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»alten« Jenenser erleichtert werden kann. Unter anderem
hat der Autorenkreis Probleme damit, daß Leute ihre personenbezogenen Akten des MfS zwar zur Einsichtnahme
bereitgestellt haben, nicht aber für ihre Veröffentlichung.
Das hat ganz verschiedene und auch verständliche Gründe.
Ich denke, daß es darauf nicht unbedingt ankommt. Mit
einem bloßen Aktenabliefern würde man auch einen Teil
seiner Geschichte wegdelegieren. Wichtig ist vielmehr, daß
im Moment in Jena ein Prozeß begonnen hat, ein Versuch,
sich eines Teils der Geschichte dieser Stadt zu nähern. Und
es gibt die Möglichkeit, diesen Prozeß mitzu-bestimmen.
Das hängt natürlich auch von der Bereitwilligkeit der Autorinnen und Autoren ab, die angesichts der erhobenen Kritiken an der Chronologie unter dem Druck stehen, nun »alles
richtig« zu machen. Es kommt auf den Versuch an, sich
einzumischen. Niemals wird es allen Leuten gerecht werden.
Streit und Streß werden nicht ausbleiben; aber vielleicht
gibt es doch manchmal einen »Aha-Effekt« und vielleicht
gelingt es dann später einmal, auch etwas von dem Lebensgefühl herüber zu bringen, das man Anfang der Achtziger
Jahre hatte. Ansonsten wird die Jenaer Friedensgemeinschaft in Schulbüchern als ein Meilenstein zur
deutsch-deutschen Wiedervereinigung im Sinne der parlamentarischen Demokratie aufgezählt werden und für alles,
was diese noch so hervorbringt. Die Authentizität der
Publikationen des Jenaer Matthias-Domaschk-Archivs steht
und fällt mit der Mitwirkung der »alten« Jenenser. Ohne sie
bleiben alle seine Veröffentlichungen nur mehr oder weniger Retortenprodukte.
Ich bin einer mehr, der sich angemaßt hat, etwas über
Jena zu schreiben.
Klaus Schroeder
»Suizidartige Angliederung Ostdeutschlands«
In der Eingangshalle des Fachbe-reichs
Politische Wissenschaft der Freien
Universität Berlin weist ein selbstgestaltetes Plakat auf das Erscheinen
eines wissenschaftlichen Werkes zum
deutschen Vereinigungs-prozeß hin.
Die Herausgeber werben mit einem
Sonderpreis und dem Hinweis: »... Mit
einer Fülle belastenden Materials wird
den Verantwortlichen der fehlgesteuerten ‘Vereinigung’ der Prozeß
gemacht. Das Urteil ist vernichtend«.
Als Staatsanwälte und Richter in
Personalunion wirken ein Hochschullehrer des genannten FU-Fachbereichs mit dem Lehrgebiet: GewerkWolfgang Dümcke/Fritz
Vilmar
(Hrsg.): schaften und Parteien (Mitte-Links»Kolonialisierung der DDR. Spektrum), ein wissenschaftlicher
Kritische Analysen und Mitarbeiter des Instituts für PolitikAlternativen
des wissenschaft der Humboldt-UniverEinigungspro-zesses«, 3. sität sowie ad personam nicht näher
Auflage, agenda Ver-lag, vorgestellte kritische StudentInnen
Münster 1996 (agenda Zeit- (wie es im derzeit modischen Universitätsdeutsch heißt), die eine Lehrveranstaltung der beiden Herausgeber besucht haben. In
den Beiträgen dieses Sammelbandes wird eine konservative
Vereinnahmung des deutschen Vereinigungsprozesses, die
Kolonialisierung der ostdeutschen Wirtschaft sowie die
Kolonialisierung der Menschen durch die Inbesitznahme
der öffentlichen Meinung behauptet, Thesen, die derzeit
kaum Originalität beanspruchen können. Dümcke und Vilmar
leiten den Band ein, kommentieren zum Teil die Beiträge und
be-glücken abschließend die Leser mit einem Dialog über
die »sozialistischen Errungenschaften« der DDR.
Das Fallbeil der Kritik schlägt schon im Vorwort hart und
erbarmungslos zu; die deutsche Vereinigung wird als »suizidartige Angliederung des sozialen Organismus Ostdeutschlands an die alte Bundesrepublik« bezeichnet, die
demokratische Erneuerung der DDR wurde von der politisch-ökonomischen Herrschaft der westdeutschen Republik erstickt. Die konservativen Machteliten der alten BRD
haben nach Meinung des Mitte-Links-Experten in-novative
Potentiale und Strukturen der DDR-Gesellschaft einfach
ignoriert bzw. zerstört und die Unterwerfung Ostdeutschlands betrieben. Als besonders verwerflicher Akt
des Kolonialismus wird die Diskriminierung aller DDRStaatsbediensteten erachtet, die Streichung von Privilegien
in der Altersversorgung der herrschenden Klasse wird gar
als eine »tendenziell strafrechtliche Diskriminierung von
Teilen der DDR-Bevölkerung« bezeichnet.
Die Ausgangslage nach 45 Jahren kommunistischer
Diktatur wird von Wolfgang Dümcke skizziert; für ihn gab
es in der DDR-Entwicklung immer wieder vielversprechende Reformansätze, die die Hoffnung nährten, daß es möglich
sei, die Abschaffung privater Kapitalherrschaft und Ausbeutung mit der Verwirklichung persönlicher In-teressen,
demokratischer Partizipation und Rechtsstaat-lichkeit zu
verbinden. Ausgeblendet bleiben die Gründe für den ruinösen Zustand der DDR-Wirtschaft, die soziale Nivellierung
der Masse der Bevölkerung bei gleichzeitiger Privilegierung
der herrschenden Klasse, die umfassenden Bemühungen
zur Entindividualisierung der Bevölkerung, die
Militarisierung der Gesellschaft etc. Die unrühmliche Rolle
der in der DDR hochgezüchteten oder verbliebenen Intelligenz bei der Errichtung und Stabilisie-rung der SED-Diktatur wird gleichfalls nicht erwähnt. Dafür konstatiert der
Autor ein »Spannungsverhältnis zwischen Macht und Emanzipation«, welches »produktiv in der Gesellschaft gewirkt«
habe. Diese Schönfärbung der Diktatur korrespondiert mit
einer Fundamentalkritik an der alten Bundesrepublik. Gerade die westdeutsche »Linke« habe schließlich immer auf
eine reformierte DDR als eine liberal-sozialistische Alternative und Herausforderung zur Bundesrepublik gehofft.
Bis auf wenige Ausnahmen folgen die weiteren Beiträge
dem von den Herausgebern vorgezeichneten Weg: den
Vereinigungsprozeß als Kolonialisierung zu entlarven. Eine
Autorin konstatiert ein durch »Bananen-Geschenke« korrumpiertes DDR-Volk und fragt sich, »warum Grenzsoldaten,
NVA-Mitarbeiter oder Juristen heute für etwas belangt
werden, was gestern noch Recht und Gesetz war«. Der
Runde Tisch in der Schlußphase der DDR wird idealisiert zu
einer demokratischen Alternative zum etablierten Parlamen-
Rezensionen
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HORCH UND GUCK, Heft 18 (1/96)
tarismus, ohne die Strategien der Mo-drow-Regierung und
der alten und neuen SED-Eliten, ihr taktisches Verhältnis zur
Bürgerbewegung und die Rolle mehrerer Inoffizieller Mitarbeiter des MfS in diesem Gre-mium auch nur anzusprechen.
Fritz Vilmar bleibt es vor-behalten, eine Lanze für die PDS zu
brechen; schließlich sei diese Partei hochirrationalen
Verteufelungsversuchen ausgesetzt und schon allein deshalb seriöser und gewich-tiger als die ehemaligen Blockparteien, weil sie Zeitzeugin westdeutscher kapitalistischer
Machtpolitik sei und diese anprangere.
Als Beleg für mögliche Alternativen im Vereinigungsprozeß verweist Vilmar auf einen von ihm selbst im Früh-jahr
1991 erarbeiteten Beitrag für die Berliner SPD. Dieser
»Aktionsplan« enthält alles, was das »linke Herz« begehrt:
Sicherung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen,
Investitionsförderprogramme, Förderung freier Genossenschaften, aktive Arbeitsmarktpolitik und alles selbstverständlich ökologie- und sozialverträglich. Bezahlt wer-den
sollen diese Programme durch schrittweise Halbierung der
Rüstungsausgaben, Abbau sozial ungerechtfertigter Subventionen, aber auch durch eine Ergänzungsabgabe für
Besserverdienende und durch erhebliche Steuererhöhungen für die gesamte Bevölkerung. Außerdem sollte die
angebliche konservative Politik der kulturellen Erniedrigung der DDR-Bevölkerung sofort beendet werden. Bezeichnenderweise und zum Bedauern des Autors habe
dieser Vorschlag für eine alternative Deutschlandpolitik
nicht einmal das Interesse des an »Profillosigkeit kaum zu
überbietenden Vorstands der Berliner SPD« gefunden.
Parallel zur Zerstörung der politischen Kultur und der
Wirtschaft der DDR wird, nach Meinung der AutorInnen,
die Identität der ostdeutschen Bevölkerung gebrochen. Die
konservativen Machteliten wollen die »sozialeren Verhaltensweisen« der Ostdeutschen beseitigen, die Kolonialbevölkerung darf schließlich keine eigene selbstbewußte Identität besitzen. Und wenn doch einmal eine Um-frage
Erwähnung findet, aus der hervorgeht, daß nur 6% der
befragten Ostdeutschen meinen, sie würden sich mit den
neuen Lebensumständen wohl nie so richtig zurecht finden,
wird dieses Ergebnis »wissenschaftlich« zurecht gebogen.
Die Ostdeutschen seien nicht bereit, sich offen einzugestehen, daß sie mit ihrer Lebenssituation nicht klar kämen.
Immerhin ein Autor hält den Ausdruck »Kolonialisierung« für unglücklich gewählt, schließlich habe die einheimische Bevölkerung den Vereinigungsprozeß in dieser
Form gewünscht. Sein Beitrag über westdeutsche Medienpolitik in Ostdeutschland indes unterschätzt das Beharrungsvermögen und die Aktivität des Personenkreises, die
in der DDR Agitation und Propaganda betrieben. Gleiches
gilt für den ansonsten informativen Beitrag über die ostdeutsche Zeitungslandschaft nach der Vereinigung; die
Veränderung der Besitzverhältnisse allein führt aufgrund
der Kontinuität der Mitarbeiter keineswegs zu einem umfassenden politischen Richtungswechsel. Wer ostdeutsche
Zeitungen zur Hand nimmt, hat jedenfalls nicht den Eindruck, das Regierungsbulletin der Kolonial-herren zu lesen.
Nach der überaus anstrengenden Lektüre fragt sich
auch der nicht geneigte Leser, warum betreiben die konservativen Machteliten der alten Bundesrepublik diese teuerste Kolonialisierung der Weltgeschichte? Aber auch hier
weiß der für Parteien des Mitte-Links-Spektrums zuständige Politikprofessor gewissermaßen jenseits seines
Zuständigkeitsbereiches Bescheid: »Die konservativen
Machteliten haben diese Ansätze bei ihrer fast hand-streichartigen Vereinnahmung der DDR liquidiert, aus Angst,
bestimmte gemeinschaftsorientierte, solidarische, genossenschaftliche Ideen und Strukturen könnten von den
aktiven demokratischen Initiativen beim Vereinigungsprozeß als erhaltenswert reklamiert werden, gerade wenn
diese Konzepte befreit worden wären von ihren totalitärbürokratischen Pervertierungen.«
Aus wissenschaftlicher Sicht trägt das Buch insgesamt
kaum etwas zu der gewiß notwendigen Diskussion um den
Vereinigungsprozeß bei. Weder die Vorgeschichte - die
Zerstörung Ostdeutschlands ohne Krieg durch die SED noch die ökonomischen und sozialen Folgen eines alternativen Vereinigungsprozesses werden berücksichtigt. Die
wenigsten Beiträge bringen neue »wissenschaftliche Erkenntnisse«, es hagelt nur so unbelegte Behauptungen,
und ansonsten dominiert die selbstbestätigend zitierte,
immer gleiche »kritische« Literatur zum deutschen Vereinigungsprozeß. Aber es wird wohl einen Zweck erfüllen:
Einseitig interessierten ZeitgenossInnen, deren Weltbild
mit dem Einsturz der Berliner Mauer ebenfalls erschüttert
wurde, ein Buch in die Hand zu geben, welches ihre düsteren
Ahnungen und Alpträume bestätigt.
Wer von einer Kolonialisierung der DDR durch die
Bundesrepublik spricht, sollte sich vergegenwärtigen, daß
die DDR derzeit vor allem einen Prozeß der Entkolonialisierung durchmacht. Schließlich wurde der DDR das
sowjetische System übergestülpt, das die Menschen in
Ostdeutschland 45 Jahre geprägt hat. Die Kolonialisierungsthese weckt nicht nur falsche und absurde Assoziationen, sie beginnt mit ihrer historischen Betrachtung erst
im Jahre 1989, blendet die Vorgeschichte vollständig aus
und betrachtet die deutschen Teilstaten als zwei fremde
Länder. Gleichzeitig verhindert eine pauschalisierende und
nicht begründete Generalkritik die nötige und nach vorne
gewandte Auseinandersetzung mit den negativen Erscheinungen des Vereinigungsprozesses.
Aber, wie die historische Erfahrung zeigt, verlaufen
Entkolonialisierungsprozesse sehr widersprüchlich. Die von
den ehemaligen Kolonialregimen hinterlassenen sozialen
und zivilisatorischen Strukturen lösen sich zumeist nur
unter Schmerzen und in einem längeren Zeitraum auf. Und
nicht selten schaffen es die Begünstigten von einst, im
neuen System wieder privilegierte Positionen einzunehmen. Die Ausgangsbedingungen für viele alte SED- und
MfS-Kader sind unterhalb der obersten Ebene jedenfalls
nicht schlecht; schließlich haben gerade sie sich bestens
und umfassend auf das Ende und die Transformation der
DDR vorbereitet.
Rezensionen
HORCH UND GUCK, Heft 18 (1/96)
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