer
Metamorphosen (Minard 1996: 15), die eine virtuelle Vorstellungswelt
auf[...]bauen, die sich jenseits der erfahrbaren Realität an eigene Kriterien
lehnt (Zelli 2001: 116).
Die futuristische Architektur sieht sich – zumindest in ihren Manifesten –
befreit von der Vorstellung des Monumentalen und Statischen zugunsten eines
funktional–rationalen Urbanismus, als dessen Basis die Sensibilität moderner
Lebensbedingungen (vgl. Baumgarth 1966: 219) gelten soll:
„Wir haben den Sinn für das Monumentale, das Schwere, das Statische
verloren [...]. Wir müssen die futuristische Stadt wie einen riesigen, lärmenden
Bauplatz planen und erbauen, beweglich und dynamisch in allen ihren Teilen
[...]. (Antonio Sant´Elia zit. in Baumgarth 1966: 219).
51
Robin Minard bezieht sich in seiner Definition von Konditionierung des musikalischen
Raumes u. a. auf Kurt Blaukopf: „Eine musikalische Form kann eine architektonische
Metamorphose ausdrücken, die man als eine Art von erhellender Entwicklung bezeichnen
könnte. Die Tonhöhe erweist sich als ein besonders wichtiges Element bei dieser Art
Behandlung des Raumes. Durch Akzentuierung von verschiedenen Tonhöhen kann man
Effekte von schweren und düsteren oder leichten und klaren Räumen erreichen.“ (Robin
Minard zit. in Zelli 2001: 145 – 146).
52
„[…]Artikulierung des Raumes bedeutet generell eine Verräumlichung des Klangs und ist
verbunden mit der Bewegung von Klängen durch den Raum […].“ (Robin Minard zit. in Zelli
2001: 147; Minard 1996: 19).
49
In Parallelität zur barocken Architektur, die – auch in Abgrenzung zum
akademistischen Manierismus – von einer Überbetonung von Sinnlichkeit und
von sich öffnender Dynamik (vgl. Panofsky 2005 [1934]: 45) geprägt ist, finden
sich in der futuristischen Architektur jene vitalistischen Komponenten (vgl.
Hofmann 2003: 301) wieder, die sich als nonlinear–simultane Kraftlinien im
Raum definieren. Die Verräumlichung energetischer Kräfte, analog zur
Objektivierung dieser Kräfte durch die Musik (vgl. Motte – Haber 2005: 304),
wird einerseits im metaphysischen Denken jener Zeit deutlich, andererseits
wird versucht, dies in eine phänomenale Wirklichkeit zu transferieren.
Eine futuristische (Stadt)Architektur wird bei Sant´Elia eingefordert als
ephemer–prozessuale Tektonik, implementiert in ein Netzwerk von Kraftlinen
als Aufzüge, Transport– und Förderbänder (vgl. Baumgarth 1966: 148). Der
Transport von Einwohnern oder Gütern findet sich entlang dieser Kraftlinien
und
kulminiert
in
urbanen
Knotenpunkten
wie
Bahnhöfen
oder
Elektrizitätswerken. Hier ist das im Futurismus wertbestimmende Prinzip des
Dynamismus dem barocken Prinzip des sich im Fließen befindlichen Raumes
analog und wird manifest in der Idee eine[r] emotive[n] architektonische[n]
Umwelt, die die Empfindung hervorruft und den Betrachter umhülltt (Umberto
Boccioni 2002 [1914: 154). Anstelle einer physischen Wirklichkeit wird die
dem Materiellen innewohnende energetische Kraft abstrahiert und der
Formgebung im Raum übergeordnet.
Im Zuge
des
sich
aus
dem
russischen
Futurismus
entwickelnden
Suprematismus postuliert Kasimir Malewitsch (vgl. Kasimir Malewitsch,
Schwarzes Quadrat, 1913) den Wandel in eine gegenstandslose Freiheit, die
auch in den architektonischen Skizzen und Entwürfen Malewitschs an
Bedeutung gewinnt. Die sich gegenseitig überlagernden und durchdringenden
Kuben der Architekton–Entwürfe suggerieren eine Rhythmisierung des
Objektes. Durch die Verräumlichung von bedeutungslosen Formen wie dem
Quadrat wird deren Zeitgestalt indiziert, die Überlagerung von Körper und
Bewegung, von Figur und Grund ist auch eine Überlagerung von Zeit und
Raum, sie forciert eine musikalisierte Wahrnehmung. Ende des 20.
Jahrhunderts verbindet Zaha Hadid die
50
Einflüsse
des
russischen
Konstruktivismus und Suprematismus und die – urbarocke – Idee des
Raumflusses (Tabor 2006: 75) in eine versinnlichte Industriearchitektur, die die
Tektonik als ästhetischen Ausdruck von Gravitation [...] gänzlich verschleiert
(ebd.: 76). Wenn im Zusammenhang mit Zaha Hadids Entwürfen von
verflüssigtem Raum (vgl. Celant 2006) oder von
geronnenen Hohlformen
dynamischer Kraftfelder (vgl. Stierli 2006) gesprochen wird, scheint dies auch
eine transformatorische Repräsentanz von gefrorener Musik zu sein.
Der bei El Lissitzky als solcher definierte Übergang von der Malerei zur
Architektur findet sich in den Proun – Entwürfen, Raum – Konstruktionen,
deren weltlicher Bezug durch die Verwendung abstrakt – geometrischer
Prinzipien gestört wird (vgl. El Lissitzky, Wolkenbügel, 1923 – 25).
Andererseits wird der suprematistisch besetzte 2–D Raum um die dritte
Dimension durch die Verwendung multipler Achsen erweitert. Deren Existenz
impliziert Zeit – als die vierte Dimension – wie auch die daraus folgende
Dynamisierung des Rezipienten als Konstruktionsmerkmal (vgl. Bois 1992:
41). In der Befreiung des Bildes aus seinem Rahmen und dessen Überführung
den Proun–Raum als wahrnehmungstechnischen Erfahrungsraum sieht
Lissitzky die Erweiterung des Konzeptes des Suprematismus um die
Axonometrie (ebd.: 38). Auch in der Erkenntnis des nicht–euklidischen
Raumes durch Nikolai Lobatschewski sieht Lissitzky eine Bestätigung für eine
suprematistische Raumkonzeption in einem neuen – dynamischen –
Raumbewusstsein.
„Der starre, euklidische Raum ist durch Lobatschewski, Gauss, Riemann
zerstört“ (El Lissitzky zit. in Motte – Haber 1990: 41).
Mit dem Gebrauch von Formelementen der Spirale oder deren Derivationen
wie Hyperbel, Parabel oder spiralförmiger Zylinder (Gaßner 1992: 59) wird
räumlich–zeitliche Dynamik signalisiert und die Rezipienten so in den
konstruktivistischen Organisationsprozess einbezogen. Wladimir Tatlin plante
Bewegungen und Gegenbewegungen – als Geschwindigkeitsdifferenz und
parabolische Gegenläufigkeit – im Monument der dritten Internationale 0 10
(Entwurf ca. 1917) in ein organisch–dynamisches Zyklengebilde ein, das eine
51
Simultaneität durch Immersion der Bewegungsarithmetik in den Raum
suggeriert. Die Beziehungen sind aber trotz des Maschinen–Material–Bezuges
eher biodynamische Spuren von Simultaneität als mechanistische Kausalbeziehungen. Die sich in den Tatlinschen Eckreliefs in den vorhandenen Raum
spannenden
und
um
einen
Gravitationspunkt
balancierten
(vgl.
Schneckenburger 2000: 447) Gebilde ersetzen das plastische Raumvolumen
und die plastische Stabilität durch den Raumbezug und repräsentieren den
impliziten Rhythmus des Nichtlinearen:
„Es gibt sozusagen zwei Formen der Zeit, zwei Formen des Raumes; eine ist
historisch, kalendarisch, die andere ist nicht berechenbar und musikalisch.“
(Alexander Blok [1919] zit. in Bowlt 1985: 390).
Wenngleich Blok die Nichtberechenbarkeit eines Raum–Zeit Kontinuums aus
der Sicht des symbolistischen Dichters in einer von Bergson geprägten Epoche
argumentiert, so wird damit auch auf die Problematik eines statischen
Brennpunktes (als Verweis auf die historische Evolution der Szene oder des
Objektes) in den figurativ–räumlichen Künsten (vgl. Bowlt 1985: 391)
verwiesen. Demgegenüber ist die Rhythmisierung als die Allegorie der
zeitlichen Fortschreitung und der Bewegung einer ständigen Wechselwirkung
mit äußeren Einflüssen und Störfaktoren ausgesetzt, wodurch deren inhaltliche
Ästhetik wiederum von einer nonlinear–dynamischen Programmatik abhängig
ist.
Akustische wie optische Proportionen als
Maßsysteme
menschlicher
Wahrnehmung sind bei Le Corbusier ein Rückgriff auf die platonische
Arithmetik in Verbindung mit der Entwurfs–Architektur des Architektonischen
Expressionismus (vgl. Pehnt 1985: 396). Im von Le Corbusier entwickelten
Modulor wird das Verhältnissystem des Goldenen Schnittes auf eine artifizielle
menschliche Körpergröße angewandt und in die Gesetzmäßigkeiten der
Wissenschaftsevolution im 20. Jahrhundert eingebunden. Die Topologie
hyperbolischer Paraboloide wird von Iannis Xenakis in der grafischen Notation
zu Mètastasis (1954) als musikalische Zeitverhältnisse beschrieben, ausgehend
vom Verhältnissystem des Modulors. Die Darstellbarkeit von hyperbolischen
Paraboloiden durch die Bewegung gerader Linien (Erzeugende) und deren –
52
diskrete – Aneinanderreihung zu einer einfachen windschiefen Regelfläche
(Bewegungsfläche) 53 findet sich im Konzept der futuristischen Kraftlinien und
im dynamischen Formdenken der musikalischen Wirkungsästhetik von Ernst
Kurth.
Die Bewegung der erzeugenden Geraden und deren imaginierte Spannung als
energetische Grundlage geometrischer Konstrukte führt unmittelbar zu einer
entsprechenden Raumvorstellung. Eine Zusammenführung physikalischer
Termini wie Schwere, Masse, Gravitation (vgl. Motte Haber 2005: 298f) und
den hyperbolischen und parabolischen Klangkurven als im Raum gefasste
Klangmassen (Varèse 1983: 20) findet sich im Philips–Pavillon (1958) auf der
Brüsseler Weltausstellung. Entwurf und Realisation sind eine Zusammenarbeit
von Le Corbusier, Iannis Xenakis und Edgard Varèse, konzipiert als eine Form
eines raum–zeitlichen Gesamtkunstwerkes. Die mikrotonale Zerlegung der
Klangstrukturen und deren glissandierende Metaformen versinnbildlichen
Bewegung;
im
Konstruktionsvorgang
durch
die
Verschiebung
von
Erzeugenden Linien und in der darin enthaltenen Oberflächenspannung. In
Entwurf und Architektur des Philips–Pavillons ist eine funktionale Verortung
zu erkennen durch die Interaktion des geometrisch–topologischen Regelwerkes
mit der musikalischen Form.
Gerade in der Aufhebung funktionaler Zuordnungen und deren Regelsysteme
(Informalisierung) durch deren explizite Nichtplanung findet sich aber eine
Loslösung von architektonischen Gesetzmäßigkeiten wie Verortung und Statik
hin zu Ortlosigkeit und Dynamik.
„Die Vorstellung Zuordnungen aufzuheben, geändert vorzunehmen, gibt dem
als klar, starr, unverrückbar geprägten Funktionsbegriff eine neue Dynamik
... die Funktionen von den Zuordnungen, vom Zusammenhang trennen, in
einen anderen Zusammenhang stellen, transponieren. Eine Funktion nicht
mehr zuzuordnen (z. B. zu verorten), macht den allgemeinen Planungs-
53
„Die wichtigste Art gesetzmäßiger Flächen bilden die Bewegungsflächen. Eine
Bewegungsfläche wird durch die Bewegung einer Kurve erzeugt. Die Bewegung kann
insbesondere als Parallelverschiebung, als Drehung bzw. als Schraubung vorgeschrieben
[...] sein. [...] Besondere Arten von Bewegungsflächen sind die Regelflächen (durch die
Bewegung einer Geraden erzeugt) [...].“ (Marzani 1965: 153/38.12).
53
gedankengang beweglicher. Ein Ausblick auf die Hybrid Architektur könnte
als These die Methode der Zuordnungen als Planungsinstrument überhaupt
sistieren, nicht mehr verwenden und die Handlungen direkt im Sinne einer
prozessorientierten Planung für eine prozesshafte Architektur planen.“ (Wolff
– Plottegg 2007: 83)
Die Prozesshaftigkeit als offenes System – in der Architektur wie in der Musik
– impliziert die Algorithmen und deren Einhaltung, ob regelgerecht oder nicht,
als einen Übergang von Funktionserfüllung zu Funktionserfindung und so die
Aufhebung einer funktionalen Verortung (vgl. Wolff – Plottegg 2007: 71, 125).
Eine Strukturierung, intern oder extern, ist lediglich als Rahmen vorgesehen,
die Zuordnung erfolgt im kollektiven Gestalten über die Erfahrungen der
einzelnen Teilnehmer oder (Be)Nutzer und deren Wechselwirkung mit einer
Gebäudestruktur.
Die Dynamisierung der Architektur ist mit einer telematisch bedingten (und
technologisch ermöglichten) Gleichzeitigkeit der Präsenz an verschiedenen,
entfernten Orten verbunden. Es entsteht der irritierende Eindruck der
Ortlosigkeit (Rötzer 1995), der wiederum stringent in einen kommunikativen
Prozess eingebunden ist. Die Struktur des beziehenden Denkens – über
kommunikative Prozesse – kann hier als konstruierendes Element hedonistisch
orientierter Lebensbewältigung, auch im urban–architektonischen Umfeld,
gesehen werden.
2.3.4 Film und Lichtkunst
Die im futuristischen Umfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich
entwickelnde Befreiung des Klanges geht parallel zu einer Entwicklung des
Films als eine, dem Maschinenkult als treibende Kraft jener Zeit (Deisl 2006:
161) adäquaten, (techno)logischen Extension des Auges. Die Erfassung und
Speicherung von räumlicher und zeitlicher Realität wird zur Form des
modifizierbaren Readymade. Dziga Vertov, in Kenntnis von Luigi Russolos
Arbeiten am Geräusch zur Erneuerung der Musik (Russolo 1913: 32),
strukturiert die visuelle Realität nach Maßgabe von wahrnehmungstheoreti54
schen Beziehungen und Konnotationen, zusammengefügt aus rhythmisierten
Abbildern des industriellen Zeitalters:
„Die in Geräusche/Töne umgewandelten Abbilder der industrialisierten
Wirklichkeit
bedingen
für
die Bildkomposition einen
mechanischen,
maschinengeleiteten Rhythmus, dessen Grundparameter Repetition und
Flächigkeit sind.“ (Deisl 2006: 163).
Repetition und Flächigkeit stehen über den Parameter Distanz in gegenseitiger
Abhängigkeit, vergleichbar mit der musikalischen Definition des Geräusches 54
führt die immer weitere Verkürzung von Abständen in der Malerei schließlich
zur Monochromie. Wenngleich Luigi Russolo die Logik der – urbanen –
Umweltgeräusche als die adäquate Basis für seine Arbeit am Klang sah, scheint
das artifizielle, imitative Geräusch der Intonarumori ein in eine Zwangsjacke
musikalischer Ordnung eingekerkerter Hybrid zwischen bildender Kunst und
Musik zu sein. Russolos codierte Speicherung geräuschhafter Vorgänge über
die Partitur wird bei Vertov von einer algorithmischen Montage mimetischer
Fieldrecordings ersetzt. Die repetitive Flächigkeit, schon in der Affektenlehre
des musikalischen Barock als Formmittel eingesetzt, in Verbindung mit
Intervall und Rhythmus ist eine der Akzente der dynamischen Abstraktion des
kinematografischen Bildes. Ein weiterer Akzent ist die reduzierte sensoriale
Räumlichkeit oder Tiefenwirkung und somit die partielle Unwirklichkeit des
filmischen Bildes (vgl. Arnheim 1932: 197), das die filmische Montage (erst)
als Mittel der
Dynamisierung ermöglicht. Die Umgruppierung und
Neuordnung realer Bilder als motivgeleitetes Abstrahieren im Medium Film
(vgl. George Antheil, Ballet mécanique, 1924) basiert zu dieser Zeit auf der
mechanischen
Natur
des
Mediums,
gestützt
auf
musikalisierte
Gebrauchsgeräusche. Demgegenüber ist die Abstraktion im Film nicht nur in
der am Tafelbild–orientierten Nichtgegenständlichkeit zu sehen, sondern eher
in Abkehr von (zeitgerichteten) narrativen Strukturen.
„[D]er Film [bietet] hinsichtlich Rhythmus, Melodie und Harmonie die
gleichen Möglichkeiten wie die Musik. Die mechanische Natur des Mediums
54
Sehr viele, sehr dicht liegende Sinusschwingungen mit nicht ganzzahligen
Frequenzverhältnissen. (vgl. Hall 1997: 148).
55
Film erlaubt eine strenge Kontrolle der Zeit: Narrative «Melodien» können
nun genau kontrolliert werden. Die Filmemacher begannen sehr früh mit dem
musikalischen Potential der neuen Kunst zu experimentieren.“ (Monaco 1995:
54).
Sind den musikalischen Strukturen Formen der narrativen Zeitgestaltung
inhärent, so ist der Klang deren mimetische Basis. Viking Eggeling und Hans
Richter sehen ursprünglich in der Dynamik des musikalischen Kontrapunktes
ein strukturelles Konzept (vgl. Jauk 2005a: 516) für die Abstraktion von
Bewegung als Alternative zur Statik des Tafelbildes und die Verflechtung
dieser Abstraktion zur Raumwahrnehmung. Die Beziehung verschiedener
Strukturen, diachrone wie synchrone (ebd.) bearbeiten Eggeling (Horizontal–
Vertikal–Messe, 1919) und Richter (Präludium, 1919; Fuge, 1920) vorerst als
musikalische Malerei in Bildrollen, die dann konsequenterweise zum neuen
Medium Film übergeführt wird (vgl. Finkeldey 1998: 94f). Die Anwendung
der Struktur des Kontrapunktes, oder genauer der kontrapunktischen Fuge, als
iterative Variationsform auf eine visuelle Wahrnehmung verknüpft einerseits
die Nichtgegenständlichkeit des einzelnen Frames und andererseits graphisch
generierte formale Komposition als Irritation von Erwartungshaltungen zum
abstrakten Film.
Die Willkürlichkeit der Auswahlkriterien im Kontext mit jener strengen
Kontrolle der Zeit ist eine Vorwegnahme des digital programmierten Films.
Diese Willkürlichkeit ist auch eine Form der indirekten Kommunikation
zwischen Künstler und Betrachter, die sich dem direkten körperlich–
assoziativen Erfahrungswissen entzieht, dieser Kommunikationsraum ist ein
musikalischer, daher ein abstrakter. Die Dekonstruktion und – zeitliche –
Neuordnung von ursprünglich mimetischen Bedeutungszusammenhängen
findet sich im Makrobereich bei Walter Ruttmann als Zeitstruktur und im
Mikrobereich bei Kurt Kren – als willkürliche Aneinanderreihung von Frames
oder Kader 55 – ähnlich der Granularsynthese 56.
55
56
Vgl. Tscherkassky 1995: online.
Die Granularsynthese, zur analogen wie digtalen Klangerzeugung verwendet, besteht im
Zusammenfügen Tausender kleiner Schallimpulse zu neuen akustischen Ereignissen.
56
In seiner synästhetischen Orientierung ist der Film der klassischen Avantgarde
(vgl. Walter Ruttmann, Lichtspiele Opus 1, 1921 und Berlin, Die Sinfonie der
Großstadt, 1927) einerseits struktureller Film infolge seines experimentellen
Formalismus, der sich selbstreflexiv mit dem eigenen Medium beschäftigt (vgl.
A.L. Rees 2007: 60f), andererseits eine Malerei mit Zeit (Ruttmann) 57, die im
Rückgriff auf musikalische Strukturen mit der Dynamik und dem Rhythmus
von Gegensätzlichkeiten arbeitet. Vor allem Lichtspiele Opus 1 ist nach
musikalischen – nach kontrapunktischen – Gesichtspunkten strukturiert, hier
folgt die Originalmusik dem gleichen Zeit–Rhythmusgefüge wie die visuellen
Formen. Diese synästhetische Verknüpfung ist eine assoziative – keine genuine
–, bei der Visualisierung des Geräusches. Sie folgt einer willkürlichen Auslese
ohne eine empirisch belegbare Analogie. Eine quasi–synästhetisch orientierte
Strukturierung von Zeit folgt im synthetischen Tonfilm einerseits den
räumlich–emotionalen Vorgaben wie den Bild– oder grafischen Partituren und
andererseits den technologischen (Abtast)Möglichkeiten, die eine eigenständige
ästhetische Qualität besitzen (vgl. Föllmer / Gerlach 2004: online).
Oskar Fischinger (1932) postuliert enge Beziehungen zwischen dem Ornament
und dem Ton im Umfeld der technischen Vorgaben dieser Zeit:
„Zwischen Ornament und Ton bestehen direkte Beziehungen, d. h. Ornamente
sind Musik. Ein Tonstreifen ist gezeichnete Musik. Ein Tonstreifen weist am
Rand einen feinen Streifen zackigen Ornaments auf. Dieses Ornament ist
gezeichnete Musik, ist Ton. Durch den Projektor geschickt klingen diese
gezeichneten Töne unerhört rein und ganz offensichtlich sind hier
phantastische Möglichkeiten.“ (Oskar Fischinger zit. in Weibel 1987: 84).
Fischingers parallel zu Rudolf Pfenningers Tönende Handschrift (ab 1929)
entstehende Tonzeichnungen unmittelbar auf das Trägermedium Film
Abhängig von der Wiedergabegeschwindigkeit beginnen sich aus den verschiedenen
nacheinander angeordneten Klängen neue und komplexe Schallereignisse zu bilden. […] Aus
diskontinuierlichen analogen (Tonband) und/oder digitalen (Computer) Klangaufzeichnungen
wird ein neuer kontinuierlicher Klang. (vgl. Ruschkowski 1998: 314).
57
Aus dem Walter Ruttmann – Nachlass, ohne Titel, undatiert, vermutlich um 1919/20. Unter
dem Titel »Malerei mit Zeit« veröffentlicht in: Birgit Hein/Wulf Herzogenrath (Hg.): Film
als Film, 1910 bis heute, Stuttgart 1977, S. 63–64. [Anmerkung aus:
www.medienkunstnetz.de, online: http://www.medienkunstnetz.de/quellentext/19/
17.01.2011].
57
kennzeichnen den Ursprung der visuellen Musik (Weibel 1987: 84) unter der
Prämisse der technologischen Entwicklung. Diese Technologie beschränkte
anfänglich noch die Freiheit des musikalisch–visuellen Ausdrucks der
zeitlichen Gliederung des Raumes. Die geforderte Vereinfachung und
Anpassung der Vorlagen als Universelle Sprache (Elder 2008: 144f) ist die
Formalisierung zeitlicher Gestaltung innerhalb der Grenzen des Mediums Film.
Die Metaebene einer Universellen Sprache abseits von Nationalismen und auf
Mechanismen einer universellen visuellen Wahrnehmung (ebd.: 145)
basierend, erlangt wegen ihrer Abstraktheit – im narrativen Film – selbst keine
künstlerische Bedeutung.
Der metrische Film (vgl. Peter Kubelka, Arnulf Rainer, 1960) kreiert ein
rhythmisches Gebäude aus Licht und Ton (Kubelka 1976: 66), dessen Struktur
wird in metrischen Maßen reglementiert. Eine über die körperliche
Erfahrbarkeit hinausgehende Metrik ist aber auch die theoretische Metaebene
auf der eine Wahrnehmung, die über die mechanischen oder physiologischen
Möglichkeiten des Menschen hinausgeht, basiert. Die Auslotung eines
Zeitmaßes im Mikrobereich, das sich der Wahrnehmung und der Erfahrbarkeit
widersetzt, definiert eine Wahrnehmung zweiter Ordnung innerhalb der
Grenzen der sensorischen Möglichkeiten. Wie Samuel Conlon Nancarrows
Papierlochstreifen für Playerpianos und Oskar Fischingers Tonzeichnungen
von den kleinstmöglichen Einheiten der mechanischen Abtastmöglichkeiten
des Apparatus abhängig sind, so findet sich auf Basis der Montage von
kleinstmöglichen Einheiten ein synthetisches Realitätssurrogat. Die Granularsynthese im Film wie in der Musik imaginiert ein Szenario immaterieller
Dynamik und zeitlicher sowie auch räumlicher Irritation.
Durch eine virtuelle Erhöhung der Geschwindigkeit über die Grenze des
menschlich Fassbaren hinaus (Jauk 2005b: 95) wird die Raumerfahrung
mittels mechanisch–analoger (De)Konstruktion irritiert und zurück in
kognitiv–konventionelle Formvorstellungen übertragen, darin konstituiert Zeit
sich nicht über reale Beziehungen, sondern über virtuelle. Eine so dem
metrisch–strukturellen
Film
als
Kontrapunktik
gegenübergestellte
Entwicklung der 1960er Jahre ist Andy Warhols zeitgedehnte und
58
rhythmuslose, ungeschnittene Trance–Ästhetik (vgl. Andy Warhol, Empire
State
Building,
1964)
ohne
den
technologischen
Eingriff
–
über
Montagetechniken – in die Zeitstruktur. Diese paintings that move (Gerard
Malanga) 58 sind Readymades unstrukturierter Zeit und markieren als eine
mediale Fusion von bildender Kunst und deren Musikalisierung eine Antithese
zum strukturellen Film. Analog zur Zeitwahrnehmung in den narrativ–
prozessualen paintings that move erweitert sich über die nonnarrativ–
abstrahierenden Exploding Plastic Inevitables (Andy Warhol & The Velvet
Underground, 1966/67) die Raumwahrnehmung zu (sound)installations that
move.
Die Fusion von bildender Kunst und Musik, wenngleich unter der Prämisse
synästhetischer Stimuli, erweitert sich in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts von der zweidimensionalen Bildfläche in den Raum der Skulptur
und der Installation (vgl. Weibel 1987: 110). Die Erweiterung der Skulptur um
den Faktor Zeit bei Boccioni (vgl. Boccioni, Synthese des menschlichen
Dynamismus, 1913) komprimiert die Bewegung in der Zeit in einer
Simultandarstellung, die Installation impliziert den Raum als Element der
Bewegung und so als Element von Komposition und Konstruktion. Die
monumental–technoiden Licht– und Klangtürme von Nicolas Schöffer und
Mauricio Kagel sind in der Nachkriegszeit des WK II realisiert. Schöffers
spatiodynamische Türme (1954 / 1961) randomisieren über umweltabhängige
Algorithmen die Choreografie von Licht und musikalischer Komposition
(Komponist Pierre Henry). Kagel andererseits verwirft die Synchronizität von
Licht und Ton und erzeugt eine phasenverschobene, vorkonstruierte Musikund Lichtchoreografie.
Die Dynamik des differenten Raumes wird von Schöffer einer indifferenten
Zufallsarithmetik gegenübergestellt, ein kybernetisches Regelsystem (vgl.
Motte Haber 1999: 216f) mediatisiert die physikalischen Umweltwerte in ein
58
Interview Gerard Malanga in WARHOL's CINEMA - A Mirror for the Sixties (1989).
(64 min documentary on Andy Warhol's cinema of the sixties, made for Channel 4 in
association with THE FACTORY, MOMA and the Whitney Museum of Art and in
collaboration with Simon Field. Directed & Produced Keith Griffiths.)
Recorded from a VHS video tape recording from the Channel 4 documentary. [online:
http://www.ubu.com/film/warhol.html 17.01.2011].
59
luminodynamisches Phänomen. Diese
nicht–willkürliche Reaktion auf der
Basis indeterminierter Parameter ist eine kybernetische Ästhetisierung des
Stadt–Raumes, ein regulatives Andocken an die Stadt und ihre Bewohner
(Motte Haber 1999: 219). Ähnlich wie bei Lazlo Moholy – Nagys Licht–
Raum–Modulator 59 (1920 – 1930) ist die Konstruktion von Raum durch das
„immaterielle“ Medium Licht und die daraus resultierenden sensorischen
Sensationen die bestimmende Basis bei Schöffers abstrakter Lichtkunst. Nicht
die Licht aussendenden Apparaturen sind das (Kunst)Werk, der Rezipient
konstruiert durch Dekodierung und Informationsverarbeitung des Lichtes
(s)eine temporäre Umwelt.
Der prozesshafte Charakter und das mit diesem verknüpfte Nicht–Mimetische
als Element der Abstraktion in der Lichtkunst ist Form in Bewegung. Hier
findet sich eine Konkretisierung der Wahrnehmungskonstruktion von Raum,
unter
Einbeziehung
der
eigenen
körperlichen
Aktivität
im
Wahrnehmungsprozess als Körper–Umwelt–Interaktion (Jauk 2005: 508). Eine
konsequente Strukturierung dessen findet sich in Christina Kubischs Arbeiten,
die eine Umkehr der – üblicherweise ohne Bewegung zugängigen – auditiven
Raumerfahrung in eine interaktive bewegungsbasierte Klangraum–Erfahrung
anstrebten. Ausgehend von den ursprünglichen Arbeiten, die auf die visuell
gesteuerte Verfolgung von willkürlich verlegten Energielinien – wie
Stromkabel – und taktiles Ausloten deren elektromagnetischer Induktion (vgl.
Motte Haber 1999: 236) als Raumerfahrung hinwirken, sind die Electrical
Walks eine Erfahrung des Nichtwahrzunehmenden. Die elektroakustischen
Resultate der Electrical Walks 60 sind die Reaktionen auf die in einer
urbanisierten Topologie in verstärktem Maße vorhandenen elektromagnetischen Kraftlinien.
Kubisch verwendet die anfallenden Stromfelder, ein Teil– oder Abfallprodukt
der
Lichterzeugung
als
elektromagnetisches,
sensitiven
Vorgängen
unzugängliches Material des Hörbarmachens des immateriell–visuellen
59
Vgl. Moholy – Nagy, Laszlo (1947), Vision in Motion, Chicago: Paul Theobald & Company.
Vgl. Art. ELECTRICAL WALKS,
[online: http://www.christinakubisch.de/deutsch/klangundlicht_frs.htm 17.01.2011]
60
60
Mediums Licht. Die körperliche Bewegung im Raum als Basis einer visuellen
Raumerfahrung
ist
umgepolt
in
eine
Bewegung
des
Hörens
von
elektromagnetischer Induktion, deren Existenz unmittelbar gekoppelt ist an die
Illumination des Raumes. Hier entstehen einerseits Interferenzen der visuellen
und
der
auditiven
Raumwahrnehmung
durch
die
Dichotomie
der
Transformation von Elektromagnetismus in Licht und / oder Klang 61, hier
findet sich auch eine Interferenz von mechanistischer Kybernetik (vgl. Norbert
Wiener) und organisierter Komplexität offener Systeme (vgl. Ludwig v.
Berthalanffy) 62.
Die Arbeit der Gruppe ZERO 63 mit Licht als armen Material im Sinn der Arte
Povera rekurriert auf die Manifeste Lucio Fontanas, der im Manifesto Blanco
(1946) die Synästhesie von Farbe, Klang, Bewegung und Raum postuliert:
„Sie sind die vier Standsäulen der Kunst, die in synästhetischer Form zu
einem neuen Dynamismus, zu einer neuen Gestaltung von Umwelt und Raum
führen müssen. Im ersten Manifest des Spazialismo heißt es hierzu: »[...]
werden wir mit den Mitteln der modernen Technik künstliche Formen,
wunderbare Regenbogen, Leuchtschriften am Himmel erscheinen lassen.
durch Funk und Fernsehen werden wir künstlerische Ausdrucksformen von
ganz neuer Art ausstrahlen«“ (Reißer / Wolf 2002: 103).
Die lichtkinetischen Arbeiten der Gruppe ZERO enden zwar um ca. 1966, aber
das Medium vieler neuer Manifestationen in der Kunst, besonders der
kinetischen, technologisch fundierten [...] ist Licht (Piene 1991: 268). Ist die
Information in den lichtkinetischen Arbeiten von ZERO oder den
kybernetischen Schöffers in der visuellen Stimulation verankert, so
synästhesiert das Abfallprodukt Induktion auf einer sensorischen Metaebene
die kognitive Raumerfahrung über die Erzeugungs–Parameter von Licht und
Klang und in der durch diese gesteuerten Bewegung.
61
Christoph Cox im Interview mit Christina Kubisch [online
http://www.christinakubisch.de/pdf/Kubisch_Interview.pdf 15.01.2011]
62
Vgl. Art. Systemtheorie in: [online: http://www.t-h-e-n-et.com/html/_film/them/_them_sys_theorie.htm 15.01.2011].
63
Gegründet 1958 von Heinz Mack und Otto Piene, ab 1961 auch Günther Uecker.
61
In der Popularkultur des 21. Jahrhunderts entsteht – speziell in Wien –
nunmehr eine Form von Projektionskunst oder Projektionismus die Frederick
Baker, einer ihrer Protagonisten, als einen Paradigmenwechsel in der
Filmtheorie von der Produktion zur Projektion bezeichnet. Hier entwickelt sich
eine Verbindung zwischen spektakulärer Schau ohne Rückkanal (vgl. Fassler
1997:
124)
und
der
hedonistisch–emotionalen
Reaktion
auf
eine
subjektivistische Raumerfahrung. Die zweidimensional projektiv bewegten
computergenerierten Bildkompositionen bilden als eine Verschmelzung
zwischen Projektion und Hintergrund
eine pseudo–barocke Raumästhetik.
Eine Koinzidenz zweier heterogener Elemente wie das „Immaterielle“ einer
Projektion und die körperliche Umwelterfahrung basiert hier auf der
Metareferenz der Musikalisierung, deren Regelsystem der Selbstbeobachtung
im Sinn einer Kybernetik 2. Ordnung eine Räumlichkeit 2. Ordnung (Ries
2004: 3) generiert.
„Die Räumlichkeit zweiter Ordnung läßt sich am besten mit dem Begriff der
Koinzidenz begreifen, der das Zusammenfallen, das Zusammentreffen zweier
Elemente meint, ihre Wechselbeziehung oder Interaktion. Bevor jedoch etwas
koinzidiert, muss von einem der räumlich nebeneinander positionierten,
koexistierenden Elemente eine Inzidenz ausgehen, ein Ereignis sich
manifestieren, das einen Vorfall, einen Zwischenfall, einen Einfall markiert.
Zuallererst wäre eine solche Inzidenz die Manifestation eines Subjekts, das
Angebot
zur
Kommunikation
bspw.
Die Koinzidenz
ist
dann
das
Aufeinanderbezugnehmen, reagieren [sic], die Tatsache also, dass eine sozialräumliche Spannung sich zwischen den Elementen aufbaut.“ (Ries 2004: 3).
Die Verarbeitung digital codierter Bild– und Tonsequenzen in Echtzeit
rekurriert auf die Thesen der
konstruktivistischen Avantgarde des ersten
Drittels des 20. Jahrhunderts, insbesondere der audiovisuellen Musik (vgl.
Thomas Wilfred, Lumia, 1922; Ludwig Hirschfeld – Mack, Reflektorische
Farbenlichtspiele, um 1922 / 1923, als Teil des Programmes Der absolute
Film). Die Liveperformance und die Interaktion eines Performers mit
generativen Software–Applikationen, bei denen im Code implementierte
Entwicklungsprinzipien selbsttätig Klänge und / oder Bilder erzeugen, löst das
Collagieren und Manipulieren vorgefertigter Sequenzen ab (Rohlf 2004: 122)
62
und löst das VJing vom reinen Pop–Bezug im Kontext der musikalischen
Club–Szene.
„Dementsprechend lassen sich die Protagonisten dieser Kunstformen nicht
mehr eindeutig als Musiker oder visuelle Künstler einordnen. Als
«Videomusiker» respektive «Videomusikerin» verkörpern sie nicht ohne
Rückgriff auf historische Vorbilder hybride Identitäten aus Musiker,
Gestalterin, Darsteller, Wissenschaftlerin und Programmierer.“ (Rohlf 2004:
122).
Mit der Bild– und Klanggenerierung über den digitalen Code in der Do–It–
Yourself Szene geht eine Verwendung armer – weil in uneingeschränktem
Überfluss vorhandenen – Materialien, wie dem Internet entnommene reale TCP
– und Ethernet–Daten (vgl. Farmers Manual, Graceful Degradation, 2001 –
2002) einher. Das verweist auch auf die (im)materielle Identität des digitalen
Codes als Ausgangsmaterial von Bild und Klang und deren schrittweise
Annäherung und schließlich auf die Vereinigung akustischer und optischer
Phänomene (Daniels / Naumann 2007: 52), wenngleich ein Primat des
Akustischen (ebd.) – begründet in der technologischen Entwicklung – zu
vermuten ist.
2.4
Krieg, Zäsur und Postmoderne
Die ideologisch begründete und pathetisch überformte Kriegsbegeisterung des
Marinetti–Futurismus wird im Marinetti–Pamphlet Mafarka, der Futurist 64
(1909) in Romanform vorweggenommen. Neben Chauvinismen, Rassismen
und zynischem Antihumanismus wird die Ästhetisierung des Krieges durch ein
sich selbst reproduzierendes halb menschliches, halb mechanisches Überwesen
von Marinetti beschrieben. Das Pathos als Überhöhung ist weder parodistisch
wie bei Alfred Jarrys Le surmâle (1902) noch dionysisch wie in Friederich
Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883 – 1885) (vgl. Schmidt – Bergmann
2009: 118 – 125), dieses Pathos ist hier seltsam ernst gemeint und transportiert
64
Marinetti, Filippo T., (2004 [1909]), Mafarka, der Futurist. Afrikanischer Roman, hg. v.
Michael Farin / Hansgeorg Schmidt – Bergmann, München: Belleville.
63
die futuristische Apotheose des Krieges in völliger Absenz von Ironie. Im
Hinblick auf die Mechanisierung der (futuristischen) Kunst als ein Indiz der
Verwissenschaftlichung von Kunst und Alltag und für die Glorifizierung von
Technik und Geschwindigkeit erweist sich der abstrahierte Krieg als probates
Mittel den Ästhetik–Begriff eines dekadenten Romantizismus als Passatismus
zu entlarven.
In der futuristischen Ideologie, wo der Maschinenkult dem futuristischen
Ästhetik–Begriff zugrunde liegt, ist die Maschine ein natürlicher Index
kultureller Evolution und Symbol der technischen Moderne. Der Krieg und die
Kriegsmaschinerie wurde[n] zu einem künstlerischen Werkzeug (Schmidt –
Bergmann 2009: 166), die Artillerie sollte aus Menschenmaterial neue
Skulpturen formen (ebd.). Die Artillerie, von Russolo als eine beeindruckende
Symphonie der Geräusche (vgl. Russolo 1986: 52) bezeichnet, entgrenzt die
Körper–Umwelt–Erfahrungen, die auf psychisch und physisch verarbeitbaren
Reizen basieren. Durch eine dromologische Immersion (vgl. Tholen 199:
137ff) und die Immersion durch die hohe Intensität der Reize wird eine
Situation der implodierenden Wahrnehmung (ebd.: 140) induziert, die ihrerseits
eine deszendente Reaktionsfähigkeit und das dementsprechend hervorgerufene
neuronale
Trauma
bedingt.
Die
Erhöhung
oder
Überhöhung
von
Geschwindigkeit bewirkt so nicht die parallele Zunahme von Bewegung, als
Indikator von Geschwindigkeit, sondern deren Abnahme. In der Dromologie
Paul Virilios sind die Geschwindigkeit und das Leben unmittelbar miteinander
verknüpft, woraus folgt, dass die einzelnen Epochen der Geschichte je ihre
eigene Geschwindigkeiten haben, die wiederum in ihren Kriegsstrategien
begründet sind. In der enormen Überhöhung der Geschwindigkeit dieses
Krieges jedoch verliert das Individuum die Möglichkeit des eigenen Beitrages
und versinkt in Stillstand.
Der – zumindest theoretische, in zahlreichen Manifesten formulierte –
futuristische Anspruch der völligen Umgestaltung der Lebenswelt durch eine
neue Sensibilisierung der Wahrnehmung für Geschwindigkeit, Bewegung,
Simultaneität und Lärm sieht sich in der Wirklichkeit der Kriegs– und
Nachkriegswirren des WK I konterkariert. Sein auffallender ideologischer
64
Dogmatismus treibt den italienischen Futurismus einerseits in die Richtung des
italienischen Faschismus und andererseits für einige Jahrzehnte in den
Mülleimer der (Kunst)Geschichte (vgl. Marcus 1996a).
Der Dadaismus, die zweite relevante Avantgarde dieser Zeit ironisiert den
Irrsinn des WK I und deutet das Kriegsgeschehen und die damit verbundene
bürgerliche Ideologie auf provozierend–nihilistische Weise um. Dada etabliert
sich in Europa, für den Dadaismus in New York konstatierte Man Ray später,
dass der Geist des Dadaismus dem amerikanischen Denken höchst fremd sei,
so endet dieser, ähnlich dem Futurismus, knapp nach dem WK I im Mülleimer
der Geschichte. Der europäische Dadaismus agiert in radikaler, grotesker und
bewusst
höchst
unsensibler
Weise
gegenüber
der
obrigkeitshörigen
Bourgeoisie und gegenüber der als bourgeois empfundenen Kunstelite, aber
auch die Verhöhnung des Kunstgeschmackes der Massen (vgl. Beyme 2005:
547) ist dadaistisches Programm. Das führt, ganz im „Sinn“ des Dadaismus, zu
Angriffen aus den verschiedenen ideologischen Lagern. Die Kommunisten
standen der Forderung der Dadaisten nach progressiver Arbeitslosigkeit durch
umfassende Mechanisierung (ebd.) ebenso skeptisch gegenüber wie das rechte
Lager, das die deutsche Seele durch Berlin–Dada vergiftet sah.
Dem Trauma des WK I wird mit der Ordnung des Maschinenzeitalters
begegnet, die technischen Möglichkeiten der Massenproduktion zeichnen sich
in den Formen medialer Massendistribution ab. Die – zivile – Ordnung als
Faktor
der
ideologiekonformen
Stabilität
bedingt
wiederum
die
Vereinnahmung massenmedialer Distributionsmöglichkeiten wie Radio oder
Film durch den Staatsapparat. Das Radio, als eine Möglichkeit Geräusche oder
akustisches Material über bislang nicht gekannte Distanzen und vor allem in
Echtzeit zu verbreiten und zu kommunizieren, ist die
technologische
Mediamorphose (vgl. Blaukopf 1989) der Zwischenkriegszeit. Die futuristische
Forderung nach der Einbindung industrieller Errungenschaften in die Ästhetik
des Kunst / Leben bedingt einerseits die Verwendung des Radios als
künstlerisches Tool, andererseits dessen Vereinnahmung als Distributionsmittel
von Ideologie. Die künstliche Erzeugung städtischen und somit alltäglichen
Lärms als ein Grundgerüst für Musik ist mit Luigi Russolos Intonarumori als
65
Einzelkonstruktionen zur Erstellung nicht–instrumentengestützten Klanges
verwirklicht. Der Klang wird zweifach von seiner Natürlichkeit entkoppelt,
über seine Erzeugung durch technische Tools und über seine orts– und
zeitungebundene mediale Verbreitung.
Die Programmatik der Verwendung neuer Radiotechnik in der klassischen
Moderne der Zwischenkriegszeit ist eine Erweiterung der relativ isolierten
avantgardistischen Ästhetik und die Erreichbarkeit neuer sozialer Schichten.
Dass die Malerei nicht imstande ist, den Gegenstand einer simultanen
Kollektivrezeption zu bilden (Benjamin 1991[1936]: 460), ist einer der Gründe
dieser ästhetischen Isolation, die die elektronische Mediamorphose, vorerst in
Film und Radio, verändert. Durch die Verwendung des potenziellen
Massenmediums Radio als avantgardistische Kunstform fällt das spezialisierte
Publikum und so auch die Trennung zwischen Hoch– und Popkultur weg. F.
T. Marinetti und Pino Masnata (vgl. futuristisches Manifest La Radia, 1933)65
sehen unter anderem aus diesem Grund das Radio schlussendlich dem
herkömmlichen Theater und dem Film überlegen. Dementsprechend ist das
radiophone Theater Marinettis ein Netz simultan agierender Knoten oder
Sendepunkte des Mediums Radio, das dem zentralistischen unidirektionalen
Sendeweg des von der Staatsmacht vereinnahmten Radios entgeht. So sieht das
Drama der Distanzen 66 jeweils elf Sekunden lange akustische Ausschnitte aus
verschiedenen Teilen der Welt vor, die, elektroakustisch aneinandergereiht,
ortlos und entzeitlicht eine Collage von beliebigen Zuständen realisieren. Es
werden so mit dem Instrument Radio die Distanzen negiert und artifizielle,
elektroakustische Klänge zu einer simultanen Radioskulptur vereint.
65
Marinetti / Masnata, La Radia (1933), [online:
http://www.kunstradio.at/THEORIE/theorymain.html 17.01.2011].
66
Das Drama der Distanzen (Dramma di Distanzi) ist die Partitur eines Teiles des Hörstückes
Cinque Sintesi dal Teatro Radiofonico (auch: Cinque Sintesi Radiofoniche) von F. T.
Marinetti aus 1933: “´Dramma di Distanze´ (aus den “5 Sintesi dal Teatro Radiofonico” di
F.T. Marinetti): 11 sec di una marcia militare a Roma – 11 sec di un tango danzato a Santos
– 11 sec di musica giapponese religiosa suonata a Tokio – 11 sec di ballo campestre vivace
nella campagna di Varese – 11 sec di un incontro di pugilato a New York – 11 sec di
rumorismo stradale in Milano – 11 sec di romanza napoletana cantata nell albergo
Copacabana di Rio de Janeiro.” (Grundmann 1989: online).
66
Wenngleich der Stand der Technik in dieser Epoche Live–Schaltungen nicht
zuließ, enthält das Drama der Distanzen ein Telekommunikationsmodell, das in
seinem antihierarchischen Aufbau die Konventionen des Mediums Radio, wie
wir es kennen, übersteigt (Grundmann 1989: online). Marinettis Thesen einer
simultanistischen Radiokunst sehen multidirektionale Sendewege einerseits
und den Zugriff auf die unbegrenzten Datenmengen des – mit Russolo und dem
Bruitismus – befreiten Geräusches andererseits vor. Kurt Weills Entwurf einer
absoluten Radiokunst rekurriert auf die Theorien des absoluten Films,
künstliche Klänge wie die von Russolos Intonarumori werden mit natürlichen
Klängen gemischt und geschichtet, um so die skulpturale Qualität eines
absoluten, über der Erde schwebenden, seelenhaften Kunstwerkes (Weill 1990:
195) zu entwickeln. Konsequenterweise erarbeitet Walter Ruttmann 1930 in
Verwendung von Filmtechnologie eine erste Form des Hörspieles (Weekend,
1930), eine in den musikalischen Strukturen Klangfarbe, Rhythmus, Tonhöhe
eingebettete, dennoch narrative, elfminütige auditive Zusammenfassung eines
Wochenendes. Ruttmann sieht die Arbeit mit Filmtechnologie als direkten
Zugang zu natürlichem Material an, Film benutze nicht die Symbole wie die
Musik noch Stellvertreter wie das Schauspiel. Und da die Photographie des
Tons durch Belichtung eines Filmbandes geschieht, ergeben sich für die
akustische Montage die gleichen Möglichkeiten wie beim Filmschnitt (vgl.
Ruttmann 1929, zit. in Goergen 1994: 25). Das Zusammenwirken von Montage
und
Radiotechnologie
ist
eine
mediale
Zeit–Raum–Gestaltung
mit
unmittelbarem Material als technisch reproduzierte Hör–Kunst.
Das Radio wird speziell, wie die Medien allgemein, ab den beginnenden
1930er Jahren vor allem in Europa zum Mittel der politischen Propaganda, die
Protagonisten 67 eines einst emanzipatorischen Mediums Radio stellen sich in
den Dienst der ideologischen Systeme, was naturgemäß eine erhebliche
Schmälerung des experimentellen Ausdrucks in sich birgt. Die sehr rasche
Entstehung der Radiotechnologie in den 1920er Jahren nach dem WK I lässt
schon erkennen, welche „Macht“ das Radio als Distributionsinstrument haben
67
Walter Ruttmann, F. T. Marinetti, Dziga Vertov arbeiten in Deutschland, Italien bzw. der
Sowjetunion für die jeweilige Politpropaganda.
67
kann und dass diese Mediamorphose zu einer radikalen Umwertung kultureller
Strukturen
führt.
Die
Vermittlung
der
Welt
als
sozialisierende,
gemeinschaftsbildende Funktion des Radios bringt vorher möglicherweise
isolierte Individuen und / oder Gemeinschaften in relativ intimen Kontakt mit
einer zentralen Quelle (vgl. Monaco 1995: 475) und fördert so (über die
Distribution der menschlichen Stimme und ausgewähltem oder montiertem
Audiomaterial)
bestimmte
gemeinschaftliche
Wertvorstellungen.
Die
verschiedenen totalitären Systeme der Zwischenkriegszeit erkannten und
nutzten so die Umstände, dass das Radio als authentisches Medium eine quasi–
persönliche Präsenz zeigt, die, weil einerseits im vertrauten häuslichen Umfeld,
andererseits hörend und ohne die für das Sehen charakteristische Hinwendung,
wesentlich leichter zugänglich wird, als der Film oder das Theater. Der
öffentliche wie der private Hörraum wurden entweder über Radiolautsprecher
oder über sogenannte Volksempfänger von der zentralistisch gesteuerten,
flächendeckenden Übertragung okkupiert.
Die radikale Kommerzialisierung des Radios und der Medien allgemein in den
Vereinigten Staaten war demgegenüber zwar keineswegs ein Vorteil, die
Ästhetik des amerikanischen Pragmatismus betont aber die Funktionalität der
Kunst und das damit verbundene Ziel, Kunst und Leben zugunsten ihrer
wechselseitigen Verbesserung stärker aneinander zu binden (vgl. Shusterman
1994: 14). Die amerikanische Denkweise des Optimismus relativiert die
europäische Theorielastigkeit des Diskurses Kunst / Leben und entwirft in
pragmatischer Annäherung von Nützlichkeit, Wirklichkeit und Wahrheit 68
Programme die vom elitären Kunstverständnis wegführen. Dementsprechend
schwindet auch
der europäische Diskurs über musikalisch–bildnerische
Synergien und deren quasi–wissenschaftliche Theorien (vgl. Franz Marc, Paul
Klee, Wassily Kandinsky) in Amerika mit der Erosion der klassischen
Moderne und mit wachsenden Tendenzen einer Art–as–art–Bewegung (vgl.
Beyme 2005: 322ff). Dass nicht die gesamte Avantgarde der Kunst / Leben
Theorie folgte, zeigt die Anmerkung von Ad Reinhardt: “I´m against the
68
Der Begriff Wahrheit sei hier im Sinne des Satzes von Theodor W. Adorno gebraucht:
Kriterium des Wahren ist nicht seine unmittelbare Kommunizierbarkeit an jedermann.
Adorno, Theodor W. (2003b [1966]), Negative Dialektik, S.51.
68
mixture of all the arts, against the mixture of art and everyday life.” und an
anderer Stelle: “The mixture or integration of the separate and different arts
are ugly. Poetic musical sculptural and mural painting are ugly” (Reinhardt /
Rose 1991: 28; 165).
Die radiotechnischen Entwicklungen sind ab den 1920er Jahren von den
Avantgarden fast vorbehaltlos übernommen worden, diese Vorformen der
heutigen
Medienkunst
wurden
danach
durch
die
Zwischenkriegs–
Totalitarismen und den folgenden WK II radikal unterbrochen und finden erst
in den 1960er Jahren eine Fortführung.
So verschiebt sich der Schwerpunkt der Künste aufgrund der Emigration
europäischer Avantgarde nach Amerika, das seinerseits eine Förderung für
arbeitslose Künstler (vgl. Federal Art Project / New Deal) 69 im Rahmen der
Maßnahmen gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise von 1929 anstrebt.
Dies bewirkt eine Tendenz zum Amerikanismus und zur Folklore, die
Entwicklungen zum unpolitischen abstrakten Expressionismus als genuin
amerikanische Kunst zeichnen sich ab (vgl. Beyme 2005: 819f). Das Radio
wird in den USA der Zwischenkriegszeit von den werbungsfinanzierten
Privatsendern (vgl. Radio Act, 1927) im Sinne der freien Marktwirtschaft und
eines laissez–faire Kapitalismus faktisch übernommen. Die Lizenzvergabe für
die Verwendung von Frequenzen wurde nach dem Prinzip des public interest
vorgenommen, was den privatwirtschaftlichen Interessen der Rundfunkindustrie keineswegs entgegensteht (vgl. Hampf 2000: 15), die unabhängigen
Sendeeinrichtungen jedoch drastisch einschränkt.
Mit der kriegsbedingten Verödung Europas und damit der Zentren der
klassischen Moderne geht die Ablösung der Dominanz der europäischen
Avantgarde einher, ohne deren Einfluss jedoch die US–amerikanische
69
“The Federal Art Project (FAP) was created in 1935 […] (as part of Franklin Delano
Roosevelt's New Deal) […] to provide work relief for artists in various media–painters,
sculptors, muralists and graphic artists, with varous levels of experience. Holger Cahill, a
curator and fine and folk art expert, was appointed director of the program. As with the other
Federal cultural projects of the time, the program sought to bring art and artists into the
everyday life of communities throughout the United States, through community art centers,
exhibitions and classes.” (New Deal Programs: Selected Library of Congress Resources, in:
The Library of Congress, Virtual Programs & Services. [online:
http://www.loc.gov/rr/program/bib/newdeal/fap.html 17.01.2011].
69
Kunsthegemonie nach dem WK II kaum denkbar wäre. Der abstrakte
Expressionismus wird nunmehr zum Paradigma für eine Informalisierung der
Künste nach dem WK II die teils, wie die europäische Parallelentwicklung des
Tachismus, in einem – surrealistischen – Automatismus (vgl. Beyme 2005:
828f) wurzelt.
Nach dem WK II und vor allem in den Anfängen des Kalten Krieges wird der
abstrakte Expressionismus als die genuin amerikanische Kunst propagiert, in
der sich die amerikanischen Werte von Freiheit, Demokratie, selbstbestimmtem
Handeln und die Unangepasstheit und Freiheitsliebe des modernen Künstlers
(Alfred Barr zit. in Saunders 2001: 258) widerspiegeln. Der sogenannte
Kongress für kulturelle Freiheit, eine Einrichtung des CIA und so auch von
diesem – verdeckt – finanziert, propagiert ab 1950 offiziell eine freie Kultur in
einer freien Welt als Gegenpol zu den totalitaristischen (vor allem der der
Sowjetunion) Kulturauffassungen (vgl. Saunders 2001: 79 – 89). Damit werden
im Rahmen einer als Cola–Colonisation (vgl. Wagnleitner 2000) gesehenen
kulturellen Re–Enkulturation Europas nach dem WK II die (als Avantgarde im
Sinne amerikanischer 70 Werte okkupierte) abstrakte Kunst und die serielle
Musik nachhaltig gefördert, was Pierre Boulez als Folklore der Mittelmäßigkeit
bezeichnete
(Saunders
Amerikanisierung
2001:
Europas
211).
über
Ebenso
wird
die
Militär–Radiostationen
popkulturelle
oder
diesen
programmatisch ähnlichen Sendeeinrichtungen gezielt betrieben und vor allem
die europäische Jugend über die Rock´n´Roll Kultur auf den American Way of
Life zu konditionieren versucht. In der technologischen und wirtschaftlichen
Verfügbarkeit von Radiotechnologie begründet sich die Verbreitung der pro–
amerikanischen Propaganda, was aber auch europäischen Radiostationen
ermöglicht, Rundfunktechnologie als Medium der musikalischen Avantgarde
zu verwenden. Die Umsetzung der futuristischen Geräuschkunst als
Implementierung des Geräusches in die Musik wird in den Radiostationen der
Nachkriegszeit des WK II mit Hilfe von Kriegstechnologie realisiert, die
Nachkriegsavantgarde verwirklicht jene kompositorischen Absichten, die ein
70
Ohne die Eigenständigkeit der Nouvelle École de Paris als Erholung der europäischen Kunst
nach Ende des WK II zu vergessen.
70
Klangmaterial finden, das die Differenzierung bis zur Grenze des gehörsmäßig
Erfassbaren (Koenig 1955: 29) erlaubt.
Die Spätmoderne des abstrakten Expressionismus oder insgesamt der
informellen Kunst sieht sich nach den Jahren des magisch–metaphysischen
Pathos (Beyme 2005: 862) mit dem anything goes der Postmoderne insgesamt
und der Pop–Art – inklusive speziell in Fluxus die Wiederentdeckung des
Dadaismus – konfrontiert. Dass die Popkultur mit einer gewachsenen Pluralität
von Denk– und Handlungsmöglichkeiten (Mischke 1997: online) ab dem Ende
der 1950er Jahre in die postmoderne Denkweise von Bedeutungsnetzen
anstelle teleologischer Linearität tendiert, geht parallel mit der Vermengung
verschiedener Strömungen der europäischen und der afroamerikanischen
(Folk) Musik zur Rockmusik und deren massenmedialer Distribution.
Die der popkulturellen Entwicklung der Rockmusik implizite Wiederakzeptanz
der Körperlichkeit in der Nachkriegszeit ist die Gegenhaltung zu einer
einerseits körperfeindlichen, andererseits den Körper als Arbeits– und
Kriegsgerät instrumentalisierenden (vgl. Griebler 2006: 22) Dominanz– und
Disziplinarkultur der WK II–Generation. Ist die Pop– und Rockmusik eine
körperlich–hedonistische Erfahrung musikalischer Parameter im von exiting
Sounds mit high Intensities (Jauk 2005a: 168) getriggerten körperlichen
Ausdrucksverhalten von gleichermaßen Rezipienten und Konsumenten, so
wird im Fluxus diese hedonistische Erfahrung in einer gattungsübergreifenden
und intermedialen Plattform unterhaltenden Vergnügens gemacht. George
Maciunas definiert Fluxus – wiederum in Anlehnung an den Dadaismus – als
einfach, unterhaltend und anspruchslos und das FLUXUSKunstVergnügen [sic]
solle keine Geschicklichkeit und zahllose Proben erfordern, es darf keinen
Waren– oder institutionellen Wert (zit. nach Fricke 2000: 585) haben. Fluxus
ist eine Entwicklung aus dem Umfeld der musikalischen Avantgarde (vgl. John
Cage) und der Wiederentdeckung des Dadaismus und der Aktion, wenngleich
die amateuristische Komponente im Intermedialitäts–Anspruch (vgl. Rajewsky
2002: 9 T2) und der ausführungstechnischen Komplexität untergeht.
71
In der Intermedialität des Fluxus finden sich vor dem Hintergrund dadaistischer
Sinn– und (Be)deutungsfreiheit die Fortführung der radiophonen Vorformen
der Medienkunst der Zwischenkriegszeit ebenso wie Anklänge an das
Readymade,
Zufallskomposition
und
Bruitismus.
Die
artifizielle
Inanspruchnahme des – öffentlichen – Raumes, nicht nur mit Unterstützung
elektronischer Medien und Kommunikationsformen im event oder der activity,
ist eine konzeptuelle; die Kunst wird vom Leben zwar nicht entgrenzt, die
Grenzen zwischen Kunst und Leben werden über die intermedialen Strukturen
durchlässig.
72
3
(Bildende) Kunst – Informalisierung, Geste, Code
3.1
Musik – Befreiung vom Notierten
Die Lösung der Musik vom Körper geht parallel zur Entwicklung der
Linienschrift, die Musik wird in der codierten Aufzeichnung von der
Körperlichkeit entkoppelt und entfernt sich in ihrer zeitlichen Organisation
von den körpergebundenen Zeiterfahrungen. Solange die Musik an den Körper
der Ausführenden gebunden war, war sie auch an jene Zeiterfahrungen, denen
der Körper unterlag, gebunden (Walter 1994: 91). Die frühen musikalischen
Formen sind zum einen an den mechanischen Körper und in ihrer zeitlichen
Flüchtigkeit an dessen physikalische Möglichkeiten gebunden und zum
anderen emotionaler Erregung verhaftet.
Als akustischer Informationsträger war der musikalisierte Klang in den frühen
Gesellschaften direkt an die unmittelbare Körperlichkeit gekoppelt und somit
eindeutig kontrollierbar und strikt an einen Anlass gebunden. Emotionale und
kognitive Prozesse finden sich gleichwertig in einer, in dieser Form nur im
sozialen Verband leistbaren emotionalen Aneignung der Welt (Knepler 1982:
33) wieder, deren emotionales Kommunikationssystem musikalisch–gestische
Analogien sind. In der akustischen Signalhaftigkeit des emotionalen
Ausdruckslautes
(vgl.
Knepler
1982:
75)
und
im
gestischen
Ausdrucksverhalten – als dessen Äquivalent – findet sich eine analoge
Codierung (Watzlawick / Beavin / Jackson zit. in Knepler 1982: 77)
emotionaler Beziehungen, die auf der Nähe von Zeichen zu Bezeichnetem
basiert und eine Ikonizität von Körper–Umwelt–Beziehungen bildet.
Die Entwicklung verschiedener zeichenhafter Ausdrucksformen, die ihre
Signifikanz in den Aspekten eines Signifikates finden – wie stimmlicher
Ausdruck, körperlich–nachahmende Geste, gemeinschaftlicher Tanz, im
Umfeld eines bestimmten (stammes)festlichen Anlasses – affirmiert den
Bedeutungskomplex (vgl. Knepler 1982: 101) eines emotionalen Kommunikationssystems
innerhalb
der
geltenden
kulturellen
und
tradierten
Rahmenbedingungen. In der Folge ist das Musizieren in den frühen
73
Gesellschaften ein an deren umweltdeterminierte gesellschaftliche Realität
gebundenes Denotat der relevanten Bedeutungskomplexe. Die Signalhaftigkeit
des Emotionslautes bezeichnet einen akustischen Ausnahmezustand als eine
außergewöhnliche Figur auf umweltakustischen Grundlagen (vgl. Schafer
1988: 17), die als klangliche Grundstruktur den Charakter der mit ihnen
lebenden Menschen mitformen (ebd.: 16). Diese biogenen Einstimmungselemente 71 in den frühen Musizierformen basieren auf der unmittelbaren
körperlichen Emotion und der damit einhergehenden Situation, beschränkt
lediglich durch die biologisch–mechanischen Möglichkeiten des Körpers. Die
stetige und vor allem rhythmisierte Wiederholung biogener Einstimmungselemente – der Sound – evoziert eine Form der Zuwendung und
Aufmerksamkeit, auf der das akustische Signal als Transcodierung
emotionaler und auch kognitiver Zustände (vgl. Knepler 1982: 75) moduliert
wird, wobei der klangliche Prozess als eine mögliche Grundlage der Musik zu
sehen sei.
Die emotionale Kommunikation als musikalische Sinnlichkeit im klanglichen
Prozess kann sich nur mitteilen unter Voraussetzungen ´eines natürlichen
Systems, das für der Natur nach gleiche Wesen die a priori Bedingungen der
Kommunikation schafft´ (Zehentreiter 2008: 369). Diese Voraussetzung ist
somit einerseits der Körper und andererseits dessen Erfahrung mit der Umwelt,
also der physiologisch – psychologische Filter des körperlich Verarbeit– und
Machbaren und der kulturelle Filter der tradierten denotativen Beziehungen.
Die physiologischen Bedingungen sind verbunden mit einer vorindividuierten,
vorsprachlichen Leiberfahrung (ebd.: 369), deren kollektiver Charakter eine
Grundlage musikalisch–somatischen Ausdrucksverhaltens und mit spezifischen
sozialen Strukturen eng verbunden ist. Der klanglich–rhythmische Prozess
trennt nicht nur die genuin emotionale Botschaft von der Sprachkommunikation (vgl. Blacking 1995: 27), das instrumentalisierte Ausdrucksverhalten sozial motivierter musikalischer Kommunikation gilt auch als
kulturelle Übereinkunft über soziokulturelle Strukturen der Gemeinschaft.
71
Knepler nennt dies die erste Codierungsschicht, gegenüber mindestens einer zweiten
Codierungsschicht, die der logogenen Einstimmungselemente (vgl. Knepler 1982: 124 –
131).
74
Die stetige Wiederholung biogener Einstimmungselemente, von klanglich–
rhythmischen Patterns, stimuliert – trotz des Vorwurfs der Redundanz oder der
semantischen Nullstufe (Tibor Kneif zit. in Knepler 1982: 172) – und steigert
Erregung und Spannung über biologisch–neuronale Rückkopplungsmechanismen. Der Hang zur Wiederholung oder Iteration vereinigt durchaus den
Wunsch nach dem Verweilen in – und dem Verlängern von – der ephemeren
musikalischen Hervorbringung (vgl. Knepler 1982: 172) und den daraus
entstehenden Wunsch nach Generalisierung und Affirmation sozialer
Konstrukte. Dies macht deutlich, dass nur die Entstehung originär menschlich
erzeugten Klanges als emotionale Kommunikation verstanden wird (vgl.
Blacking 1995: 27), maschinell erzeugte repetitive Geräusche erreichen diese
Qualität nur durch den Umstand explizit musikalischer Absicht. So entstand
die Form des Pattern72 der Minimal–Music im maschinellen Umfeld, die
Unzulänglichkeiten der (Tonband)Maschine (vgl. Steve Reich, It's Gonna
Rain, 1965)73 wurden zur strukturellen musikalischen Qualität, die durch eine
Phasenverschiebung das Pattern sukzessive erneuert und so die immersiv–
kontemplative Wirkung steigert.
Im Übergang von Ausdrucksverhalten zum kommunikativen Geste entsteht die
Entwicklung einer gestisch abgeleiteten Neumenschrift, die in Analogie zur
Geste die Stimmbewegungen in der Schriftlichkeit andeuten (Walter 1994: 18).
Sind die im 9. Jahrhundert als Beiprodukt einer Nivellierung des liturgisch
inspirierten
Gesanges
(vordergründig
um
Gott
in
der
päpstlichen
Einflusssphäre Europas überall gleich würdig zu preisen), so sind auch sie eine
(Vor)Form ausreichender 74 Verschriftlichung in repräsentativ–ikonischen
72
Ostinates musikalisches Grundmuster.
„Hier wird die kurze Aufnahme eines Straßenpredigers in einer Tonbandschleife zunächst zu
einer lang anhaltenden Wiederholung geführt. Mit der Zeit verlagert sich die Aufmerksamkeit
des Hörers fort von dem Inhalt des Textes und hin auf den Sprachrhythmus und die
Sprachmelodie des Redners. Die Semantik der Sprache verschwindet allmählich hinter den
materiellen Details ihrer Artikulation“ (Straebel 1999: 50). Durch wiederholte, einander
überlagernde Aufnahmen der Phrase It's Gonna Rain und deren Manipulation wird die Phrase
unmerklich asynchron, sie klingt immer weniger nach Stimme, sondern eher nach Musik. Da
die Frequenzen der aufgenommenen Phrase identisch sind, bewegen sie sich durch die sich
überlagernden Aufnahmen phasenverschoben und es entsteht das akustische Phänomen der
Schwebung.
74
„Voraussetzung einer zweifelsfreien Tradierung von Melodien war (und ist) deren
hinreichende (nicht vollständige) schriftliche Fixierung. Die Notationsgeschichte des
73
75
Zeichen, die die Entwicklung okzidentaler Musik prägt. Die Verschriftlichung
des Gehörten ist in Interdependenz mit regionaler kultureller Identität zu sehen
und deren Intention ist nicht die musikalische Komposition, sondern die
Fixierung einer von metaphysischen Instanzen (in diesem Fall von Engeln)
dem Menschen zur Verfügung gestellten verklanglichten Lobpreisung.
Die Neumen sind vor der Entwicklung zur Linienschrift notae 75, die die
Melodie, einen nicht semantisch und nicht durch Regeln determinierten
Sprachbestandteil, als Ausführungsmodus der Sprache im Gedächtnis
festzuhalten und damit potentiell als Wissen verfügbar zu machen (Walter
1994: 82). Die musikalische Schrift, eine Instrumentarisierung des Klanges in
der Entwicklung von einem repräsentativ–ikonischen Zeichen zu einem
denotativen Zeichen (vgl. Brandstätter 2004: 233), abstrahiert den Klang durch
die
Teilung
in
diskrete
Schritte
vom
analogen,
körperlichen
Ausdrucksverhalten. Die Entwicklung der Linienschrift ist einerseits die
weitgehende Entkopplung der Musik vom Körper und von der Sprache und
andererseits eine Voraussetzung für ein arbeitsteiliges Schaffen und für die
Entstehung der Polyphonie und des musikalischen Werks. Diese Entwicklung
begünstigt weiter, im Sinne von zweck– und wertrationalem Handeln (vgl.
Weber 1988: 566f), soziale, ästhetische und ökonomische Neuerungen
in
Mittelalter und Neuzeit wie neue Instrumentarien und deren Spielweisen oder
Berufe wie den Kopisten.
In der Polyphonie oder der polyphonen Komposition, die nach Adorno den
kollektiven Übungen von Kult und Tanz entsprang (Adorno 2006 [1949]: 26),
findet sich eine Objektivation des „Wir“–Begriffes (ebd. 26) und so eine
Objektivation des Begriffes der Kommunikation durch die Formalisierung
musikalischen (Ausdrucks)Verhaltens. Die Musik wird durch die Notation und
somit Mediatisierung mit der daraus entstehenden Trennung vom Körper auch
vom Musizieren getrennt. Die zeitliche Flüchtigkeit von Musik wird im
Mittelalters, aber auch dessen Musiktheorie läßt sich über weite Strecken als ein Versuch
verstehen, das was erklang, was gesungen wurde, schriftlich zu fixieren und zu
rationalisieren.“ (Walter 1994: 17).
75
„Die »notae« sind […] nicht einer arbiträren Automatik unterliegende Signifikanten,
sondern müssen vorab jeder Verwendung erst einmal einem Signifikat zugeordnet werden.“
(Walter 1994: 38)
76
zweidimensionalen Raum des Notenblattes willkürlich codiert. Daraus ergibt
sich neben dem Verlust an Information auch der Verlust der Kontrolle über die
Komposition, Ausführende und Komponisten sind entkoppelt. Die Interaktion
sowie die
Kommunikation entfernen sich in
der
Entwicklung
der
Mediatisierung reziprok zum Ausmaß der Abstraktion von der unmittelbaren
Körperlichkeit.
Das strikte musikalische Regelwerk, das, begründet durch Ausbildung von
Notation und Polyphonie und deren stetige, jahrhundertelange Nachbesserung
in der klassisch – romantischen Bildungsmusik (vgl. Kneif 1977: 131)
kulminiert, wird an der Epochenschwelle des 20. Jahrhunderts (Anm.: um
1910; vgl. Mauser 1993: 526) von erheblichen kompositionstechnischen
Auflösungstendenzen heimgesucht. Die sich um 1910 entwickelnde Auflösung
einer ab diesem Zeitpunkt musikgeschichtlich obsoleten dur – moll tonalen
Kompositionstechnik (Kutschke 2002: 12) in eine freie Atonalität ist im
kompositorischen Denken jener Zeit der Versuch einer Entsubjektivierung und
einer Vergegenständlichung des Ich. Ein gestisch–spontaner Ausdrucksakt als
Idee der Selbst–Vergegenständlichung ist im Expressionismus der Zweiten
Wiener Schule 76 zwar konzipiert, der Anspruch der Unmittelbarkeit wurde in
den Restriktionen fixierter musikalischer Verläufe nur bedingt eingelöst (vgl.
Saxer 2004: 317f). Der neuartig organisierte Tonsatz Schönbergs findet sich
nach wie vor in einer Tradition der Neoromantik verhaftet und zementiert über
die Eindeutigkeit des Notentextes die Trennung von Komponist und Interpret,
die musikalischen Verläufe werden zum Ausdrucksprotokoll versachlicht (vgl.
Adorno 2006: 56).
Die Abkehr vom repräsentativen Ausdrucksparadigma und der Selbstvergegenständlichung im Werk (Saxer 2004: 322) wird bei Duchamp 77 und Cage 78
einerseits durch die Auflösung der integrativen Struktur der Komposition und
andererseits durch deren Methode der Unbestimmtheit erreicht. Demgegenüber
76
Auch Neue Wiener Schule oder Schönberg – Schule, vgl. Arnold Schönberg, Alban Berg,
Anton Webern.
77
Vgl. Erratum Musical (1912) und La mariée mise à nu par ses célibataires, même. Erratum
Musical (1913).
78
Vgl. Music of Changes (1951), Imaginary Landscape (1952) und Radio Music (1956).
77
erreicht die serielle Musik diese Abkehr durch die, auf der Dodekaphonie
aufbauenden und
einer
stringenten algorithmischen Logik
folgenden
syntaktischen Ordnung. Sie zeichnet sich durch eine Hypertrophie von
Komplexität und musikalischer Logik aus, die [schließlich] zur Karikatur ihrer
selbst wird (Adorno 2003a: 162). Die Ordnungsmuster des Serialismus
orientieren sich am weltkriegsgeprägten Fortschrittsglauben und an der
Exaktheit der möglichen Forschung und Technologie; diese Ordnungsmuster
als rationales, verwaltetes und straff organisiertes System sind nach Adorno
auch der Abdruck, das indexikalische Zeichen sozialer Systeme. Die
Rationalität der seriellen Musik bildet neben dem zweckrationalen, den Körper
funktionalisierenden, soziopolitischen System der Fabriksgesellschaft, den
Ausdrucks– und Sinnverlust der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
tradierten, expliziten Anti–Expressivität ab (vgl. Kutschke 2002: 228).
Die unübersichtliche Komplexität zusammenwirkender Parameter in der
seriellen Musik als eine Folge der immer strengeren Determiniertheit bedingt
eine Konnotation von Unbestimmtheit, die schließlich auch als Parameter der
seriellen Komposition (vgl. K. H. Stockhausen, Zyklus, 1959)79 eingesetzt
wird. Das Kippen immer komplexerer Determiniertheit in Unbestimmtheit ist
jene Entwicklung, die die serielle Musik hin zu einer Grenze, an der das
Reglement so entropisch wird wie der Zufall selbst, führt (Essl 1989: 95).
Der Ausschluss jeglicher Determiniertheit in John Cages aleatorischen De –
Kompositionen (ebd.: 95) wird über die Einbindung der metaphysischen
Instanz des I Ging angestrebt, die De–Hierarchisierung des Verhältnisses von
Komposition / Interpretation und Komponist / Interpret spiegelt Cages Ideal
einer
herrschaftsfreien
Gesellschaft
und
auch
das
Ziel
der
Nachkriegsavantgarde der Egalisierung von Kunst und Leben. Neben der
Ästhetisierung des Geräusches und der damit obsolet werdenden temperierten
Stimmung ist in den Partituren Luigi Russolos der Ansatz von grafischer
79
„Die Zufallsentscheidungen werden nicht im Inneren der Komposition selbst getroffen,
sondern als Wahlmöglichkeiten für den Interpreten an die Oberfläche gekehrt. [...] So
entpuppt sich die proklamierte Freiheit des Interpreten als Irreführung: [dieser] kann zwar
die Anordnung der Teile beliebig variieren, greift damit aber nie wirklich ins Werkganze
ein.“ (Essl 1989: 96).
78
Notation (noch) basierend auf dem klassischen Fünfliniensystem gegeben. Die
Nachkriegsavantgarde
Liniennotation
entfernt
gegebenen
sich
zielstrebig
Restriktionen,
bis
von
hin
den
einer
durch
die
zeichenhaft–
begrifflichen Konzeptualisierung (vgl. John Cage, Water Music, 1952) des
Musikstückes. In den musikalischen Gestaltungsformen der Avantgarde finden
sich abseits immer wiederkehrender musiktheoretischer Muster – wie auch die
diskrete Teilung der temperierten Stimmung in der nichthierarchischen
Struktur des Seriellen – Konzepte und funktionale Grafik als neue
Aufzeichnungsmethoden
für
prozessuale
Vorgänge.
Diese
mit
der
Informalisierung der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
einhergehenden prozessualen Tendenzen sind trotz der explizit determinierten
Konstrukte des seriellen Strukturalismus Positionen der Unschärfe, ein
Nachweis der Komplexität des Systems zwischen den Bereichen des
Determinierten und Chaotischen (Essl 1989: 96).
Die Wiederakzeptanz der Körperlichkeit nach den Disziplinierungsstrategien
im Umfeld zweier Weltkriege komprimiert in Verbindung mit dem
aleatorischen Denken die mimetische und metaphorische Expressivität in der
Geste als (musikalische) Bedeutungsvermittlung. Der Unschärfe der gestischen
Kommunikation ist, als ein ephemeres Konstruktionsprinzip von – speziell –
der Musik und – allgemein – dem Happening, die Offenheit und die
Unabgeschlossenheit des Prozesses implizit. Die Geste ist als nonverbales
Kommunikationsmittel eine Formalisierung des zur sprachlichen Qualität
Erhobenen des Nichtgesagten, Nichtartikulierbaren (Barthes 1990: 285) und
zeigt sich als die Bewegung des Körpers, der sich in den Zustand des
Sprechens versetzt (Barthes 1990: 305). Kurt Weill und Bert Brecht 80 sahen,
zurückhaltender, im Begriff der gestischen Musik eine Musik, die der Gestik
eines Vorgangs angepasst ist, bestimmtes Verhalten von Menschen wiedergibt,
sie soll die Handlung weder illustrieren noch weitertreiben (Hartung 2004:
95). Brecht ideologisiert darüber hinaus den Begriff des gesellschaftlichen
80
„Weill [...] spricht schon in einem Beitrag von 1928 vom ´gestischen Charakter der Musik´
[...]. Zwar begegnet bei Brecht 1929/30 der Satz ´Wenn die Musik gestisch ist, handeln die,
die Musik machen´; doch er ist kaum geeignet eine Priorität Weills infrage zu stellen.“
(Frobenius 2006: 116).
79
Gestus, indem dieser dem Musiker ermögliche, musizierend eine politische
Haltung einzunehmen (Frobenius 2006: 119).
Der Einfluss der aus dem Jazz entlehnten Techniken der Improvisation in
Verbindung mit der körperlichen, unmittelbaren Geste evoziert ephemere
Arbeits– und Kompositionstechniken, deren Entstehung im Hier und Jetzt
verankert ist. Die von musik– und kompositionstheoretischen Regeln bereits –
relativ – weit entfernte nichttonale Improvisation 81 sieht nicht die Beziehungen
der Akkorde als grundsätzlich für die Improvisation an, sondern den Sound der
aus diesen Beziehungen resultiert. Die freie Improvisation des Jazz (vgl.
Ornette Coleman, Cecil Taylor) verlässt den musiktheoretischen Rahmen
völlig und interagiert über emotionale Kommunikation und persönlicher
Expressivität. Indem das musiktheoretische Wissen und Wollen ausgeblendet 82
wird, kann ein von den Regeln der Improvisation entkoppelte und dem
Zufallsprinzip folgendes Musizieren einen kommunikativen Prozess in Form
nonverbaler, informeller Konversation erzeugen.
Die Noise Music 83, speziell der JapaNoise (vgl. Masami Akita aka Merzbow)84
evoziert,
ebenfalls
abseits
regelgerechter
Improvisation
spontane,
willensunbeeinflusste und automatistische Kompositionen. Das – im Sinne
eines surrealistischen Denk–Diktat[es] ohne jede Kontrolle durch die Vernunft
jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung (Breton 1924: 26) – so
erzeugte Klangkonvolut ist aber wegen seines technologischen Generierungsprozesses von den körperlichen Hervorbringungs– und Kommunikations81
Im Sinne einer Beseitigung der Beziehungen traditioneller Tonalität (vgl. Miles Davis).
Parallel dazu zeigen fMRI – Gehirnscans improvisierender Jazzmusiker, durchgeführt an der
Johns Hopkins University, Baltimore, eine signifikante Abnahme der Aktivität im
sogenannten dorsolateralen präfrontalen Cortex, einer Hirnregion, die für geplante Aktionen
und Selbstzensur zuständig ist. Demgegenüber ist eine Zunahme der Aktivität im medialen
präfrontalen Cortex zu erkennen, in denen Selbstdarstellung und eng mit der Persönlichkeit
zusammenhängende Handlungen gesteuert werden. Charles Limb und Allen Braun
interpretieren dies als das Erzählen einer Geschichte über sich selbst, unter gleichzeitiger
Ausschaltung von allen hindernden Elementen (vgl. Limb / Braun 2008: online).
83
Der Terminus der NOISE MUSIC wird im gesamten 20. Jahrhundert relativ großzügig
verwendet, die hier verwendete Form bezieht sich speziell auf die letzten drei Jahrzehnte
(vgl. auch Kahn 1999).
84
"I wanted to compose real surrealistic music in a non-musical way. Surrealism is also
reaching unconsciousness. Noise is the primitive and collective consciousness of music. My
composition is automatism, not improvisation." Masami Akita (Interview mit Oskari Mertalo
im e-zine Corridor of Cells, 1997) [online: http://noiseweb.com/merzbow/all.html
17.01.2011].
82
80
formen entkoppelt. Der so erzeugte Klang ist – im Gegensatz zum
kommunikativen Wert des musizierenden [...] körperlichen Verhaltens und [...]
der am unmittelbaren Ausdrucksverhalten orientierten originären Formen von
Musik (vgl. Jauk 2005a: 221) – entmediatisiert (vgl. Wicke 1998: online),
somit bedeutungsfrei und ohne Bezug auf seine Hervorbringung, bleibt aber in
seiner Rezeption körperbezogen. Die hochmediatisierten (vgl. Jauk 2005a:
322) Kompositionsformen der Noise Music mit dem Laptop – sie entsprechen
einem indexikalen Zeichenmodus der auf die kausalen Prinzipien seiner
Entstehung verweist – sind improvisatorische Arbeiten am Sound und dessen
unmittelbarer Wirkung. Sie widersetzen sich zwar dem Denken der
Körpermusik als Instrumentalisierung des Ausdrucksverhaltens und des
originären Musizierens, sind aber wie diese in ihrer unmittelbaren Generierung
und Rezeption hedonistisch.
Der ästhetische Diskurs der Avantgarde wird im Happening mit der Ästhetik
des Alltäglichen als Folge prozessualer Aktionsformen verknüpft, das
Happening ist interaktive Kommunikation mit oder ohne Partitur85 oder
Notation und das ephemere, unmittelbar ins Geschehen umgesetzte Kunstwerk.
„Das gelungene Happening [...] hatte nichts Komponiertes, es war gereihtes
Geschehen aus Zufälligkeit und Wiederholung, ein spielerisches Umgehen mit
den Partikeln des Daseins.“ (Klotz 1994: 40).
Insofern ist das Happening bei erwarteter Deckungsgleichheit von Kunst und
Leben in einer ähnlichen Diskrepanz wie der Futurismus, nämlich dass sich
Kunst normalerweise dadurch legitimiert, dass sie Alltägliches abstößt
(Keppler 2001: online) und somit doch wieder gezwungen ist, den Ansatz von
Komposition aufrechtzuerhalten. Diesen Ansatz von Komposition beschreibt
Allan Kaprow als die Gewißheit einer Zahl von Ereignissen, in denen man
etwas aufmerksamer ist als unter normalen Umständen (Allan Kaprow zit. in
Klotz 1994: 39), da das Happening keine Zuschauer vorsieht, ist diese
Differenz der Levels von Aufmerksamkeit die kunstspezifische Fiktion (vgl.
ebd.: 57 ff), die Kunst als solche charakterisiert. Agitatorisches Verhalten ist in
85
Die Idee des (späten) Happenings ist, dass der Verlauf nicht genau festlegbar ist.
81
den, auf Cage verweisenden, anarchistischen Kooperationsmodi in der
radikalen freien Improvisation (vgl. Kutschke 2007: 19) analog der
Optimierung des Erregungslevels 86 klanggenerierendes und somit auch
kompositorisches Verhalten. Musizierendes und zugleich komponierendes
Verhalten in der Gruppe ist die – in der Terminologie Adornos –
De–
Objektivation des „Wir“, die das Subjektiv–Emotionale und das Nonverbal–
Körperliche interaktiv im unmittelbaren Musizieren zusammenführt.
Expression
und
Performanz, 87
sind
Parameter
einer
prozessualen
Kommunikation in der Avantgarde wie im Pop, wo deren Klanggenerierung
wie musikalische Zeitgestaltung sich auf die Prozesse der Hervorbringung
beziehen, anstatt auf die tonalen Formalbeziehungen. Die körperhafte Geste
und in deren unmittelbarer emotionaler Nähe der Schrei, die ungezügelte
Stimme, ist darüber hinaus als außermusikalisches Konzept die Rückbesinnung
auf die Natürlichkeit und Emotionalität und die tätige Überwindung von
Konventionen und Autoritäten (vgl. Kutschke 2002: 167). Ausdruckslaut und
Ausdrucksverhalten verbinden im originären Musizieren des Pop (vgl. Jauk
2005b: 105) die – über ihre Mediatisierung in der Notation – vom Körper
entkoppelte Musik wiederum mit dem Körper.
In den Prozessen emotional gesteuerter Interaktion wird das sinnliche
Vergnügen am De–Komponieren von Ereignissen klanglicher und nicht–
klanglicher Art evident. Die Gestaltung von (musikalischen) Ereignissen ist
von der Interdependenz der sensorischen Intensität und des emotionalen
Erlebens gesteuert und so eine diskursive Kopplung musikinhärenter
Strukturen an die Lebenswelt und Lebenswirklichkeit.
86
87
Vgl. Berlyne, Experimentelle Ästhetik in Jauk 2004a: 213f.
Selbstoffenbarung und Appell (vgl. Schulz v. Thun 1981) als analoge Kommunikation nach
Paul Watzlawick.
82
3.2
Das Bild – Befreiung vom Narrativen?
Die sich auch in der Simultaneität des Futurismus findende Kritik der Moderne
und des Realismus an einer deterministischen Weltsicht ist ein Element non–
narrativer Handlungslogik, die hypertextuelle Konstellationen antizipiert. Die
Vernetzung non–kausaler, fragmentarischer Ereignisse ist eine Reaktion auf
die Dominanz eines positivistischen Weltmodells im Vor– und Umfeld des Fin
de siècle, dessen naturwissenschaftlicher Ordnungszwang und linearer
Charakter die Komplexität der Moderne nicht zu reflektieren imstande war.
Wie in der futuristischen Simultaneität angedeutet, setzt das non–narrative
Bild den impliziten Leser (vgl. Dinkla 2004: online) voraus, dessen Aneignung
des Werkes mit dessen Wahrnehmungsfähigkeiten als Fortschreibung und
imaginäre Verselbstständigung des Bild–Textangebotes (ebd.) interagieren. Die
Krise des Narrativen in der Moderne ist die Krise des linearen
Zeitverständnisses, das in der Wahrnehmung der durée relativiert wird und
nach der Zäsur der Weltkriege in der intermedialen Mehrdeutigkeit der
Konzeptkunst einen Ausweg findet.
Die Indeterminiertheit als Basis des Gestaltungsprozesses ist in der informellen
Bild–Kunst beeinflusst von der Geste des surrealistischen Automatismus, eine
der Bedingungen der Befreiung des Bildes von Abbildung und Figuration. Die
in einer non–narrativen Bildsprache vom Inhalt extrahierte Form im abstrakten
Tafelbild wird, in der Wahrnehmung der Eigenschaften seiner Gesamtstruktur,
zur Form als Gestalt einer Mitteilung (Brandstätter 2004: 166). Die Geste des
Mal–Aktes ist zum einen unmittelbares körperliches Ausdrucksverhalten, zum
anderen musizierend körperliches Verhalten, das die Spuren der psychischen
und physischen Befindlichkeit im Artefakt Tafelbild fixiert. Jackson Pollock
sieht seine Arbeit (vgl. Jackson Pollock, Lavender Mist: Number 1, 1950) als
eine unmittelbar aus dem Unbewussten entstehende Handlung (Emmerling
2007: 48), deren Heftigkeit und Intensität die emotionale Kommunikation
Pollocks in der emotionalen Atmosphäre dieser von der Unbändigkeit
technologischen Fortschrittes gekennzeichneten Zeit (vgl. Wigal 2006: 142)
repräsentiert.
83
Das Abstrakte ist als ästhetische Realisierung non–narrativer und non–
figurativer Elemente, die Informalisierung des Sinnganzen (Gadamer 2006:
101) dessen Analyse im Zugleich von vertrauten Wahrnehmungsmustern
mündet. Der Vollzug des Kunstwerkes, dessen energeia (vgl. ebd.: 102f), setzt
die Zeitstruktur der simultanen Wahrnehmung, des Zugleich, in Beziehung mit
dessen kybernetischer Abstraktion; die Abstraktheit des Bildes und die
Abstrahierung der Reizverarbeitung (Brandstätter 2004: 216) werden mit
dieser Zeitstruktur in eine iterative Beziehung gesetzt. Parallel zum Zufall als
surrealistisches Prinzip der Bildgenerierung und der Signalhaftigkeit des
körperlich–emotionalen Ausdrucks (wie des Pollockschen Mal–Aktes),
entwickeln sich Aktion und Prozessualität in der späten Moderne.
Im Informel und der nichtfigurativen Darstellung der bildenden Kunst findet
sich der bereits im Fin de siècle angedeutete Zweifel, die Komplexität einer
informalisierten Welt mit den linearen, kausalen Strukturen, die der Narration
immanent sind, wiedergeben zu können. Das kausale Prinzip impliziert
„bestimmtes“ Erfahrungswissen in „bestimmte“ Situationen und antizipiert
zukünftige; diese explizit lineare Strukturierung ist der Komplexität der Welt
als Beschreibung inadäquat.
Die der Musikalisierung der Farbe – in der Frühromantik wie auch in der
klassischen Moderne – zugrunde liegende Organisationsform der Composition
(Philipp Otto Runge zit. in Motte – Haber 1990: 129) sieht neben einer
mathematisch – geometrischen und einer zeitlich–beziehenden Struktur die
Kompositionsstruktur des musikalischen Satzes (Lingner 2004: online). Der bei
Philip Otto Runge als abstrahierte (Landschafts)Allegorie 88 angedeutete
metaphysische Zusammenhang des ganzen Universums (ebd.) entfernt sich
vom Gegenständlichen über die frühromantisch–idealistische Imagination einer
jenseits der gegenständlichen Welt existierenden systemischen Ordnung. Die
Musikalisierung der Malerei ist in der Gesetzmäßigkeit strukturanaloger
Beziehungen (Motte – Haber 1990: 132) verortet, wobei die der
Musikalisierung implizite Zeitstruktur über das Beziehungsgefüge sinnlicher
Reize auf ein übersummatives Ganzes – im Gegensatz zum linearen oder
88
Vgl. Philip Otto Runge, Vier Zeiten, ca. 1808.
84
zyklischen Zeitablauf – hinweist. Die Übersummation ist der Aspekt der
Entgegenständlichung, der Dinge nur sichtbar macht als Beziehungen, die der
Geist stiftet (Motte – Haber 1990: 129), wo heterogene Elemente zum
idealistischen Sinnganzen konstruiert werden.
In Abwendung von der chronometrischen Linearität der Romantik und der
gleichzeitigen Geschwindigkeitszunahme in der Moderne verknüpft die
Simultaneität des Futurismus die Automatisierung von Wahrnehmung mit der
Ästhetik des Alltäglichen. Das non–narrative Element des futuristischen
(Tafel)Bildes ist in der Übersummation von Wahrnehmung zu finden, deren
netzanaloge Beziehungsstruktur heterogene Positionen der stati d´animo, der
Gemütszustände, reflektiert.
„[Wir] konzipieren mit Hilfe der Analyse das Konkrete und geben das
Abstrakte (den bildnerischen Gemütszustand) wieder.“ (Boccioni 2002
[1914]: 188).
Die sprachlich erfasste Idee in der Konzeptkunst ist im Vorfeld möglicher
materieller Umsetzung mehrdeutig, ein intuitives und irrationales Unterfangen
(Sol LeWitt zit. in Marzona 2005: 20), aber im Einzelfall ist es die Deskription
eines Systems, das auf Beziehungen aufbaut. Die notwendige Kommentierung
konzeptueller Kunst begründet sich in deren Selbstbezüglichkeit und kann als
ein, dem subjektiven Empfinden analoges, intuitives (vgl. Wolf 2002b: 24)
Narrativ erscheinen. Diese Phänomene des intuitiven Narrativs konstituieren
sich aus den verschiedenen Ebenen des Prozesses, in Abhängigkeit vom
Vorwissen des Betrachters und der Unbestimmtheitsstellen (vgl. Ingarden
1972: 265f) der Betrachtung.
Durch die Verselbstständigung des Rezeptionsaktes und Verbergung des
Autors89 kann das Werk in der Konzeptkunst nicht als genuin narrativ – im
Sinne analytischer Narratologie – gesehen werden.
Der Betrachter ist
Handelnder und die Erzählung wird erst im Rahmen der Wahrnehmung in
Gemeinsamkeit mit der Unmittelbarkeit der Erfahrung generiert. Die der
89
„[…] so dienen die Dialoge Platons […] zur Verbergung ihres Autors und sind eben
dadurch ein Gegenbild der epideiktischen Zur–Schau–Stellung des eigenen Wissens und der
eigenen Fähigkeiten […]“. (Ebert (1974: 29).
85
Konzept– und Prozesskunst wie der gestischen Malerei immanenten offenen,
dynamischen Prozesse erscheinen prinzipiell non–narrativ, wie aber auch die
Dynamik des Rezeptionsprozesses und der Interpretationszusammenhang (vgl.
Nünning / Nünning
2002: 24) mannigfaltige Leserichtungen indizieren.
Vielfältige oder mannigfaltige Leserichtungen können je verschiedene
narrative Zusammenhänge ergeben, in Abhängigkeit von der Reihenfolge der
Wahrnehmungsereignisse deren strukturelle Relation nicht von Anfang an in
eindeutiger Weise festgelegt ist (Eco 2002: 152).
Die in ein Feld interpretativer Möglichkeiten (ebd.: 155) gefasste informelle
Malerei ist einerseits die Erweiterung der Dynamisierung des Tafelbildes, die
vom Futurismus und vom Kubismus ausging, andererseits die Erweiterung
mimetischer Wirkweise von Emotion. Die unmittelbare Körperlichkeit in der
malerischen Gestik des Informellen und die Transformation der Natur
unmittelbar zum Medium (vgl. Rohsmann 1977: 161f) im Prozessualen
entkoppelt sich in der, diesen Prozessen immanenten, Unbestimmtheit vom
Kausalen und somit von narrativer Eindeutigkeit.
„Ein offenes Kunstwerk stellt sich der Aufgabe, uns ein Bild von der
Diskontinuität zu geben: es erzählt sie nicht, es ist sie.“ (Eco 2002: 165).
Das daraus folgende Mehr an – virtueller – Information im non–narrativen
Kunstwerk basiert in der Mehrdeutigkeit der ästhetischen Kommunikation wie
auch in der Auflösung der Redundanz seiner ästhetischen Botschaft. Die
Informalisierung, die Aufhebung des Regelwerkes oder bestimmter Ordnungsprinzipien,
begünstigt
den
Wegfall
von
Redundanz
zugunsten
von
Mehrdeutigkeit und interpretativer Offenheit, aber auch zu Ungunsten von
Sicherheit (Exaktheit) der kommunizierten Botschaft. Die Uneindeutigkeit der
kommunizierten Botschaft abstrahiert die strukturelle Linearität ästhetischer
Beziehungen zur Netzstruktur eines Beziehungsgewebes (Henri Pousseur zit.
in Eco 2002: 172) in der die einzelnen Informationsnodes je die fortschreitende
Wirkweise von Kommunikation bedingen.
Die zeichenhaft–abstrakten
Prinzipien in der gestischen Malerei, der Konzept / Prozesskunst (vgl. Haacke,
Condensation cube; ca. 1963) oder der musikalischen Improvisation
86
repräsentieren so ein Angebot von Information, deren kommunikativer und
mimetischer Partizipation ein Fließgleichgewicht eines Minimums an Ordnung
und eines Maximums an Unordnung 90 zugrundeliegt.
Die offenen Strukturen des Happening bedingen, wie die der musikalischen
Improvisation, Ereignisse in Echtzeit, denen Informationsnodes ohne
vermittelndem, erzählenden Agenten zugrunde liegen und die somit non–
narrativ erscheinen. Das Fehlen der Rezipienten – das Happening sollte keine
Zuschauer, sondern nur Teilnehmende haben (vgl. Klotz 1994: 39) – ist jene
Konsequenz, die von der figurativen Abstrahierung über das abstrakte
gestische Bild und der Aktion zu einem in der Kunst verankerten Ausschnitt
des Lebens weist. Die Transition von der gestischen Malerei als Aktion der
Kunst 91 zum Happening als Aktion des Lebens ist ein Phänomen, das sich
(nach Allan Kaprow) unmittelbar aus der (amerikanischen) Aktionsmalerei92
entwickelte und in der sich die Unmittelbarkeit der Gebärde / Geste in die
Willkür der konzeptuellen Möglichkeiten transformiert. Die Geste ist einerseits
als linear–singuläre Konfiguration ein Ausdruck der Asymmetrie der Raum–
Zeit (der Zeitpfeil der ausgeführten Geste / Gebärde ist irreversibel) und
andererseits, wie im informellen Kunstwerk, der Hinweis auf die Asymmetrie
zwischen dem Zeichen und dessen hervorbringender Geste.
Aus der Unwiederholbarkeit der dem Zeichen zuzuordnenden körperlichen
Geste und somit der Indeterminiertheit des resultierenden Zeichens ergibt sich
eine Dynamik der Offenheit und interpretativen Kommunikation zwischen
Rezipient und Produzent. Die in den postklassischen Erzähltheorien
postulierten interpretativen und diachronen (vgl. Nünning / Nünning 2002:
24f) Aspekte der Rezeption erscheinen im informellen Kunstwerk als eine
Dialektik von zur Verfügung gestellter Information und erfahrungsgebundener
Gestaltungsintention. Diese Form von Unbestimmtheit ist im informellen
90
Der Zusammenhang von sehr hoher und sehr niederer Komplexität zeigt sich in einer
umgekehrt U-förmigen Beziehung zwischen Komplexität des Reizes und dessen kognitivem
Verarbeitungsniveau. (vgl. Berlyne 1974: 61f; vgl. Jauk 2004a: 213).
91
Vgl. Jackson Pollock: Reflection of the Big Dipper 1947; George Mathieu:
Komposition 1956 (= erste öffentliche Malaktion Mathieus im Pariser Théâtre Sarah
Bernhardt).
92
„[…] Die besten von ihnen [Happenings] kamen unmittelbar aus der amerikanischen
Aktionsmalerei.“ (Allan Kaprow zit. in Klotz 1994: 38).
87
Kunstwerk von fraktaler Struktur, deren kreativitätslogische Zusammenhangsform nicht mehr nur eine des Verlaufs ist (Kutschke 2002: 209) und die so den
Rahmen der Kausalität überschreitet.
Das Happening verhält sich wie ein ins Geschehen umgesetztes abstraktes
Kunstwerk (Klotz 1994: 40), ohne mit dem Alltagsleben identisch sein zu
müssen (und zu können), einerseits basierend auf der Selbstbezüglichkeit
seines Ereignischarakters und andererseits auf emotionaler Kommunikation.
Das spielerische Umgehen mit den Partikeln des Daseins (ebd.) ist die
Entgrenzung der üblicherweise dichotomen, Spiel– und Welt–Metaphern (Ryan
2001:191f), wo durch produktive Interaktivität eine Verfransung (Adorno
1977: 433) von Kunst und Leben erreicht wird. Die Selbstbezüglichkeit eines
in Echtzeit entstehenden (Lebens)Auschnittes basiert auf dem konzeptuellen
Fehlen einer Referenzialität zur Außenwelt, aber auch auf einer raumzeitlichen
Immersion, diese ist immer dann gegeben, wenn sich die Distanz vom Akteur
zum Rezipienten auf null zubewegt. Das Happening entwickelt sich – nach
Klotz – non linear 93, es [hatte] nicht Anfang und Schluß sondern setzte ein und
verebbte. (Klotz 1994: 40). So sind in der, der Spiel–Metapher immanenten
Kreativitätslogik (vgl. Kutschke 2002: 204f), ähnlich wie in der traditionellen
musikalischen Logik, Beziehungsfolgen zu erkennen, deren Gefüge jedoch
non–kausal strukturiert ist und die zu Diskontinuitäten und Brüchen im Ablauf
führen.
Die Ambivalenz zwischen Interaktivität und Immersion gründet sich in der
Auflösung der linearen Ordnung zugunsten von Kreativität, einer Ereignisfolge
basierend auf einer Position zwischen Disposition und Spontaneität. Die
Überformung des in einem improvisationstheoretischen Dispositiv verorteten
musikalischen Regelwerkes durch eine Form der (nonverbalen) informellen
Konversation ist eine kreative Leistung von Planung und Ausführung
gleichzeitig (vgl. Wolfgang Rihm zit. in Kutschke 2002: 207). Die körperlich–
emotionale Kommunikation als informelles Gestalten ist einerseits der
93
Vgl. dazu Thomas Dreher: „[…] Allan Kaprow verwandte 1958 den Begriff ‹Happening›,
zum ersten Mal. Er hat seine komplex strukturierten und inklusive der Mitarbeit des
Publikums festgelegten Aufführungen als Happenings bezeichnet, bevor der Begriff als
Bezeichnung für spontane und unorganisierte Aktionen populär wurde.“ (Dreher 1992: 57).
88
Ausdruck der Überwindung willentlicher Prägung, andererseits eine singulär–
irreversible und mit neuronalen Techniken nicht mehr zu überarbeitende
Kommunikation. Im Free–Jazz, einer Form von informeller Echtzeitkomposition parallel zur Echtzeitkomposition von Tafelbildern des Informel,
ist
die
Generierung
von
Klangstrukturen
das
Artefakt
emotionaler
Kommunikation, die im Tafelbild in eine Beschreibung des emotionalen
Zustandes mündet.
In der Auflösung der linearen Form in der Musik des Free–Jazz finden sich die
von Deleuze und Guattari erhofften Mannigfaltigkeiten (Heyer 2001: 47)
ebenso wie in der rhizomatischen Netzstruktur des Möglichkeitsraumes des
offenen Kunstwerkes. Die rhizomatische Struktur der Informationsnodes
widerspricht der Narrativierung auch im Sinne einer rezipientenseitig
geforderten kognitiven, kulturell konditionierten Tätigkeit (vgl. Wolf 2002: 52),
die eine temporal–kausale Kohärenz syntaktischer Narreme (ebd.: 42) 94 als
Minimalanforderung postuliert. Das ephemere Artefakt als das (Kunst)Werk ist
die Definition des – emotionalen – Zustandes im Hier und Jetzt, ob diese als
Narrem in einem narrativen Diskurs auftaucht, ist somit unentscheidbar, vor
allem vor dem Hintergrund, dass dem Werk ein kognitives Schema von
Narrativität, das auf lebensweltliche Erfahrung, vor allem aber auf
menschliche Artefakte gründet, applizierbar (vgl. Wolf 2002: 37) ist.
Die Mannigfaltigkeiten, Vielheiten und Übergänge, die einen postmodernen
Vernunftbegriff (Heyer 2001: 56) charakterisieren, sind ein Hinweis auf die
Theorie nichtlinearer Systeme, die sich in rhizomatischen Figuren und a–
zentrischen Systemen (vgl. Heyer 2001: 56; vgl. Biggs / Peat 1990: 284) wie
der Gehirnaktivität spiegelt. Die nichtlinearen Systemstrukturen immanente
Ehrfurcht vor der Ungewissheit (Biggs / Peat 1990: 309) evoziert die aktive
Eigenleistung des Rezipienten, innerhalb einer rhizomatischen Netzstruktur
von
94
Kunstproduktionen
virtuelle Verbindungen zwischen
bestimmten,
„Nach Wolf sind die Narreme Faktoren von Narrativität; Kennzeichen, inhaltliche
'Hohlformen' und 'Syntaxregeln' des Narrativen. Dementsprechend können sie eingeteilt
werden in qualitative (z.B. Sinndimension, Darstellungsqualität und Erlebnisqualität),
inhaltliche (z.B. Zeit, Ort, antropomorphe Wesen, Geschehen) und syntaktische Narreme
(z.B. Werk- bzw. textinterne Relevanz, formale und thematische Einheitsbildung, Relevanz).“
(Scheuermann 2005: 93).
89
selbstgewählten Nodes zu verbinden und so eine Erzählstrategie des
Hypertextes in der Kunst (Dinkla 2004: online) ästhetisch zu realisieren.
3.3
Musikalisierung / Synästhesie / multimodale Wahrnehmung
Der Grad der Verlässlichkeit singulärer sensorischer Information ist nach
Maßgabe der Signalqualität variant, der sensorische Eindruck im Gehirn ist
somit nicht identisch mit der Wirklichkeit, die optimale Auswertung der Daten
über die Umwelt wird im Gehirn erst im Kollektiv verschiedener sensorischer
Informationen evident. In der Interaktion mit der Umwelt bildet ein
Konglomerat von sensorischer Information – darunter die schlüssige
Integration von auditiver und visueller Information – die Basis für sinnvolles
situationsrelevantes Agieren. In der technologischen Möglichkeit der medialen
Übertragung und Speicherung von Bild oder Ton wird die visuelle von der
auditiven Umwelt getrennt 95, die ursprünglich genuine Verbindung von Bild
und
Ton
wird
nunmehr
willkürlich
kontextualisiert 96.
In
dieser
Wiederzusammenführung vorher isolierter auditiver und visueller Signale
werden die subjektiven Wahrnehmungsmuster erfahrungsbasierter Körper–
Umwelt–Erfahrungen irritiert, indem die unmittelbare auditive und visuelle
Deckungsgleichheit des auslösenden Reizes fehlt.
Die
in
Abgrenzung
zur
Synästhesie
sensu
Cytowic 97,
also
einer
physiologischen Synästhesie, die in ihrer Reizauslösung mechanischen
Prinzipien (vgl. Behne 2002: 31) folgt, ist hier eine intermodale Analogie
angesprochen, die eine Synästhesie ganzheitlicher Wahrnehmungs–
und
Handlungumgebungen (vgl. Herczeg 2008: online 6) impliziert. Eine
intermodale Analogie von Tonhöhe und Raumempfinden ist in der von der
Neumennotation ausgehenden Entwicklung der musikalischen Aufzeichnung
von Bedeutung, wo frühe Akzentneumen wie accentus acutus und accentus
95
Vgl. Walter Ruttmann, Weekend 1930.
Vgl. Bill Fontana, Satelliten Ohrbrücke Köln San Francisco 1987.
97
„Synästhesie würde ich `sensu Cytowic` (Cytowic 1989; S. 64ff) als seltenes Phänomen
definieren, als unwillentliche und durch Reize ausgelöste Perzepte (`Immer wenn ich einen
Trompetenton höre, sehe ich die Farbe rot`), die einem Absolutheitsprinzip unterliegen.“
(Behne 2002: 31).
96
90
gravis (vgl. Walter 1994: 43ff) eine Änderung der Tonhöhe bedeuten, indem
sie im Verhältnis zur Leserichtung nach oben oder nach unten auf dem
Neumenblatt verweisen. In der Bewegungsanalogie der empfundenen
musikalischen Bewegung im Tonraum zur eigenen Bewegung im realen Raum
ist – beim Dirigat oder im originären Musizieren 98 – eine synchrone
Verknüpfung der (Bewegungs)Abläufe die Basis für stabile intermodale
Analogien.
Deren
Prozesscharakter
ist
in
den
frühen
abstrakten
Animationsfilmen (vgl. Oskar Fischinger, Tönende Ornamente, 1932)
charakterisiert und ähnelt der prozessualen Form der Notationssynästhesie (vgl.
Behne 2002: 34; vgl. Waldeck 2006: 110ff), hier visualisieren genuine
Synästhetiker den Ton entsprechend seines Frequenzspektrums als verschieden
großes, ephemeres Gebilde im Raum.
Die in einer multimodalen Wahrnehmung integrierten Sinnesreize unterliegen
in ihrem Beitrag zu dieser einer wechselseitigen Beeinflussung, die sich in
einer
widerspruchsfreien
Interpretation
der
Umwelt
summiert.
Die
Kontextabhängigkeit der Dominanz eines Sinnes ist einerseits in dessen
Wahrnehmungsfähigkeit begründet und andererseits in der Qualität der
bearbeitbaren Information. Sinkt die Qualität des optischen Reizes, so wird in
einem wenig abgedunkelten Raum der auditive Reiz mit dem visuellen
korrespondieren, in einem völlig abgedunkelten Raum zusätzlich der taktile.
Dabei wird „[…] die Wahrnehmung in einem Sinnesgebiet durch die
Wahrnehmung in einem anderen Sinnesgebiet beeinflusst, eben da die beiden
Bestandteile in eine multimodale Wahrnehmung integriert werden.“ (Daurer
2006: 22). In der optimalen Integration der sensorischen Informationen ist eine
stabile, kohärente und vor allem eindeutige Interpretation der Umwelt
begründet
und
so
die
Basis
für
einen
sinnvollen
Handlungs
–
Wahrnehmungszyklus gegeben. In Folge ist in der Redundanz von Information
(durch die Verarbeitung einer reizauslösenden Quelle über verschiedene
sensorische Informationen) eine signifikante Erhöhung der Stabilität des
98
Originäres Musizieren: „Die unmittelbare körperliche Formung von Klang, somit der
unmittelbare Bezug zwischen Körper und Klang – Generierung.“ (vgl. Jauk 2002: 86).
91
Wahrnehmungs– / Handlungszyklus des Menschen (vgl. Ernst / Bülthoff 2005:
354 / online) zu erkennen.
Die redundante Informationsverarbeitung kann zu einer Irritation der Körper–
Umwelt–Wahrnehmung werden, indem entsprechend der vorausgehenden
Erfahrung und bei gleichzeitiger Präsentation mehrerer Reize verschiedener
Modalitäten die Reize sich wechselseitig beeinflussen. Die synchrone
Darbietung von visuellem und akustischem Reiz beeinflusst die räumliche
Lokalisation einer Schallquelle, wie die Darbietung von Bauchrednern und
deren vorgeblich sprechenden Handpuppen, oder die Irritation, dass der Sound
im Kino nicht von den im Saal verteilten Lautsprechern, sondern von vorne –
von der Leinwand – komme, zeigt. Die „Überstimmung“ akustischer durch
visuelle Reize wird am McGurk – Effekt 99 beispielhaft, weder die
Lippenbewegung noch der unpassende, zugespielte Klang ist mit dem
resultierend empfundenen Silbenlaut identisch. Im umgekehrten Sinn
überstimmen im illusory flash effect 100 die akustischen die optischen Reize,
beide Effekte sind ausgesprochen dominant, sie werden auch von vorher
explizit informierten Probanden wahrgenommen.
Eine als intermodale Analogie zu erkennende synästhetische Erscheinungsform
ist zum einen charakterisiert durch auf Vorwissen basierenden Assoziationen,
zum anderen durch die Verknüpfung verschiedener Wahrnehmungsinhalte oder
Assoziationen auf verschiedenen Ebenen. Da die Verknüpfungen auf
verschiedenen Ebenen und von verschiedenen Ebenen parallel und somit
zeitgleich verarbeitet werden, kann eine Gleichzeitigkeit von emotionalem
99
„Der McGurk–Effekt belegt, dass optische Reize nicht nur die Lokalisation einer akustischen
Reizquelle beeinflussen können, sondern auch die Wahrnehmung selbst. Hierbei betrachteten
Probanden eine Videosequenz, auf der eine Person zu sehen und hören war. Die
Lippenbewegungen des Schauspielers führten den Laut ‚ga‘ aus, zeitgleich wurde jedoch der
Ton ‚ba‘ abgespielt. Die Nichtübereinstimmung führte dazu, dass die Probanden angaben,
den Ton ‚da‘ gehört zu haben. Die visuell wahrgenommene Bewegung hat in diesem Fall zu
einer veränderten akustischen Lautwahrnehmung geführt (vgl. McGurk / MacDonald 1976,
S. 746ff).“ (Salzmann 2007: 85)
100
„Den umgekehrten Einfluss der akustischen auf die optische Wahrnehmung belegt der
‚illusory flash effect‘. Hierbei nehmen Probanden einen Lichtblitz, der von mehreren kurzen
Tönen begleitet wird, nicht als einen Lichtblitz war [sic], sondern als eine Folge von
mehreren Lichtblitzen. Diese Illusion verläuft derart zwingend und automatisch, dass sogar
Beobachter, die vorab über die physikalische Beschaffenheit des visuellen Reizes informiert
wurden, dennoch behaupteten, mehrere Lichtblitze gesehen zu haben (Shams et al., 2000, S.
788; Shams et al 2002, S. 147ff).“ (Salzmann 2007: 85f)
92
Eindruck und analytischer Betrachtung des auslösenden Reizes ohne (inneren)
Widerspruch akzeptiert werden (vgl. Haverkamp 2006: 36). Den Assoziationen
auf verschiedenen Ebenen kommt individualistische Bedeutung zu, da – im
Sinn eines konstruktivistischen Kommunikationsansatzes – das Handeln des
Kommunikators als reizauslösendes Moment und das Handeln des Beobachters
als reizverarbeitendes Moment nach Maßgabe der je subjektiven biologischen /
kulturellen Konditionierung in differenten Verarbeitungsprozessen differente
Ergebnisse bedingt. Somit ist die Annahme gleichartiger Assoziationsprozesse
obsolet, der Assoziation des Rezipienten ist nicht zwingend die Assoziation des
Komponisten zuzuordnen. Ähnliches gilt im Fall personaler Trennung für die
musikalische Beziehung zwischen dem Komponisten und dem / den
Musizierenden.
Die parallel ablaufenden neuronalen Verarbeitungsprozesse – das unbemerkte
Denken – sind äußerst zahlreich, wogegen die auf diesem unbemerkten Denken
basierende bewusste Wahrnehmung eine äußerst beschränkte (vgl. Spitzer
2006: 702) ist. Die Komplexität der wahrgenommenen Echtzeitprozesse
übersteigt die Verarbeitungsfähigkeit bewussten Denkens bei weitem, somit ist
der unbewusste, unmittelbare Denkvorgang adäquat für einerseits intuitive
Assoziationsprozesse und andererseits für eine
sensorische
Immersion in
virtuelle Handlungsräume oder reale Handlungsabläufe. Die Unmittelbarkeit
einer immersionsbezogenen Handlung setzt die Automatisierung systembezogener Fähigkeiten und die Internalisierung einzelner Handlungen in
Abarbeitung eines der gegebenen Aufgabe angemessenen Handlungsplanes
(Herczeg 2008: online 4f) voraus.
Die für eine Unmittelbarkeit in immersionsbezogenen Handlungen essentiellen
Konzepte sind einerseits die Direktheit einer interaktiv wahrnehmbaren
Reaktion und andererseits die Simultaneität als unmittelbare, synchrone und
nahtlose multimodale Wahrnehmung (ebd.: online 7). Mentale, physische und
emotionale Immersion im Zusammenhang mit verschiedenen synchronen
Wahrnehmungsmodalitäten ist so eine Folge von artifiziellen Reizzusammenhängen, die mit der kognitiven Körper–Umwelt–Erfahrung kommensurabel
sind, eine empfunden falsche lag–time oder Latenzzeit von Aktion und
93
Reaktion – etwa in einem telematischen Konzert – kann die Immersion der
Spieler im System empfindlich stören (vgl. Craig / Scherman 2003: 385).
Die Menge an internalisiertem Vorwissen, das in Verbindung mit unmittelbarer
Wahrnehmung Immersion in ganzheitlichen Wahrnehmungs– und Handlungsebenen vermittelt, ist im Sinne multimodaler Integration – also der
Beeinflussung eines Sinnesarales durch ein anderes – an der Transformation
des Originaleindruckes beteiligt, deren narrative und oder deskriptive Aspekte
formen so die Körper–Umwelt–Interaktion mit. Daneben unterliegen die mit
der Assoziation verbundenen Gedächtnisleistungen einer zeitabhängigen
Varianz (vgl. Haverkamp 2006: 56f), die Deutlichkeit einer Assoziations–
getriggerten intermodalen Analogie ist unmittelbar von der Stabilität des
entsprechenden Vorwissens abhängig.
Dem entsprechend ist die Kommunikation einer codierten symbolischen
Bedeutung eines Objekts eine stabilere gegenüber der einer sinnlichen
Analogie. Die lautmalerische Nachahmung ist im Vergleich zum priming –
dem Aufladen mit codiertem symbolischem Gehalt –101 Information mit einem
höheren Grad an Unmittelbarkeit, einhergehend mit einem höheren Grad an
Verrauschung. Das assoziative Triggern von Emotion durch visuelle Reize
birgt
einen erhöhten Grad an Abstraktionsleistung bei dem Abruf
autobiografischer Erinnerung (vgl. Salzmann 2007: 90), dementsprechende
emotionstriggernde auditive – daher auch musikalische – Reize werden unter
der Bewusstseinsebene wahrgenommen und unmittelbar verarbeitet. Die
zeitliche Konvergenz solcher multipler sensorischer Impulseinwirkung auf
multisensorisch aktive Neuronen regt diese zu erheblichem Aktivitätszuwachs
an.
Eine
multimodale
Integration
(vgl.
Haverkamp
2009:
292)102
verschiedener, regulär getrennter Sinnesreize fusioniert die entsprechenden
101
Das musikalische Leitmotiv Richard Wagners komprimiert die Signalhaftigkeit der
plastischen Natur–Motive (Wagner 1907: 264) zur formalen Gestaltung des
Handlungsablaufes, setzt aber zugleich eine zumindest rudimentäre Kenntnis des
verwendeten Codes als Vorwissen voraus.
102
„Die gleichzeitige Zusammenfassung von Wahrnehmungs–Eigenschaften wird auch als
simultane Integration bezeichnet (simultaneous integration, Bregman 1999)(…) Eine weitere
wesentliche Aufgabe der Integration besteht in der Zuordnung zeitabhängiger Vorgänge
(sequentielle Intregration).“ Haverkamp bezieht sich bei den Termini simultane Integration
(Gesamtklang) und sequenzielle Integration (Zusammenführung von Tönen zu einer
Melodie) ausdrücklich auf Albert Bregman, Auditory Scene Analysis,1999.
94
Abstraktionsleistungen mit den unmittelbaren emotionalen Reaktionen zu einer
stabilen Wirklichkeitskonstruktion.
Die Definition “Determinism demands a one–to–one relation of cause to
possible effect; indeterminism maintains a one–to–many relation” (Ellrod
1992: 129), ist in ihrer Einfachheit prädestiniert, diese Differenz – zwischen
genuiner
Synästhesie
mit
determinierter
Kopplung
und
synchroner,
multimodaler Wahrnehmung – als indeterministisches Reizarsenal zu
veranschaulichen.
Der
Zusammenführung
von
musikalischen
und
musizierenden Strukturen mit deren kontextueller Visualisierung liegen
intermodale Analogien – anstelle genuin synästhetischer Wirkeffekte als
Wahrnehmungsstörungen – zugrunde. Ein Beispiel dieser Form inter– /
multimodaler Wahrnehmung bezeichnete Albert Wellek im Hinblick auf etwa
die Verknüpfung von Tonhöhe und räumlicher Ausdehnung und deren zeit–
und kulturunabhängigen Erscheinungsform als eine Ursynästhesie (zit. in
Haverkamp 2009:151). Die Synästhesie als multimodale Wahrnehmung ist
somit insofern eines der Leitmotive der Medienkunst (Ranzenbacher 2003:
342) als die Synchronität mehrerer Medien, ihre Echtzeitfähigkeit und
Kontinuität als Prinzipien zur Realisierung von Immersion angesehen werden
können.
Der Rückgriff auf ikonische Zeichen in der grafischen Notation ist eine
Wendung zu einer synästhetischen Rezipierbarkeit von Musik (Jauk 2005a:
207), die dem Determinismus des abstrakten musikalischen Codes und dessen
Vorschriften die körperliche Immersion und zweckfreien Hedonismus (ebd.)
auf der Basis indeterminierter Handlungsanweisungen bevorzugt. Die
Synästhesie von klangorientiertem Musizieren und dessen grafischer
Entsprechung summiert sich – im Gegensatz zur Translation des abstrakten
syntaktischen Codes geschriebener Musik – im technologischen Prozess und
über das unmittelbare körperliche Ausdrucksverhalten zum symbiotischen
Handlungssystem „Medienkunst“.
95
4
Wahrnehmungsstrategien
4.1
Zeichensysteme / Selbstreferenzialität
Die redundante Wahrnehmung von Wirklichkeit ist eine Wahrnehmung von
gebündelten Merkmalen der Wirklichkeit, die auf verschiedenen Ebenen der
Wahrnehmungssensorien und der damit verbundenen kognitiven Leistungen,
Wirklichkeit konstruieren. Dass in der aktiven Wirklichkeitskonstruktion über
vernetzte Wahrnehmungsmechanismen die wirklichkeitsanalog–redundante
Wahrnehmung der Umwelt vorrangig ist, ist phylogenetisch stringent. Eine der
Wirklichkeit analoge Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung einer Wirklichkeit
erster Ordnung (vgl. Brandstätter 2004: 90f, 105, 130), wobei die distinkten
sinnlichen Wahrnehmungsformen über zugeordnete Zeichenanalogien eine
Metaebene der Wirklichkeit generieren. Deren multimodale Integration ist die
Basis für sinnvolles Handeln und stellt den Bezug zur Alltagswahrnehmung
dar.
Die von Erwin Panofsky in der Dreiteilung ikonografischer Interpretationsmethoden 103
postulierte vorikonographische Beschreibung (vgl. Panofsky
2006 [1955]: 43f) ist die erste Wahrnehmungsebene, die, der sinnlichen und
unmittelbaren Wahrnehmung entzogenen Wirklichkeit nullter Ordnung
(Brandstätter 2004: 90f) folgend, basale wirklichkeitsanaloge Zeichenketten
generiert. Parallel zu diesen gering semantisierten, auf Körper–Umwelt–
Erfahrungen rekurrierenden Zeichen entstehen komplex semantisierte externe
Zeichensysteme, die im soziologischen Umfeld oder auch in den Mythen
wurzeln.
Die
interpretative
Synästhesie
als
synchrone,
multimodale
Wahrnehmung von Zeichen verschiedener Semantisierungsebenen beschreibt
einerseits eine subjektive Wirklichkeit und generiert andererseits – in
Interaktion mit der Metainstanz Sprache und im Kontext des gegebenen
Zeichensystems – neue Bedeutungszusammenhänge. Die relationale Struktur
von sinnlichen Wahrnehmungs–Zeichen bedingt so deren Bedeutungs103
Die Dreiteilung der ikonografischen Interpretation wird von Erwin Panofsky als die
vorikonographische Beschreibung, die ikonographische Analyse und die ikonologische
Interpretation bezeichnet (vgl. Panofsky 2006 [1955]: 43f).
96
konstruktion; dies bedeutet einerseits die Abkehr von der sinnlichen
Unmittelbarkeit Hegelianischer Kunstästhetik 104, andererseits die Vermittlung
ästhetischer Erfahrung über zeichentheoretische Grundlagen (vgl. Fricke
2001: 63).
Das semiotische System Musik basiert, wie grundsätzlich jedes semiotische
System, auf der systemimmanenten Funktion, dass eine Interdependenz
zwischen der sinnlich wahrnehmbaren Materialität, dem Ton / Klang,
(Signifikant) des musikalischen Zeichens und einer konventional–arbiträren
Bedeutungszuordnung des notierten Zeichens (Signifikat) herrscht. Die
Differenzierung in eine syntagmatisch gegliederte Signifikantenebene, die die
formalen Beziehungen zwischen den Signifikanten regelt und der semantisch
bestimmten Ebene der Signifikate und deren Bedeutungsbezüge, die die Codes
für die Bedeutungszuordnungen induziert, ist für die Definition eines Zeichens
als solches elementar. Den syntaktischen Elementen Ton / Klang, dem –
musikalisierten – Geräusch und der Notation wird als Elementen der formalen
Gestaltung von Musik (auf der Ebene von Codes / Notat im musikalischen
Zeichen) Bedeutung zugewiesen, diese Semantisierung ist eine kulturelle
Sinnzuschreibung, die jedoch wegen ihrer arbiträren Struktur jederzeit
revidierbar ist.
Wenn dem musikalischen Signifikant Ton / Klang a priori keine semantische
Funktion zugewiesen ist, ergibt sich eine grundlegende semantische Offenheit
eines Systems von musikalischen Signifikantenketten (Fiala o. J.: 3), die vorerst
ohne jede emotionale oder kognitive Bedeutung bleibt. Solche musikalischen
Signifikantenketten oder syntaktischen Strukturen von Musik können somit als
semantisch neutrale Strukturen gesehen werden, deren Grad an Neutralität
unmittelbar mit deren Grad an Abstraktheit einhergeht, vorausgesetzt die
syntaktischen Operationen / Beziehungen bleiben von der Bedeutungsebene,
vom Signifikat, entkoppelt. Die in der konkreten Musik (musique concrète)
verarbeiteten konkreten Klänge sind als musikalische Signifikanten von ihrer
104
„Die eine Form oder [das erste] [sic] Verhältnis ist die Anschauung, das unmittelbare
Wissen von dem absoluten Geiste und eben darum sinnliches Bewußtsein. Das zweite ist das
vorstellende Bewußtsein, denn das Sinnliche ist das Unmittelbare.“ (Hegel / Gethmann 2005:
72).
97
Bedeutungsebene entkoppelt, auf der Grundlage der im kompositorischen
Algorithmus eingebetteten formal–musikalischen Codes wird eine neue
(musikalische) Signifikantenkette ohne Außenreferenz entwickelt, die eine
phänomenologische Einordnung der Ausgangsklänge verunmöglicht. Die
Richtung der Genese der musique concrète weist vom Konkreten zum
Abstrakten 105,
hier
Signifikantenkette
verweist
auf
sich
schlussendlich
selbst
als
die
Signifikat,
neue
musikalische
diese
Form
der
Selbstreferenzialität wird gestützt durch die dem Werk inhärente abstrakte
Qualität.
Die Formalisierung von Musik in grundsätzlich bedeutungsfreien Symbolen
des musikalischen Codes bedingt ein semantisch offenes System Musik, das
im Regelfall ohne mimetische Referenz 106 zur Außenwelt zu verstehen ist.
Durch die Ordnung von syntaktischen musikalischen Elementen, von nichts
bedeutenden musikalischen Elementen, in dem willkürlichen gedanklichen
Algorithmus der Komposition, wird die Arbitrarität und Bedeutungsneutralität
der Musik konzeptualisiert. Im Sinne der Zeichentheorie von C. S. Peirce sind
Zeichen einerseits eine geistige Repräsentation von etwas (vgl. Fricke 2001:
64)
und
haben
andererseits
Systemcharakter
durch
interdependente
Bedeutungszuweisung in temporär gültiger Eindeutigkeit. Das Zeichensystem
Musik ist so als Repräsentation von sich selbst auf der kognitiven, der
abstrakten semantischen Bedeutungsebene, schwach codiert (vgl. Fiala o. J.: 5;
Eco 1972: 217), auf der emotiven, körperlich unmittelbar rezipierbaren Ebene
der Intensität oder des Rhythmus, stark codiert. Somit ergibt sich eine analoge
Interdependenz der Quantitäten von Abstraktheit, semantischer Offenheit und
105
Die abendländische Kunstmusik, die so genannte abstrakte Musik entwickelt sich nach
Pierre Schaeffer von der Idee über die Niederschrift zur Aufführung, das heißt im Sinne
Schaeffers vom Abstrakten zum Konkreten. Im Gegensatz dazu entwickle sich die musique
concrète vom Konkreten zum Abstrakten, indem konkretes Klangmaterial seiner Bezüge
entkoppelt und in abstrakte musikalische Zusammenhänge eingepasst wird. (vgl. Schaeffer
1974: 19f).
106
„Als vorläufige Antwort auf die Frage [nach dem Abbildcharakter von Musik] kann
behauptet werden, daß die zeitgenössischen Spielarten der artifiziellen Musik, seien es die
serielle, die aleatorische oder die ‚konkrete’ Musik oder sei es die Musique stochastique, mit
keiner der bisher genannten [darunter auch die Mimesis] Abbildbeziehungen
zusammenstimmen wollen. (Riethmüller 1976: 30).
98
Aisthetik 107, wobei die De–Semantisierung und somit Abstrahierung mimetisch
/ ikonischer Musikzeichen (Signifikanten) eine unmittelbare körperlich–
sinnliche Wirkweise von Musik induziert.
Demgegenüber gilt für Nelson Goodman die semantische Eindeutigkeit als
Voraussetzung größtmöglicher Klarheit in der Notation, sie sei ein
kommunikationsrelevantes Erfordernis, das die grundlegende Zielsetzung eines
Notationssystems, dessen funktionale Disambiguität (vgl. Goodman 1973: 144)
sichert. Die Einhaltung semantischer Eindeutigkeit und deren Parameter würde
die […] Identität eines Werkes in jeder Folge von Schritten von der Aufführung
zur sie enthaltenden Partitur und von der Partitur zur diese erfüllenden
Aufführung bewahren (ebd.). Wenn die musikalische Syntax aber als operante
Beziehungsstruktur der musikalischen Logik des In–Beziehung–Setzens
musikalischer Elemente zur Bildung sinnvoller musikalischer Zusammenhänge
(vgl. Faltin 1985: 197) folgt, ist die konstitutive Instanz der Bedeutungsgebung
der Produzent / Rezipient. Ein allgemeines, stets der gleichen Logik und den
gleichen Wahrheitswerten folgendes Gesetz des musikalischen Denkens ist
also wegen der Tatsache, dass es in der Musik weder logische Junktoren 108 mit
semantisch genau festgelegter Bedeutung von Operationen gibt (ebd: 83)
ebenso
ausgeschlossen wie
eine Eindeutigkeit
und
Absolutheit
der
soziokulturellen und historisch bedingten Semantisierungen.
In der wahrnehmungsrepräsentativen Uneindeutigkeit der informalisierten
bildenden Kunst 109 wird, in Analogie zum musikalischen Code als formale
Struktur ohne syntaktische Ordnungsvorgabe und ohne semantischen Bezug zu
Wirklichkeitsphänomenen, die stringente und eindeutige Codierung der
gegenständlichen Kunst als Wirklichkeitsrepräsentanz aufgelöst. Durch die
Entkopplung von der mimetischen / ikonischen Semantisierung des Gegen107
Während Wolfgang Welsch Ästhetik genereller als Aisthetik versteht, als Thematisierung
von Wahrnehmung aller Art (vgl. Welsch 1993: 9), grenzt sich Martin Seel von einer
Unterwerfung der speziellen philosophischen Disziplin der Ästhetik unter das Projekt einer
allgemeinen Aisthetik ab (vgl. Seel 1996: 59).
108
Junktor, im Sinne von Konjunktion: „[…] in der Aussagenlogik die Verknüpfung zweier
oder mehrerer Aussagen als logische Widerspiegelung des Zusammenbestehens von
Sachverhalten der objektiven Realität“ (Klaus / Buhr 1964: 288).
109
Informalisierung als Auflösung des Formprinzips zugunsten von Indeterminiertheit, (vgl.
abstrakte Strömungen [Informel] in der bildenden Kunst des post–WK II wie Tachismus,
action painting, Abstrakter Expressionismus, colorfield painting).
99
ständlichen wird ein Konglomerat formaler Aspekte in einem zum arbiträren
Gebrauch verfügbaren (vgl. Schapiro 1994: 274) Beziehungssystem vermittelt,
ohne dass zwingend eine Abbildungs– und / oder Interpretationsrelation –
resultierend aus dem Vorwissen des Rezipienten – gegeben sei. Die
semantische Offenheit der informellen bildenden Kunst bedingt, parallel zur
musikalischen freien Improvisation, einerseits eine Entkopplung von den
musik– / kunsttheoretischen Regeln zur Generierung indeterministischer
Prozesse, andererseits die Kunst als autonomes System mit eigener Syntax, das
[den Hörer] veranlasst, nicht allein ein Signifikat für jeden Signifikanten
festzustellen, sondern auch dazu, auf den Komplex der Signifikanten zu
verweilen (Eco 2002: 73). Die Informalisierung der bildenden Kunst ist so
jener Schritt, der die abbildungsneutralen syntaktischen Elemente und somit
„nichts“ – bedeutende Formen in den willkürlichen, abstrakten Algorithmus
der bedeutungsneutralen Codes integriert. Der Komplex der Signifikanten ist so
frei von Außenbeziehung und diese nunmehr autoreflexive Botschaft kann als
eigenständiges sinnliches Material als lediglich angenehme Materie (ebd.)
aufgefasst und genossen werden. In der Bearbeitung dieses selbstreferenziellen
Zeichensystems werden einerseits Vorschriften durch Handlungsanweisungen
ersetzt, die eine Trennung von Produzenten und Rezipienten obsolet werden
lassen, andererseits wird durch deren Zweckfreiheit der Hedonismus zum
Motor ebendieses zweckfreien Handelns (vgl. Jauk 2005a: 207).
Die Übertragung von dem ephemeren akustischen Medium (Zeichensystem
Musik) in das stabile visuelle Medium (Notation) ist im Sinne intermedialer
Transposition 110 eine Übertragung inhaltlich formaler Konzepte von einem
Medium in ein anderes. Die mit der konzeptuellen Materialisierung erreichte
Stabilität
des
flüchtigen
akustischen
Zeichens
Musik
ist
in
ihrer
Verräumlichung im (grafischen) Notenblatt oder im Tonträger gleichzeitig die
Überwindung der zeitlichen Irreversibilität, das ikonische Zeichen Musik wird
multimodal–synästhetisch rezipierbar. Dem entsprechend ist das Artefakt in
der informellen Kunst die Materialisierung und Verräumlichung einer
110
Werner Wolf weist, unter Hinweis auf Claus Clüver, (1989), On Intersemiotic
Transposition, darauf hin, dass die intermediale Transposition mitunter auch als
intersemiotische Transposition bezeichnet wird (vgl. Wolf 2002: 171).
100
irreversibel
linearen
Chronologie
und
eines
ephemeren
Ausdrucks
unmittelbarer körperlicher Befindlichkeit und wird zum eigenständigen
sinnlichen Zeichen, das die Übertragung von Verhaltensweisen, die ihre
Ausprägung in der Sukzessivität erfahren, begünstigt und so der Zeitgestalt der
Musik näher steht als der Statik der bildenden Kunst (vgl. Rösing 1971: 75).
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit erscheint als ein komplexes, multimodales
Zeichensystem von sinngebenden Signifikanten, die auf verschiedenen Ebenen
vernetzt interagieren. Die Identifikation sinngebender Signifikanten im System
hängt
von deren
Relationen und
deren
Differenzen
innerhalb
des
Zeichensystems und der aktiven Konstruktionsleistung des wahrnehmenden
Subjekts ab. Das Zeichensystem Kunst ist, die De–Semantisierung der
Signifikanten vorausgesetzt 111, ein selbstreferenzielles, es verweist auf sich
selbst als einen Komplex von Signifikanten, der nicht die Wirklichkeit
beschreibt, sondern beschreibt, wie er die Wirklichkeit beschreibt (vgl. Jauk
2005a: 490). Dass die zeichenhafte Wahrnehmung des Werkes – des
Notentextes oder des Bildes – in ihrer hypertextuellen Struktur und non–
Linearität sich über Beziehungen und prozessualer Diachronie definiert, weist
auf die Dominanz der Form und zugleich auf deren inhärente non–Narrativität
hin.
Der Komplex von Signifikanten als präsentative Formen ist, im Gegensatz zur
sukzessiv–diskursiven Symbolik der Sprache (vgl. Langer 1965: 86f), die
Bedeutung von Beziehungen innerhalb einer ganzheitlichen Struktur, die in
simultan–integrativer Wahrnehmung eine rein konnotative Semantik (ebd.:
107) transportiert. Die dieser konnotativen Semantik zugrundeliegende
emotionale
Erfahrung
konstruiert
eine
simultane
und
holistische
Wahrnehmung, die in Beziehung mit der subjektabhängigen inneren Dauer
(durée) intuitiv erfasst wird:
111
Dies gilt für eine Wahrnehmung von Renaissance–Malerei ebenso wie für Werke der
abstrakten Kunst oder der Konzept Kunst. Vorauszusetzen ist die Entkopplung von Signifikat
und Signifikant, wobei die Bedeutungszuordnung abhängig vom Wissenshintergrund der
symbolischen Ikonographie möglicherweise in der Renaissance–Malerei eine intensivere
war.
101
„Sie [Anm.: die präsentativen Symbole] bieten ihre Bestandteile nicht
nacheinander, sondern gleichzeitig dar […]. Daher ist ihre Komplexität nicht
wie die des Diskurses nach Maßgabe dessen begrenzt, was der Geist vom
Beginn eines Auffassungsaktes bis zu seinem Ende behalten kann.“ (Langer
1965: 99).
In der Strukturarbeit, im verstehenden Nachvollziehen (Jauk 2005a: 232) des
musikalischen Zeichens, wird die musikalische Form vom Sinnlichen
entkoppelt und rational als beziehendes Denken (vgl. Riemann 1975 [1914/15])
analysiert. Die Formalisierung von Musik im musikalischen Code des
beziehenden Denkens und deren Rezeption in der konnotativen Semantik des
präsentativen Zeichensystems verweisen auf die Parallelen von Musik als
beziehendem Denken und von Zeichensystemen als beziehendem Denken.
Beiden Strukturen ist die – temporäre – Zuweisung von Bedeutungen aufgrund
von
Beziehungen
gemein,
deren
Sinnzuschreibung
eine
semiotische
Kompetenz im Sinn des Gebrauches eines Zeichensystems für kognitive und
kommunikative Zwecke im Rahmen konventionaler oder individueller
Vorgaben bedingt.
Die internen Zeichensysteme, Wirklichkeiten erster Ordnung (Brandstätter
2004: 89) verweisen auf eine nicht–semantisierte, von Bedeutungszuschreibungen freie Wahrnehmung 112, die externen Zeichensysteme, Wirklichkeiten
zweiter Ordnung (ebd.) oder höher verweisen auf eine höher semantisierte,
bedeutungsgeladene Wahrnehmung. In einem präsentativen Zeichensystem
sind die internen und externen Zeichensysteme wie die Wirklichkeiten
verschiedener Ordnung interdependent und in einem hypertextuellen Bezugsrahmen ganzheitlich erfahrbar. Der konstruktiv–kommunikative Charakter des
Zeichensystems der grafischen, synästhetischen Notation erschließt sich in der
interdependenten Beziehung von graphischer figura (Walter 1994: 185f) und
klanglicher Bedeutung. In dieser intendierten willkürlichen Bearbeitung von
musikalischer Zeit in syntaktischen Codes findet sich die Parallele zur
112
Vgl. auch die Dreiteilung ikonografischer Interpretationsmethoden (Panofsky 2006 [1955]:
43f).
102
Mediatisierung der bildenden Kunst über den bedeutungsfreien – digitalen –
Code.
4.2
Ästhetische Erfahrung
Dass es sich bei einem materiellen Objekt und / oder einem immateriellen
Sinneseindruck, einer Situation, um ein Kunstwerk handelt, ist keine
Erkenntnis, die dem Rezipienten inhärent ist, sie basiert auf Vorwissen und
spezieller Information. So ist die Erkenntnis von Geräusch als die klangliche
Basis des musikalischen (Kunst)Werks wie das Zur–Verfügung–Stellen des
nicht Fassbaren (vgl. Welsch 1993: 89) im abstrakten Bild nach Welsch ein
Übergang von einer Ästhetik des Schönen zu einer Ästhetik des Erhabenen (vgl.
Barnett Newman, Vir Heroicus Sublimis, 1950 – ´51). Indem das Bild nicht nur
im Auge entsteht, sondern auch im Geist (Lyotard 85: 97), wird das Erhabene
zum
Motor
einer
unabsehbaren
Reihe
von
Möglichkeits–
und
Wirklichkeitsexperimenten (ebd.: 91). Edmund Burke definiert die Quelle des
Erhabenen als dasjenige, das die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen
das Gemüt fähig ist (Burke 1989 [1757]: 72) und betrachtet somit immer eine
Art von Schrecken oder Schmerz [als] die Ursache des Erhabenen (ebd.: 176),
eine ebenso anästhetische 113 Reizkonfiguration wie Blitz, Störung, Sprengung
oder Fremdheit (Welsch 1993: 39).
Der zeitgenössischen Kunst wird im Zusammenhang mit Anästhetik von Odo
Marquard die Funktion des Sehens des bisher Nicht–Gesehenen (vgl. Motte –
Haber 2004: 422) zugewiesen. In der Neuen Musik beschreibt die auf den
russischen
Formalismus
zurückgehende
Verfremdungstheorie 114
die
Differenzen zwischen eingeschliffenen Gewohnheiten des Rezipienten und neu
zu initiierenden Kognitionen (ebd.: 421), eine Anästhetik, die die Regelmäßigkeit sinnlicher Wahrnehmungsautomatismen stört.
113
Anästhetik als Komplementarität, als Kehrseite zur Ästhetik (Welsch 1993: 10).
Jurij Striedter zur Verfremdungstheorie Viktor Sklovskijs: „Einmal dient die Verfremdung
dazu die […] automatisierte Wahrnehmung zu erschweren, zum anderen wird […] die durch
Verfremdung erschwerte Wahrnehmung auf die verfremdende und erschwerte Wahrnehmung
selbst gelenkt“ (Striedter 1994 [1969]: XXIII).
114
103
Die Bindung ästhetischer Erkenntnis an das sinnlich–signifikative Geschehen
des künstlerischen Erscheinens (vgl. Seel 2003: 192) fordert einerseits wegen
der Indetermination ästhetischer Prozesse das Denken in Differenzen,
andererseits das Denken in Analogien und Metaphern. Das Erfassen von
Wirklichkeit
in
der
abstrakten
Kunst
ist
wegen
des
Fehlens
konventionalisierter, mimetischer Beziehungen eine auf metaphorischen
Beziehungen basierende Zeichenfunktion, die sich in ihrer semantischen
Offenheit an der konnotativen Semantik von Musik (Langer 1965: 107)
orientiert. Dem Prinzip der Sinnerzeugung aus Differenz innerhalb eines
strukturellen Gefüges von Signifikanten entspricht, dass sich dessen Wert aus
der Differenz, aus dessen was er nicht ist, ergibt und so keine fixierte und
eindeutige Bedeutung hat, diese ändert sich nach dessen jeweiliger „Position“
im System. Eine in diesem System enthaltene Rezeptionsästhetik ist vom
Vorwissen, von der Bildung und von der Anteilnahme der Rezipienten am
ästhetischen Prozess abhängig, je karger und gleichgültiger also die Symbolik
des zugrundeliegenden Zeichensystems, umso größer ist seine semantische
Kraft (vgl. Langer 1965: 83). Anstelle der Objekte des sinnengeleiteten
Wahrgenommenwerdens (Seel 1996: 105), eines Werks im gegenständlichen
Sinn oder als einem in sich geschlossenen Zusammenhang, tritt der ästhetische
Prozess, in dem die unterschiedlichsten Aspekte der ästhetischen Situation
thematisiert und reflektiert werden können (Sanio 2004: 360).
Die Emanzipation des Geräusches steht als richtungsweisend für eine
Emanzipation der Malerei von ihrer dienenden Aufgabe als Darstellung der
äußeren Wirklichkeit (vgl. Brandstätter 2008: 74), die (Selbst)Befreiung der
abstrakten Kunst von der Außenreferenz findet sich so in Differenz zum
rezipientenseitigen Erfahrungswissen. Das materiale Kunstwerk verliert seine
prioritäre Stellung als ästhetisches Objekt, an seine Stelle tritt die Interaktion
mit dem materialen Artefakt und – wie bei John Cage – ein ästhetischer
Prozess, in dem die unterschiedlichsten Aspekte der ästhetischen Situation
thematisiert und reflektiert werden können (Sanio 2004: 360). Die ästhetische
104
Rezeption von Kunst ist so in den Avantgarden 115 eine reflexive (Lyotard 1985:
38), in der postmodernen Kunst der 1980er Jahre wird die reflexive Ästhetik
durch eine Ästhetik der sinnlichen Abstraktion – oder des Hedonismus –
abgelöst, die gekennzeichnet ist von der postmodernen Pluralität des lustvollen
Eklektizismus. Dass die Wirklichkeitssicht als reine Sinneserfahrung bereits
ein Prozess der Formulierung ist, eine unbewusste Gliederung der Sinnesdaten
in Formen und Muster, ist für Susanne K. Langer die primitive Wurzel aller
Abstraktion, die ihrerseits der Schlüssel zur Rationalität ist (Langer 1965: 69).
In der Aufhebung der Grenze zwischen Reflexion und Hedonismus ist, wegen
der Befreiung von den strikten Regeln der Avantgarde durch einen
tendenziellen Hedonismus, die Verschiebung von Kunst–Werk zum Kunst–
Ereignis (Steinert 1989: 100)116 enthalten.
In dem aus einem Prozess der De–Semantisierung 117 entstandenen und so einer
Bedeutung enthobenen, funktionslosen Zeichensystem Musik ist das staunende
Hinhorchen entsprechend der Erwartung, die durch das ästhetische Objekt
evoziert wird, an die Stelle des Verstehens getreten (vgl. Tibor Kneif zit. in
Knepler 1982: 521). Durch einen Überschuss an Intention (Knepler 1982: 522)
entstandene zeichen– und funktionslose ästhetische Objekte initiieren jene
kommunikativen Regelkreise zwischen Produzent–Objekt–Rezipient, die, im
Sinne einer subjektiven Rezeptionsästhetik erkenntnisleitend (vgl. Sanio 2004:
406f) und so bedeutungsgeladen wirken. Die bedeutungsgebende Realität
ergibt sich durch die ästhetisch–kognitiven Übereinstimmungen, die in einer
Gruppe von Rezipienten entstehen und wird durch die subjektiven Zustände
kollektiven Bewusstseins (vgl. Faltin 1972: 204ff), die bei den Rezipienten
durch das materielle Objekt hervorgerufen werden, bestimmt.
115
„Die Rezeption von Kunst kann sich […] nicht mehr auf das sinnliche Wahrnehmen
beschränken; sie wird nun in erster Linie eine Aufgabe für den Geist und das Denken. Die
Reflexion ist Lyotard zufolge das entscheidende Moment in der Veränderung der
traditionellen Malerei. Bezogen auf die Werke der bildnerischen Avantgarden kann er
[Lyotard] somit feststellen: ´Die Malerei ist wesentlich reflexiv geworden.´“ (Friesen 1995:
72).
116
„Für dieses Kunstverständnis ist statt der Bezeichnung »reflexiv« die der »Postmoderne«
gebräuchlich, allerdings in dem Sinn einer Befreiung von den strengen Normen der Moderne
und der Avantgarde, wie sie in den 1950er Jahren verstanden wurde, nicht in dem Sinn des
Rückgriffs auf traditionelle Vorstellungen und historische Formen, wie der Begriff seit den
1980er Jahren gebraucht wird.“ (Sanio 2004: 367).
117
Georg Knepler bezeichnet dies als Entsemantisierung (vgl. Knepler 1982: 521).
105
Die individuelle ästhetische Erfahrung von Musik ist eine subjektive und ist
abseits von der rational–diskursiven Dichotomie der affektiven Dimension des
Geschmacksurteils und der kognitiven Dimension des Sachurteils (Tadday
2004: 402) eine ästhetische Erfahrung des Körpers, die, gekoppelt an die
Lebenswelt des Rezipienten, erkenntnisleitend und wirklichkeitskonstruierend
wirkt. Somit ist eine ästhetische Erfahrung von Musik eine vorerst ästhetische
Reflexion des Körpers, noch nicht die logozentristisch ästhetische Rationalität
im Geiste (ebd.: 403), eine Unmittelbarkeit biogener Einstimmungselemente
(Knepler 1982: 125), die in einem Dialog von individueller Sinnlichkeit und
kognitivem Erkenntnisinteresse die Ästhetisierung des Alltags und dessen
kollektive Konstruktion konstituiert.
4.2.1 Psychologische Ästhetik / (Kognitive Ästhetik)
Die
Beziehung
zwischen
Hedonismus 118
–
als
Form
lustbetonter
Erlebnisreaktion – und einer individuellen Variabilität ästhetischen Erlebens
wird in den new experimental aesthetics (vgl. Berlyne 1974 [1960]; Jauk
2004a: 207f) bestimmt durch Reizvariablen, die eine Gratifikation des
Lusterlebens ermöglichen. Das Lusterleben ist
in der epikureischen
Philosophie ein unteilbares, in der Annahme, dass von Lust als höchstem Gut
alle anderen Werte abgeleitet werden, 119 erscheinen somit verschiedene
Lustarten quantitativ mehr oder weniger lustvoll, dies gilt aber nicht als
qualitativ–wertende
Differenz
Handlungsentscheid.
Der
in
einem
Gratifikationswert
hedonistisch
für
Abwendung zu besonderen Sinnesreizen wird in
118
besondere
geprägten
Zu–
oder
den new experimental
„Wenn man als höchstes Prinzip alles menschlichen Handelns den größtmöglichen
Lustgewinn ansieht, dann müsste sich jede einzelne Handlung eindeutig daraus ableiten
lassen. Das geschieht mit Hilfe des ‚hedonistischen Kalküls‘, das darin besteht, dass man die
bei einer Handlung zu erwartende Lust und Unlust gegeneinander verrechnet, um so den
´Gratifikationswert` zu erhalten. Gewählt wird dann jeweils die Handlungsalternative mit
dem größten Gratifikationswert“ (Hossenfelder 2008: 44f).
119
„Aristipp, der Begründer des kyrenaischen Hedonismus, lehrt, ‚dass Lust von Lust sich
nicht unterscheide und nichts lustvoller sei‘. […] Damit kann gewiss nicht gemeint sein, dass
die Lust überhaupt keinerlei Grade kenne, sodass nie eine Sache lustvoller sei als eine
andere. Lust ist immer ein und dasselbe, aber sie kennt […] unterscheidbare Zustände,
sofern sie in der Quantität schwanken oder dauern kann.“ (Hossenfelder 2008: 45).
106
aesthetics von der subjektiven Interpretation des Wahrgenommenen – dem
‚hedonischen Wert‘ des Gegenstandes / Werkes – und den dem Wahrgenommenen anhaftenden ‚kollativen‘ Reizvariablen (vgl. Allesch 2006: 78)
bestimmt.
Die kollativen Reizeigenschaften oder collative variables (Jauk 2004a: 214)
sind
als eine Form subjektiv orientierter Stimuli ein Trigger
für
erfahrungsbasierte Vergleichsprozesse, die eine Zuwendung zum Zeichen
Kunst initiieren. Kollative Variable sind Variablen des Vergleichs – wie
Ungewissheit, Neuheit, Komplexität, Regellosigkeit – die durch ein In–
Beziehung–Setzen
mit
erlernten
Erfahrungen
und
Erwartungen
eine
epistemische Neugier (vgl. Berlyne 1974: 349) aktivieren. Zusammen mit der
Intensität des Reizes – wie Lautstärke – und / oder damit verbundenen
Schlüsselreizen – wie Bedrohlichkeit – sind diese konflikt– und damit
aktivitätsinduzierende Qualitäten
der
Reize
(vgl.
Jauk
2004a:
214)
objektivierbare Gegebenheiten der Interessenszuwendung. Die umgekehrt U –
förmige Relation zwischen der Komplexität des Reizes und dessen
empfundener Erfreulichkeit und Wohlgefallen kennzeichnet das von dem Reiz
hervorgerufene Aktivierungspotential. Wie in der Informationsästhetik,
gestützt auf das Homöostaseprinzip (vgl. Jauk 2004a: 213), auf das Vermeiden
zu einfacher oder zu komplexer Reize und der Wiederherstellung eines
Gleichgewichtszustandes, steigt bei zunehmender Aktivierung das Wohlgefallen an, bei zu großer Aktivierung / Erregung kippt das Wohlgefallen in
Unlust. Die Erregung ist ein Indikator der Intensität von Emotion, die
Aktivierung einer Komponente. So wird die unmittelbare körperliche
Aktivierung durch empirisch erfahrbare driving effects, das heißt mittels einer
unmittelbaren Aktivierung durch die [physikalische] Intensität von Stimuli
(ebd: 220) neben den kollativen Variablen mitbestimmt.
In den informationsästhetischen Ansätzen wird das ästhetische Empfinden über
die Quantifizierung des Informationsgehaltes einer Reizübertragung definiert,
somit ist ein materielles Objekt […] ein ästhetisches Objekt, wenn es in einem
Kommunikationsprozess als Zeichenträger fungiert und die Konstellation der
Zeichen dabei ästhetische Information überträgt (Nake 1974: 65). Die Menge
107
der Elemente oder der Zeichen, aus der ein ästhetisches Objekt besteht,
bestimmt dessen elementaren Informationsgehalt, die Information erster
Ordnung, die eine basale Identifikation des Reizes / Ereignisses / Objekts über
non–semantisierte Merkmalsbündel ermöglicht und einen Anteil ästhetischer
(Reiz)Information höherer Ordnung(en). Die relevante Beziehung zwischen
elementarem Informationsgehalt und ästhetischem Empfinden ist definiert im
Verhältnis von Ordnung und Komplexität, 120 von redundanter Reizinformation
und spannungserzeugender Neugier. Für eine objektive, quantifizierbare
Erfassung von ästhetischer Information ist es nach Abraham Moles und Frieder
Nake notwendig, das (Kunst)Werk als eine Dichotomie von ästhetischen und
semantischen Eigenschaften zu sehen (vgl. Nake 1974: 67), um schließlich die
empfindungsauslösenden, ästhetischen von den bedeutungstragenden, semantischen Inhalten zu abstrahieren.
Die Botschaft / Kommunikation des (Kunst)Werkes ist demnach die
Gesamtmenge von individualisierten ästhetischen Zeichen und standardisierten
semantischen Zeichen; die Ausschließung des semantischen Aspektes bedingt
somit die Messbarkeit der ästhetischen Information des Objektes (vgl. Nake
1974: 70f):
„Ästhetische Information ist ‚die Information, welche noch in den Zeichen
steckt, wenn ihre Bedeutung bereits bekannt ist‘“ (Helmar Frank zit. in Nake
1974: 70).
Aus der Trennung der semantischen von den syntaktischen Elementen zur
Messung ästhetischer Information kann – nach Frank – die folgende
Überlegung abgeleitet werden: dass die Abnahme der semantischen Funktion
mit der Zunahme an ästhetischer Information verbunden sei. Indem die
Ästhetik mit den syntaktischen Aspekten des Objektes, also der Information
über die Anordnung der Zeichen – nicht über die Zeichen selbst (Nake 1974:
73), gekoppelt ist, ermöglicht dies diese Definition von Informationsästhetik
120
George David Birkhoff definiert das ästhetische Empfinden (M) als Ordnung (O) durch
Komplexität (C): M = O/C. Dass die Birkhoff‘sche Formel ein eher willkürlicher Ansatz zur
Verdeutlichung von ästhetischer Erfahrung ist, zeigt die multiplikative Verknüpfung
derselben Faktoren in M=O*C bei Adolf Vukovich und auch Martin Schuster, eine
Formulierung, mit der auch Hans Jürgen Eysenck experimentierte (vgl. Allesch 2006: 81f).
108
auf Objekte / Zeichen ohne oder mit geringer semantischer Funktion – wie die
abstrakte Kunst oder die Musik – anzuwenden.
In der Komplexität des ästhetischen Objektes begründet sich aber die
Beschränkung adäquate Algorithmen zur Beschreibung und Objektivierung
ästhetischer Information zu finden. Weiters wird die implizite Intention, das
ästhetische Objekt aus dem subjektiv lebensweltlichen Zusammenhang zu
isolieren, als dem Erkenntnisstand der empirischen Kognitions– und
Kommunikationsforschung nicht mehr entsprechend (Wolfgang Köck zit. in
Allesch 2006: 90) gesehen. Wenn die körperliche Empfindung eine basale
Größe ästhetischen Empfindens ist (Jauk 2004a: 216), wird diese in den
Merkmalen des Wahrnehmungsobjektes ausgelöst (kollative Variablen), die
darauf gerichteten subjektiven Prozesse sind interaktiver Teil der ästhetischen
Gegenstandskonstruktion (vgl. Allesch 2006: 147). Die Auslösung von
unmittelbarer körperlicher Erregung bei (Rock)Musik mit hoher Intensität wird
einerseits über syntaktische Elemente 121, ästhetische Zeichen, die nichts
bezeichnen aber dennoch Bedeutung haben (Faltin 1985: 33) und die
emotionale Reagibilität verstärken, andererseits durch parallele kognitive
Prozesse, die eben diesen Erregungszustand bezeichnen und bewerten,
getriggert.
In
der
kognitiven
Wende
wird
der
Paradigmenwechsel
von
einer
behavioristischen, primär reizgesteuerten Wahrnehmung zu den Modellen
konzeptgesteuerter, aber von subjektivem Verhalten beeinflusster Wahrnehmung postuliert. Das ist gleichzeitig eine Abkehr von einer einseitigen Richtung
von Wahrnehmung, der Wahrnehmungsprozess wird nicht mehr ausschließlich
bottom up, vom Reiz zur Empfindung verlaufend, sondern auch top down, vom
wahrnehmenden Subjekt zum beobachteten Objekt, gesehen.
Nach der Theorie der kognitiven Orientierung (vgl. Kreitler / Kreitler 1980:
36) fungieren ästhetische Reize nicht primär als Erregung auslösend, sondern
Orientierungsreaktionen auslösend, wobei das Erkennen von Alltags–
121
Anm.: Innermusikalische Elemente wie Rhythmus, Dynamik und Klang.
109
Objekten 122 als eine vollständige, bekannte, sichere und daher spannungsfreie
Orientierung zu sehen ist. Das Erkennen von Kunstobjekten sei eine
unvollständige Orientierung (vgl. Allesch 2006: 99); sie erzeugt jene
Spannung, die sich in äußerlicher Erforschung durch erhöhte Aufmerksamkeit
und verstärkter Wahrnehmung des Kunstreizes und innere Erforschung in
Form von Assoziationen und ´Bedeutungserweiterungsprozessen´ (ebd.) äußert.
Die Objekte / Situationen als Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung werden
mit einem spezifischen, den Lebenswelten und Erfahrungen des analysierenden
Subjekts angepassten, persönlichen Beteiligtsein (Kreitler / Kreitler 1980: 41f)
untersucht und bewertet. Die Grundlage der Beurteilung ästhetischen
Vergnügens ist nach wie vor die Spannung und Erregung, wird aber beeinflusst
durch Sozialisation, Lerngeschichte, individuelle Befindlichkeit und die mit
den subjektiven Persönlichkeitseigenschaften verbundenen Präferenzen. In
einer subjektiven Ästhetik wird das Werk als Reiz betrachtet, der in kognitiven
Ansätzen nicht unmittelbar Auslöser einer Reaktion ist, sondern Grundlage der
subjektiven Interpretation des Wahrgenommenen, die schließlich erst zum
Erleben führe (Jauk 2004a: 211).
Die kognitive Musikpsychologie sieht die ästhetische Wahrnehmung als
Wechselbeziehung zwischen hörendem Subjekt und seiner Umwelt, sie erhält
ihre ästhetische Bedeutung aus dem Zusammenspiel situativer Hörwelten und
deren multimodaler Integration. Die körperliche Aktivierung durch acoustic
driving effects ist eine Aktivierung, die vor einer kognitiven Interpretation des
Gehörten wirkt und deren emotionale Wirkung in die situative, kognitive
Interpretation des auditiven Stimulus einfließt und mit diesem wechselwirkt.
Die Erregung, die mit der körperlichen Rezeption und Aktivierung über die
(Rock)Musik und deren exiting sounds (Jauk 2004a: 218) einhergeht, ist
unspezifisch,
die
außermusikalischen
Bedeutung
der
Erregung
Umraum
und
dessen
wird
in
kognitiver
Folge
vom
Interpretation
mitbestimmt.
122
Zu Alltagsobjekten und Kunstobjekten vgl. Konrad Paul Liessmann: „Die Entgrenzungen
und Ausweitungen des Kunstbegriffs auf der einen Seite und die Ästhetisierungen des
Alltagslebens auf der anderen, korrespondieren […] mit einer kulturellen Entwicklung, die es
immer weniger plausibel macht, die Ästhetik auf die Künste beschränken zu wollen.“
(Liessmann 2004: 16).
110
Eine erheblich erhöhte Intensität der Musik scheint jedoch den Anteil der
kognitiven Komponenten zu umgehen (vgl. ebd.), die Wucht der Musik erzeugt
unmittelbare Erregung im Sinne einer Spannung–Lösung–Verknüpfung. Hier
entsteht keine Kontradiktion der kognitiven Interpretation, die Schwerpunkte in
der Wechselwirkung zwischen den Eigenschaften des Gehörten und der
subjektiven Interpretation sind in Richtung Intensität und so unmittelbarer
Körperlichkeit
verschoben.
Der
in
Anlehnung
an
Friedensreich
Hundertwasser 123 verwendete Terminus einer vierten Haut (Schurian 1992:
116f) als eine aus verschiedenen, artifiziellen oder non–artifiziellen,
akustischen Reizen und deren Beziehung zu subjektiven, vernetzten
Klangräumen zusammengesetzte Klangumwelt weist einerseits auf eine
ontogenetische Klang–Signal–Wirkung, andererseits auf eine situativ bedingte
multisensorische Integration. Die ästhetische Bedeutung multisensorischer
Integration konstituiert sich über eine Verschachtelung situativer Hörwelten
und den Eindrücken anderer Sinne (vgl. Schurian 1992: 120) mit der
maximalen Ich–Beteiligung und der damit einhergehenden Auflösung der
Subjekt–Objekt Distanz (vgl. Motte – Haber 2004: 428). Der körperlich–
somatische Stimulus wirkt über eine physiologische Resonanz des Körpers
ebenso wie im daraus folgenden psychischen Bewegtsein, beide Komponenten
sind Faktoren eines kybernetischen Regelkreises, der das ästhetische Erleben
steuert.
Das postmoderne Pastiche (Lyotard 1985: 29) von ehemals avantgardistischen
Techniken der klassischen Moderne ist ein – möglicherweise – reminiszierender Remix der 1920er Jahre. Die Techniken der Collage, Montage,
Dekomposition 124
werden
in
der
Zeit
erweiterter
technoid–medialer
Möglichkeiten zu einer ästhetischen Praxis der Massenkultur. Die digitalen
Medien
der
Informations–
und
Kommunikationstechnologie
erlauben
subjektive Wirklichkeitskonstruktionen, die vom Gebraucher selber hergestellt
(Oswald Wiener zit. in Schurian 1992: 175) werden können, die
123
Friedensreich Hundertwasser forderte in einer Nacktrede (München, Dez. 1967, Galerie
Hartmann) das Anrecht des Menschen auf die Dritte Haut, als eine humane Architektur,
neben der zweiten Haut, der Kleidung. (vgl. Restany 1998).
124
Wolfgang Welsch beschreibt mit Bezug auf Lyotard, wie die Avantgarde der Moderne als
Vorläufer postmodernen Denkens gewertet werden kann (vgl. Spielmann 2002: 250f).
111
Zusammenführung von Technik und Ästhetik findet sich in der Interdependenz
von Ästhetik und (digitalem) Medium. Der Verzicht auf die Zeichenbedeutung
in der digitalen Information (vgl. Kap. 5.2 DER
DIGITALE
CODE) reduziert die
Wirklichkeit auf Informationen ohne Analogie zu ihrem Ursprung (Lyotard
1985: 10); das Zeichen wird zum immaterialisierten Träger eines unendlichen
Bedeutungsraumes, da das Zeichen, die Form, auch von jeglicher Selbstreferenzialität befreit ist (Berr 1994: 179).
Die Bedeutungsfreiheit oder semiologische Kargheit (vgl. Langer 1965: 83)
des digitalen Zeichens und der damit verknüpfte extrem hohe Abstraktionsgrad
(vgl. Giannetti 2004: online) ist reziprok zu dessen basalem, syntaktischem
Informationswert. Die Einbindung in das interaktive System von generativer
Ästhetik 125 und partizipativem Kommunikationsprozess rückt die digitale
Kunst in die Nähe zum radikalen Konstruktivismus, indem die individuelle
Gedächtnisleistung frühere ästhetische Erfahrungen mit aktuellen subjektiven
Sinnesreizen in Beziehung setzt.
Dies eröffnet kommunikative interaktive Handlungsräume, die Ästhetik wird
als ein Faktor des Mediums Kommunikation zu einer prozesshaften Kategorie
des sozialen Systems (Kunst)Werk und Kommunikation. Wirklichkeitskonstituierend im Prozess Kunst / Ästhetik / Kommunikation sind so
Wirklichkeitskonstruktionen,
anthropologisch
bedingter
die
mit
den
Wahrnehmungsformen
Strukturen
korrelieren
historisch–
und
die
Schemata evolutionärer Veränderungen erfüllen.
4.3
Kommunikation
Der kommunikative Prozess im musikalischen Ausdrucksverhalten ist als eine
analoge Kommunikation (vgl. Watzlawick / Beavin / Jackson 2007 [1969]: 63
Abs. 2.53) zu sehen. Deren Ausdruckssignale / Ausdrucksbewegungen ist
keinerlei denotative Bedeutung immanent, sondern wird durch (inter)aktive
125
„generative ästhetik ist also […] ein analogon zur generativen grammatik, als sie wie diese,
sätze eines grammatischen schemas, realisationen einer ästhetischen struktur liefert.“ (Bense
1982 [1965]: 333).
112
Beziehungen zu anderen Teilnehmern definiert. Diese beziehungsbasierte
analoge Kommunikationsform ist zum einen abhängig von bestimmtem Vor–
oder Erfahrungswissen des Teilnehmers und ist somit an eine Außenreferenz
gebunden, zum zweiten kann sich Ausdrucksverhalten über Formalisierung zu
kommunikativer Gestik und zum willkürlich veränderbaren Zeichen126
entwickeln.
Diese kommunikativen Prozesse
sind
nonverbale
Kommunikation
Sinne
zu
sehen,
im
als
vorsprachliche
emotiv–kognitiver
Kommunikationssysteme, die vorwiegend emotiven Charakters sind, aber […]
auch Träger kognitiver Mitteilungen (vgl. Knepler 1962: 73) werden können.
Die Wirkung kollektiven Musizierens auf die inneren Zustände des
menschlichen Körpers, die somatisch erlebt sind, werden zur Quelle extern
geäußerter Bewegungen (Shepherd 1992: 54 / online), die Klangerzeugung ist
das Artefakt der Körperbewegung, der motorischen Struktur und der
gestischen Muster (Richard Middleton zit. in Shepherd 1992: 54 / online) der
Erzeugung.
Die grundsätzliche Ähnlichkeitsbeziehung analoger Kommunikation mit dem
zu Bezeichnenden zeigt, dass die analoge Kommunikation ihre Wurzeln in viel
archaischeren
Entwicklungsperioden
und
so
eine
allgemeinere
und
umfassendere Gültigkeit hat als die viel jüngere und abstraktere digitale
Kommunikationsform einer willkürlichen Kodifizierung (vgl. Watzlawick /
Beavin / Jackson 2007 [1969]: 62f Abs. 2.52). Die willkürliche Zuordnung der
Bezeichnung in der digitalen Kommunikation bedingt deren diskrete Struktur
und deren linearen Charakter in der Zeitauffassung. Die klare Trennung des
Entweder – Oder und des Vergangenen – Zukünftigen weist das digitale
Mitteilungsmaterial 127
als
komplexer
und
vielseitiger
in
abstrakten
Definitionen aus, demgegenüber ist es defizitär in der klaren Definition von
analogen Beziehungen:
126
Vgl. die Entwicklung der Neumennotation als Formalisierung musikalischen
Ausdrucksverhaltens zum willkürlich veränderbaren Zeichen (Kap. 3.1 MUSIK – BEFREIUNG
VOM NOTIERTEN).
127
Anm.: In Form der logischen Syntax digitaler Sprach–Kommunikation. (vgl. Watzlawick /
Beavin / Jackson 2007 [1969]: 66 Abs. 2.54).
113
„Zusammenfassend ergibt sich als […] metakommunikatives Axiom:
Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten.
Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitige logische
Syntax, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik.
Analoge Kommunikationen dagegen besitzen diese Semantik, ermangeln aber
die für eindeutige Kommunikationen erforderliche logische Syntax.“
(Watzlawick / Beavin / Jackson 2007 [1969]: 68 Abs. 2.55).
Eine digitale Kommunikation, die nur eine bestimmte Wirklichkeitsbeschreibung zu einem bestimmten Zeitpunkt zulässt, bedarf so des analogen
Regulativs, das der sequenziellen, linearen Verarbeitung des Wahrzunehmenden die Simultaneität wahrnehmender Mustererkennung zur Seite stellt. Die
musikalische Kommunikation weist gerade jene innere Logik auf, die
strukturiert (das Geordnete, das Rationale, das Zerebrale) als auch die
unstrukturierte Welt (der sprunghaften, ekstatischen jouissance 128, der
hemmungslosen hedonistischen Vergnügungen) strukturierend ist. Musik wirkt
direkt auf die komplexen Vermittlungen gesellschaftlicher, kultureller und
biographischer Faktoren und ist gleichzeitig ein nicht–denotatives, körperlich
bedingtes Vergnügen (vgl. Shepherd 1992: 54 / online).
In der Kommunikation gestischer Muster wird die Erfahrung der Klangwahrnehmung einer Wahrnehmung des Fluiden und Umhüllenden von Klang zur
Erklärung
und
Beschreibung
einer
dynamischen
Ereigniskunst
im
Kommunikationsraum (Jauk 2009: 380f), in dem strukturelle Interferenzen
zwischen Musik und bildender Kunst erkennbar werden. In der Idee des
(musikalischen) Prozesses als die Inszenierung einer bestimmten konkreten
Situation, die wegen unserer Einbindung in diese Prozesse und der daraus
entstehenden Distanzlosigkeit ihrer Linearität entkoppelt wird 129, ist eine Form
des Kommunikationsraumes, der sich über das ästhetische Angebot von
128
Anm.: Der Begriff jouissance wird bei Barthes, Lacan und Kristeva (in diffuser Abgrenzung
zu plaisir ) in die Nähe des Dionysischen gerückt, indem er auf die unmittelbare,
unbewusste, sich dem Sinn entziehende Form der Lust angewendet wird [Lust ist sagbar,
Wollust (jouissance) nicht. Die Wollust ist un–sagbar, unter–sagt] (vgl. Brune 2003: 205ff).
129
“Do we have, if not ideas about we´re doing, feelings about our actions what we´ve made?
We´re losing them because we´re no longer making objects but processes and is easy to see
that we are not seperate from processes but ara in them, so our feelings are not about but in
them.“ (Cage 1973: 236f).
114
emotional–körperlicher Bewegtheit und kognitivem Vergnügen definiert. Eine
Konstruktion, die sich auch in einem kybernetischen Regelkreis emotiver
Kommunikation zwischen
den
subjektiven
Eckpunkten
„schön“ und
„hässlich“, zwischen Zusammenhang und Nicht–Zusammenhang, […] an der
Grenze des Fruchtlandes (vgl. Boulez 1955: 56) etabliert.
Die doppelte Bestimmung von kommunizierendem Vergnügen im körperlich–
seelischen Affiziert–Sein (Motte – Haber 2004: 426) – durch kognitive Qualität
und körperliche Intensität – zeigt sich in der Darstellung sentischer 130 Zustände
(Clynes 1996: 59). Die grafische Darstellung des expliziten Zusammenhanges
von kognitiver
Gehirntätigkeit,
deren emotionaler
Entsprechung
und
schließlich deren medialer Kommunikation (im Klang, oder vice versa, im
körperlichen Ausdrucksverhalten) als sentische Formen (Clynes 1996:60) zeigt
eine grundlegende Beschreibung emotionaler und nonverbaler Kommunikation. Der aktive Verzicht auf kulturelle Überformung durch geltende
Konventionen ist eine Voraussetzung für die nonverbale Kommunikation. Das
körperliche Ausdrucksverhalten, formalisiert in den sentischen Formen, ist als
Paradigma kollektiven Musizierens zu erkennen.
Im Kommunikationsprozess des Free Jazz, einer informellen Gestaltungsform
kollektiven Musizierens, wird musiktheoretisches Wissen „aktiv“ übersprungen um nicht–willentlich den musikalischen Prozess freier Improvisation
zu
initiieren.
Diese
willkürliche
Umgehung
von
(musikalischem)
Erfahrungswissen ist auch die Umgehung von an die Außenreferenz
gebundenen
kausalen
Denksystemen;
die
informelle
transaktionale
Konversation durch non–verbales, instrumentalisiertes Ausdrucksverhalten
wird zum kollektiven Handeln. Kommunikation wird im dynamisch –
transaktionalen Ansatz als dynamischer Prozess, gekennzeichnet durch
Intentionen und Antizipationen in Bezug auf Wirkung auf Andere (vgl. Wünsch
2007: 22) gekennzeichnet. In einem solchen Prozess beschreibt die Transaktion
130
„[Daher] werden wir von nun an nun jeden spezifischen emotionalen Zustand als
‚sentischen‘ Zustand bezeichnen. Das Substantiv ‚Sentik‘ leitet sich, wie das Adjektiv
‚sentisch‘ vom lateinischen Verb sentire ab, das auch die Wurzel von Wörtern wie
‚Sensorium‘ und ‚sentimental‘ ist.“ (Clynes 1996: 58). „Der Begriff ‚sentischer Zustand‘
wird eingesetzt zur Beschreibung derjenigen Gehirntätigkeit und zugehörigen Erfahrung, die
im Allgemeinen mit dem Wort ‚Emotion‘ verbunden werden“ (vgl. ebd.).
115
– als Heuristik zur Beschreibung von Zusammenhängen und in Abgrenzung zur
Kausalität (ebd.) – Beziehungen, in denen die zeitliche Linearisierung wegen
eines Einfließens der antizipierten Wirkung in die Ursache nicht sinnvoll
erscheint. Wesentlich ist, dass nicht ein Faktor wirkt und ein anderer
beeinflusst wird, sondern dass (zwei) Größen in einer Beziehung zueinander
stehen, die das Resultat gleichzeitiger Prägung von beiden Seiten ist (Werner
Früh zit. in Wünsch 2007: 23).
4.3.1 Konstruktivistisches Kommunikationsmodell
Die Integration des Prozesscharakters und somit der Zeitdimension in der
Kommunikation weist auf deren transaktionale Dynamik hin, eine Botschaft
erhält ihre Identität erst im Prozess des Verstehens und dies ist von Wissen,
Aktivationspotential und deren systematischen Relationen (vgl. Rusch 2002:
108; 110) der Rezipienten abhängig. Die Reflexivität des Kommunikationsprozesses auf mediale, soziale und kognitive Variablen ist in einem mechanistischen Sender–Empfänger–Kommunikationsmodell 131 unberücksichtigt, eine
antizipative Einbeziehung von Werten, Normen, Erwartungen und situativen
Entscheidungen kulminiert in einem konstruktivistischen Kommunikationsansatz zu Wirkungen [die] – in the long run – durch Wirkungen selbst
verändert werden (Klaus Merten zit. in Rusch 2002: 111).
Die Gesamtheit der Kommunikation entwickelt sich im Konstruktivismus aus
einer Dichotomie von Kommunikations– und Rezeptionsprozess, beide
Prozesse sind voneinander unabhängig und latente Wirklichkeitskonstruktionen
im Sinne eines kognitiv–sozialen Operierens (vgl. Weber 2003: 186).
Kommunikator und Rezipient sind nicht mehr als Beteiligte an demselben
131
„Die Grundidee der Massenkommunikation bildete [Anfang / Mitte des 20.
Jahrhunderts] der Gedanke, ‚Medien‘ (d.h. die Verbindung von Nachrichteninteresse
Manipulationsabsicht, Verbreitungsgrad und fragloser Übernahme des Gesendeten) können
direkt Meinungen und Haltung erzeugen; es war eine Ausprägung des stimulus–response
Konzeptes des Behaviorismus [in Verbindung mit der soziologischen Vorstellung einer
Massengesellschaft]“ (vgl. Faßler 1997: 143). Die Annahme, jedes Mitglied der Gesellschaft
würde vom gleichen Stimulus in gleicher Weise erreicht und gleich darauf reagieren, wurde
in Deutschland radikalisiert durch nationalsozialistische Propaganda und deren
zentralistisch – manipulierende Einwegversorgung (ebd.) über gleichgeschaltete Medien.
116
Vorgang zu sehen; es werden Kommunikatbasen (lautliche, bildliche oder
graphische Strukturen) mit spezifischen [thematischen oder stilistischen]
Kommunikateigenschaften (vgl. Rusch 2002: 112) produziert, ob damit ein
gewünschtes, antizipiertes Verhalten induziert wird, ist nicht mit Sicherheit
vorherzusagen. Dieser Kommunikationsprozess ist
abhängig
von der
Akzeptanz des angebotenen Kommunikates, der diesem Kommunikat zugewiesenen Aufmerksamkeit und den im Kommunikationsangebot eingehaltenen
Konventionen.
Diese
strukturelle
Kopplung 132
von
Kognition
und
Kommunikation kann zu einem als Antwort zu interpretierenden Verhalten des
beobachtenden Rezipienten führen.
Der pragmatische Aspekt der Kommunikationshandlung (vgl. Watzlawick /
Beavin / Jackson 2007 [1969]: 22f Abs. 1.1) ist die Gesamtheit von
syntaktisch–semantischen Daten und deren begleitendem non–verbalen
Verhalten als unmittelbar beobachtbare Wechselwirkung der Datenübertragung. Während eine medientechnische (Massen)Kommunikation die
mittelbare Reaktion von Besucherzahlen oder Einschaltquoten stützt, ist in der
interpersonellen Kommunikation die unmittelbare Rückbezüglichkeit als
Verhalten (ebd.) elementar für die Wirklichkeitskonstruktion. Die pragmatische Kommunikationshandlung verschränkt Reaktion und Feedback des
Empfängers mit der intentionalen Kommunikationsabsicht des Senders und ist
eine Grundlage für Wirklichkeitskonstruktionen, die auf komplexen Mustern
von Beziehungen, Rückbezüglichkeit und Autopoiesis 133 beruhen.
Ein autopoietisches System basiert auf dem Kriterium der Selbstreproduktion
eigener Elemente aus eigenen Elementen, dieses Kriterium ist bedingt durch
die operative und informationelle Geschlossenheit und eine material–
energetische Offenheit oder strukturelle Kopplung des Systems mit der Umwelt
132
„Wie kann ein operativ/kommunikativ geschlossenes System seine Beziehungen zur Umwelt
gestalten, wenn es keinen Kontakt zur Umwelt unterhalten […] kann? Seine [Luhmanns]
Antwort lautet: über strukturelle Kopplungen. Luhmann geht von der These aus, dass
strukturelle Kopplungen analoge Verhältnisse digitalisieren“ (Dieckmann 2004: 266).
133
„Das logische Modell der Autopoiesis ist nur dann tragfähig, wenn die Selbstreproduktion
in unablöslicher Verbindung mit dem gesehen wird, was als Negativeinheit die Gegenseite
der Selbsterzeugung ausmacht: das Herstellen, das laufende Prüfen, das Beobachten, das
Justieren, das Berichtigen usw. der Selbstherstellung.“ (Dieckmann 2006: 29).
117
(vgl. Weber 2003a: 186; 2003b: 205 134). Die Beziehungen zwischen (Einzel)
System und Umwelt (Systemen) sind einerseits durch deren Sinngrenzen und
andererseits durch deren intersystemische Beziehungen wie strukturelle
Kopplung, Irritation und Resonanz (vgl. Weber 2003b: 212) definiert. Die
Initialisierung eines Kommunikationszustandes fordert somit Aufmerksamkeit
durch aktive Formen des Beobachtens oder der Zuwendung – ob sich
Kopplungszustände bilden, ist von der Übereinstimmung systemischer
Konventionen in den subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen abhängig.
Musikalisches Handeln ist als körperliches Ausdrucksverhalten unmittelbar
gestaltende Interaktion und gleichzeitig ein kollektivierender kommunikativer
Prozess. Die Interaktion als kommunikativer, wechselseitiger Beeinflussungs–
Prozess (Jauk 2009: 418) ist der Regelmechanismus kollektiven Musizierens,
die ankommende (musikalische) Information wird auf Grund der subjektiven
Wissensbasis verändert und im intuitiven Ausdrucksverhalten reflektiert.
Indem die polyphone Musik aus kollektiven Übungen von Kult und Tanz
entsprang, aber auch längst mit jeglicher kollektiven Übung gebrochen hat
(Adorno 2006 [1949]: 26), ist sie als Objektivation des »Wir« in der Isolation
des »Ich« (ebd.) paradigmatisch für eine Objektivation der Kommunikation, in
der Informationen in einer dynamischen Beziehung stehen (Jauk 2009: 418f).
4.3.2 Wahrnehmung der Wahrnehmung
Die durch die Bewegung im Raum initiierte Zeitgestalt des Wahrzunehmenden
begründet jene Asymmetrie zwischen Stillstand und Bewegtheit, die als
Wahrnehmung erster Ordnung der Wahrnehmung der zu identifizierenden
Form zugrunde liegt. Henri Poincaré formulierte das Postulat der Disparität
von objektivem, geometrischem Raum (espace visuel) und einem über
kinästhetische Reize erfahrbaren Vorstellungsraum (espace représentatif), der
sich aus dem Ablauf assoziativer, kinästhetischer Algorithmen zusammensetzt
(vgl. Poincaré 1974 [1902]: 57). Diese Unterscheidung ist insofern eine
134
Weber bezieht sich hier auf die Übernahme verschiedener Konzeptionen Humberto
Romesin Maturanas, u.a. der Autopoiesis, durch Niklas Luhmann.
118
konstruktivistische, indem sie auf der bewegungsabhängigen Beziehung
zwischen Sehraum und Bewegungsraum, der Beziehung einer bewussten
Änderung des Blicks mit der zugehörigen Veränderung der Sicht (v. Foerster
1990: 440) basiert. Die durch die Bewegung initiierte Veränderung des
Wahrzunehmenden
wird
wahrgenommen
(ebd.),
es
ist
somit
die
Unterscheidung / Asymmetrie, die den Wahrnehmenden die Beobachtung
ermöglicht. Dies ist eine Phase der Wahrnehmung, die erkennbar macht, dass
unterschieden und bezeichnet wird – im unerläßlichen Unterschied von allem,
was nicht bezeichnet wird (Luhmann 1997: 102) –, jedoch nicht, wie
bezeichnet bzw. wahrgenommen wird.
Die Wahrnehmung der Wahrnehmung – oder Wahrnehmung zweiter Ordnung
– baut auf den Veränderungen der Beziehungen im Vorstellungsraum auf und
behandelt so die Information die »differance« (Derrida) der Differenz zwischen
Beobachtetem und Nichtbeobachtetem (Luhmann 1997: 103). Die relationale
Fortsetzbarkeit oder Verschiebbarkeit der Wahrnehmung von Information ist
eine Voraussetzung für die Erkenntnis der Existenz dessen, was durch
Unterscheiden
unsichtbar
gemacht
wird,
des
blinden
Flecks
der
Unterscheidung (Luhmann 1997: 160) und so für das wie des Wahrgenommenen.
Das selbstreferentielle System Kunstwerk (Joseph Kosuth zit. in Jauk 2009:
381) ist zum einen die Konstruktion eines geeigneten Mediums, das durch den
Abbau von Interpretationshilfen, die dem täglichen Leben entnommen werden
können (Luhmann 1997: 206), entsteht, zum anderen die Erfahrung der
Wahrnehmung unter den Bedingungen ihrer Veränderung (Jauk 2009: 452).
Die Rückwirkung der über die Beziehungen zur Fremdreferenz „Umwelt“
veränderten Wahrnehmung auf die Mediatisierung der Kunst und so ihr
Verhältnis zu einer außerkünstlerischen Wirklichkeit ist eine unresolvable
indeterminacy (Spencer Brown zit. in Luhmann 1997: 474), die durch eine
unberechenbare
Umwelt
variiert
wird
und
die
Beschreibung
eines
geschlossenen (Kunst)Systems mitbestimmt. Der re–entry (ebd.), der
Wiedereintritt des wahrgenommenen Unterschiedes in das System, ist die Basis
der unresolvable indeterminacy und diese Irritation eines deterministischen
119
(Körper)System–Umwelt–Bezugs, bedingt die Wirklichkeits–re–konstruktion
(Jauk 2009: 380) der Form. Die Kopplung und Variabilität von Elementen der
Form im Medium 135 Musik / Kunst ist die rekursive Vernetzung und
Verschiebung von Erzeugungsoperationen (vgl. Luhmann 1997: 123), in deren
temporaler Bedingtheit der Vorstellungsraum re–aktualisiert wird.
Eine technologisch bedingte Geschwindigkeitszunahme und die damit
einhergehende
Überschreitung
der
muskulären
Möglichkeiten
zur
Raumerfahrung 136 führen zum Rückgriff auf die phylogenetisch »ältere« Logik
des Auditiven (Jauk 2009: 380) und so zu einer Neudefinition des Körper–
Umwelt–Bezugs. Mit der Rücknahme des Körpers in der Wirklichkeitskonstruktion werden Strukturen und Interaktionsmechanismen des auditiven
Systems, wie eine simultane Wahrnehmung und das Mustererkennen 137,
evident, die bei gleichzeitiger eigener Passivität wirklichkeitskonstruierend
sind. Die sequentielle Linearität, der Zeitverlust des re–entry, löst sich auf in
der Simultaneität des Mustererkennens, der Kommunikationshandlung und des
Informationsangebotes und ist so ein der Musikalisierung zugrundeliegendes
beziehendes Denken.
135
„Bei Unterscheidung von Form und Medium handelt es sich um zwei Seiten, die nicht
voneinander gelöst, nicht gegeneinander isoliert werden können. […] Dies erklärt auch, dass
Medien nur an der Kontingenz der Formbildung erkennbar sind, die sie ermöglichen.“
(Luhmann 1997: 168, 169).
136
„Abgesehen von Gesichts– oder Tastsinn gibt es noch andere Empfindungen, welche
ebenso oder noch mehr zur Entstehung der Raum–Vorstellung beitragen. Dieselben sind
allgemein bekannt, sie begleiten alle unsere Bewegungen, man kennt sie allgemein als
Muskel–Empfindungen. Den entsprechenden Rahmen kann man als Bewegungs–Raum
bezeichnen.“ (Poincaré 1974 [1902]: 57).
137
Die Logik des Auditiven ist der Allortgegenwärtigkeit nicht begrenzten Schalls
entsprechend, in dem wir selbst mitschwingender Teil sind, […] mustererkennendes,
holistisches Wahrnehmen von Gleichzeitigem (vgl. Jauk 2009: 459f).
120
5
Die Kunst des Y2k+
5.1
Technologie / Hidden HighTech
Die Überwindung der Natürlichkeit zugunsten des Künstlichen wird, speziell in
den die Architektur und Musik / Geräuschkunst betreffenden futuristischen
Manifesten (vgl. Antonio Sant´Elia, L’architettura futurista, 1914; Luigi
Russolo, L'arte dei rumori, 1913), von einem brachialen technologischen
Faszinosum überformt. Ähnliche theoretische Erläuterungen zu einer
Vereinigung von Kunst und Technik unter dem Zeichen des Fortschritts finden
sich bei Le Corbusier und Amédée Ozenfant (1919) als Gleichsetzung von
Ästhetik und exakter Wissenschaft (vgl. Scherliss 1999: 245). Edgard Varèse
kritisierte 138 eine simple Verwendung von Tonaggregaten in der –
futuristischen – Musik als spekulativ auf den äußeren Sinneseindruck gerichtet
und postulierte Instrumente, die dem Denken gehorchen und […] ungeahnte
Klangfarben hervorrufen (Edgard Varèse [1917] zit. in Bosseur 1976: 46f) als
Ausdrucksmittel der Zusammenführung von Wissenschaft und Musik.
Die Verfügbarkeit von Technologie im Fin de siècle ist definiert von einer
Verwissenschaftlichung industrieller Technik und deren Einsatz in einer auf
eine großbürgerlich–kapitalistischen Ideologie gestützte Umwelt, in deren
Umfeld die romantizistische Idee von genialer Kunst versus trivialem Leben
tradiert wird. Der Einsatz technologischer Mittel ist programmatisch für die
Entsublimierung des romantizistischen Kunstideals (vgl. Jauk 2004b: 231), in
der dilettierenden intermedialen Grenzüberschreitung (der Futuristen) und
parallel zur überbordenden Technologie– und Maschinenromantik wird die
Kunst durch triviales Material infiltriert und sozial horizontalisiert. Die
Technologie / Maschine wird in den – futuristischen – Manifesten als eine
Dichotomie von äußerem Aspekt und dem Geist, dem Wesen der Maschine,
das durch deren Rhythmus […] suggeriert wird (vgl. Enrico Prampolini, Ivo
138
Varèses Kritik beinhält den Vorwurf handwerklicher, anekdotischer Annäherung an die
neuen musikalischen Ausdrucksmittel und schlussendlich des Unorganischen (vgl. Bosseur
1976: 45f), hier scheint ein Konflikt aufgetreten zu sein zwischen der musikalischen Bildung
Varèses und dem – in Eigendefinition (vgl. Schmidt – Bergmann 2009 [1993]: 241) –
musikalischen Dilettieren Luigi Russolos.
121
Pannaggi, Vincino Paladini 1922, zit. in Baumgarth 1966: 222f) gesehen,
wobei jener äußere Aspekt der Oberflächlichkeit und des Selbstzwecks 139
verdächtigt wird. Die medialen Strukturen des Wesens der Maschine werden
mit der Wahrnehmung dynamischer, alltäglicher Ereignisse verknüpft, deren
resultierende
futuristische
(Werk)Ästhetik
ist
aber
noch
in
der
romantizistischen Einzelhaftigkeit des (Kunst)Werks verhaftet. Dennoch ist die
Entwicklung vom dynamischen Ereignis zum interaktiven Prozess in den
futuristischen Theorien der Wahrnehmung als Simultaneität, das Ergebnis
universellen Dynamismus […] in Vereinigung der beiden Begriffe Raum und
Zeit (vgl. Boccioni 2002 [1914]: 160, 165) verankert.
Der technologische Entwicklungsstand dieser Zeit erlaubt Einzelkonstruktionen (vgl. Luigi Russolos Intonarumori), die eine Überwindung des
Natürlichen zugunsten des Künstlichen andeuten und die, paradigmatisch für
die „Entheiligung“ der Kunst des spätromantischen Bildungsbürgertums, das
Geräusch emanzipieren. Insgesamt sprengt die Programmatik des Futurismus
die Grenzen des technologisch Machbaren zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die
Ästhetisierung des Alltages durch das Einbeziehen von dessen Artefakten als
konstitutive Elemente des Kunst / Leben, die Simultaneität und die
willkürliche Manipulierbarkeit des Wahrzunehmenden in einer Synergie von
Lebendig / Natürlichem und Ideal / Künstlichem ist das Programm für eine
Transformation der klassischen Kunst in eine technische Medienkunst (Weibel
1991: 223).
Zum einen impliziert das Postulat der Simultaneität den willentlichen Umgang
mit Ort und Zeit, die Speicherung und Übertragung von Information ist analog
zu deren Entzeitlichung und Entortung, die Komprimierung des mechanistischen Gefüges Distanz–Zeit–Geschwindigkeit in das psychologische Moment
(Jauk 2000: 136f). Zum zweiten sind die Programme, die von einem elitären
Kunstverständnis wegführen, philosophisch im amerikanischen Pragmatismus
– durch die Akzeptanz der Ästhetik von Alltagskultur – und technologisch in
139
„Als wir von Bolzen, Stahl, Getrieben und Zahnrädern sprachen, hat man uns
missverstanden. […] Man muß […] zwischen dem äußeren Aspekt und dem Geist der
Maschine unterscheiden. (Enrico Prampolini, Ivo Pannaggi, Vincino Paladini 1922, zit. in
Baumgarth 1966: 222).
122
der
Nachkriegsavantgarde
des
WK II
durch
die
Umwertung
von
Kriegstechnologie verankert. Dass diese Technologie im Umfeld der über die
notwendigen Ressourcen verfügenden Institutionen von der Nachkriegsavantgarde genutzt wird, zeigt eine „missbräuchliche“ Nutzung abseits ihres
(zumeist hohen) ökonomischen Wertes oder ihrer ästhetischen Qualität. Die
Machbarkeit einer technischen Medienkunst – nämlich die Zeit in verschiedenen Rhythmen zu artikulieren (Weibel 1987: 77) – ist eine konsequente
Weiterführung des futuristischen Postulates der Simultaneität als Dynamismus
und der Gleichzeitigkeit von Wissen und Mitteilung (vgl. Boccioni 2002
[1914]: 160).
In der Popkultur diffundiert die elitär–institutionell entwickelte Technologie in
ein naiv–dilettierendes Umfeld, das ein hedonistisches Benutzen von
technischen Tools pragmatisch umsetzt. Der Mediamorphose (vgl. Blaukopf
1989) von einer, nur der Avantgarde / Elite zugänglichen technologischen
Verfügbarkeit zu einer allgemeinen Verfügbarkeit der Kunstproduktion bedingt
ein
verändertes
sozio–ästhetisches
Umfeld
der
Popkultur.
In
dem
Zusammenhang von unmittelbar erregungsgesteuertem Verhalten und den
entsprechend
intuitiven Interfaces
ist
die
psychologisch
barrierefreie
Amateurisierung der Kunst zugleich deren Entauratisierung (vgl. (Benjamin
1991 [1936]) in der Alltagsrealität.
Durch eine unmittelbar intuitive Bedienbarkeit von Interfaces zu Hightech–
Gerätschaften der Kunstproduktion werden diese von ihren technischen Filtern
entkoppelt, sie werden ent–technisiert. Die Kulturtechnik des Instrumentenspiels nach der Partitur setzt ein Denken in Form diskreter Notation und
notwendigerweise das technische Vorwissen um deren Konvention und
Umsetzung 140 voraus, eine Klangformung durch intuitives körperliches
Verhalten ist eine Akquisition von – und zugleich ein Entbergen durch High –
Technology. Die Klangformen im Feedbackspiel der E–Gitarre (vgl. Jimi
Hendrix, The Star – Spangled Banner, 1969; Pete Townshend, My Generation,
1965) zeichnen simultane Analogismen zu einem körperlichen Ausdrucks140
Vgl. die Klangformung in diskreten Schritten bei der Klaviatur und die willkürliche tonale
Struktur der dodekafonen Chromatik (Arnold[t] Schlick 1511; Andreas Werckmeister 1691).
123
verhalten, das durch die Erweiterungen des Körpers (Extensions of Man; vgl.
McLuhan 1969) der technologiegestützten Medien der Klangerzeugung zur
unmittelbaren Kommunikation wird.
Dass die Kunst, das Leben und die Gesellschaft im Y2k+ zu einem
Gesamt(Kunst)Werk konzeptionell verschmelzen, ohne dass deren jeweils
eigenständige Strukturen und Grenzen verschwinden, ist einerseits die Folge
der selbstverständlichen Verwendung von Technik und andererseits des
emotionalen Körpers. Die konnotierte Simplizität, die mit der selbstverständlichen Verwendung von Technik einhergeht, ist ein Hinnehmen eines Grades
an Komplexität, den wir definitiv nicht erfassen können (vgl. Maeda 2009: 16).
Die Reduktion auf das Fassbare begründet sich im Schema der Beobachtung
erster Ordnung, wo das Netz komplexer Beziehungen zwischen System und
Umwelt zugunsten einer formalen Erkennung von „simplen“ Interfaces
ausgeblendet ist.
Die emotionale Nutzung von Interfaces, die eine maschineninterne High–Tech
– deren psychologische Verfügbarkeit vergleichsweise gering ist – hinter einer
horizontalisierten Benutzeroberfläche verschleiern /verbergen (vgl. Huhtamo
2003: 119) basiert auf dem popkulturellen Amateurismus und der
Formalisierung algorithmischer Prozesse. Es wird aus Teilerfahrungen eine
emotionale Wirklichkeit komponiert, deren Komponenten sind mathematische
Algorithmen zur Code– / Prozesserzeugung von virtueller Realität. Die
Verbindung von Code und Vorwissen des Benutzers und dessen –
prozessorientierte – Aktivität im virtuellen Raum induziert die Information
einer emotionalen Wirklichkeit ohne die Bedingung der Außenreferenz.
5.1.1 Körper vs./& Maschine
Die Erweiterung des Körpers und seiner mechanischen Möglichkeiten über die
instrumentelle Extension durch maschinelle Tools ist gleichzeitig die
Erweiterung des körperlichen / musikalischen Ausdrucksverhaltens und der
intuitiven Gestaltungsform. Der künstlerische Prozess wird über körperlichen
124
Ausdruck initiiert, anstelle eines algorithmischen Formalaktes. Das Experiment
der – metaphorischen – Integration des Körpers in / an den mechanischen
Apparat ersetzt das stochastische, reaktive Verhalten des kinetischen Prozesses
durch das informelle Gestalten unmittelbaren körperlichen Ausdrucks und –
diesem analoger – Kommunikation. Eine unmittelbare Bedienbarkeit
technischer Erweiterungen des Körpers ist auch eine entmechanisierte, sie
rekurriert auf das Intuitive, im Gegensatz zum diskursiven Formalismus der
Zeichen eines technischen Bedienfeldes – wie dem eines Klaviers. Die
Steuerung des Theremins 141 ist eine gestisch–audiovisuelle, die intuitive
Klangformung ist eine offene, im Sinne von John Cage ein zu interpretierendes
Feld von Möglichkeiten.
Die Klangformung entsteht ohne den physischen Kontakt des Körpers und der
Maschine 142, die Technik interagiert über physikalische Formalismen (wie die
Feldstärke mit dem Körper), indem Hand und Antenne einen ephemeren
Kondensator bilden, dessen Kapazität mit der Bewegung variiert. Die Dynamik
des Entstehungsprozesses ist indeterministisch, sie ist bedingt im Fehlen der
materialen Bezugspunkte kanonisierter Tonalität. Die Interdependenz der von
der Maschine evozierten elektrischen Felder und der körperlichen Intervention
ist ein ephemerer Prozess und so zugleich die Hinwendung zum direkten
klanglichen Gestalten.
In der Klangforschung der Nachkriegs–Avantgarde wird das elektronische
Tool zur Klangerzeugung in die Echtzeitkomposition eingebunden und deren
Variabilität als Kompositionsparameter eingesetzt. Abseits der Kunst ist die
primäre Intention der Verwendung von Technik keineswegs das Mögliche um
der Möglichkeit willen auszuprobieren (Koenig 1955: 29), dennoch löst im
Prozess der Klangforschung der Soundbastler das Künstlergenie ab (Neidhart
2008: 137), die Variabilität resultiert aus der forschenden Beziehung von
zweckentfremdeter Maschine und körperlicher Aktion. Der Hinweis Nam June
141
Das Theremin, ein Ätherophon, (nach Lev Sergejevitsch Termen aka Leon Theremin) ist im
Prinzip ein Schwebungssummer, der den Differenzton zweier Oszillatoren emittiert (vgl.
Ruschkowski 1989: 25ff).
142
Theremin–Instrumente mit Griffbrett – wie die von Edgard Varèse verwendeten Theremin–
Cellos (vgl. Varèse, Ecuatorial, 1934) – bedeuten dem entsprechend ein Zugeständnis
zugunsten einer einfacheren, dem tradierten Chellospiel näheren Spielweise.
125
Paiks 143, dass in der optischen Kunst Indeterminismus und Variabilität extrem
unterentwickelte Parameter waren, obwohl dies das zentrale Problem in der
Musik während der letzten zehn Jahre gewesen ist (vgl. Paik / Decker 1992
[1964]: 105), ist zum einen vor Paiks musikalischem Hintergrund und zum
zweiten der (noch) kaum verfügbaren Technologie zu sehen.
Im Fluxus ist die Verbindung von Tonträger, Musik und Performance, die
Verbindung von Emotion mit dem sich ausliefern an das Material (vgl. Heyer
2003: 159) und so eine Zweckerweiterung des Fertigproduktes Maschine von
der Reproduktion zur Produktion. Diese Maschinen des Nicht–Expressiven
(Neidhart 2008: 137) exponieren im Materiellen nicht die Form, sondern
Kräfte, Dichte und Intensitäten (Heyer 2003: 160). Die Variabilität der
Bild(re)produktion in den elektronischen Medien wie Videorecorder und TV–
Geräte ist konkret 144, sie ist gekoppelt an eine Verfremdung, die in enger
Affinität mit dem Material, durch das [sie] hervorgebracht wird, steht (vgl.
George Maciunas 1998 [um 1962]: 895). Durch die Intervention des Körpers in
die Belange der Maschine entsteht (nach Maciunas) jener methodische
Konkretismus, der als indeterministisches System (vgl. Schmidt – Burkhardt
2005: 366) zum selbstorganisierenden Prozess als Ausschnitt einer bestimmten
Lebenssituation führt (vgl. John Cage, 33 1/3, 1969).
Die kompositorischen Methoden, die John Cage in Ablehnung einer
hierarchischen Struktur und in der Gleichwertigkeit von Objekten und Tönen
im Begriff der Klangorganisation (vgl. Hoffmann 1995: 75f) zusammenfasst,
werden
von
Nam
June
Paik
in
143
Konfrontation
von
elektronischer
Nam June Paik (1964) »NACHSPIEL zur Ausstellung des EXPERIMENTELLEN
FERNSEHENS«. „Paik veröffentlichte im Faltblatt zur Ausstellung in Wuppertal 1963 ein
erstes theoretisches Statement zu seiner Arbeit mit TV-Geräten. Das »Nachspiel«, dessen
erster Teil hier abgedruckt ist, setzt diese Reflexion fort. Erstmals veröffentlicht in: »Fluxus
cc five Three«, 1964. Deutsch in: Nam June Paik, »Niederschriften eines Kulturnomaden«,
Edith Decker (Hrsg.), Köln 1992, S. 103–109, sowie Text des Faltblattes zur Ausstellung
»Exposition of Music – Electronic Television« ebd., S. 96–99. „[Anmerkung aus:
www.medienkunstnetz.de, online: http://www.medienkunstnetz.de/quellentext/31/
17.01.2011].
144
Astrid Schmidt – Burkhardt merkt, mit Verweis auf den Betrag von Thomas Kellein (I made
jokes, Ausstellungskatalog Fluxus Basel 1994) an, dass „sich der von Maciunas eingeführte
Begriff Konkretismus gegen das Obskure, Magische, Rituelle, Existentialistische sowie die
Selbstreferenz der Kunst richtet. Er wurde als Reaktion auf den abstrakten Formalismus
geprägt.“ (Schmidt – Burkhardt 2005: 367).
126
Bildgestaltung, Indeterminismus, dem musikalischen Gestaltungsprinzip des
präparierten Instrumentes, der Aktion und schließlich der Entsubjektivierung 145
dem Metabegriff der physikalischen Musik (Paik 1964) zugeordnet. Die
(Neu)Organisation des auf Tonband und auf der Schallplatte gespeicherten
Klangmaterials als akustisches Readymade wird an die Instanz des Rezipienten
delegiert (vgl. Nam June Paik, Random Access Music und Schallplatten –
Schaschlik, 1963) und so der Einwegprozess Sender–Empfänger in eine
Reziprozität von Körper und Maschine umgekehrt.
Im Gegensatz zur idealistischen Idee der absoluten Musik (Dahlhaus 1987
[1978]; vgl. v. Massow 1992: 20f), wo Rationalität und feinmotorische Virtuosität der Instrumentalmusiker (vgl. Föllmer / Gerlach 2004: online) eine
zentrale Bewertungskategorie waren, wird die Betonung von Körperlichkeit
und Emotion in der Kunstmusik (des Fluxus 146) wie in der populären Musik
des 20. Jahrhunderts zu einer Kategorie der Maschinensteuerung. Die mediale
Übersetzung und die Verformungen, die bei der Übersetzung auftreten
(Broeckmann 2008: 339), ist jene positive Asymmetrie der Humanisierung der
Technologie (Paik / Decker 1992: 128), in deren – hypothetischer – Fusion von
Maschine und Körper die intendierten Parameter des Indeterminismus und der
Variabilität integriert werden. Das Concerto for TV Cello (Paik / Moorman,
1971) mediatisiert diese Parameter als musikalisches Ausdrucksverhalten im
elektronischen Fernsehbild, dessen Steuerung ist eine direkte Interaktion
zwischen der Akteurin (Moorman) und dem, die TV–Bilder (Clips) zur
Verfügung stellenden, hardwaregestützten Algorithmus.
Lou Reed delegiert in Metal Machine Music (1975) die Hervorbringung des
Klanges vollständig an die Maschine, deren abgestimmte Komponenten (E–
Gitarre, Verstärker und Reverb) ein intendiertes Feedback–Verhalten zeigen.
145
„Mein TV ist NICHT der Ausdruck meiner Persönlichkeit, sondern nur eine
»PHYSIKALISCHE MUSIK« wie mein »FLUXUS–Champion–Wettbewerb«, bei dem der
Rekordhalter im Langzeitpissen mit seiner Nationalhymne geehrt wird. (Der erste Meister: F.
Trowbridge. U.S.A. 59,7 Sekunden.) Mein TV ist mehr (?) als die Kunst oder weniger (?) als
die Kunst. Ich kann etwas komponieren, das höher (?) steht als meine Person oder niedriger
(?) als meine Person.“ (Paik / Decker 1992: 103f).
146
Das Einbeziehen körperlichen Ausdrucksverhaltens bei der Musik/Klangproduktion ist
keineswegs auf die hier argumentierten Beispiele beschränkt, vgl. Cecil Taylor, Glenn
Branca, Laurie Anderson.
127
Durch die Ausschaltung des Humanfaktors des kontrollierenden menschlich–
instrumentellen Spiels (vgl. Jauk 2009: 254) im Mensch–Maschine–System
wird die konventionalisierte Klangerfahrung umgangen, der Klang wird im
maschinellen Prozess elektro–akustischer Gesetzmäßigkeiten erzeugt 147 und
mit
Studiotechnologie
weiterverarbeitet.
Der
maschinelle
Prozess
musikalischer Klanggenerierung wird durch die körpergesteuerte Interaktion
physikalischer Prozesse ersetzt (vgl. Jimi Hendrix), wobei die Popmusik
spezifische Klangästhetik von E–Gitarre in Verbindung mit Verstärker und
Verzerrer (Fuzz–Box) erhalten bleibt.
5.1.2 Mechanistisch / Systemisch
Das kartesianische Konzept der Körpermaschine, von Wolfgang von Kempelen
(Der „Schachtürke“, ca. 1783 [vgl. Felderer 2008: 278f]) zu den verschiedenen
Ausführungen des Datenhandschuhs (data–glove) als mechanistisches Low –
Tech Interface bis zu Hiroshi Ishiguros Androiden (Geminoid / Telenoid, ab
2006, work in progress) 148, ist ein mit den mechanistischen Implikationen des
Körpers verknüpftes (Jauk 2009: 45), erfahrungsbasiertes Denksystem. Die
Akzeptanz der Maschine als eine mechanistische Erweiterung des Körpers und
so als Interface zu einer Künstlichen Intelligenz (vgl. Grau 2002: 210) ist eine
Verdinglichung des Ingenieursprinzips, verankert in der Kausalität und
Linearität des – im Sinne von Laplace – 149 umfassend Erklärbaren. Die
erwartete Steuerbarkeit des reaktiven Systems Maschine macht dieses zum
Instrument der Objektivierung zeitlicher Linearität und der Reduktion von
Mehrdeutigkeit.
Das Prinzip positivistischer Eindeutigkeit ist zum einen in der Mimesis des
Interfaces, zum anderen im determinierten Algorithmus der Kommunikation
147
Die Radikalität dieser Vorgehensweise wird später durch penible Transkription von drei
Teilen der Metal Machine Music (vgl. Zeitkratzer feat. Lou Reed, Metal Machine Music,
Asphodel 2007) und der Auto–Musealisierung Reeds mit der Europa–Tour des Metal
Machine Music–Trio (April 2010) konterkariert.
148
Vgl. Geminoid [online: http://www.irc.atr.jp/Geminoid/ 17.01.2011].
149
Vgl. den Laplaceschen Dämon als Veranschaulichung einer Weltformel, die es ermöglicht,
bei Kenntnis aller Naturgesetze und Bedingungen jedes Ereignis vorherzusagen oder zu
rekapitulieren.
128
mit der Maschine zu finden; beides weist hin auf den Menschen als technische
Existenz – in einer technischen Umwelt, die seiner Doppelrolle als naturhaftes
und geistiges Wesen angemessen sei (Bense 1998a [1951]: 446). Dessen
mentale Repräsentationen geben den Ideen Gestalt (Lévy 2003: 93), sie sind
die Formalisierung des Denkprinzips der Kausalität, das (Teil)Erfahrungen
vergangener Situationen in Zukünftige impliziert. Das aus der Erfahrung
abgeleitete Denksystem wird in dessen Wirklichkeitskonstruktion gestützt und
bestärkt durch die Einbeziehung der Maschine und deren partieller
„Perfektion“. So ist ein bewusst herbei geleitetes, auf Basis der Erfahrung als
stochastisch klassifiziertes Zufalls–Verhalten die maschinengestützte Version
eines surrealistischen Automatismus (Breton 1924: 36), wobei der formale
Algorithmus die Illusion des Zufalls repräsentiert.
Entkoppelt sich die Information vom Ereignis, wird die Maschine selbst zur
Idee (Burckhardt 1994: 245) und zum kybernetischen Modell systemischer
Wirklichkeitsbeschreibung. Die wechselwirkende Vernetzung von Information,
Ereignis und deren wahrnehmungsverarbeitender Rückkopplungsschleifen ist
im Sinne von nichtlinearem Verhalten Wirklichkeitskonstituierend. Die
interaktive Gestaltung von (Kunst)Ereignissen basiert auf der interferierenden
Wirkweise unregelmäßiger, normabweichender Elemente des Systems und der
Notwendigkeit der Interpretation des Wahrgenommenen. In der Interaktivität
dynamischer
Kommunikationssysteme
entstehen
Irritationen
als
wahrgenommene Störung der Erkennungsmuster, diese Perturbationen
(Maturana / Varela 1987: 27) initiieren Strukturveränderungen ohne diese zu
determinieren. Eine kognitive Konstruktion, die vorhandene Wissensstrukturen
nach den Möglichkeiten innerhalb von Schranken 150 (v. Glasersfeld 2004
[1981]: 29) in kybernetischen Kreisläufen verändert, bis die Störungswahrnehmung reduziert und die Störung in das System integriert ist.
150
„Es ist die Geschichte des Konstruierten selbst, die alles Konstruieren bestimmt, weil das
jeweils bereits Gemachte das einschränkt, was noch gemacht werden kann.“ Ernst v.
Glasersfeld bezieht sich hier auf die folgende Auffassung von Kausalität nach Giambattista
Vico: „Wenn wahr ist, was gemacht ist, dann heißt, etwas durch seine Ursache beweisen,
das gleiche wie, es bewirken.(sic)“ (v. Glasersfeld 2004 [1981]: 28f).
129
Dass sich kybernetische Entwicklungen in einem iterativen Teufelskreis, einem
circulus vitiosus (Watzlawick 2004 [1981]: 65) wiederfinden können, ist eine
theoretische Deformation systemischen Denkens; der Inbegriff dessen, was es
zu vermeiden gilt (Varela 2004 [1981]: 294). Corsi e ricorsi (vgl. Vico 2000
[1744]: Fünftes Buch), Läufe und Gegenläufe 151, kennzeichnen die
Entwicklung von sozialen Systemen 152, wie die Entwicklung der Künste. Hier
beginnt die Umformung der Wirklichkeitskonstruktion über Strukturveränderungen an den Rändern der kunstrelevanten Denksysteme. Die
interaktive Vernetzung
und
Wechselwirkung
autonomer
Denksysteme
beschreibt so aus der Perspektive der Partizipation und Interpretation die
Umdeutung der circuli vitiosi in circuli virtuosi, in kreative Zirkel (vgl. Varela
2004 [1981]: 294).
5.2
Der digitale Code
Die Diskretisierung kontinuierlicher, natürlicher Signale ist die prinzipielle
Entbindung von Information und deren physischer Präsenz, das zeit– und
wertkontinuierliche Signal wird in ein zeit– und wertdiskretes 153 konvertiert.
Die Konvertierung eines analogen Zustandes auf die Ebene der Codes ist die
Quantisierung des Natürlichen, Kontinuierlichen in eine endliche Anzahl von
Teilbereichen und durch diese gleichzeitige Binärcodierung eine Transposition
in bearbeitbare Größen. Der Verlust an Information durch die Transposition
von einem analogen in den digitalen Zustand wird einerseits durch die
Redundanz der analogen Information verringert, andererseits durch eine –
mögliche – mehrfache Weiterverarbeitung des digitalen Codes schließlich
151
Der Begriff des ricorso ist im Bezug auf die kunstgeschichtliche Sicht auf die Postmoderne
ein wertender, gesehen im Sinn von Rückwendung.
152
„Vicos Geschichtskonzeption ist im Gegensatz zu Hegels Theorie nicht teleologisch
ausgerichtet, der Verlauf der Geschichte spielt sich in corsi und ricorsi, Läufen und
Gegenläufen, ab, wobei zwar das Ziel jedes corso darin besteht, Humanität und
Vernünftigkeit zu verwirklichen, nachdem diese Ziele aber erreicht sind, kann die
Vernünftigkeit in eine von Vico als Barbarei der Reflexion bezeichnete Gegenbewegung
umschlagen, wodurch eben das Einsetzen eines ricorso markiert wird.“ (Erny 1994: 115).
153
Die Zwischenstufen wertkontinuierlich / zeitdiskret und wertdiskret / zeitkontinuierlich (vgl.
Thomanek 2006: 178) bleiben hier unbehandelt.
130
belanglos; seine sensorische Realisierung ist Sache von Interfaces (Jauk 2009:
371).
Die
maschinelle
Verarbeitung
des
Codes
über
Interfaces
und
in
algorithmischen Prozessen ist die Verbindung von menschlichem Denken und
maschinellem Handeln. Die Denkprozesse werden in maschinelle Handlungsprozesse überführt (Trogemann 2010a: 19). Die Formalisierung von
Denksystemen in den entkörperlichten Handlungsmustern des Algorithmus
(vgl. Trogemann 2010b: 168) ist eine Synthese der Codierung von Information
und der Analyse des zugrunde liegenden Denkprozesses. Die Generierung
solcher Prozess–Algorithmen, die eine unreflektierte Wiederholbarkeit
unabhängig von konkreter Einsicht physikalischer Bedingungen zeigen (vgl.
Trogemann 2010a: 19), ist – idealiter – die abstrakte Signalverarbeitung
unabhängig vom auftretenden Ergebnis. Eine Strukturgleichheit von Bild, Ton
oder Bewegung ist im prozessierenden Code als Arbeitsgrundlage der
Maschine längst etabliert (ebd.: 20); deren immersive Umgebungen
multisensorischer Interfaces (vgl. Huhtamo 2003: 123) verweisen auf das
körperbedingte Wahrnehmungsverhalten.
Der digitale, binäre Code ist ein absolutes 154 Konstrukt, gekennzeichnet durch
zwei einander ausschließende Zustände und niemals aus der Regelhaftigkeit
einer sinnlichen Erfahrung hervorgegangen (Jauk 2009: 443). Der digitale
Code ist somit keiner Materialität zugeordnet, er ist immateriell durch die
Möglichkeit der Beschreibung jedweden Zustandes, unabhängig von dessen
physikalischer Realität oder Realisierungsmöglichkeit. Der referenzlose binäre
Code verweist ausschließlich auf die Tatsache des eigenen Zustandes, ist aber
zugleich eine normative Handlungsanweisung für die Maschine, eine
sinnesadäquate Wahrnehmung – referentiell zu der phylogenetisch bedingten
Umweltwahrnehmung – zu generieren.
Musik als die Formalisierung einer spezifischen Art des Denkens, nämlich der
Beziehung zwischen dem willkürlich codierbaren Klang (Notation) und dessen
154
Im Gegensatz zur Funktion, deren veränderliche Größe in ihrem Wert von einer anderen
abhängig ist.
131
körperlicher Hervorbringung und Wahrnehmung, ist ein Hybrid aus
willkürlicher Veränderbarkeit und konventionalisierten Denksystemen (vgl.
Jauk 2009: 442f). Der digital codierte und codifizierbare Klang und seine
Produktion abseits einer physischen Präsenz bedingt eine medientheoretische
Interdependenz des entstehenden Artefaktes, dessen materialer Eigenschaften
und des beschreibenden Codes in einem Crossover von Exaktheit und Störung.
So der Eigenklang des digitalen Materials nicht existiert (Großmann 2003: 59),
ist die Störung, die Mehrdeutigkeit jener Stilbruch, aus dem die Neucodierung
herauszulesen sei (vgl. Kriesche 2003: 149) von konstititiver Bedeutung für
den Prozess des emotionalen Erlebens und der Erregung. Die dem Raster und
dessen Regel im Codierungs– bzw. Decodierungsprozess (vgl. Großmann
2003: 60f) immanenten Prinzipien sind verknüpft mit den emotionalen
Kriterien
von
Auswahl
und
Gestaltung
(vgl.
Jauk
2008:
209)
bedeutungsneutraler Stimuli. Der digitale Code wird – durch die „Defizite“
seiner technologischen Realisierung – zu einem Formteil der Aesthetics of
failure155 (Großmann 2003: 66), deren materiale Qualität auf einem
Gestaltungsprozess dynamischer Strukturveränderungen basiert.
Der digitale / binäre Code ist keinem bestimmten Material verpflichtet, er
konkretisiert sich im Dualismus von Unabhängigkeit vom gegebenen
materiellen Bestand der Welt und dessen Informationssystem als ein
Verbundwerkstoff informierten Materials (vgl. Trogemann 2010a: 24). Die
Codierung der funktionalen Zustände in einem intendierten materiellen System
(wie dem des Klanges oder des digitalen Bildes) entheben dieses System einer
physikalischen Beschränkung. Der dem informierten Material zugrundeliegende immaterielle Algorithmus wird letztlich in Erwartung sensorischer
Stimuli – unabhängig von erfahrungsgestütztem Verhalten – generiert. Eine
humanbiologische Komplexitätsgrenze in den Möglichkeiten neuronaler
Verarbeitungsleistung, die lineare Struktur algorithmischer Prozesse und die
verfügbare Hardware für das geeignete Interface–Material, wie auch die
155
Vgl. Kim Cascone, The Aesthetics of Failure: “Post-Digital” Tendencies in Contemporary
Computer Music, in: Computer Music Journal 24:4 (Cascone 2000).
132
technologische Trennung in Hard– und Software limitieren die Effizienz von
informiertem Material mehrfach.
Der natürliche Code des DNA–Moleküls unterliegt demgegenüber in seiner
Ausführung der – äußerst komplexen – physikalischen Grundlage der
dinglichen Einbettung in eine spezifisch relevante organische Umgebung: „Die
DNA ist nicht nur Information, sie ist dinglich. Sie funktioniert nur, weil sie
physisch ist.“ (vgl. Bentley 2003: 39). Die Transposition des informierten
Materials in selbstorganisierende Prinzipien organischer Strukturen kann die
willkürliche Grenze von Code und Hardware zugunsten konzeptueller
(Re)Integration der Hardware in den Code aufheben und ein artifizielles
organisches System bilden. Störungen im organischen System sind
evolutionäre Praxis; durch die Störung wird das organische – zum Unterschied
vom mechanischen – System evolutionsfähig, den notwendigen Komplexitätsgrad vorausgesetzt.
Kunst als Code ist ein […] auf Fehlern beruhendes, hochfunktionales
Zeichensystem (Kriesche 2003: 151), das das beziehende Denken des
musikalischen Codes formalisiert und die Grenzziehung zwischen dem
Natürlichen, dem Abstrakten und dem Künstlichen (Faßler 2002: 204)
verhindert. In der Netzstruktur des programmierten Künstlichen und dessen
prozessierbarem Algorithmus wird die kulturelle Natur des (technischen)
Mediums sicht– bzw. hörbar 156 (vgl. Großmann 2003: 55) in der künstlichen
Natur der rekursiven Epistemologie des wahrnehmenden Handelns (vgl. v.
Foerster 1993: 28).
5.2.1 Das Ende der Distanz
Das Ende der Distanz ist Giorgio de Chiricos Postulat (vgl. de Chirico 1973
[1919]: 41) der Aufhebung einer anthropomorphen Skalierung, es wird eine
156
„Die kulturelle Natur technischer Medien ist ihre Unsicht– bzw. Unhörbarkeit. Sie
verschwinden im Normalzustand der alltäglichen, selbstverständlichen Nutzung, werden
konstitutiver Teil der Realität. Sichtbar bzw. hörbar werden sie nur in Phasen des Übergangs
– zu Beginn und am Ende ihrer Laufbahn.“ (Großmann 2003: 55).
133
zweite, metaphysische (ebd.) Wirklichkeit als Layer 157 über die erste, die
„wirkliche“ Wirklichkeit gelegt. Der von de Chirico beschriebene Verlust des
Erfahrungsraumes wird durch indexikalische Zeichen industriellen Fortschritts
und deren Assoziation von maschineller Beschleunigung durch die Erfahrung
der Ortlosigkeit ersetzt (vgl. Weibel 2004c: 218). Durch die Symbole
industrieller Technologie wird eine Auflösung von raumzeitbezogener,
phylogenetisch
willkürlicher
gelernter
Neuordnung.
Erfahrung
Die
konstituiert
mechanistischen
–
zugunsten
Relationen
deren
zwischen
Fabrikschlot, Eisenbahn(Waggon) und menschlichem Körper (vgl. Giorgio de
Chirico,
Der Schmerz der Abreise, 1913/14) werden in einer von den
menschlichen Sinnen entkoppelten Perspektive aufgelöst.
Eine Erhöhung der Geschwindigkeit, repräsentiert durch Bewegungs– und
Kommunikationsmaschinen (Weibel 2004c: 219), ist zugleich die Irritation der
anthropomorphen Perspektive, die zum einen durch die Loslösung der Musik
vom
Körper,
zum
anderen
des
autonomen
(Tafel)Bildes
von
der
ortsgebundenen Aufstellung (vgl. Belting / Kruse 1994) in kulturspezifische
Konventionen einwirkt. Die Multiplikation der inhaltlichen Information durch
die – mögliche – Mobilität des spezifischen Mediums ist gleichzeitig deren
Ortlosigkeit; sie wird entortet von ihrem Bereich der Herstellung in den
Bereich der (Massen)Kommunikation. In den Telekommunikationstechnologien des 20. Jahrhunderts erscheint die Information nahezu gleichzeitig an
multiplen Orten (Weibel 2004c: 221), die Geschwindigkeit des Elektrons
initiiert die Deformation des Verhältnisses von Dauer und Entfernung und die
damit verbundene Auflösung des anthropomorphen Raumes.
Als Basis für Netzkunst gilt grundsätzlich jede Form von Netzwerken; die
materiale Beschaffenheit des Informationstransportes (vgl. McLuhan 1969)
und interaktive Mitgestaltung der Partizipanten (vgl. Jauk 2009: 424) steuert
den künstlerischen Prozess. Die formale Beliebigkeit impliziert eine
willkürliche Kombination von Medien in der prozessualen Realisierung von
Netzkunst, deren analoge Organisation in den Konzeptionen von Mail Art–
Netzwerken die existenten (Tele)Kommunikations–, Produktions– und
157
Die Layertechnik ist eine Technik zur Bearbeitung verschiedener Ebenen digitaler Bilder.
134
Distributionsformen verarbeitet. Die Distribution von Information (vgl. Ray
Johnson, New York Correspondance 158 School, um 1969) und die Aufforderung zu deren prozessualer Weiterentwicklung (vgl. Mieko Shiomi, Spatial
Poems, ab 1965) verbindet Ansätze der Konzeptkunst und der Mail Art zu einer
neuen, globalen Komposition, die Aspekte der Telekommunikation wie
Simultaneität und Ubiquität vorwegnimmt (Daniels 1994: online). Die
subkulturelle Nutzung vernetzter Distributionswege für die Vermittlung –
devianter – Information umgeht die Kontrolle der dominanten Kulturpolitik
des Bildungsbürgertums mit den Strategien von Aktionskunst, Fluxus und
musikalischer Kompositionstechnik (vgl. COUM Transmissions / Throbbing
Gristle) 159. Es werden theorielastige Strategien und eine subkulturelle, nicht
wissenschaftlich – theoretische Form von "Forschung" entwickelt, die im
später entstehenden Begriff der Informationsgesellschaft160 (vgl. Richard o.J.:
online) verwissenschaftlicht werden.
Die Organisation von Informationen, die ohne Analogie zu ihrem Ursprung
sind (Lyotard 1985: 10) ist eine willkürliche; indem sie ohne Restriktion einer
objektiven Erkenntnis und des konkreten Erlebens (Flusser 1991: 158f)
gestaltet werden, ist sie überall und jederzeit verfügbar. Diese ortlose
Verfügbarkeit folgt dem hedonischen 161 Prinzip als Regulativ zur Organisation
der Codes nach ihrem Erregungswert (Jauk: 2009: 7); in Verbindung mit ihrer
Immaterialität (vgl. Lyotard 1985: 10) ist die digitale Codierung von
Information eine Übersummation, eine Idee des Natürlichen. Das interaktive,
kollektive Gestalten von Environments durch Kommunikation mit der
Maschine und den immateriellen Codes ist die artifizielle Repräsentation
konkreter Instanzen der Idee (Trogemann 2010: 17) und die Generierung einer
künstlichen Natur.
158
“The deliberate misspelling ‚correspondance‘ ist characteristic of the ludic spirit of The
New York Correspondance School […]“ (Danto 2000: 363).
159
Für die Entwicklungshistorie von COUM Transmissions / Throbbing Gristle / Psychic TV
vgl. Ford 1999.
160
“We're interested in information, we're not interested in music as such. And we believe that
the whole battlefield, if there is one in the human situation, it is about information.” (Genesis
P. Orridge, zit. in Richard o.J.: online).
161
Im Sinne der Hedonik. (vgl. Berlyne 1974).
135
5.2.2 Verschränkung von Information & Wirklichkeit
Der Terminus der Verschränkung bezieht sich auf die 1935 von Albert
Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen veröffentlichte Arbeit (EPR –
Arbeit) über auffällig enge Zusammenhänge von Quantensystemen, deren
Konsequenzen Einstein als spukhafte Fernwirkung und Erwin Schrödinger
unmittelbar darauf als Verschränkung bezeichnete (vgl. Zeilinger 2007: 195f)
162
. Weil ursprünglich als Widerlegung der Quantentheorie konzipiert, ist die
Kernaussage der EPR–Arbeit, dass sich ein Objekt dort nicht darum kümmere
was wir mit einem Objekt hier anstellen (Greene 2004: 140). Eine Annahme,
die der Theorie des lokalen Realismus 163 folgt und die mittlerweile
experimentell und theoretisch revidiert ist – ausgehend vom Postulat des
Bell‘schen Theorems 164 erscheint das Universum nicht lokal:
„Das Ergebnis dessen, was wir an einem Ort tun, kann mit dem, was an einem
anderen Ort geschieht, verknüpft sein, selbst wenn sich nichts zwischen beiden
Orten hin– und herbewegt – selbst wenn die Zeit so kurz ist, dass nichts die
Strecke zwischen beiden Orten zurücklegen könnte.“ (Greene 2004: 141).
Dies impliziert, dass auch das Bild einer Wirklichkeit, deren Eigenschaften
unabhängig vom Beobachter existieren und deren Beobachtung eindeutige
Eigenschaften reflektieren, die vor der Beobachtung – und unabhängig von ihr
– existier(t)en, nicht aufrecht zu erhalten ist. Zum einen ist die Realisation
beobachteter Eigenschaften von der Beobachtung selbst abhängig, zum
anderen ist dieses Beobachtungsergebnis rein zufällig, ohne verborgene
Ursache (Zeilinger 2007: 337). Dass eine Untersuchung eines Objektes aber
nicht von seiner phänomenologischen Wahrnehmung getrennt werden kann –
eine Trennung führe zur Gewinnung nur intuitiven Wissens – (Jeudy 1991:
162
„A. Einstein, B. Podolsky und N. Rosen, ‚Can Quantum – Mechanical Description Of
Physical Reality Be Considered Complete?‘, Phys. Rev. 47; 777 (1935) / E. Schrödinger,
‚Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik‘, Naturwissenschaften 23, 807; 823;
844 (1935)“ (Zeilinger 2007: 209).
163
„Lokaler Realismus: Die Annahme, dass unsere Beobachtungsergebnisse einer unabhängig
von der Beobachtung existierenden Wirklichkeit entsprechen, in der es keine Fernwirkung
schneller als mit Lichtgeschwindigkeit gibt.“ (Zeilinger 2007: 341).
164
Das Bell‘sche Theorem (John Bell, 1964) konzipiert den Widerspruch zwischen der Physik
des Alltagslebens, wo das kausale Ursache–Wirkung–Prinzip gilt und der Quantenphysik, wo
statistische Wahrscheinlichkeiten eine Rolle spielen (vgl. Zeilinger 2003: 80f).
136
175) ist eine Voraussetzung für eine Übereinstimmung zwischen verschiedenen
Beobachtungen der existierenden Welt und so einer Übereinstimmung der
unabhängigen Welt als Wirklichkeit und der sie beschreibenden Information.
Die nichtdeterminierte, offene Welt einerseits als die Freiheit der Natur uns die
Antwort zu geben, die ihr beliebt (Zeilinger 2007: 338) und die Beeinflussung
der Wirklichkeit eben dieser antwortgebenden Natur durch die beobachtende
Teilhabe andererseits führt – laut Zeilinger – zur Annahme, dass die Konzepte
Wirklichkeit und Information dasselbe sind (Zeilinger 2003: 229).
Die Bedeutung von Information als künstlerisches Material wird in der
Dichotomie von Idealität und Materialität (Moles 1971: 255) des digitalen
Codes hergestellt, der sich als der Verbundwerkstoff von immateriellen
Algorithmen und materiellem Artefakt zu informiertem Material 165 vereint
(vgl. Trogemann 2010: 20). Eine sinngebende Ordnung von Information – nach
Moles ein Maß für die Komplexität der von der Wahrnehmung angebotenen
Formen (Moles 1971: 81) – ist deren Redundanz; sie steht in umgekehrtem
Verhältnis zur Komplexität der Information. Die Redundanz von Information
ist für eine Kommunizierbarkeit eines informationellen oder ästhetischen
Zustandes und für deren sinnverstehende Wahrnehmung fast ebenso wichtig
wie die Information selbst (Moles 1971: 64). Der Gewinn an Ordnung erweist
sich als Informationsverlust (Bense 1998b [1969]: 319), dies reduziert zwar die
Originalität der Information, erzeugt aber jenen strukturellen Zustand, der in
der Wahrscheinlichkeitsverteilung 166 des beziehenden Denkens (vgl. Riemann
1975 [1914/15]) gestalteter Variationsmöglichkeiten von Musik erscheint.
Die Unvorhersehbarkeit / Originalität von – ästhetischer – Information
begründet sich in deren Ausdehnung ihres Freiheitsfeldes, erst im Zeitpunkt
ihrer Realisierung wird die Information in einem Netz des Denkens (Moles
1971: 259) in ihrer Komplexität reduziert und im Zeichen standardisiert. Der
chaogene Zustand (Bense 1998b [1969]: 318) der Unvorhersehbarkeit wird im
165
Norbert Wiener unterscheidet in der Frage von Materialität, Information und
Kommunikation streng die Begriffe Information und Materie: “Information is information,
not matter or energy“ (Wiener 1961 [1948]: 132).
166
„Ein struktureller Zustand ist […] dadurch gegeben, daß ein Zeichen mit der höchsten
Wahrscheinlichkeit […] expediert bzw. selektiert wird, denn dann sind alle anderen Zeichen
bzw. Elemente syntaktisch, also durch eine Regel, festgelegt.“ (Bense 1998b [1969]: 318).
137
Prozess
sinnverstehender Wahrnehmung einer interaktiven Reorganisation
durch Rezipienten / Produzenten unterzogen, daraus folgt gleichzeitig eine
Reorganisation von Wirklichkeit. Die Parität von Information und Wirklichkeit
zeigt sich experimentell am Doppelspaltexperiment: Ist die Information,
welchen Weg das Teilchen genommen hat, nirgends vorhanden, zeigt sich ein
Interferenzmuster; ist Information darüber vorhanden, verschwindet das
Interferenzmuster (vgl. Zeilinger 2007: 339). Ändern sich also die
Möglichkeiten von Information, ändern sich auch die Möglichkeiten von
Wirklichkeit.
Die Kommunikation ästhetischer Information ist so mit einem Prozess der Informationsverarbeitung und zugleich der Wirklichkeitsgenerierung gekoppelt.
Die Ästhetik als kommunikativer Prozess des sozialen Systems (Gianetti 2004:
online) findet ihren Ausdruck in der Medienkunst, die ihrerseits den Prozess
der Informationsverarbeitung – der menschlich / sozialen wie der technischen
– als wirklichkeitsgenerierendes Instrument thematisiert (Jauk 2009: 31). Die
Prozessualität des Kommunikativen ist in Wissenschaft wie in (Medien)Kunst
eine selbstorganisierende Prozessualität des Unvorhersehbaren, deren – stets
ein vorläufig bleibender – Erkenntniswert sich in der Abkehr vom statischen
(Kunst)Werk und in der Zuwendung zu dynamisch–interaktiven Organisationsprinzipien zeigt.
138
6
Diskussion: Prozess vs. Kontemplation
Die Emanzipation des Geräusches ist in der Radikalität futuristischen Denkens
Anfang des 20. Jahrhunderts ein schlüssiges Parallelprodukt – neben der
postulierten Simultaneität dynamistischer Empfindungen 167 und dem stato d´
animo, dem Seelenzustand, der aus deren Synthese resultiere – aus der sich
gegenseitig beeinflussenden künstlerischen und politischen Propaganda des
Vorkriegs 168 – Futurismus. Mit der aggressiv–radikalen Forderung der
Einbindung des Geräusches in die Kunst (vgl. Russolo 1913), als unmittelbare
Folge von Dynamismus und Industrialisierung, wird die in der Romantik des
19. Jahrhunderts
idealisierte Trennung von Kunst und (Alltags)Leben
revidiert. Das „arme“ Material Geräusch, ein Typus des alltäglich (urbanen)
Lebens
und
der
fortschrittsverkörpernden
Maschine,
wird
mit
der
formalisierten Regelhaftigkeit des idealistischen Kunstwollens (vgl. Riegl 1996
[1901]) verknüpft und ersetzt die Ästhetik statischer Kontemplation durch die
implizite Wirkweise von Dynamik.
Die in den Postulaten der Avantgarden martialisch geforderte Überwindung
einer normierten, disziplinierten und statischen Kunst des Bildungsbürgertums
ist gekennzeichnet durch den Tabubruch an den Grenzen zwischen Hoch– und
Trivialkultur. Die Verknüpfung
von futuristischen und dadaistischen
Kunsttheorien mit der musikalischen Logik beziehenden Denkens im kasual–
ephemeren Prozess der Performance–Künste ist die zeichenhafte und bewusst
avantgardistische Verkünstlichung des Lebens. In der Selbstreferenzialität der
art informel wird die Geste als körperliches Ausdrucksverhalten zum
Zeichensystem
Gegenhaltung
emotionaler
zu
Perfektion,
Vorstellungsinhalte
Vernunft
und
in
einer
tradierten
ludischen
Regeln
der
Disziplinargesellschaft. Die Geste, die Lösung vom Statischen, als eine
mimetische Nachkonstruktion (Brandstätter 2004: 187) von körperlichen
Spannungs– und Entspannungsprozessen bedingt die Abwendung vom
167
Vgl. Die Futuristische Malerei. Technisches Manifest 1910 (Asholt / Fähnders 1995: 13ff)
F.T. Marinetti veröffentlicht das Gründungsmanifest des Futurismus am 20. Februar 1909
im Pariser Le Figaro.
168
139
Narrativen in der bildenden Kunst und die Dynamisierung des Bildes als
Rudiment der Bewegung.
Das postmoderne Umfeld der popkulturellen Entwicklung ab der Mitte des 20.
Jahrhunderts verbindet die (elektronische) Avantgarde und die Pop–Kultur mit
dem prozessualen Charakter des anything goes (vgl. Reinhardt / Rose 1991:
154) und der Auflösung von Funktionalität. Wenn die kommerzielle
Untauglichkeit von Kunst umso gründlicher wird, je mehr sie das harmlose
Gemüt befremdet (Adorno 2003c [1978]: 634), ist dies eine Form der
Musikalisierung der bildenden Kunst, indem deren Problem der Abbildung
durch die Abstraktion, einer explizit musikinhärenten Struktur, revidiert wird.
Die Annäherung der bildenden Kunst an den Formalakt „Musik“ – als eine
formale Struktur ohne semantischen und syntaktischen Bezug – impliziert eine
zunehmend abstrakte Bilderwelt, befreit von der Abbildung und orientiert an
den
code–generierten
Formen
von
Musik.
Die
Performance,
ein
Gestaltungsprozess entwachsen aus Informalisierung und freier Improvisation,
wird angeregt und gesteuert über körperliches Ausdrucksverhalten und
(nonverbale) Kommunikation, verbindet musizierendes Verhalten mit der
willentlichen Gestaltung des subjektiven Seins.
Die Entwicklungen in Fluxus und Konzeptkunst verdeutlichen eine bewusst
zeichenhaft–avantgardistische
Verkünstlichung
des
Lebens,
die
das
(Kunst)Werk als momentanen Zustand eines Prozesses interaktiver, kommunikativer Gestaltung beschreibt. Die Interaktion, zum einen die Transformation
von Information qua Wissensbasis, zum anderen die körperliche Partizipation
der Rezipienten, induziert die willentliche Gestaltung von Beziehungen und
deren (außen)referentielle Codierung. Eine fortschreitend abstrakte Bildkunst
im 20. Jahrhundert wird mit den Formen der Musik, mit Codes, generiert und
spiegelt die hedonistische Stimmung der Populären Künste wieder; der
leistungsorientierte Körper wird durch die lustorientierte Erfahrung ersetzt.
Zwischen den Techniken der Avantgarde und der ästhetischen Form der
Popkultur entwickelt sich der funktionale Zusammenhang des Kunst / Leben
auf der Basis emotionalen Vergnügens, die der distanzierten Kontemplation
des statischen Kunstwerks entgegenwirkt.
140
Die Symbiose von gedanklichem Konstrukt und emotionalem Reiz in der
Simultaneität multimodaler Wahrnehmung von Symbol und Signal wirkt als
ästhetische Verdichtung von Zeit auf die Irritation körperlich erfahrbarer
Wahrnehmungsprozesse. Die Konstruktion von Wirklichkeit ist in der
Veränderung der Information in den Wahrnehmungsprozessen durch deren
Verzerrung und Differenz zur Erfahrungsbasis des Empfängers begründet und
wird in der künstlerischen Interaktion reflektiert. Die wechselseitige Beziehung
der Informationsübertragung und deren Kommunikation ist instrumentalisiertes
Ausdrucksverhalten, ein musikbasierendes körperliches Verhaltensprinzip, das
auch als ein Modell für intuitiv bedienbare technologische Interfaces (vgl.
Theremin) zu sehen ist. Der kommunikative Wert des zu Unterscheidenden
zwischen dem Wahrnehmungsraum und dem Vorstellungsraum ist die
mediatisierte Wirklichkeitskonstruktion, die den phylogenetischen Körper–
Umwelt–Bezug redefiniert.
Die Konversion des analogen Zustandes auf die Ebene des digitalen Codes ist
zugleich die Transformation des Natürlichen auf die Ebene des Künstlichen;
die den die künstliche Natur beschreibenden – digitalen – Code willkürlich
alterierbar macht. Der digitale Code ist zum einen keinem bestimmten Material
verpflichtet, zum anderen nicht an sensorische Erinnerungen des Individuums
gebunden und somit nicht aus der Regelhaftigkeit einer sinnlichen Erfahrung
hervorgegangen (Jauk 2009: 443). Die dem bedeutungsfreien digitalen Code
implizite Virtualität physikalischer Parameter transferiert den Denkprozess in
die (willkürliche) Regelung syntaktischer Ereignisse, die in maschinell–
instrumentalen Prozessen zur semantischen Bedeutung verknüpft werden. In
der Netzstruktur dieser Prozesse als komplexes Zeichensystem ist der Akt des
Werdens die Transgression des „Werks“, die Interaktion von Immaterialität,
Prozess und Partizipation kulminiert im künstlerischen Forschen (Lyotard
1985: 62) anstelle von distanzierter Kontemplation.
Der Erhöhung der Geschwindigkeit durch den technologischen Fortschritt ist
die Beschleunigung des Informationstransfers bis hin zur simultanen Verfügbarkeit an multiplen Orten implizit; die interaktive Konstruktion von
Wirklichkeit ersetzt den anthropomorphen Raum. Die ortlose Information,
141
verknüpft mit der digitalen Ästhetik des bedeutungsfreien Codes, ist das
unmittelbar verfügbare informierte Material kollektiver Wirklichkeitskonstruktion ohne die Einschränkung der konkreten Erfahrung. Die hedonistische
Gestaltung abseits von logischem Verhalten ist im Dadaismus Programm, in
der technoiden Kunst der Codes ist sie ein hochfunktionales Fehlersystem (vgl.
Kriesche 2003: 151), das sich im Prozess beziehenden Denkens formalisiert.
Die Verschränkung
von Information und
Wirklichkeit
reduziert
im
Kommunikationsprozess den chaogenen Zustand (Bense 1998b [1969]: 318)
des bedeutungsfreien Codes; in der Synthese von (Medien)Kunst, Technologie
und Performance wird eine, vom musikalischen Paradigma des beziehenden
Denkens bestimmte Wirklichkeit konstruiert.
Die Ambivalenz zwischen den medialen Strukturen von Musik und bildender
Kunst wird in der Metastruktur des Codes aufgelöst; die Inkulturation der
Theorie der musikalischen Notation als willkürliche Codierung syntaktischer
Elemente in die (bildende) Kunst ist die Überwindung deren wahrnehmungs–
und
medientheoretisch begründeten Segregation. Die Dynamisierung des
Bildes (vgl. Jauk 2009: 389ff) ist die Transposition narrativer und mimetischer
Formen des statischen Werkes – in der bildenden Kunst – in die informelle
Gestaltung und Abstraktion; die Befreiung von der Abbildung ist die
Voraussetzung für deren Codierung. Der (musikalische) Code 169 ist
unbeeinflusst von Bedeutung und Körper–Umwelt–Bezug, er ist ein Vermittler,
der vom Vermittelnden entkoppelt ist; die Codierung des Bildes ist
dementsprechend entkoppelt von jeder ikonischen Repräsentanz. Das
Kunstwollen des 21. Jahrhunderts ist begründet in der hedonistischen Ästhetik
des kommunikativen Prozesses; die strukturelle Kommensurabilität von Musik
und bildender Kunst ergibt sich durch die Metastruktur des Codes und ist dafür
conditio sine qua non.
169
Der Musik, formalisiert im musikalischen Code, kann im Ausnahmefall abbildende
Wirkung erfahren, eine über konkrete / abstrakte Erfahrungssituationen integrierte Mimesis
ist durchaus möglich.
142
Literatur
Adorno, Theodor W. (1977), Die Kunst und die Künste, in: ders., Kulturkritik und
Gesellschaft 1; Prismen. Ohne Leitbild, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitw.
von Gretel Adorno (=Gesammelte Schriften Bd. 10.1), Frankfurt / Main:
Suhrkamp, S. 432 – 453.
Adorno, Theodor W. (2003a [1956]), Das Altern der Neuen Musik, in: ders.,
Dissonanzen; Einleitung in die Musiksoziologie, hg. v. Rolf Tiedemann
(=Gesammelte Schriften Bd. 14; urspr. ersch. in: Dissonanzen: Musik in der
verwalteten Welt, S. 136 – 159), Suhrkamp – Taschenbuch Wissenschaft
1714, Frankfurt / Main: Suhrkamp, S. 143 – 167.
Adorno, Theodor W. (2003b [1966]), Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit,
(=Gesammelte Schriften Bd. 6), Suhrkamp – Taschenbuch Wissenschaft 1706,
Frankfurt / Main: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. (2003c [1978]), Über einige Relationen zwischen Musik und
Malerei, in: ders., Musikalische Schriften I – III; Klangfiguren (I), Quasi una
fantasia (II), Musikalische Schriften (III),hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitw.
von Gretel Adorno, (=Gesammelte Schriften Bd. 16), Frankfurt /
Main: Suhrkamp, S. 628 – 642.
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