SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Musikstunde „Musik und Erotik“ Folge 2: Erotik in der Oper und im Lied Von Stephan Hoffmann Sendung: Dienstag , 14. Oktober 2014 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde „Musik und Erotik“ Folge 2: Erotik in der Oper und im Lied (14. 10. 2014) Heute mit Stephan Hoffmann. Das delikate Thema dieser Woche beschäftigt sich mit den verschiedenen Aspekten von Musik und Erotik oder auch von erotischer Musik. Heute Teil 2: Erotik in der Oper und im Lied. [Gitarre] Immer wieder gab es Probleme mit der Zensur, der Klerus protestierte heftig und in Berlin gab der sittenstrenge Kaiser Wilhelm die Aufführungs-Genehmigung erst, nachdem in den Schluss von Richard Strauss’ Oper „Salome“ der Stern von Bethlehem, der Vorbote der Heiligen drei Könige, implantiert worden war. Immerhin mutete Strauss seiner Titelfigur zu, auf der Bühne und also coram publico das abgeschlagene Haupt des Propheten Jochanaan zu küssen. Man wird verstehen können, dass Marie Wittich, die Salome der Dresdner Uraufführung im Dezember 1905, die Oper zunächst mit dem Satz zurückwies: „Das tue ich nicht. Ich bin eine anständige Frau.“ Auf diesen Kuss war Salomes Begehren von Anfang an gerichtet und zunächst versuchte sie es auch am lebenden Objekt: „Ich will deinen Mund küssen, Jochanaan.“ Doch Jochanaan ist ein Mann Gottes, ohnehin ein scharfer Kritiker der Unzucht im Hause von Salomes Stiefvater Herodes und deshalb immun gegen erotische Überrumpelungsversuche aller Art. So viel Widerspenstigkeit ist Salome noch nie begegnet, deshalb versucht sie, ihr Ziel – nämlich Jochanaan zu küssen – auf anderem und ziemlich barbarischem Weg zu erreichen. Sie setzt mit ihren erotischen Versuchen bei einem Opfer an, das sich ihren Wünschen leichter fügt: bei Herodes. Der wünscht sich nichts sehnlicher, als dass Salome für ihn tanzt und verspricht, ihr dafür alles zu geben, was sie sich wünscht. Salome lässt Herodes schwören, nach dem Schwur tanzt sie, ohne gesagt zu haben, worin ihre Forderung besteht. Erst nach dem Tanz verlangt sie als Gegenleistung in 3 einer Silberschüssel den Kopf des Jochanaan. Sie hat ihren Willen durchgesetzt und küsst den Mund des Propheten. Hier die Voraussetzung dieses Kusses: Salomes „Tanz der sieben Schleier“. -----------Musik 1: Richard Strauss, Salome. Tanz der sieben Schleier. Wiener Philharmoniker, Dir: Georg Solti. Decca 414 414-2. CD 2, Tr. 3. Dauer: 8’50“ (sehr schnell ausblenden) ------------Die Wiener Philharmoniker unter Georg Solti mit dem Tanz der sieben Schleier aus Richard Strauss’ „Salome“. In der Musikstunde gestern ging es um Don Giovanni und um die Frage, mit welchen Tricks er diese eindrucksvolle Zahl von Frauen ins Bett bekommt. Die Antwort war ziemlich niederschmetternd: Es liegt gar nicht an seiner erotischen Ausstrahlung, sondern einfach daran, dass er jeder Frau das sagt, was sie hören will. Heute stellt sich dieselbe Frage noch einmal, nur die Hauptperson ist eine andere: Lulu, die Titelfigur in Alban Bergs Oper und vielleicht die einzige Opern-Figur, die ihre erotische Wirkungskraft so zielgerichtet zur Erreichung ihrer Wünsche einsetzt wie Salome. Diesmal lautet die Antwort auf die Frage, welche Mittel sie dazu benutzt: Falls Lulu über einen erotischen Trick verfügt, der die Männerwelt reihenweise dazu bringt, ihr zu verfallen, dann wird er zumindest in dieser Oper nicht verraten, das Geheimnis ihrer erotischen Wirkung bleibt im Dunkeln. Der einzige Mann, dem Lulu selber verfallen zu sein scheint, ist Dr. Schön, dem Lulu ihren sozialen Aufstieg verdankt. Am Ende des ersten Aktes aber, in der Szene zwischen Lulu und Dr. Schön, stellt sich heraus, dass es sich in Wahrheit auch hier genau umgekehrt verhält. Dr. Schön weiß gar nicht, wie sehr er Lulu längst verfallen ist. Er glaubt zwar, sie sei sein Geschöpf, das er aus der Gosse geholt hat, er wird von Lulu zunächst auch darin bestärkt, denn sie selber sagt genau das auch. Aber als er ein bürgerliches 4 Mädchen heiraten will, stellt sich heraus, dass er gar keine Chance hat, von Lulu loszukommen. „Sie wissen zu gut,“ singt Lulu, „dass Sie zu schwach sind, um sich von mir loszureißen.“ Am Ende demütigt sie ihn, indem sie ihn zwingt, einen Abschiedsbrief an seine Braut zu schreiben. „Versuchen Sie nicht, mich zu retten,“ lautet der letzte Satz dieses von Lulu diktierten Briefes. Das ist die vielleicht extremste Form erotischer Wirkung: Wenn sie die Macht verleiht, andere Menschen zu vernichten. ------------Musik 2: Alban Berg, Lulu. 1. Akt, 3. Szene. Walter Berry (Dr. Schön), Anja Silja (Lulu). Wiener Philharmoniker, Dir: Christoph von Dohnányi. Archiv-Nr. 338-1416. CD 1, Tr. 12, 0’53“ – 7’39“ Dauer: 6’46“ ------------Walter Berry war der Dr. Schön, Anja Silja die Lulu in der Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern unter Christoph von Dohnányi. Es mag ein Zufall sein, aber es ist ein Zufall mit Symbolkraft: Der erste ambitionierte Liederzyklus der Musikgeschichte heißt „An die ferne Geliebte“. Die Geliebte, noch dazu die ferne, also unerreichbare, ist das Thema des Kunstlieds im 19. Jahrhundert schlechthin. Komponiert hat diesen Zyklus Ludwig van Beethoven im Jahre 1816, und der Zyklus ist noch viel mehr ein Zyklus als vergleichbare Werke von Schubert oder Schumann, als die „Winterreise“ oder die „Dichterliebe“. Nicht nur, dass die sechs Lieder von Beethovens Zyklus eine enge inhaltliche Verbindung haben – eben die „ferne Geliebte“ -, sie sind außerdem, und das ist anders als bei Schubert oder Schumann, ohne Unterbrechung komponiert. Es geht um Liebe, um Sehnsucht, um Trennung, um Liebesglück und Liebesqual, wir sind also mittendrin im ThemenBegriffsfeld des romantischen Liedes. Und gleichzeitig auch mittendrin in der Erotik des romantischen Liedes, die viel mit der Lust an der Entsagung zu tun hat: „Ach, den Blick kannst du nicht sehen, der zu dir so glühend eilt, und die Seufzer, sie verwehen in 5 dem Raume, der uns teilt.“ Und weil Beethovens Zyklus ein wirklicher Zyklus ohne Unterbrechung ist, müssen wir ihm aus Gründen der Zeitökonomie Gewalt antun und nach dem zweiten Lied abbrechen. -------------Musik 3: L. v. Beethoven, „An die ferne Geliebte“. Julian Prégardien, Tenor; Christoph Schnackerts, Klavier. Archiv-Nr. 12-065128. Tr. 1, nach 4’19“ rasch ausblenden. Dauer: 4’19“ -----------Der Tenor Julian Prégardien, begleitet von Christoph Schnackerts, mit dem Beginn von Beethovens Zyklus „An die ferne Geliebte“. 100 Jahre nach dieser romantischen Form der Erotik hatten sich E- und U-Musik getrennt, die Texte hatten deutlich an erotischer Direktheit gewonnen, um es anders zu sagen: aus feinsinnigen erotischen Andeutungen war deftigere Dichtung geworden. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich es bedauere, dass ich von folgendem Schlager aus den frühen 1920er Jahren keine Aufnahme auftreiben konnte: „Wenn man’s noch nie gemacht, lernt man’s in einer Nacht, dann ist man glücklich, dass man’s kann! Wenn man’s einmal gemacht, macht man’s dann jede Nacht, drum, kleines Mädel, fang heut noch an.“ Friedrich Rückert meinte vermutlich etwas ganz Ähnliches, allerdings hat er es doch deutlich poetischer ausgedrückt. Auch bei ihm ist genau wie bei Beethoven von Liebeswonnen und Liebesschmerz die Rede. Rückert schrieb sein Gedicht „Widmung“ 1821 als Liebeserklärung an seine Frau Luise, Schumann komponierte es mit genau derselben Intention für seine Frau Clara, die er 1840 gegen den Willen ihres Vaters heiratete, der den beiden Brautleuten lange ziemlich große Schwierigkeiten gemacht hatte. In dieser Zeit muss Schumann im siebten Himmel gewesen sein; 1840 ist das sogenannte Liederjahr, in dem Schumann jubelnd ein Liebeslied nach dem 6 anderen schrieb. Der Zyklus „Myrten“, dessen erstes Lied eben die „Widmung“ ist, besteht nur aus Liebesliedern: „Du meine Seele, du mein Herz, du meine Wonn’, o du mein Schmerz.“ ------------Musik 4: Robert Schumann, Widmung. Olaf Bär, Bariton; Geoffrey Parsons, Klavier. Archiv-Nr. 19-052519. Tr. 15. Dauer: 2’07“ ------------Robert Schumanns „Widmung“ mit Olaf Bär und mit Geoffrey Parsons am Klavier. Während Schumann seine ganz persönliche und ganz sicher auch erotisch geprägte, aber sehr dezent formulierte GlücksSituation besang, handelt es sich bei Walther von der Vogelweides so genanntem Lindenlied ähnlich wie beim Schlagertest von vorhin um Erotik der etwas derberen Art; was allein schon deshalb erstaunlich ist, weil es sich um eine IchErzählerin handelt. Mit der im Minnesang sonst verehrten hohen Frau, die für den Dichter in der Regel unerreichbar ist, hat die Erzählerin aus dem Lindenlied wenig zu tun: „O wollte doch keiner, was wir trieben, erfahren je, nur er und ich und noch ein kleines Vögelein: tandaradei!“ Wie das Lied vor 800 Jahren klang, wissen wir nicht genau; aber wir wissen, wie es bei Engelbert Humperdinck klingt, der Walther von der Vogelweides Text im Stil seiner romantischen Zeit in Töne setzte. -------------Musik 5: Engelbert Humperdinck, Unter der Linde. Sibylla Rubens, Sopran; Uta Hielscher, Klavier Archiv-Nr. 12-45619. CD 1, Tr. 8. Dauer: 3’32“ -------------Sibylla Rubens war das, von Uta Hielscher am Klavier begleitet, mit Walther von der Vogelweides erotikprallem Lied „Unter der Linde“ in der Vertonung Engelbert Humperdincks. Der Ton der Musik und der des Textes mögen sich je nach Zeit und je nach Genre ändern, das Thema bleibt im Grunde dasselbe. 7 Das intime Lied, also das gesungene Wort, eignet sich wie kaum eine andere musikalische Gattung – die Oper vielleicht ausgenommen – für die Vermittlung emotionaler, vor allem auch erotisch gefärbter Gefühlszustände. Nehmen wir als Beispiel Elvis Presleys Mega-Hit „Love me tender“ von 1956. Hier kommt allerhand zusammen: Zunächst einmal der Text: „Liebe mich zärtlich, liebe mich süß, lass mich niemals gehen.“ Dann aber auch die Musik, die genau so klingt, wie es die Textworte nahe legen. Und schließlich die Bühnenpräsenz des Sängers, der selber als Sex-Symbol galt und sich auf der Bühne auch genau so verhielt. Jedenfalls dürfte dieses Lied bei Tanzveranstaltungen um 1960 in Teenager-Gemütern mehr erotische Gefühle ausgelöst haben als die allermeisten anderen. Den Hysterie-Exzessen dieser Zeit waren Tür und Tor geöffnet. ------------Musik 6: Elvis Presley, Love me tender. Archiv-Nr. 96-092405. CD 1, Tr. 6. Dauer: 2’41“ ------------„Love me tender“, einer der größten Hits von Elvis Presley. Dieselbe Zeit, also die späten 1960er Jahre: Studentenbewegung und Woodstock, politischer Protest, freie Liebe und als deren erotische Ausdrucksform die Flower Power-Bewegung – ein Symbol dieser Zeit und wie Presleys „Love me tender“ längst in den Olymp der Popmusik aufgestiegen ist der Beatles-Titel „All you need is love“, der auch deshalb zum Super-Hit wurde, weil er dem Lebensgefühl einer ganzen Generation Ausdruck verlieh. ------------Musik 7: The Beatles, All you need is love. Archiv-Nr. 360-5235. Dauer 3’44“ ------------Die Beatles und „All you need is love“. Vom Leiden an der Liebe, von der Lust an der Entsagung, die durchaus ein sehr erotisches Gefühl sein kann, war heute schon mehrfach die Rede – wenn auch nicht bei den Beatles. Wohl am 8 prominentesten wurde die Verbindung von Sehnsucht, Liebe, Lust und Leid – sozusagen allesamt erotische Teilaspekte – in Goethes „Wilhelm Meister“ auf den Punkt gebracht: „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.“ Und etwas später: „Ach, der mich liebt und kennt, ist in der Weite“ – das Lied der Mignon, was so viel wie Herzchen oder Liebling bedeutet, in der GoetheZeit übrigens auch schwuler Liebling. Ein derart suggestiver Text schrie ja nach Vertonung, und viele Komponisten hörten diesen Schrei: Beethoven und Schumann, Ambroise Thomas und Hugo Wolf, besonders aber und immer wieder Franz Schubert. Dessen Mignon-Vertonungen hat wiederum Aribert Reimann zum Anlass für ein Werk genommen, das Schubert in einen größeren Zusammenhang bringt – gleichsam um Mignon herum. Reimann hat Schubert bearbeitet; Grundlage dieser Bearbeitung sind aber nicht die „Mignon“-Klavierlieder, sondern der fünfstimme Männerchor, ebenfalls auf den Goethe-Text, aus dem Jahre 1819. Reimann hat gar nicht sehr viel getan, er hat aus dem fünfstimmigen Männerchor ein Streichquartett plus Solostimme gemacht und einige Überleitungen geschrieben. Auf diese Weise und indem er auch noch zwei andere Lieder einbezog, entstand ein ganz neues Werk, dessen Leitmotiv die berühmten Zeilen sind „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.“ Hier der erste Teil von Aribert Reimanns „Mignon“ für Sopran und Streichquartett. -------------Musik 8: Schubert/Reimann, Mignon. Juliane Banse, CherubiniQuartett. Archiv-Nr. 736-7584. Tr. 1, nach 8’48“ ausblenden. Dauer: 8’48“. -------------Das war ein Ausschnitt aus Aribert Reimanns Bearbeitung einiger Schubert-Lieder. Es sang Juliane Banse, es spielte das Cherubini-Quartett. Und das war für heute auch die SWR2Musikstunde mit Stephan Hoffmann über Erotik in der Oper und 9 im Lied. Morgen geht es um Erotik in der Instrumentalmusik, unter anderem mit Richard Wagners „Siegfried-Idyll“.