Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ALEXANDER HOLLERBACH Reflexionen über Gerechtigkeit Originalbeitrag erschienen in: Norbert Brieskorn u.a. (Hrsg.): Gerechtigkeit und soziale Ordnung : für Walter Kerber. Freiburg [u.a.]: Herder, 1996, S. [42] - 55 Reflexionen über Gerechtigkeit Alexander Hollerbach Es ist ein Gemeinplatz: Wenn es einen Zentral- oder Schlüsselbegriff der Rechtsphilosophie gibt, dann ist es gewiß derjenige der Gerechtigkeit. Deshalb ist es sinnvoll und geboten, es immer wieder neu damit aufzunehmen. Dabei erscheint es besonders angemessen, dies in einem Beitrag zur Ehrung von Walter Kerberl zu versuchen. Gerechtigkeit ist die Chiffre für ein großes, unerschöpfliches Menschheitsthema. Das Schiff der Theorie- und Reflexionsgeschichte' ist prall voll, vielleicht sogar überladen. Aber eben deshalb kann man kaum Neues erwarten, keinen Ausbruch aus dem Gefängnis der Formeln und Denkmuster, keinen Aufbruch zu ganz neuen Ufern. Erfolg verspricht es allenfalls, zu differenzieren und zu akzentuieren, ein paar neue Lichter zu setzen und dabei vielleicht eher Komplexität und Spannungsreichtum zu erhöhen als zu vermindern. Es geht um die Frage: Wie kann man verantwortlich mit dem Begriff GerechtigDabei ist mit Nachdruck an dessen eigene Beiträge zum Gerechtigkeitsproblem zu erinnern: Gerechtigkeit (Abschnitte I, IV-VII), in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 17, 2. Aufl., Freiburg 1981, 8-11, 20-75; Art. Gerechtigkeit (III), in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 11 (1986) 903-905. 2 Man wird hier keine umfassenden Literaturnachweise erwarten. Doch sei (in alphabetischer Reihenfolge) auf die derzeit gängigen systematischen Gesamtdarstellungen von deutschen Autoren hingewiesen, in denen das Gerechtigkeitsproblem naturgemäß einen festen Ort hat: Norbert Brieskorn, Rechtsphilosophie, Stuttgart 1990, 92-97, 162-164; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Berlin 1993, passim; Arthur Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, München 1994, 139-174 (Kapitel 9-11); Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, München 1994, 125-134, 177-193; Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., München 1994, 74-160 (Kapitel IV). Demgegenüber erfährt die Gerechtigkeitsfrage bei Stefan Smid, Einführung in die Philosophie des Rechts, München 1991, keine systematische Hervorhebung. Zur Rolle der Gerechtigkeit in der richterlichen Praxis bedeutsam Gerhard Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. Über den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden 1980. — Der vorliegende Versuch verarbeitet im übrigen meinen eigenen Beitrag zum Art. Gerechtigkeit, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 11 (1986), 898-903 (Abschnitt II). 1 Reflexionen über Gerechtigkeit 43 keit umgehen? Wie stellt er sich in einer, mit Hasso Hofmann' gesprochen, „prinzipienorientierten Rechtsphilosophie" dar? Zu den Veranlassungen des nachfolgenden Versuchs gehört die Schrift von Bernd Rüthers mit dem provozierenden Titel: „Das Ungerechte an der Gerechtigkeit. Defizite eines Begriffs" 4 . Weit entfernt davon, die damit angedeuteten Probleme und Schwierigkeiten zu verkennen, geht die Intention der hier vorgelegten Reflexionen freilich in eine andere Richtung. Man könnte sie vielleicht so formulieren: „Das Gerechte an der Gerechtigkeit. Chancen eines Begriffs". II. Ein erster Gedankenschritt soll daran erinnern und mit neuem Nachdruck zur Geltung bringen, was man im Grunde schon bei Platon lernen kann: Gerechtigkeit hat eine anthropologische, eine ethische und eine politische Dimension. Die Ausstattung des Menschen mit dem Bedürfnis und dem Streben nach Gerechtigkeit gehört zu den anthropologischen Grundbefindlichkeiten wie das Streben nach dem Wahren und dem Guten. Nirgendwo in der Geschichte gibt es eine grundsätzliche Bestreitung der „intentio iusti" als eines menschlichen Existenzials 5 . Der Mensch ist rechtliches Wesen, insofern er auf gerechtes Recht aus ist. Schon von diesem Ansatz her zeigt sich Gerechtigkeit als das eigentliche „Worumwillen" des Rechts. Die anthropologische Dimension verweist aber zugleich auf die spezifischen Erkenntnisbedingüngen des Menschen, d.h. auf die hermeneutische Situation, in der der Mensch steht. Sie macht sich auch und gerade in bezug auf das Gerechtigkeitsproblem, die Gerechtigkeitserkenntnis bemerkbar. Das bedeutet im einzelnen: Auch Gerechtigkeitserkenntnis ist nicht einfachhin lösbar von der Standortgebundenheit und Interessenbezogenheit menschlichen Erkennens. Es gibt unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen. Antworten auf die Frage nach der Gerechtigkeit bleiben der Frage nach ihrer Bedingtheit ausgesetzt. Die conditio humana macht sich aber auch darin bemerkbar, daß menschliches Denken der Endlichkeit, der Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit unterworfen ist. Das macht prinzipiell skeptisch gegen Behauptungen absoluter Gerechtigkeit. Absolute oder beste Gerechtigkeit — das ist allenfalls ein 3 Rechtsphilosophie, in: Orientierung durch Philosophie, hrsg. v. Peter Koslowski, Tübingen 1991, 118-145 (123 f.), 140. 4 Zürich — Osnabrück 1991 (Texte und Thesen 239). 'Insoweit übereinstimmend Rüthers (Anm. 4), 134: „Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit ist ein Teil der persönlichen Sehnsucht nach Glück und Vollkommenheit, die in jedem Menschen angelegt ist". 44 Alexander Hollerbach göttliches Attribut, wenngleich wir nicht davon dispensiert sind, nach der je besseren Gerechtigkeit zu suchen. Damit hängt unmittelbar das Moment der Geschichtlichkeit zusammen. Absolute Geschichte, das wäre Aufhebung der Geschichte als grundlegendes Strukturelement dieser Welt, das wäre Überschreiten der Welt in die Transzendenz, Umwandlung des Zeitlichen ins Ewige. Absolute Gerechtigkeit kann sich deshalb auch nicht aus einem vom Menschen nicht mehr erfaßbaren Endzustand der Geschichte ergeben. Aber fallen wir damit nicht völlig in die „absolute" Relativität, in die extreme Beliebigkeit und damit letzten Endes in die pure Positivität zurück? Darauf ist mit einigen Richtpunkten wie folgt zu antworten: Geschichtlichkeit ist kein defizienter Modus des Menschseins, sondern ein notwendiges inneres Moment, das eine Aufgabe bezeichnet. Der Mensch muß diese Aufgabe positiv übernehmen, sich in der Zeitstruktur des Daseins bewähren — und nicht Geschichte an sich geschehen lassen. Seine Potenz zu freier Selbstverantwortung schließt die Möglichkeit, Geschichte zu machen, ein und damit auch die Möglichkeit, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Sodann darf die Dreidimensionalität der Geschichte nicht verkürzt werden. Der Mensch lebt aus Vergangenheit in Gegenwart auf Zukunft hin. Deshalb ist es dem Menschen zum einen notwendig verfügt zu erkennen, wie es gewesen ist und wie Gegenwärtiges geworden ist. Das schließt ein die Möglichkeit einer Hermeneutik geschichtlicher Erfahrungen, konkret im Blick auf Recht und Unrecht, auf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Er ist in der Lage, Erkenntnisse zu artikulieren, die im Kampf gegen Ungerechtigkeit gewonnen wurden. Im Grunde ist Gerechtigkeit, wie Peter Noll es treffend formuliert hat, „UnUngerechtigkeit" 6 . Was ist überhaupt das, was man über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sagen kann, anderes als der Niederschlag konkreter historischer Erfahrungen, die im Rechtsbewußtsein perzipiert und in bestimmte Rechtsinstitute umgesetzt bzw. in Rechtsgrundsätzen formuliert wurden? Aber der Mensch ist auch auf die Zukunft verwiesen, er muß seine Herkünftigkeit mit der Zukünftigkeit vermitteln und dabei auch in Rechnung stellen, daß er (nur) ein Glied in der Generationenfolge ist, daß ihm die Sorge für „intergenerationelle Gerechtigkeit" aufgetragen ist. Er muß Vorausentwürfe entwickeln, in denen seine Vorstellungen von der besseren Gerechtigkeit Niederschlag finden. Insofern steht Gerechtigkeitsreflexion notwendig in diesem geschichtlichen Horizont. Sie verfehlt aber ihre Aufgabe, wenn sie sich orientiert an einem utopischen, wirklichkeits- und geschichtsenthobenen Absolutum. Deswegen ist das, was sich aus der historischen Erfahrung ergibt bzw. was hier und heute an Zielvorstellungen entwickelt wird, mitnichten etwas Relatives im Sinne von Gleich-Gültigem und Beliebigem. Es geht um das Unbeliebige, das Verbindliche und Unverfügbare — ohne daß dies allerdings 'Diktate über Sterben und Tod, Zürich 1984, 231. Reflexionen über Gerechtigkeit 45 in einem streng metaphysischen Sinne als geschichtsenthoben un-bedingt, herausgelöst aus gesellschaftlich-politischen Bedingtheiten, mithin als absolut qualifiziert werden könnte. So ist es auch zu verstehen, wenn wir von irreversiblen Prozessen sprechen, von Prozessen, in denen Verfeinerungen im Bewußtsein der Freiheit ebenso wie im Bewußtsein der Gerechtigkeit gewonnen wurden, hinter die man nicht zurück kann. Gewiß, faktisch kann man dahinter zurück; aber eben doch nur, wie die Geschichte lehrt, um den Preis des Rückfalls in die Barbarei, des Verlustes von Rechtskultur. Wenn von der ethischen Dimension der Gerechtigkeit gesprochen wird, so ist damit zweierlei gemeint. Zum einen bezeichnet sie den Zusammenhang zwischen dem Juridischen und dem Moralischen in deren eigentümlicher Spannungslage zwischen den Extremen von Identifikation und Beziehungslosigkeit. Gerechtigkeit steht im Kondominium von Moralphilosophie und Rechtsphilosophie. Doch soll es hier eher auf einen zweiten Aspekt ankommen: Gerechtigkeit ist und bleibt eine Kardinaltugend. Gerechtigkeit ist sittliche Tüchtigkeit, sittliche Grundkraft. Nicht von ungefähr haben die alten Gerechtigkeitslehren der Gerechtigkeit im subjektiven Sinne einen starken Akzent gegeben. Sie haben damit klargestellt, daß die sittliche Tüchtigkeit der unaufhörlichen und gleichsam bohrenden willentlichen Anstrengung bedarf. Gerechtigkeit ist nicht ohne spezifischen Willen zur Gerechtigkeit, sie fordert eine spezifische Haltung. Damit wird Gerechtigkeit als eine Aufgabe qualifiziert, als normative Anforderung an menschliches Erkennen und Handeln. Sie kommt nicht automatisch zustande, sondern es bedarf immerzu des engagierten Einsatzes. Gerechtigkeit ist also offenbar nicht etwas, was einfach zuhanden, verfügbar und in einem schlichten logischen Kalkül anwendbar ist. Was Gerechtigkeit jeweils ist, muß konkretisiert und determiniert werden. Bei Thomas von Aquin heißt es: „iustum dicitur aliquid ad quod terminatur actio iustitiae" 7 — Gerechtes wird genannt das, worin die Tätigkeit der Gerechtigkeit ihren Abschluß findet. In umfassenderer Perspektive gesagt: Wir haben Gerechtigkeit nie hinter uns, sondern vor uns. Wie der Mensch unterwegs ist zur Wahrheit, so ist er unterwegs zur Gerechtigkeit. Die ethische Dimension verweist schließlich darauf, daß Gerechtigkeit als Aufgabe in unsere Verantwortung gegeben ist. Es wird also nicht nur an unseren „guten Willen", die „gute Meinung" und Gesinnung appelliert, sondern praktische Verwirklichung gefordert, für die man einstehen muß. So ist Gerechtigkeit wesentliches Element einer Verantwortungsethik und, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, einer Verantwortungsjurisprudenz. Vielleicht darf man sogar von „Verantwortungsgerechtigkeit" sprechen. Eine spezifische Komponente der ethischen Dimension kommt ins Blickfeld, wenn im Gefolge von John Rawls der Begriff der Fairneß hier einge7 S. Th. II-II qu. 57,1. 46 Alexander Hollerbach ordnet wird 8 . Gewiß betrifft er nicht nur die subjektive Haltung, sondern ist ein Grundsatz mit objektiv-institutioneller Relevanz. Doch findet er sein eigentliches Gepräge durch seine Hinordnung auf Verpflichtungen, die aus einer Übernahme von Verantwortlichkeiten oder auch nur aus dem Genuß von Vorteilen folgen. Man kann, im Hinblick auf bestimmte Konstellationen, geradezu „Solidarität" dafür einsetzen. Das ethische Gegenwesen ist natürlich die Ungerechtigkeit, aber vielleicht noch mehr, zumindest in gleicher Weise, die Selbstgerechtigkeit, die sich jeder kritischen Frage enthoben glaubt oder die wähnt, man könne Gerechtigkeit als fix und fertigen Besitz haben. Zur Kennzeichnung der politischen Dimension der Gerechtigkeit läßt sich an die aristotelische Aussage anknüpfen, wonach die Gerechtigkeit etwas Politisches sei'. Damit wird hervorgehoben, daß die Gerechtigkeit der Sache nach in Beziehung zu dem Telos des politischen Gemeinwesens steht, nämlich das gute Leben der Menschen zu ermöglichen, und daß sie von daher ein Richtmaß erhält. Zum anderen verweist uns aber die politische Dimension der Gerechtigkeit darauf, daß sich Findung und Herstellung von Gerechtigkeit nicht in der Sphäre theoretischer Reflexion vollzieht, sondern daß sie vielmehr mit Hilfe politischen Handelns verwirklicht werden muß und damit dem politischen Prozeß unterworfen ist. Um Fragen der Gerechtigkeit wird gestritten, über Fragen der Gerechtigkeit wird abgestimmt, darüber werden sogar — horribile dictu — Kompromisse geschlossen. Hier ist dann aber auch der Ansatzpunkt für den Gedanken, daß Organisation und Verfahren so gestaltet sein müssen, daß sie diesem Prozeß der Findung und Herstellung von Gerechtigkeit dienlich sind. Das alles ist nicht anstößig, wenn man sich von der Vorstellung löst, als sei Gerechtigkeit ein realitätsfernes Abstraktum oder Absolutum. Wenn die Frage nach der Gerechtigkeit eine Antwort findet, so handelt es sich allerdings immer nur um eine Teilantwort, die überholbar bleibt und kritischer Prüfung ausgesetzt ist. Man kann sich fragen, ob mit dieser Trias von Anthropologie, Ethik und Politik als grundlegenden Dimensionen der Gerechtigkeit alles Wesentliche erfaßt ist. Weitere Differenzierungen sind möglich. Ökonomie und Ökologie wären vorrangig zu nennen. Doch handelt es sich dabei um Aspekte, die in die genannten Grund-Dimensionen eingebracht werden können. In einem zweiten Gedankenschritt werden Erwägungen zu unterschiedlichen Formen von Gerechtigkeit angestellt, von Elementen, Aspekten oder Sinnschichten, wie man vielleicht auch sagen könnte. Dabei ist allerdings zu be'Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1975, bes. 27-34. 'Eindringlich dazu Joachim Ritter, „Naturrecht" bei Aristoteles, Stuttgart 1961, 14-31. Reflexionen über Gerechtigkeit 47 tonen, daß es sich nicht um Gerechtigkeiten im Plural handelt, vielmehr um die eine Gerechtigkeit in differenten Gestalten, Formen und Ausprägungen. Bernd Riithers sagt zwar: „Die Verwendung des Singulars ... deutet in aller Regel den Anspruch des Verwenders an, den Inhalt zentraler überpositiver Rechtsprinzipien mit selbst ernannter Autorität und Kompetenz allein zu definieren" 10 . Man wird aber, so ist zu hoffen, leicht erkennen, daß dieses harte Verdikt den vorliegenden Versuch nicht trifft. Es dürfte vertretbar sein, im Rahmen dieser Reflexionen kein weiteres Wort zu verlieren über die Gleichheits-Gerechtigkeit mit den beiden geläufigen Formen der iustitia commutativa und der iustitia distributiva. Deren Struktur und Verhältnis zueinander ist übrigens kaum anderswo schöner beschrieben als in Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie n . Aber gerade, wenn man dieses Werk gewissermaßen zur Folie nimmt, fällt auf, daß eine dritte, ja eigentlich die erste klassische Form, nämlich diejenige der iustitia legalis weithin in Vergessenheit geraten ist. Dieser Blickverengung gilt es entgegenzutreten. Die iustitia legalis betrifft die grundlegende Achtung vor dem Gesetz, dasjenige, was der Mensch als Mitglied der Gemeinschaft dieser schuldet und was eben im einzelnen durch das Gesetz bestimmt ist. Aber dieses ist damit keine bloß formale Größe. Vielmehr muß man, jedenfalls auf der Spur des Aristoteles, die teleologische Perspektive mitdenken. Der Gesetzgeber muß die Sinnerfüllung der Polis ermöglichen, und insofern ergeben sich daraus auch Anforderungen und Grenzen. Thomas von Aquin hat das später zur Gemeinwohl-Gerechtigkeit 12 weitergedacht und damit auch die besondere Gerechtigkeitsverantwortung der Regierenden ins Blickfeld gerückt. Man wird hier aber noch einen Schritt weitergehen müssen. Gerechtigkeit erschöpft sich keineswegs in der Lösung des Gleichheitsproblems im Sinne guter Verteilung und guten Ausgleichs von Gütern und Lasten. Sie darf keinesfalls darauf reduziert werden. Klassische Denkfiguren wie „iustum pretium", „bellum iustum" oder „iusta causa" verweisen auf eine tieferliegende Problemschicht. Auch unser Sprachgebrauch gibt uns einen Fingerzeig. Wir sprechen etwa von „kunstgerecht", von „kind- bzw. altersgerecht", von „mundgerecht"; es gibt geradezu eine Hypertrophie in der Verwendung des Wortes „gerecht". In alledem geht es um materiale Richtigkeit, also um dasjenige, was sachlich angemessen, was sachlich gerecht-fertigt ist, wofür sich legitimierende Gründe finden lassen. Kurzum: Es geht um Sach-Gerechtigkeit, und sie ist der Gemeinwohl- wie der Gleichheitsgerechtigkeit fundierend vorgelagert. Gerechtigkeit erscheint hier als Entsprechung zu einem vorgegebenen oder 10 Rüthers (Anm. 4), 78. jetzt Gesamtausgabe, Bd. 2: Rechtsphilosophie II, bearbeitet v. Arthur Kaufmann, Heidelberg 1993, 258f. 'Treffend dazu Arno Anzenbacher, Art. Gerechtigkeit, in: Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., 1980, 875f. 11 Vg1. 48 Alexander Hollerbach näher festzusetzenden Maß und den daraus folgenden Anforderungen. So ist entscheidend die Maß-Vorgabe, die den werthaften Sinn der Sache konstituiert. Die Sache, im umfassenden Sinne von Regelungsobjekt verstanden, kann natürlich nur dann Ziel und Maß sein, wenn sie normativ-werthaft strukturiert, wenn sie als bonum qualifiziert ist. Sache meint mithin nicht das factum brutum roher Faktizität, nicht Sache als naturale, sondern als bonum und damit als ein Bestand aus faktischen und normativen Momenten. Entscheidend an dieser Betrachtungsweise ist, daß Faktum und Wert nicht zwei Welten angehören, sondern in konkreter Wirklichkeit koexistieren, vermittelt durch das Bewußtsein und die Be-Wertung der Menschen, die freilich ihrerseits nicht freischwebend-beliebig erfolgen darf, sondern unter Berücksichtigung von Ist-Strukturen, von Elementen naturaler Basis. Gewiß, man muß sich insoweit vor dem naturalistischen Fehlschluß hüten; aber auch ein sozusagen anti-naturalistischer Fehlschluß wäre verfehlt. Diese Betrachtungsweise führt dann allerdings in der Tat auf die Frage nach für solche Werthaftigkeit konstitutive Grundüberzeugungen, nach Grundwerten, aus denen sich Maßstäbe für Gerechtigkeit ergeben, zurück. Doch ist man damit nicht wieder am gleichen Punkt angelangt wie alle Naturrechtslehren oder wie beispielsweise auch Gustav Radbruch in seiner Gerechtigkeitskonzeption? Was Radbruch anlangt, so führt allerdings die Kategorie „Sachgerechtigkeit" über seine Konzeption hinaus, weil in dieser Betrachtungsweise nicht wie bei ihm zwischen formaler Gerechtigkeit und materialer Zweckmäßigkeit getrennt wird". Vielmehr wird das materialinhaltliche Problem schon in der Gerechtigkeit selbst angesiedelt, wenn man von Sach-Gerechtigkeit spricht. Die vorliegende Konzeption führt über sonstige Gerechtigkeitslehren auch insofern hinaus, als andere materiale Sinnprinzipien des Rechts, wie insbesondere Freiheit, unmittelbar auf Gerechtigkeit bezogen werden können. Gerechtigkeit ist dann nicht nur von einem Kranz weiterer Sinnprinzipien umgeben, sondern diese haben alle letztlich ihren Brennpunkt in der Gerechtigkeit und stehen in einem spezifischen Verhältnis zu ihr. Sachgerechtigkeit betont schließlich in besonderem Maße, wie das konkret Gerechte im Kontext der Gesamtwirklichkeit aus der Sache und im Hinblick auf die Sache entwickelt werden muß. Das fordert genaue Analyse der Sach- und Problemlage, fordert Berücksichtigung aller maßgebenden Gesichtspunkte und Erwartungen. Sachgerechtigkeit erheischt Hellsichtigkeit, weshalb ihr übrigens das Symbol der Augenbinde äußerst suspekt ist. Diese Grundgedanken haben schon seit langem einen festen Ort im Pro13 Die maßgebenden Texte zu diesen beiden Grundbegriffen (wobei „Zweckmäßigkeit" besser mit „Werthaftigkeit" wiedergegeben würde) jetzt in Band 2 der Gesamtausgabe, 255-263 einerseits, 278-289 andererseits. S. 278 letzte Zeile ist übrigens ein sinnentstellender Fehler zu korrigieren: Es geht gerade nicht um die „empirische", sondern im Gegenteil um die „überempirische" Zweckidee. Reflexionen über Gerechtigkeit 49 blembereich der Strafgerechtigkeit" . Eine Strafe ist nur dann gerecht, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters steht. Von da aus ist der Schritt nicht weit zu einer weiteren Ausprägung des Gerechtigkeitsgedankens, die in unserem rechtsstaatlichen Gefüge mehr und mehr eine beherrschende Stellung einnimmt, nämlich das Prinzip der Verhältnismiißigkeit 15 . Es verkörpert ein Element der Idee der Gerechtigkeit und stellt eine Konkretisierung der Rechtsstaatlichkeit, besonders aber des Schutzgehaltes der einzelnen Grundrechte dar. Insofern kommt diesem Prinzip verfassungsrechtliche Qualität zu. Es gilt für staatliches Handeln in jeder Rechtsform und ist in besonderer Weise maßgebend bei der Bestimmung von Grenzen der Grundrechte. Der entscheidende Grundgedanke zielt auf die Einhaltung einer bestimmten Zweck-Mittel-Relation, die durch drei Momente konstituiert wird, nämlich Geeignetheit, Erforderlichkeit und Proportionalität. Das ist vor allem dem am Polizeirecht geschulten Juristen geläufig. Wir haben hier im übrigen ein schönes Beispiel dafür, wie das Problem der Sachgerechtigkeit in einem Prinzip Ausdruck findet, ohne daß man dem Wort dafür noch den Gerechtigkeitsbezug ansieht. Ethik und Moral brauchen sich um Organisation und Verfahren nicht zu kümmern. Umso mehr liegt hier eine spezifische Aufgabe des Rechts. Es ist deshalb nur natürlich, wenn im Rechtsbereich auch die Frage nach einer Verfahrensgerechtigkeit artikuliert wird. Konkrete Gerechtigkeit muß gefunden, im Widerspiel der Meinungen erstritten und festgesetzt werden. Das macht das Verfahren so wichtig, durch welches dieser Prozeß der Gerechtigkeitserkenntnis und Gerechtigkeitsbildung reguliert wird. Vor Jahren hat Gerd Roellecke einmal geistreich formuliert: „Um die Gerechtigkeit läßt sich nur in einem förmlichen Verfahren herumreden. Nicht von Gerechtigkeit, sondern über das Verfahren sollte man daher reden, wenn man Gerechtigkeit meint'. Man muß dem freilich entgegenhalten, daß es gerade die Idee der Gerechtigkeit selbst ist, die an ein solches Verfahren wiederum bestimmte Anforderungen stelle'. Hier gibt es im Elementarbereich zumindest deren zwei, die interessanterweise in der angelsächsischen Rechtskultur sub titulo HAls Problemhinweis diene der Titel der Arthur Kaufmann gewidmeten Festschrift: „Strafgerechtigkeit", Heidelberg 1993. Darin für den allgemeinen Gerechtigkeitsdiskurs besonders wichtig: Günter Stratenwerth, Wie wichtig ist Gerechtigkeit?, 353-362, und Werner Maihofer, Recht und Personalität, 219-248. 'Kurzorientierung bei Alexander Hollerbach, Art. Verhältnismäßigkeit, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. V (1989) 670f. Aus dem neueren Schrifttum vgl. Rainer Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, München 1989; Manfred Stelzer, Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Wien 1991. 16 Grundfragen der juristischen Methodenlehre und die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins, in: Festschrift für Gebhard Müller, Tübingen 1970, 339. 17 Zum folgenden jetzt grundlegend die von mir angeregte Dissertation von Roland Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit. Studien zu einer Theorie prozeduraler Gerechtigkeit, Paderborn 1992. 50 Alexander Hollerbach „natural justice" erfaßt werden. Einmal geht es um das Prinzip, daß niemand Richter in eigener Sache sein könne, gemäß der Maxime „nemo iudex in causa sua". Zum andern geht es um die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, gemäß dem Grundsatz „audiatur et altera pars". Aber auch weitere Regeln, wie etwa diejenigen über die Befangenheit, sind in dieser Perspektive zu sehen. Darüber hinaus fordert Verfahrensgerechtigkeit eine Verfahrensgestaltung, die es ermöglicht, daß alle zur Erkenntnis der Sachgerechtigkeit notwendigen Gesichtspunkte erkannt und bei der Findung der gesetzgeberischen, verwaltungsmäßigen oder richterlichen Entscheidung berücksichtigt werden können. Gewiß gilt nicht in einem platten Sinne „procedura facit legem sive iustitiam". Aber Gerechtigkeit wächst im Verfahren, das seinerseits Anforderungen gerecht werden muß, die in der Personalität des Menschen ihren Grund haben und die größtmögliche Partizipation der Beteiligten im Sinne einer partizipativen Gerechtigkeit verlangen. Der Blick auf die politische Dimension der Gerechtigkeit führt schließlich zu dem hin, was Otfried Höffe „politische Gerechtigkeit" nennt, Gerechtigkeit als Legitimation und Limitation von Recht und Staat überhaupt'. Sie besteht „in der streng gleichen Einschränkung von Freiheit zum Zweck ihrer allseitigen Sicherung". Sie ist gefaßt im Prinzip der gleichen Freiheit und findet ihre Ausprägung in den elementaren Menschenrechten, die grundlegende Rechtsgüter, die jedem in gleicher Weise zukommen, gewährleisten sollen. Hier schießen also gewissermaßen Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit zusammen und verknoten sich. Das klingt modern, hat aber durchaus historische Wurzeln. So wird man insbesondere darauf verweisen, wie im Vernunftrecht der Versuch gemacht wurde, die klassische Formel vom „suum cuique" näher zu bestimmen und „sua" im Sinne von einem jeden gleichermaßen zukommenden Rechten namhaft zu machen, so etwa Leben, Gesundheit, Ehre, Eigentum". Auf dieser Spur finden wir bekanntlich auch den späten Radbruch. Wir verdanken ihm zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit die bekannte und gerade jetzt wieder so brennend aktuelle Formel': „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch 'Art. Gerechtigkeit (I), in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 11 (1986) 897f.; ausführlicher: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Theorie von Recht und Staat, Frankfurt a.M. 1987. Dieser Problemdimension ist jetzt auch zuzuordnen der eindrucksvolle Entwurf von Jörg Paul Müller, Demokratische Gerechtigkeit. Eine Studie zur Legitimität rechtlicher und politischer Ordnung, München 1993. Vgl. ferner Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kornmunitarismus, Frankfurt a.M. 1994. 'Aufschlußreich dazu zwei Abhandlungen von Karl Olivecrona: Das Meinige nach der Naturrechtslehre, in: ARSP 59 (1973) 197-205; The Term „Property" in Locke's two Treatises of Government, ebenda 61 (1975) 109-115. Reflexionen über Gerechtigkeit 51 dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als 'unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat" 21 . Diese gradualistische Lösung steht indes auf tönernen Füßen, solange an dem streng formalen Charakter der Gerechtigkeit, den Radbruch auch hier zunächst noch betont, festgehalten wird. Aber fast unmerklich ist er in der entscheidenden Passage von „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" davon abgerückt und kommt schließlich zu dem Satz: „Der Rechtscharakter fehlt ... allen jenen Gesetzen, die Menschen als Untermenschen behandelten und ihnen die Menschenrechte versagten" 22 . Erscheint schon hier der Rekurs auf die Menschenrechte als inhaltliche Füllung des Gerechtigkeitsprinzips, jedenfalls hinsichtlich seiner elementaren Basis, so erst recht in der „Vorschule der Rechtsphilosophie". Der Rückgriff auf die Menschenrechte erfolgt dort freilich nicht unmittelbar, sondern auf einem eigentümlichen Umweg. Der unmittelbare wert- oder güter-ethische Ansatz führt nicht zum Ziel einer Überwindung oder Relativierung des Relativismus, den Radbruch auch hier zunächst noch einmal deutlich hervorkehrt; wohl aber der in seiner Substanz Kantische Gedanke, daß dem Menschen unverfügbar sittliche Pflichterfüllung aufgetragen ist und daß die Verwirklichung dieses Postulats Freiheit voraussetzt: „Ethische Pflichterfüllung ist begriffsnotwendig eine Tat der Freiheit und deshalb durch Rechtszwang nicht zu erfüllen. Das Recht kann ethische Pflichterfüllung nicht erzwingen, wohl aber ermöglichen: das Recht ist die Möglichkeit sittlicher Pflichterfüllung oder mit anderen Worten, dasjenige Maß äußerer Freiheit, ohne das die innere Freiheit der ethischen Entscheidung nicht existieren kann". Daraus wird dann die klare Konsequenz gezogen: „Jene äußere Freiheit zu garantieren, ist Wesen und Kern der Menschenrechte"". Das ist denn auch der Punkt, an dem die Selbstkorrektur Radbruchs in bezug auf seine bisherige Konzeption ganz offenkundig wird. Wenn es nämlich wahr ist, daß die Menschenrechte vom Grundwert der Freiheit leben, nicht von dem der Nation bzw. der Macht oder dem der Kultur', dann können Freiheit, Nation bzw. Macht und Kultur nicht 20 Neuestens dazu Robert Alexy, Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, Hamburg 1993; Helmut Lecheler, Unrecht in Gesetzesform? Gedanken zur „Radbruch-Formel", Wien 1994; Arthur Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, in: NJW 1995, 81-86. 2I Zitiert nach Gustav Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 3: Rechtsphilosophie III, bearbeitet von Winfried Hassemer, Heidelberg 1990, 89. 22 Ebd., 90. 'Im gleichen Band der Gesamtausgabe, 146. 24 Dies aber die bekannte Trias der „Werte" in der Rechtsphilosophie von 1932, jetzt in: Gesamtausgabe Bd. 2, Rechtsphilosophie II, bearbeitet von Arthur Kaufmann, Heidelberg 1993, 284. In dem sich daran anlehnenden Text der „Vorschule" (a.a.O. 145, siehe vorige Anmerkung) ist „Nation" durch „Macht" ersetzt. 52 Alexander Hollerbach mehr als oberste Werte gleichberechtigt nebeneinander stehen Damit bricht das bisherige Gebäude in sich zusammen. Die (formale) Gerechtigkeit erhält ihre inhaltliche Strukturierung und Ausrichtung nur durch das Prinzip Freiheit, nicht durch andere Prinzipien, zu denen man sich frei entscheiden kann. Im Rahmen der Erwägungen zur politischen Gerechtigkeit darf schließlich ein besonderer Aspekt hervorgehoben werden, der mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit bezeichnet zu werden pflegt. In der Wendung gegen konservative Besitzstands-Gerechtigkeit und liberale Leistungs-Gerechtigkeit fordert die soziale Gerechtigkeit, wie Walter Kerber präzise darlegt 25 , eine gewisse Gleichheit nicht nur bezüglich der abstrakten Regeln und Normen, sondern auch der konkreten Lebensbedingungen. Aus der wesensmäßigen Gleichheit und Freiheit aller Menschen als Menschen und ihrer solidarischen Verbundenheit wird als sog. Chancen-Gerechtigkeit die doppelte Forderung abgeleitet: negativ nach Überwindung aller rechtlichen und sozialen Diskriminierungen; positiv nach gewissen Hilfen zum Ausgleich von Benachteiligungen. Ins Grundsätzlichere gewendet wird ebenfalls unter dem Stichwort „soziale Gerechtigkeit" im Namen der Menschenrechte ein gleicher Anspruch aller auf eine Grundausstattung mit bestimmten materiellen und immateriellen Gütern gefordert, deren jeder für ein menschenwürdiges Dasein bedarf, so etwas wie Bedürfnis-Gerechtigkeit also. Es ist offenkundig die dem Sozialstaat mit seinen Aufgaben der sozialen Fürsorge, der sozialen Vorsorge und der sozialen Befriedung' (und damit dem gesamten Sozialrecht) zugeordnete Gerechtigkeit — ein, wie Hans F. Zacher eindrucksvoll gezeigt hat, Bündel von Bedarfs-, Leistungs-, Besitzstandsund Chancen-Gerechtigkeit 27 . Sie verweist aber zugleich auch auf globale Zusammenhänge, wie sie in der Perspektive des Welt-Gemeinwohls in Erscheinung treten. Nicht zuletzt wird dadurch die Verknüpfung des Gerechtigkeitsbegriffs mit den Menschenrechten in deren durch die sogenannten Generationen der Menschenrechte' erweiterten Horizont hineingeführt. In alledem ist Gerechtigkeit nicht ein Deduktionsbegriff, aus dem man deduzieren und unter den man schlicht subsumieren könnte. Er ist vielmehr ein rechtsethisches Prinzip im Sinne der kompaßartigen Richtungs- oder WegWeisung und der damit verbundenen Legitimation. "Vgl. die Belege oben Anmerkung 1. 26 Diese Aufgaben werden in eindrucksvoller Klarheit herausgestellt von Ernst Rudolf Huber, Rechtsstaat und Sozialstaat in der modernen Industriegesellschaft (1962), in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, Stuttgart 1965, 249-272, hier 270. 27 Sozialrecht und Gerechtigkeit, in: Rechtsstaat und Menschenwürde. Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1988, 669-691, hier 687. 'Erhellend hierzu Eibe Riedel, Die Menschenrechte der dritten Generation als Strategie zur Verwirklichung der politischen und sozialen Menschenrechte, in: Das Recht auf Entwicklung als Menschenrecht, hrsg. von A. Perez-Esquivel u.a., München — Zürich 1989, 49ff. Reflexionen über Gerechtigkeit 53 IV. Dem Abschluß dieser skizzenhaften Reflexionen an diesem Punkt stellen sich noch zwei Fragekomplexe in den Weg. Der eine wird bezeichnet mit „Grenzen" der Gerechtigkeit und meint die Phänomene Billigkeit'', Gnade und Liebe", auch Verzicht'', Verzeihung und Barmherzigkeit. Führt er schon über die Grenzen der Philosophie hinaus, so erst recht der andere. In ihm geht es um die theologische Dimension, genauerhin um die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit. In dieser Richtung seien noch einige Reflexionen angefügt, zugleich als Beitrag zu dem Gespräch zwischen Rechtsphilosophie und Rechtstheologie. Es ist gewiß so, daß in der abendländischen Geistesgeschichte Theologie und Philosophie ineinander fließen, daß das eine das andere befruchtet, daß — um im Gefolge von Kant mit dem alten Bild der „ancilla" zu spielen — die Philosophie ihrer Herrin bald die Fackel vorausgetragen, bald die Schleppe nachgetragen hat". Aber in bezug auf den Begriff der Gerechtigkeit jedenfalls kann man die eine Form nicht auf das Maß der jeweils anderen bringen. Man kann von menschlich-irdischer Gerechtigkeit nicht Übermenschliches, Welttranszendierendes erwarten — ebensowenig wie man göttliche Gerechtigkeit einfach auf irdische, menschliche Maße herabstufen darf. Aber was läßt sich positiv aussagen?' Was den jüdischen Wurzelgrund anlangt, wie er uns im Alten Testament entgegentritt, so gilt: In dem Bundesverhältnis, in dem Gott und Mensch stehen, schenkt der gerechte Gott Gerechtigkeit im Sinne von Heil, das den ganzen Menschen ergreift. Umgekehrt besteht Gerechtigkeit des Menschen in der Erfüllung der sich aus dem Bund ergebenden Verpflichtungen in bezug auf seine ganze Lebensordnung, in der Erfüllung also des Bundesgesetzes, der Thora. Der Gerechte ist der Fromme, der sich gemäß Gottes Willen verhält. Bund — mit den beiden Polen Zuspruch und Anspruch: das bleibt auch 29 Zur Grundorientierung vgl. Alexander Hollerbach, Art. Billigkeit, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 1(1985) 809-813. 30 Bemerkenswert dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht und Liebe, in: Handwörterbuch religiöser Gegenwartsfragen, hrsg. von Ulrich Ruh — David Seeber — Rudolf Walter, Freiburg 1986, 386-390. 31 Grundlegend dazu Norbert Brieskorn, Verzicht und Unverzichtbarkeit im Recht, Stuttgart 1988. 32 Der Streit der Fakultäten: Werke in 6 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VI (1964) 290f. 33 Zum folgenden vgl. die in Anmerkung 1 angeführten Arbeiten von Walter Kerber sowie die in Band 17 von „Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft" enthaltenen Beiträge von Claus Westermann und Bernhard Spörlein über Gerechtigkeit im Alten bzw. Neuen Testament (a.a.O. 12-19). Zur Grundorientierung wertvoll ferner Walter Kornfeld — Herbert Vorgrimler — Josef Pieper, Art. Gerechtigkeit (des Menschen), in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. IV (1960) 711-715, und Otto Kuss — Karl Rahner, Art. Gerechtigkeit Gottes, ebenda 715-718. Alexander Hollerhach 54 für das in der biblischen Botschaft des Neuen Testaments gegründete Christentum der maßgebende Grundsachverhalt. Aber durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und sein im Kreuzestod kulminierendes Heilshandeln einerseits, durch die Theologie des Paulus andererseits kommt es zu einer Um- und Neuakzentuierung. Der Gesetzes-Gerechtigkeit des Alten Testaments wird die Rechtfertigung, d.h. die Gerecht-Machung durch Gott aus dem Glauben an Jesus Christus gegenübergestellt. Gerechtigkeit ist dann primär nicht Leistung oder sozusagen „iustitia legalis", sondern die Gerechtigkeit, die den Menschen durch Gnade vor Gott gerecht macht, ihm also Heil verschafft. Der Mensch, auf sich gestellt, kann in seiner Sündhaftigkeit immer nur annähernd Gerechtigkeit verwirklichen. Aber er bleibt unter der Anforderung, je bessere Gerechtigkeit anzustreben. So hat man den Schlüsseltext bei Matthäus 5,20 zu verstehen: „Dico enim vobis: quia nisi abundaverit iustitia vestra plus quam Scribarum et Pharisaeorum, non intrabitis in regnum caelorum": Wenn eure Gerechtigkeit nicht viel besser oder „weit größer" 34 als diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer ist, wenn sie, so darf man vielleicht sagen, nicht abundant ist, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Dabei muß natürlich bedacht werden, daß sich dies auf das Gottesund Nächstenverhältnis im ganzen bezieht; eine Unterscheidung zwischen juridischer, moralischer und religiöser Gerechtigkeit ist hier nicht im Blick. Mit alledem ist im Verhältnis zu den Kategorien und Formeln aus der griechischen Philosophie und dem römischen Recht eine tieferliegende und übergreifende Dimension zutage getreten, die bis heute und immer wieder neu Beachtung erheischt, die es im Grunde freilich nur erlaubt, den Begriff Gerechtigkeit in bezug auf Gott und seinen Bund mit den Menschen analog - und das heißt ähnlich, aber noch mehr unähnlich - anzuwenden. Auf der anderen Seite aber hat sich christliches Denken hinsichtlich des Gerechtigkeitsproblems in Recht und Moral nicht ausgeklinkt, sondern hat die Reflexions- und Theoriegeschichte mitgetragen. Zu erinnern ist vornehmlich an Thomas von Aquin, der seinerseits Aristoteles rezipiert und in den „Hegungsraum" (Josef Pieper) von Theologie und Kirche eingebracht hat. In der katholischen Moraltheologie und Soziallehre hat die Theorie von der Gerechtigkeit eine feste Heimstatt. Beiträge kommen aber natürlich auch aus der evangelischen Sozialethik. Ein bemerkenswertes neueres Zeugnis dafür ist die Denkschrift der EKD über „Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft" 35 . Zu Recht wird hier ein Abschnitt über „Gerechtigkeit und Gemeinwohl" so eingeleitet: „Im Begriff der weltlichen Gerechtigkeit bündelt sich das Erbe ethischen Bewußtseins seit der Antike. In ihm verbinden sich humane Vernunft und christliche Ethik in einem unaufgebbaren Grundanliegen". Es wird aber auch über das Verhält34 So 35 2. die Übersetzung der Jerusalemer Bibel. Auflage, Gütersloh 1991. Die beiden nachfolgenden Zitate 106 und 108. Reflexionen über Gerechtigkeit 55 nis von weltlicher Gerechtigkeit und — wie es heißt — Glaubens-Gerechtigkeit reflektiert und dies mit dem Ergebnis: „Die christliche Freiheit ist die Freiheit von der Sorge um die eigene Gerechtigkeit vor Gott. Sie befreit und leitet an zur tätigen Liebe ... Das gilt auch für den Umgang mit weltlicher Gerechtigkeit. Insofern gibt es einen unlösbaren inneren Zusammenhang zwischen der Glaubens-Gerechtigkeit und dem Verständnis und der Praxis sozialer Gerechtigkeit". Nicht zu vergessen ist schließlich, daß Gerechtigkeit zusammen mit Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu einem großen ökumenischen Losungswort geworden ist. Es bleibt die Schlußfrage, ob sich dies im Hinblick auf eine Rechtstheologie ausmünzen läßt. Zwei Grundgedanken sind es, die hier die Richtung für weiteres Nachdenken bestimmen können und müssen: Grundkategorie eines in rechtstheologischer Perspektive fundierten Gemeinschaftslebens ist nicht das Individuum, nicht die Person in ihrer Rechtssubjektivität, sondern der Nächstem in seiner Gottebenbildlichkeit und der dadurch begründeten Geschwisterlichkeit aller Menschen. Gemeinschaft dieser Art ist nicht ohne den zu denken, der diese Gemeinschaft gestiftet hat. Aus der sittlichen Botschaft des Mensch gewordenen Gottessohnes empfängt diese Nächsten-Gemeinschaft ihre Regeln. Und die zweite Gedankenreihe: Auch für eine solchermaßen nächstenrechtlich geordnete Gemeinschaft ist Gerechtigkeit in all ihren Dimensionen, Aspekten und Gestalten relevant; doch muß sie unterfangen sein durch die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Hier begegnen sich menschliche und göttliche Gerechtigkeit. 36 Hier ist betont an den Ansatz zu erinnern, den Erik Wolf verfolgt hat: Recht des Nächsten. Ein rechtstheologischer Entwurf, Frankfurt a.M. 1958. Instruktiv auch Hans G. Ulrich, Art. Nächste, der, in: Evangelisches Kirchenlexikon, 3. Aufl., Bd. 3 (1992) 598600.