Prof. Dr. Jörg M. Fegert TÄTER UND OPFER BEI SCHOOL SHOOTINGS Darstellung einiger Befunde und der zentralen Debatten im Expertenkreis zum Amoklauf in Winnenden aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht Gastreferat Kinder- und Jugendpsychiatrisches Kolloquium Zentrum Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich 20. Mai 2010 Gliederung • Einführung • Expertenkreis zum Amoklauf in BW • Themenheft Nervenheilkunde: Inhalte • Fazit Datenlage zu Amokläufen Feb. 29, 2000 Mount Morris Township Sept. 28, 2004 Carmen de Patagones March 2000 Brannenburg March 21, 2005 Red Lake March 10, 2000 Savannah Nov. 8, 2005 Jacksboro May 26, 2000 Lake Worth Aug. 24, 2006 Essex Sept. 26, 2000 New Orleans Sept. 13, 2006 Montreal Jan. 17, 2001 Baltimore Sept. 27, 2006 Bailey Jan. 18, 2001 Jan, Sweden Sept. 29, 2006 Cazenovia March 5, 2001 Santee Oct. 3, 2006 Nickel Mines March 7, 2001 Williamsport Nov. 20, 2006 Emsdetten March 22, 2001 Granite Hills March 30, 2001 Gary Nov. 12, 2001 Caro Jan. 15, 2002 New York Jan. 3, 2007 Tacoma April 16, 2007 Blacksburg Sept. 21, 2007 Dover Oct. 10, 2007 Cleveland Feb. 19, 2002 Freising Nov. 7, 2007 Tuusula April 26, 2002 Erfurt Feb. 8, 2008 Baton Rouge April 29, 2002 Vlasenica Feb. 11, 2008 Memphis October 28, 2002 Tucson Feb. 12, 2008 Oxnard April 14, 2003 New Orleans March 13, 2009 Winnenden April 24, 2003 Red Lion Sept. 17, 2009 Ansbach Sept. 24, 2003 Cold Spring Zur Situation in Deutschland • Amokläufe an Schulen – Meißen (1999): Amok? – Brannenburg (2000): Amok? – Eching (2002): Counterstrike Spieler – Erfurt (2002): LKA Thüringen: Ego-Shooter „waren nicht ausschlaggebend“ – Coburg (2003) – Emsdetten (2006): Counterstrike – Winnenden (2009): Ego-Shooter – Ansbach (2009): keinerlei gewalttätige Videospiele http://www.killology.com/ In neunzehn Minuten kann man den Rasen vor dem Haus mähen, sich die Haare färben, Brötchen backen, sich vom Zahnarzt eine Füllung machen lassen oder die Wäsche für eine fünfköpfige Familie zusammenlegen. Neunzehn Minuten dauert die Fahrt mit dem Auto von der Grenze Vermonts nach Sterling in New Hampshire. In neunzehn Minuten kann man einem Kind eine Gutenachtgeschichte vorlesen oder einen Ölwechsel machen lassen. Man kann eine Meile gehen. Man kann einen Saum nähen. In neunzehn Minuten kann man die Welt anhalten oder einfach von ihr abspringen. In neunzehn Minuten kann man Rache nehmen. Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen -Sonderausschuss „Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen: Jugendgefährdung und Jugendgewalt“, Landtag von Baden-Württemberg, 15. März 2010 -Expertenkreises„Amok“, Landesregierung Baden-Württemberg, 31. März 2009 Vertreter aus Politik, teilweise Opferfamilien und Fachexperten Ziel Identifizierung von Risikofaktoren für Amokläufe an Schulen und Erarbeitung von Schutzfaktoren zur Verhinderung ► Festlegung von Handlungsfeldern ► Erarbeitung eines Handlungskonzeptes 5 Themenfelder – Gewaltprävention bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen – Zugang zu Waffen – Gewaltdarstellung in Medien, u. a. in Computerspielen – Sicherheitsmaßnahmen an Schulen – Stärkung des Erziehungsauftrags der Eltern. •www.baden-wuerttemberg.de/fm7/2028/BERICHT_Expertenkreis_Amok_25-09-09.pdf Risikofaktoren für Amoktaten -Psychopathologische Auffälligkeiten (Hohe Kränkbarkeit, subjektive Wahrnehmung von Kränkungen) -Probleme in der Eltern-Kind-Beziehung (nicht: „broken-homes“) -Schulische Defizite und Probleme -Identifikation mit gewalttätigen Personen oder gewalthaltigen Medien -Verfügbarkeit von Schusswaffen -Affinität für Schusswaffen und Schießerfahrungen - Medienberichterstattung und Kult um die Täter Phänomenologie von „Amokläufern“ an Schulen • Hohe Kränkbarkeit, subjektive Wahrnehmung von Mobbing, narzisstische Persönlichkeitsentwicklung • Aktionsraum Schule • Eltern-Kind-Beziehung (keine Broken Homes aber evtl. Idealisierung und Überforderung) • Psychopathologische Auffälligkeiten • Beschäftigung mit Rache, Gewalt, Amoktaten, prominenten Mördern z.B. im Internet , Gewaltspiele • Leaking oder Andeutung und Anspielung gegenüber Gleichaltrigen bzw. im Internet • Verfügbarkeit von Schusswaffen Psychopathen – ca. 15-25 % der Patienten mit antisozialer Persönlichkeit werden zu den sog. Psychopathen gerechnet aufgrund von Besonderheiten in ihrem Gefühlsleben, so genannten callousunemotional traits Æarrogant, selbstzentriert, manipulativ, oberflächlich-charmant, unfähig zur Empathie, verletzen die Gefühle und Rechte ihrer Mitmenschen ohne ein Gefühl der Reue oder Schuld (Forth & Burke, 1998; Frick, 1998; Hart & Hare, 1997; Lynam, 1996) – extremer Narzissmuss, völlige Empathielosigkeit und auch sadistische Züge, Probleme aus schizophrenem Formenkreis mit paranoiden Wahnvorstellungen, Halluzinationen, etc. Æ narzisstische Persönlichkeitskomponente bei Amoktaten als wesentliches Moment bei Tatentstehung (Allroggen et al., Druck) – Psychopathen erkennen weniger gut Angst und Traurigkeit in der Stimme und im Gesichtsausdruck von Mitmenschen (u. a. Blair, Mitchell, Richell et al., 2002) Æ Fehlen einer wichtigen Voraussetzung für eine wirkungsvolle Aggressionshemmung Aus der Präambel: • Der Expertenkreis • formuliert seine Empfehlungen im Wissen, dass es keine absolute Sicherheit vor Amokläufen an Schulen gibt • ist sich daher bewusst, dass es keine einzelne Maßnahme und kein Bündel für Maßnahmen gibt, die mit hinreichender Sicherheit einen Amoklauf an einer Schule verhindern könnten • Zu Beginn der Diskussion war starker Wunsch nach technischer Aufrüstung von Schulen: Videoüberwachung, Metalldetektoren, schussfeste Türen…. Empfehlung: Der Expertenkreis empfiehlt den Risiken für Amoktaten an Schulen auf mehreren Handlungsebenen zu begegnen: •durch Erfolg versprechende Prävention Risiken verhindern •im Rahmen entschlossener Intervention Schäden begrenzen •mittels intensiver Opferhilfe das Ausmaß lindern bzw. ausgleichen •durch verantwortliche Berichterstattung Opfer schützen und Nachahmungstaten vermeiden Handlungsfelder 1. Prävention 2. Früherkennung 3. Amokandrohungen 4. Opferbetreuung und Nachsorge 5. Waffen 6. Jugendmedienschutz und Medienkompetenz 7. Medienberichterstattung über Amoktaten 8. Sicherheit an Schulen Maßnahmenkatalog zur Prävention von Amoktaten -Ganztagesbetreuung an Schulen -Stärkung außerschulischer Aktivitäten -Schaffung eines positiven Schulklimas -Angemessene Sanktionierung von Fehlverhalten -Verstärkte Einbindung von Bezugspersonen -Verstärkte Kooperation von Institutionen -Erhöhung der Sicherheit an Schulen (Expertenkreis„Amok“, Landesregierung Baden-Württemberg, 31. März 2009) 8 Handlungsempfehlungen 1. Ausbau der schulpsychologischen Beratung sowie deren Qualifizierung 2. Gewaltpräventionsprogramme , Reduktion von Mobbing und Bullying z.B. nach Dan Olweus 3. Stärkung der Medienpädagogik 4. Sicherheit an Schulen – direktes Alarmierungssystem 5. Beratungsmodule für Rat suchende Eltern in typischen Umbruchphasen des Kinderlebens 6. Gewaltprävention im Sportjugendbereich – Modellprojekt Biathlon 7. Vorgezogene Evaluierung zur Umsetzung des neuen Waffenrechts im Land 8. Stärkung der Strafverfolgung im Internet (Sonderausschuss „Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen: Jugendgefährdung und Jugendgewalt“, Landtag von Baden-Württemberg, 15. März 2010) Gliederung Themenheft Auszüge 1. Amokläufe an Schulen (Bannenberg) 2. Ausgewählte Erklärungsmodelle für Amokläufe -Narzistische Persönlichkeitsentwicklung (Allroggen) -Gewalthaltige Computerspiele (Plener) -Verhaltensaktivierende Medikation (Kölch) 3. Einordnung von Androhungen Jugendlicher (Du Bois) 4. Rechtlicher Umgang mit Tathinweisen (Kemper, Fangerau) 5. Bullying und Cyberbulling in Schulen (Spröber) 6. Psychische Folgen für Überlebende (Kirsch, Goldbeck) 7. Präventionsmaßnahmen für „School shooting“ (Fegert) 8. Anleitungen für die Berichterstattung über Amokläufe 1. Amokläufe an Schulen (Bannenberg) „Amokläufe“ aus kriminologischer Sicht Prof. Dr. Britta Bannenberg Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug Justus-Liebig-Universität Gießen Begriffsbestimmung „Amok“ • • • • • • • • (Versuchte) beabsichtigte Mehrfachtötung Häufig auch Suizid, aber nicht zwingend Motiv zunächst schwer erkennbar Täter-Opfer-Beziehung verschieden Oft Vorplanung und Vorbereitung, aber nicht zwingend Tatort Schule, aber nicht ausschließlich/ junge männliche Täter bis etwa 25 Jahre / Einzel- oder Gruppentäter Sogenannte Familienauslöschungen Psychotische Täter (meistens erwachsene Männer, nicht nur Einzeltäter) HIER: Männliche Jugendliche und junge Männer Auswirkungen von Amokläufen Nachahmungstäter Nach dem Amoklauf an der Columbine High School wurden → in den folgenden 50 Tagen in Pennsylvania über 350 Drohungen gegenüber Schulen registriert (Kostinsky et al., 2001) → in den USA insgesamt etwa 350 Schüler verhaftet, weil sie Drohungen gegenüber Schulen ausgestoßen hatten (Preti, 2008). Das Maximum der Drohungen lag an den Tagen 8-10 nach der Anlasstat. Betroffen waren vor allem größere Schulen -nur 18 % der Nachahmer wurden verhaftet -vermehrt ländliche oder Vorstadtschulen -Schule mit einer eher homogenen Bevölkerung → Bei allen Amoktätern zeigten sich Auffälligkeiten, die zur genauen Ursachenprüfung und zur Erörterung von Präventionsmaßnahmen Anlass geben Versuch einer Klassifikation der Täter Täterpersönlichkeit 1 -Ängstliche stille Kinder -Aufmerksamkeitsprobleme -In der Grundschule bereits: Angst vor Gleichaltrigen, Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten („Träumer“) -Später „verstummt“, starren im Unterricht vor sich hin, Versetzungen aus Mitleid und als Belohnung für Wohlverhalten Täterpersönlichkeit 2 -Rückzüglich, still, nicht aggressiv auffällig -Verdacht oder Diagnose erheblicher Persönlichkeitsstörungen (narzisstische Persönlichkeitsstörung, depressive Phasen abgelöst von starken Hass- und Rachephantasien; Schwelgen in der Tatplanung) -Die Täter wissen, dass etwas nicht mit ihnen stimmt Versuch einer Klassifikation der Täter Täterpersönlichkeit 3 -Tagebücher, Aufzeichnungen, Äußerungen gegenüber Mitschülern, Gleichaltrigen ... -Einzelgänger – in der Schule zwingend Kontakt -Äußerungen zu Suizid, Amok, großem Abgang ... „ich werde es tun und nehme noch jemanden mit!“ Täterpersönlichkeit 4 -Unangemessene Kränkbarkeit – fühlen sich grundlos gemobbt -Hass, Ablehnung anderer, nicht nachvollziehbare Rache -Pubertäre Probleme vermischt mit grandiosen Ideen eigener Gewalt -Zum Teil lange Tatplanung, Todeslisten, gedankliche Vorwegnahmen der Tathandlungen (die zum Teil auch ausgeführt werden) – sich steigernde Phasen Versuch einer Klassifikation der Täter Täterpersönlichkeit 5 -Probleme im Umgang mit Mädchen und Sexualität – aus Schüchternheit und Wünschen nach Beziehungen wird Ablehnung und Hass -Eltern wissen oder ahnen, dass ihr Sohn psychische Probleme hat, unternehmen aber nichts -Lehrer bemerken Probleme nicht (unauffällige Schüler) oder sehen aus Hilflosigkeit über die schlechten Leistungen der verstummten Schüler hinweg Amokläufer – Das Bild in der Öffentlichkeit (Vossekuil et al., 2002) • • Einzelgänger → 34 % • Schulversager →5% • Spielt Killerspiele am PC → 12 % • Kurzschlusshandlung →7% • Psychisch Krank → 17 % • Männlich → 100 % Die Gruppe der Jugendlichen Amoktäter ist ebenso heterogen wie die Gruppe ihrer Klassenkameraden oder die ihrer Opfer (O’Toole, 2000; Twemlow et al., 2002). → Es gibt kein typisches Profil des Jugendlichen Amoktäters 2. Ausgewählte Erklärungsmodelle für Amokläufe Narzisstische Persönlichkeitsentwicklungen bei Jugendlichen und ihre Bedeutung bei der Einordnung von so genannten Trittbrettfahrern Dr. Marc Allroggen, J.M. Fegert Wie gefährlich sind Jugendliche, die mit Amok drohen? Dr. Reinmar du Bois, Klinikum Stuttgart Amoklauf - Entstehungsbedingungen • Die Kombination von narzisstischer Störung und erlebter sozialer Zurückweisung ist möglicherweise der entscheidende Faktor in der Entstehung von Amokläufen an Schulen (Twenge und Campbell, 2003, Allroggen und Fegert 2010). Narzisstische Persönlichkeitsstörung gemäß DSM-IV 1. hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit 2. ist stark eingenommen von Phantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Schönheit oder idealer Liebe 3. glaubt von sich besonders und einzigartig zu sein und nur von ganz wenigen besonderen Personen verstanden zu werden 4. verlangt nach übermäßiger Bewunderung 5. zeigt übertriebene Erwartungen, hohes Anspruchsdenken 6. ist in zwischenmenschlichen Beziehung ausbeuterisch, eigennützig 7. zeigt Mangel an Empathie, ist nicht Willens, Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren 8. ist häufig neidisch auf andere oder glaubt andere seien neidisch auf ihn 9. zeigt arrogante überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen Narzisstische Störung bei Jugendlichen • • • • In der Adoleszenz kommt es zu einer zunehmende Ablösung von den realen Eltern und damit auch von den internalisierten Elternrepräsentanzen gewinnen soziale Vergleiche und Beziehungen zu Gleichaltrigen an Bedeutung kommt es zu umfangreichen körperlichen Veränderungen → schnelle Veränderung des aktuelle Selbstbildes → große Diskrepanz von Selbstbild und Idealselbst → vermehrte Schamgefühle, Gefühle der Minderwertigkeit und Versagensängste (Streeck-Fischer, 2009) Narzisstische Störung bei Jugendlichen Symptomatik • Offene Form → die Symptomatik entspricht im Wesentlichen der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung gemäß den Kriterien des DSM-IV-TR • Verdeckte Form → eher depressive Symptomatik mit sozialen Rückzug und abgespaltenen Größenphantasien (Otway und Vignoles, 2006; Streeck-Fischer, 2009; Thomaes et al, 2009). Narzisstische Störungen und Amokläufe Entwicklungsbedingungen → Selbst äußerlich gut oder zumindest hinreichend integrierte Jugendliche mit narzisstischen Störungen erleben sich aufgrund des Größenselbst und ihrer Anspruchshaltung oft als nicht angemessen beachtet. → zunehmende Abwertung anderer und innerliche Rückzug, um das Größenselbst zu schützen und Neidgefühlen abzuwehren (Bleiberg, 1994) → vermehrter Rückzug in eine eigene Welt (Nebenrealität) (Lempp, 2009) → Wegfall von Quellen narzisstischer Zufuhr (Bewunderung durch Andere, realistische Erfolgserlebnisse) → weitere Abwertung Anderer zum Schutz des Größenselbst → zunehmende Isolierung, Identitätsdisffusion und Anfälligkeit zur Identifikation, Auftreten von Suizidphantasien (Cramer, 1995; Mullen, 2004; Fonagy und Bateman, 2008) Narzisstische Störungen und Amokläufe Entwicklungsbedingungen → Identifikation mit Jugendlichen, die Amokläufe begangen haben, da diese in der Darstellung der Medien dem Erleben des narzisstischen Jugendlichen entsprechen → Amokläufe werden damit nachvollziehbar und imitationswürdig (Preti, 2008) → durch die gedankliche Beschäftigung mit Amokläufen und Amoktätern und der Entwicklung eigener Pläne entsteht bereits ein Gefühl der Macht und Überlegenheit (MacCulloch et al., 1983) und das Gefühl von interpersoneller Kontrolle zur Abwehr von Insuffizienzgefühlen (Ronningstam, 2009) → eigene Motive werden dargestellt (Internet, Tagebücher), um die Tat nachvollziehbar zu machen → es wird ein Konsens mit Gleichaltrigen hergestellt, um Motive deutlich zu machen und die Tat damit zu rechtfertigen (Meloy et al., 2001; Preti, 2008). Risikoeinschätzung und Voraussage Erkenntnisse aus früheren School Shootings ÆM.E. O`Toole 1999 (18 nicht benannte Fälle, Expertenbefragung) Æ konkreter Inhalt der Drohungen wichtig Æ (Analog zur Einschätzung der Suizidalität). Æ Oft in der Praxis nichts anderes verfügbar Æ (umgekehrt: in vielen Fällen hat man nicht einmal Drohungen erhalten!) Æ Familiendynamik wichtig, falls bekannt Æ Persönlichkeit wichtig, falls einschätzbar Æ Schulsituation wichtig, Æ Status in der Gruppe wichtig, falls einschätzbar Zusammenfassung der Risikoeinschätzung Æ School Shooters teilen mit unzähligen jungen Menschen das Risikomerkmal Æ soziale Rückzug in die Cyberwelt der Computerspiele und die Entstehung aggressiver „Nebenrealitäten“ ist weit verbreitet Æ ABER: Ein gemeinsamer Umstand, welcher die wirklichen Amokläufer ungleich gefährlicher als viele Trittbrettfahrer macht, ist schließlich, dass die wirklichen Amoktäter vor ihrer Tat die Kommunikation mit ihrer Umwelt abbrechen oder nur noch dem Schein nach aufrecht erhalten Zusammenfassung der Risikoeinschätzung Die Gefährlichkeit einer Verdachtsperson kann Æ anlässlich einer psychiatrischen Untersuchung Æ anhand der genannten allgemeinen und speziell psychiatrischen Risikofaktoren ungefähr eingeschätzt werden. Æ Die psychiatrische Expertise wäre also imstande, eine Risikoprognose zu erstellen, welche den Kreis der wirklich gefährdeten Personen stark eingrenzen könnte. 3. Ausgewählte Erklärungsmodelle für Amokläufe Was wird hier gespielt? School shootings und gewalttägie Computerspiele Evidenz oder Hysterie? Dr. Paul Plener, Prof. Dr. J.M. Fegert Prävalenz USA und Deutschland (D) 90% der amerikanischen Kinder u. Jugendlichen (8-16a) spielen zuhause Videospiele, Über 75 % der Teenager unter 17 spielen Spiele ab 17a >80% bekommen bei Einkäufen Spiele über 17a JIM Studie 2008 – 1208 Jugendliche in D (12-19a) – In JEDEM Haushalt in dem Jugendliche leben gibt es Computer/ Laptop, 96% Internetzugang, Konsolen in 2/3 – 71% d. Jugendlichen haben Computer in Zimmer – 51% Internetanschluss im Zimmer – 45% eigene Spielkonsole – 41% tragbare Spielkonsole Anderson et al., 2008, Feierabend & Rathgeb, 2008 Verfügbarkeit von Medien in deutschen Kinderzimmern (Quelle: KFN, 2009) Spielekonsum in D I Spielekonsum in D II Spielekonsum in D III • • M: 19% FIFA, 16% Need for Speed, GTA, 14% Counter Strike, 9% WOW, 6% Call of Duty, 5 % Age of Empires, Warcraft W: 16% Die Sims, 9% Solitär, 6 % Singstar, 5 % Super Mario, Abenteuer auf dem Reiterhof TOP 5 der Videospielverkaufscharts • PC – 1: Spore – 2: Stalker: Clear Sky – 3: The Sims: Apartment Life – 4: Die Siedler: Aufbruch der Kulturen (no Englisch version or title available yet) – 5: World of Warcraft • Playstation 3 und X-Box 360 – 1: Assassin's Creed - Platinum – 2: Uncharted: Drake's Fortune - Platinum – 3: Grand Theft Auto IV – 4: Mercenaries 2: World in Flames – 5: Resistance - Fall of Man - Platinum KW 37 www.pcgameshardware.com Spielekonsum in D IV Und was sagt die Forschung? Die wissenschaftliche Debatte darüber, ob Mediengewalt Aggressionen steigert, ist im Wesentlichen beendet (Anderson et al., 2003) Es existiert kein schlüssiger Beweis für eine Verbindung zwischen Gewalt in den Medien und gewalttätiger krimineller Aktivität (Savage, 2004) Eine wichtige verbleibende Frage ist, ob die Größe des Effektes groß genug ist, dass man es als Bedrohung für die öffentliche Gesundheit werten muß. Die Antwort scheint „Ja“ zu sein. (Huesmann, 2007) Entgegen der allgemeinen Meinung liefert die aktuelle Literatur keine breite Basis für die Schlußfolgerung, dass Gewalt in den Medien aggressives oder gewaltätiges Verhalten verursacht. (Ferguson, 2009) Metaanalysen • • • Anderson & Bushman (2001) Meta-Analyse – Aggressive Behavior: exp: (21)r= .19 – Aggressive Behavior: non-exp: (13)r= .19 – Aggressive cognition: (20) r=.27 – Prosocial behavior (8) r=-.16 – Aggressive affect: (17) r=.18 Sherry (2001): Meta-Analyse: r=.15 Ferguson (2007): Meta-Analyse: – Aggressive Behavior: exp: (5)r= .29 – Aggressive Behavior: non-exp: (9)r= .15 – Aggressive thoughts: exp.: (12) r=.25 – Aggressive thoughts: non-exp.: (5) r=.13 – Prosocial behavior: exp. (3) r=.30 – Prosocial behavior: non-exp. (3) R=.13 Die Dosis macht etwas zum Gift dosis sola (facit) fiat venenum Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, (* 1493 in Egg bei Einsiedeln; † 24. September 1541 in Salzburg) war ein Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph. Zur Situation in Deutschland Amokläufe an Schulen – Meißen (1999): Amok? – Brannenburg (2000): Amok? – Eching (2002): Counterstrike Spieler – Erfurt (2002): LKA Thüringen: Ego-Shooter „waren nicht ausschlaggebend“ – Coburg (2003) – Emsdetten (2006): Counterstrike – Winnenden (2009): Ego-Shooter – Ansbach (2009): keinerlei gewalttätige Videospiele Seit 1999 ! Gewalttätige Videospiele existieren seit 1981 Geschichte „gewalttätiger“ Computerspiele • • • • 1981: Wolfenstein 1987: Street Fighter 1992: Mortal Kombat 1993: Doom Geschichte „gewalttätiger“ Computerspiele • • • • Counterstrike Rainbow Six Call of Duty GTA Kasuistik Biografische Anamnese • 9-jähriger Junge • Unerwünschtes Kind • Unauffällige Meilensteine der Entwicklung • Bereits auffällig im Kindergartenalter durch Verschlossenheit, aber auch auffällige familiäre Situation • Zuspitzung der Probleme in der Schule: – – – – Hausaufgabenverweigerung Provokation anderer Kinder schnell aufbrausend gewalttätig auf dem Schulhof Kasuistik Familienanamnese • Mutter – 40 Jahre alt – qualifizierter Hauptschulabschluss, kaufmännische Angestellte – Psychische Erkrankung (Sucht), in psychiatrischer Behandlung • Vater - 45 Jahre alt - Hauptschulabschluss, keine Berufausbildung, Gelegenheitsarbeiter, seit längerem arbeitslos - Psychische Erkrankung (Sucht) - Aggressive Ausbrüche, kriminell auffällig gewesen • Eltern trennten sich als Pat. 3 Jahre alt war nach einem massiven Konflikt mit Gewalttätigkeiten • Ältere Halbschwester aus 1. Ehe der Mutter – selbst psychisch krank (Sucht) – Mit 17 Jahren an Krebs verstorben als Pat. 7 Jahre alt gewesen ist Kasuistik Sozialanamnese • Lebt allein bei Mutter, die selbst finanzielle Probleme hat, Hartz IV • Besuch des Hortes, da Mutter in Schwarzarbeit berufstätig und alleinerziehend; 1 Freund im Hort • Keinerlei soziale Kontakte in Schule und im Wohnort • Schule, Hort und Wohnort an getrennten Orten • Freizeit: exzessiv über viele Stunden Playstation, PC-Spiele, Fernsehen, Skateboardfahren, selten Malen und Schwimmen Kasusitik Diagnosen • Achse-I (Klinisch-psychiatrisches Syndrom) – Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Symptomatik • Achse-II (Umschriebene Entwicklungsstörungen) • V. a. Lese-/Rechtschreibstörung • Achse-III (Intelligenzniveau) • Unterdurchschnittliche Intelligenz (Testbefund) • Achse-IV (Relevante körperliche Symptomatik) • Keine Diagnose • Achse-V(Aktuelle assoziierte abnorme psychosoziale Umstände) • Abweichende Elternsituation (Z 60.1) • Tod der Schwester durch Krebserkrankung (Z 61.0) • Psychische Erkrankung eines Elternteils (Z 63.7) • Achse-VI (Globales psychosoziales Funktionsniveau) • Ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung Playstation Spiele des Pat • Freigegeben ohne Altersbeschränkung Ford-Racing 2 • Freigegeben ab 16 Jahren Grand theft auto San Andreas R Grand theft auto Vice city Terminator 3 Rebellion der Maschinen • Unklare Altersgrenzen, aber gewaltverherrlichend Ultimate cheat für Grand theft auto San Andreas Grand theft auto San Andreas Was fasziniert an Terminator? • • • • „Weil man TX (Roboter) hochschmeißen und wegwerfen kann.“ „Weil man mit einer Karre durch die Gegend fahren kann.“ „Weil man ein Raumschiff jagen kann.“ „Weil man auf einen Hubschrauber springen kann und mit einer Minikanone feuern kann.“ • • Terminator 3 - Rebellion der Maschinen Was fasziniert an GTA-Spielen? • • • • • • „Weil man Autos klauen kann.“ „Ständige Fortbewegungsmittel.“ „Weil man gute Waffen hat.“ „Weil man coole Stunts machen kann.“ „Weil man machen kann, was man will.“ „Dass man ganz schön viel Lebensenergie hat.“ Grand Theft auto Vice city Welche Effekte können Videospiele haben? Kurzzeitig – Priming: neuronale Verknüpfung zwischen Stimulus und Kognition- daraus resultieren „automatische“ Verhaltensweisen – Arousal: durch gesteigerte Anspannung verliert man Kontrolle über sozial akzeptables Verhalten – Mimicry: Nachahmungseffekte Langzeitig – Lernen durch Beobachtung: welche Verhaltensweisen sind adäquat – Desensitivierung: Gewöhnung an Bildern von Gewalt etc. – Lernen durch Belohnung: gewalttätiges Verhalten wird im Spiel belohnt Huesmann, 2007 Was wir wissen – und was nicht Aggressive Gedanken und das Betätigen lauter akustischer Signale nehmen kurz nach dem Spielen gewalttätiger Spiele zu! → Nimmt gewalttätiges Verhalten zu? Die „Treffsicherheit“ nimmt durch das Training zu! → Laufen Schüler aufgrund von Videospielen Amok? Jugendliche Amokläufer beschäftigen sich intensiv mit Gewalt, einige Täter haben gewalttätige Videospiele gespielt und sich mit Gewaltphantasien Beschäftigt (nicht nur in Videospielen)! → In welchen Punkten lassen sie sich jenen unterscheiden, die dies ebenfalls tun? („Erdnussbutterproblem“) → Langzeitstudien 4. Ausgewählte Erklärungsmodelle für Amokläufe Medikamentöse Behandlung von gehemmten und depressiven Jugendlichen – Verhaltensaktivierung als Gefahr? Dr. Michael Kölch Aktuelle Fragen bei der Therapie der depressiven Erkrankungen bei Minderjährigen • • • Bestehen spezifische Nebenwirkungen bei Minderjährigen, die durch klinische Prüfungen bei Erwachsenen nicht erkannt werden? „Behavioural toxicity“ Damit ist eine vermehrte Aktivierung des Patienten gemeint, die einen Zusammenhang mit suizidalen Gedanken und Verhalten haben kann (Hammad 2004). ► „Black-box“-warnings durch FDA und EMEA/nationale Zulassungsbehörden Zusammenhänge: depressive Jugendliche und Amoktäter? 1. Depressionen sind häufig ↔ Amoktaten sind selten 2. Bei Amoktätern liegt eine vielgestaltige Psychopathologie zugrunde die nicht mit depressiven Störungen gleichgesetzt werden kann 3. Es gibt eine Ähnlichkeit in manchen Symptomen (z.B. Sozialer Rückzug, Abkapselung, Lerngeschichte von Frustrationen) 4. Der depressive Patient ist eher gehemmt, bei Amoktätern wird diese Hemmung durch Aggressionen durchbrochen Zusammenfassung • • • • • • Aktivierung ist ein Phänomen bei der Behandlung depressiver Patienten mit Antidepressiva Das Risiko für Suizidalität steigt bei jeder Behandlung zu Beginn Bisher gibt es keinen Hinweis, dass Suizide unter SSRI gehäuft sind bei Minderjährigen Post-mortem Untersuchungen geben bisher keinen Hinweis auf evt. Zusammenhänge Amoktaten sind bisher nicht ursächlich auf eine medikamentöse Behandlung zurück zu führen Bei der Behandlung entsprechender Patienten (narzisstische Grundpersönlichkeit, über eine reine Depression hinausgehende Psychopathologie) wird ein entsprechendes Monitoring sinnvoll und angemessen sein. 5. Bullying und Cyberbullying in Schulen Die Bedeutung von Bullying und Cyberbullying für das Schulklima und subjektiv wahrgenommene Kränkungen • Dr. Nina Spröber, Prof. Dr. J.M. Fegert Definition „Bullying“ (II) Scientific concept In summary, despite their disparate nature, most definitions of bullying include körperlich und verbal the notion that bullying includes both physical and verbal aggression, which is indirekte Formen (z.B. jemanden ausschließen, bedrohen) a systematic, ongoing set of behaviour instigated by an individual or a group wiederholt, systematisch of individuals who are attempting to gain power, prestige, or goods. Tactics Einzelpersonen/ Personengruppen might also be directed at the threat of withdrawal of a friendship. Macht, Dominanz, materielle Güter (Espelage & Swearer, 2003, p.368) Definition „Cyberbullying“ (II) Smith et al (2008) ¾ ¾ ¾ ¾ ¾ Klassifizierung nach Art des Medium: durch sms durch e-mail durch instant messages … •„negative or hurtful repetative behaviour, •by the means of electronic communication tools, •which involve an imbalance of power •with the less- powerful person or group being unfairly attacked“ Cyberbullying Prävalenz (Vorkommen) von Bullying (I) 30 25 Direkte Viktimisierung Bullying Bullying: 20 Mal wöchentl.“ • 7% bis 11% „ein 4. Klasse • 17% bis 28% „gelegentlich“ 15 • Zunahme 5. Klasse mit ↑ Alter 6. Klasse 7.Klasse 10 30 Viktimisierung: 25 direkt häufiger als indirekt 20 4. Klasse 15 indirekt: 5% bis 7% „ein Mal wöchentl.“ 5. Klasse 10 6. Klasse direkt: 10% 5bis 11% „ein Mal wöchentl.“ 7.Klasse 0 bis 14% „gelegentlich“ indirekt: 11% ein Mal gelegentlich direkt: 23% bis 25% „gelegentlich“ wöchentlich Abnahme mit ↑ Alter Indirekte 30 Viktimisierung Indirekte25Viktimisierung 5 4. Klasse 0 5. Klasse ein Mal wöchentlich gelegentlich 6. Klasse 7.Klasse 20 15 10 5 0 ein Mal gelegentlich wöchentlich Zeitpunkt der Studie: 1994; Stichprobe: Schulen in Schleswig-Holstein (N = 47 (4,45%) aller Schulen nahmen teil; N = 14 788 (N = 2219 GS; N = 12 569 WS) Folgen und Zusammenhänge (I): individuelle Ebene Ç Internalisierende Verhaltensauffälligkeiten und È geringere Schulleistungen; Ç Suizidrisiko (eg. Kaltiala-Heino, Rimpela, Marttunen, Rimpela & Rantenan, 1999; Williams, Chambers, Logan & Robinson, 1996) Ç externalsierende Verhaltensauffälligkeiten, Delinquenz, Sucht, häusliche Gewalt (z.B. Gottheil & Dubow, 2001; Huesman, Eron, Lefkowitz & Waldner, 1984) Was sollte getan werden? (Smith, Pepler & Rigby, 2005) Zeitpunkt der Intervention: – früh beginnen, denn wenige Kinder haben schon früh stabile Bully-Victim Rollen (vgl. Monks, Smith and Swettenham, 2003) – Ergebnisse / Effekte in Grundschulen besser als in weiterführenden Schulen (Stevens et al.; Hanewinkel et al.) Systemische Perspektive: – peer process wichtig: Bedeutung der Mitschüler wg. unterschiedlicher Rollen, nicht nur auf Bully und Victim konzentrieren – Lehrer & Schulleitung: Schaffung eines Klimas, das prosoziales Verhalten fördert, Kompetenzen der Lehrer im Umgang mit Problemen steigern / positives Klassenmangement zu etablieren Æ in Lehrerausbildung wichtig (Nicolaides, Toda, Smith, 2002) – Wichtig, Eltern einzubeziehen (Olweus, 1993, Spröber, 2007) – Community: teilweise wurden gute Erfolge erzielt (Olweus, 1993) 6. Rechtlicher Umgang mit Tathinweisen Wann ist der Bruch der Schweigepflicht in der Psychotherapie der Krankenbehandlung bei geäußerten Gewaltphantasien oder Sexualphantasien eines Patienten gerechtfertigt? Prof. Dr. Heiner Fangerau Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Dr. Andrea Kemper Prof. Dr. J.M. Fegert Kinder- und Jugendpsychiatrie Vertrauen als Grundpfeiler • Schweigepflicht – vielfältig geschütztes Rechtsgut und Grundpfeiler einer wirksamen Hilfebeziehung • Sollte aber der Therapeut von ernstzunehmenden Plänen seines Pat. erfahren, die einen deutlichen Realitätsbezug aufweisen und er kann Gefahren durch seinen Pat. im Rahmen der Therapie nicht sicher selbst abwenden, ist der Therapeut • a. bei Vorliegen der Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes befugt, • b. bei Planung einer Straftat aus in deutschland abgeschlossenem Katalog des § 138 StGB durch seinen Patienten verpflichtet, seine Schweigepflicht zu brechen, sollte der Patient – oder dessen gesetzlicher Vertreter – nicht von sich aus in die Weitergabe der Informationen einwilligen. Artikel 321 StGB (Schweizer Strafgesetzbuch) Verletzung des Berufsgeheimnisses 1. Geistliche, Rechtsanwälte, Verteidiger, Notare, nach Obligationenrecht zur Verschwiegenheit verpflichteter Revisoren, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Hebammen sowie ihre Hilfspersonen, die ein Geheimnis offenbaren, das ihnen in Folge ihres Berufes anvertraut worden ist oder das sie in dessen Ausübung wahrgenommen haben, werden auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe bestraft. Ebenso werden Studierende bestraft, die ein Geheimnis offenbaren, das sie bei ihrem Studium wahrnehmen. Die Verletzung des Berufsgeheimnisses ist auch nach Beendigung der Berufsausübung oder der Studien strafbar. 2. Der Täter ist nicht strafbar, wenn er das Geheimnis aufgrund einer Einwilligung des Berechtigten oder einer auf Gesuch des Täters erteilten schriftlichen Bewilligung der vorgesetzten Behörde oder Aufsichtsbehörde offenbart hat. 3. Vorbehalten bleiben die eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über die Zeugnispflicht und über Auskunftspflicht gegenüber einer Behörde Artikel 321 bis (Berufsgeheimnis in der medizinischen Forschung) 1. Wer ein Berufsgeheimnis unbefugter Weise offenbart das er durch seine Tätigkeit für die Forschung im Bereich der Medizin oder des Gesundheitswesens erfahren hat, wird nach Artikel 312 bestraft. 2. Berufsgeheimnisse dürfen für die Forschung im Bereich der Medizin oder des Gesundheitswesens offenbart werden, wenn eine Sachverständigenkommission dies bewilligt und der Berechtigte nach Aufklärung über seine Rechte es nicht ausdrücklich untersagt hat. 3. Die Kommission erteilt die Bewilligung, wenn: a) die Forschung nicht mit anonymisierten Daten durchgeführt werden kann b) es unmöglich oder unverhältnismäßig schwierig werde, die Einwilligung des Berechtigten einzuholen c) die Forschungsinteressen gegenüber den Geheimhaltungsinteressen überwiegen Artikel 17 StGB – Rechtfertigender Notstand Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmäßig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt. Kommentierung Donatsch et al. 18. Auflage 2010: Die Gefahr muss unmittelbar und damit auch konkret sein, d. h. sich nur durch ein sofortige Eingreifen abwenden lassen. Hierzu zahlreiche Bundesgerichtsentscheide. Dazu wichtig: Artikel 13 Sachverhaltsirrtum: 1. Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zugunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat 2. Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemäßer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist. 7. Psychische Folgen für Überlebende Dipl.-Psych. V. Kirsch Prof. Dr. L. Goldbeck Prof. Dr. J.M.Fegert Folgen von Amokläufen in Schulen I Bedeutsames Absinken der Schulleistungen nach Traumata beobachtet (z.B. Shannon et al, 1994; Nader et al., 1990) 1 Monat nach Amoklauf in Grundschule (Pynoos et al., 1987) •ca. 60% Vollbild PTBS •ca. 90% unspezifische Symptome Thurston High School Shooting (Curry 2003); n=80 •retrospektive Befragung nach 2 Jahren •Je näher örtlich, desto höhere Prävalenz PTBS •Zusammenhang zwischen emotionaler Verbundenheit mit Schule/Opfern und PTBS Amoklauf Grundschule (Nader et al, 1990); n=100 •nach 1 Monat hohe Prävalenz PTSD, unabhängig von Nähe zum Ereignis •nach 14 Monaten PTBS nur bei Schülern in Seh- und Hörweite Folgen von Amokläufen in Schulen II Evanston School Shooting (Schwarz et al., 1991) •Schulpersonal n=24; 6-8 Monate post-Trauma •Eltern n=42; 8-14 Monate post-Trauma •Kinder n=64; 8-14 Monate post-Trauma •Prävalenz PTBS (UCLA): Erwachsene 19%, Kinder 27% East County School Shooting (Palinkas et al, 2004) n=85 Ausgeprägte PTBS Symptomatik, Probleme mit den Medien, verringertes Schulinteresse, mehr Absentismus, Hoffnungslosigkeit, Wut Columbine High School Shootings (Hawkins et al., 2004) •Interview mit 4 Eltern und 7 Kindern •Symptomatik erst innerhalb der ersten 2 Wochen auffällig •Studie musste abgebrochen werden Folgen einer 2 stündigen Geiselnahme I (Vila et al., 1999) •Durch bewaffneten Mann; keine Verletzten/Toten •EG (im Klassenzimmer): n=26; 6 bis 9,5 Jahre •KG (andere Klasse im selben Schulhaus): n=21; 6-9,5 Jahre •Im ersten Monat zeigen 96% akute Stresssymptome wie akute und posttraumatische Belastungsreaktionen, Ängste, oppositionelles Verhalten, Wutausbrüche,.. •Systematisches Debriefing konnte die Entwicklung einer PTBS nicht verhindern, •Kinder ohne direkte Betreuung und Debriefing zeigten die stärkste Symptomatik Zusammenfassung mögliche psychische Folgen: Posttraumatische Belastungsstörungen -> traumatische Trauer -> stellvertretende Traumatisierung andere Angststörungen (Schulphobie, Trennungsangst,..) Schul-Absentismus Depressionen Leistungsabfall Konzentrationsstörungen sozialer Rückzug oppositionelles und aggressives Verhalten (Palinkas et al, 2004, Shannon et al, 1994; Nader et al., 1990, Vila et al., 1999) Posttraumatische Belastungsstörung: Symptomatik Traumatisches Ereignis Vollbild = subklinisch Mind. 4 Wochen Gleichermaßen behandlungsbedürftig Autonome Übererregung Wiedererleben Vermeidung, emotionale Abstumpfung Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus Wie können wir helfen Systematisches Symptom-Screening Systematisches Symptom-Screening • Betroffene und Umfeld (Geschwister, Freunde, Eltern,..) Identifikation von Kindern und Jugendlichen, die • PTBS, Expositionsgrad und andere brauchen psychische psychotherapeutische Unterstützung Störungen, z.B. Depression Initialisierung evidenzbasierter Behandlung im Einzel-, • akutGruppensetting und wiederholt (z.B. im Verlauf (bisCBITS) mindestens 12 oder TF-CBT, Monate später) Wie können wir helfen Systematisches Symptom-Screening Identifikation von Kindern und Jugendlichen, die psychotherapeutische Unterstützung brauchen Initialisierung evidenzbasierter Behandlung im Einzel-, oder Gruppensetting (z.B. TF-CBT, CBITS) Screeningverfahren für posttraumatische Belastungsreaktionen - I Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS; Foa et al., 1996) •Für Erwachsene (-> Prävalenz und Einfluss z.B. elterlicher PTBS) •an DSM IV Diagnosekriterien der PTBS orientiert •Deutsche Version erhältlich Erfasst: •Traumatyp •Reaktion während bzw. kurz nach dem Trauma •Symptomschwere und Häufigkeit während der letzten 4 Wochen für Index-Trauma •Likert-Skala von 0 (einmal im Monat) – 3 (mindestens 5 Mal die Woche) •1= Kriterium erfüllt •Möglicher Einsatz bei Eltern, Lehrern, Polizisten … Screeningverfahren für posttraumatische Belastungsreaktionen - I Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS; Foa et al., 1996) •Für Erwachsene (-> Prävalenz und Einfluss z.B. elterlicher PTBS) •an DSM IV Diagnosekriterien der PTBS orientiert •Deutsche Version erhältlich Erfasst: •Traumatyp •Reaktion während bzw. kurz nach dem Trauma •Symptomschwere und Häufigkeit während der letzten 4 Wochen für Index-Trauma •Likert-Skala von 0 (einmal im Monat) – 3 (mindestens 5 Mal die Woche) •1= Kriterium erfüllt •Möglicher Einsatz bei Eltern, Lehrern, Polizisten … PDS-D: Traumatyp Bsp. Gruppeninterventionen - Beispiele •UCLA Trauma / Grief Program for Adolescents •Cognitive Behavioral Intervention for Trauma in Schools (CBITS) •Trauma Affect Regulation: Guidelines for Education and Therapy for Adolescents and Pre-Adolescents (TARGET-A) •MMTT: Multimodality Trauma Treatment (aka Trauma-Focused Coping in Schools) •The Safe Harbor Program: A School-Based Victim Assistance and Violence Prevention Program Schluss: Politische Forderungen Kein Aktionismus bei Notfallintervention Waffenkontrolle Anleitungen für die Berichterstattung über Amokläufe Empfehlung nach Analyse des Deutschen Presserats, September 2009 Was getan werden könnte I • Waffengesetz Reform in Australien 1996 nach Port Arthur Massaker (35 Tote, 19 Schwerverletze) • Verschärfung der Waffengesetzgebung: – Verbot von semi-automatischen Waffen und PumpGuns – Keine Verkäufe zwischen Privatpersonen – Strenge Registrierung nach polizeilicher Prüfung der Notwendigkeit – Keine Waffen zur „Selbstverteidigung“ verkauft • „Australian Firearm Buyback“: Über 700 000 Waffen (Population: 12 Millionen) gekauft Chapman et al., 2006 Was getan werden könnte II • – – – – 1979-1996: 13 „mass shootings“ Zuvor durchschnittlich 627,7 Tote/ Jahr durch Waffen Zuvor durchschnittlich 491,7 Suizide/ Jahr mit Waffen Zuvor durchschnittlich 92,9 Morde/ Jahr durch Waffen 1996-2006: – kein „mass shooting“ – Durchschnittlich 332,6 Tote/ Jahr durch Waffen – Durchschnittlich 246,6 Suizide/ Jahr mit Waffen – Durchschnittlich 55,6 Morde/ Jahr durch Waffen Chapman et al., 2006 Was getan werden könnte III • „Dies stellt einen enormen Wandel in der Kultur dieses Landes bezüglich des Besitzes und der Verwendung von Waffen dar. Dies ist ein historisches Abkommen. Es bedeutet, dass dieses Land, durch seine Regierung, beschlossen hat nicht den amerikanischen Weg zu beschreiten. Wir sind keine Waffenkultur, wir sind eine Kultur friedlicher Kooperation“. Premierminister John Howard • In Meinungsumfragen 90-95% Zustimmung • Die bei Abstand populärste Entscheidung im ersten Amtsjahr Chapman et al., 2006 Fokus der Berichterstattung • • • • • • • Opfer Angehörige Täter Augenzeugen Rettungskräfte Täter Journalisten → Gefahr • Traumatisierung und sekundäre Viktimisierung der Opfer • Auslösung von Tatandrohungen • Auslösung von Nachahmungstaten Funktion einer angemessene Berichterstattung • • Erleichterung der Tatverarbeitung Bildung von Schutzfaktoren → Forderung • Schulung der Journalisten zum Thema • Information der Presseorgane durch Krisenteams • Sensible Berichterstattung durch staatliche Institutionen • Unterlassung von „gewöhnlichem“ Gebaren bei Berichterstattung (z.B. Exklusivrechte, Verletzung der Persönlichkeitsrechte) • Keine Heroisierung, Fokussierung auf Tat ohne Detailinformationen • Einhaltung der Personen- und Menschenrechte Fazit • Gewalt wird nicht erlernt, sondern die Kontrolle darüber • Gewalt zuhause reduzieren. Schläge, verbale Mißhandlungen etc. sind starke Prädiktoren für Gewalt • Bescheid wissen mit wem das Kind Kontakte unterhält und wie miteinander während dieser Kontakte umgegangen wird • Den Kindern beibringen einmal tief durchzuatmen und eine kleine Pause zu machen bevor sie handeln Steinberg, 2007 “Veränderung kommt nicht allein durch Worte und Expertenberichte. Veränderung braucht das Verantwortungsbewusstsein und den Mut eines jeden Einzelnen zum gemeinsamen Handeln.“ (Expertenkreis Amok, März 2009) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm www.uniklinik-ulm.de/kjpp Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert