Politik Aktuell Nr. 07/2014 7. März 2014 KOPIEREN DER GEDRUCKTEN AUSGABE GESTATTET Arbeitsmaterialien aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ISSN 0342-5746 Nr. 07/2014 07.03.2014 G 2251 Inhalt: Seite 2: Europawahl 2014 (1) EU zwischen EU-Müdigkeit und EU-Begeisterung Im Mai finden die Europawahlen statt – und nur wenige Wahlberechtigte interessieren sich dafür. Woher kommt die Europamüdigkeit, wobei doch das europäische Projekt eigentlich Begeisterung hervorrufen müsste? Das europäische Projekt ist jedoch voller Widersprüche. Je mehr die EU-Kommission regelt, desto mehr Widerspruch erfährt sie in der Bevölkerung sowie bei den Betroffenen. Andererseits ist die EU eine prosperierende und politisch stabile Union, die von der Welt beneidet wird. Die Schüler sollen die Widersprüche des europäischen Projektes anhand von Beispielen erarbeiten. Seite 5: Betriebsratswahlen 2014 Die regulären Wahlen zu den Betriebsräten haben begonnen. Millionen Arbeitnehmer können ihre Betriebsräte wählen. Die Wahlen sind nach dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) alle vier Jahre in der Zeit vom 1. März bis 31. Mai durchzuführen. Die Geschichte der Mitbestimmung wird kurz dargestellt. Die wichtigsten Fakten und Begriffe zum Betriebsrat werden vorgestellt. Die Aufgaben auf dem Arbeitsblatt nehmen u.a. Bezug auf den vorerst gescheiterten Versuch, in einem VW-Werk in den USA einen Betriebsrat zu installieren, wie dies der Konzernbetriebsrat gerne gewollt hätte. Die Situationen dort und bei uns können gegenüber gestellt und bewertet werden. Seite 8: Ukraine und Russland am Rande eines Krieges? Nach den gewaltsamen Zusammenstößen vom 18.-20.02.2014 befindet sich die Ukraine in einer Zeit des Umbruchs. Währenddessen spitzt sich die Lage auf der ukrainischen Halbinsel Krim weiter zu, nachdem russische Truppen diese besetzt haben. Sie wird zum Schauplatz separatistischer Unruhen. Auch der Abzug der russischen Truppen von der Westgrenze der Ukraine nach der Abhaltung eines russischen Großmanövers beruhigt die Situation auf der Krim nicht. Russische Einheiten kontrollieren de facto die gesamte Halbinsel, vor allem aber die Militäranlagen. Der Artikel erläutert die Situation der Ukraine nach Erlangung der Unabhängigkeit (1991) und bietet eine Chronik über die aktuellen Ereignisse. Außerdem wird die historische Entwicklung der Krim dargestellt. Damit erhalten die Schüler Hintergrundinformationen für die Beurteilung des jetzigen Konflikts, in dem der russische Regierungschef Putin seine Macht demonstrieren will. Seite 11: Europawahl 2014 (2) Bundesverfassungsgericht kippt Drei-Prozent-Hürde Am 26. Februar 2014 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die DreiProzent-Hürde bei der Europawahl für verfassungswidrig. Damit wird es bei der Europawahl am 25. Mai erstmals keine Sperrklausel geben. Das Gericht hatte im November 2011 die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen gekippt. Im Juni 2013 beschloss der Bundestag die Drei-Prozent-Hürde. Dagegen klagten kleinere Parteien. Der Artikel enthält einen Auszug aus der Presseerklärung des BVerfG zum Urteil. 1 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 7. März 2014 (6) Europawahl 2014 (1) - EU zwischen EU-Müdigkeit und EU-Begeisterung Kompetenzen: 1. Über Diskrepanzen zwischen erträumter EU und machbarer EU berichten können. 2. Über die Entwicklung der EU zwischen Reform und Renationalisierung berichten können. 1. Der aktuelle Anlass In der Zeit vom 22. Mai bis 25. Mai (in Deutschland am 25. Mai 2014) finden Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Jeder Bürger in der EU ist von dem Projekt EU bzw. europäische Integration betroffen. Die Wahlen zum Europäischen Parlament geben den Bürgern die Möglichkeit, mit ihrem Wahlrecht Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments und damit auch auf die Politik nehmen zu können. In 28 Mitgliedstaaten der EU werden 375 Mio. Wahlberechtigte aufgerufen, die 751 Abgeordneten zu wählen. Deutschland ist im Europäischen Parlament mit 96 (vorher 99) Abgeordneten vertreten. Da die Drei-Prozent-Hürde vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden ist, wird damit gerechnet, dass auch Splitterparteien ins Europäische Parlament gewählt werden. Vor allem die Gegner der EU rechnen damit, dass sie erheblichen Zuwachs bekommen werden. Der Grund: Die Europabegeisterung ist mittlerweile einer großen Europamüdigkeit gewichen. Angeblich überwiegt die Europa-Skepsis. Die Kritiker der EU fordern inzwischen keine Reform der EU-Institutionen, sondern eine Renationalisierung. Ein nationales Parlament muss das Recht bekommen, EU-Regeln abzulehnen. Europabegeisterung Wahlen zum Europäischen Parlament Die Kandidaten für die Europawahlen laufen sich heiß und fordern unter dem Motto „Handeln. Mitmachen. Bewegen – Europawahl 25. Mai 2014“ die Wahlberechtigten dazu auf, von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Europamüdigkeit Und kaum jemand hat an den Wahlen Interesse Nach den neuesten Umfragen zu den anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament interessieren sich 72 % der Befragten nicht oder kaum für diese Abstimmung. Die Gegner des Europäischen Integrationsprojektes rechnen mit erheblichem Protestpotenzial. Arbeitslosigkeit Ein Thema für die anstehenden Wahlen ist die Arbeitslosigkeit in der EU. Im Januar 2014 waren in den Ländern der Euro-Währung 12 % der Menschen im erwerbsfähigen Alter ohne Job (19,175 Mio. Menschen). Jugendliche und Menschen in Südeuropa sind besonders betroffen. Viele Arbeitslose machen die EU für ihren Job-Verlust verantwortlich. Die Euro-Krise Die Menschen in der EU haben 2010 die Euro-Krise erlebt. Die Euro-Länder haben zusammen mit der Kommission verschiedene Rettungspakete und Rettungsfonds eingerichtet. Deutsche Steuerzahler sehen sich plötzlich in der Haftung für die Schulden anderer EU-Staaten, obwohl das so nicht geplant war. Nur weil die Euro-Krisenländer sich nicht an die Regeln gehalten haben. Mitspracherechte der Bürger Je mehr sich das europäische Integrationsprojekt entwickelte, desto mehr Regeln sind entstanden, die die Bürger immer mehr einengten. Je technokratischer das Regelwerk wurde, desto mehr Kritik und Widerstand entwickelte sich. Die Regierungen haben ihre Bürger zu wenig mitbestimmen lassen. Häufig aus Sorge, ungewünschte Ergebnisse zu bekommen. Nun wollen die EU-Kritiker verstärkt ins Parlament, um ihre Kritik anbringen zu können. Die Bürger lehnen viele Regeln ab. Die EU regelt, welche Leuchtmittel wir verwenden sollen. Abgaswerte für Kfz, die Geräuschpegel von Rasenmähern und Verbraucherschutzstandards sind weitere Beispiele. Rechte des EU-Parlaments unbekannt Für die meisten Bürger sind die Rechte des EUParlaments unwichtig. Sie sind der Meinung, dass wieder mehr Regelungen an die nationalen Parlamente zurückverlagert werden sollen. Europa schafft Arbeitsplätze Das europäische Projekt wird u. a. zur Förderung der EU-Arbeitsmärkte betrieben. Die einheitliche Währung Euro solle die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU und weltweit verbessern. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer solle dafür sorgen, dass jeder in der EU einen adäquaten Arbeitsplatz findet. Der Euro als einheitliche Währung Die Menschen erleben den Euro als einheitliche Währung vor allem auf Reisen. Weltweit findet der Euro eine sehr hohe Akzeptanz und wird fast überall gegen nationale Währungen eingetauscht. Wer früher in der EU unterwegs war, musste mehrere Geldbörsen dabei haben, um zahlungsfähig zu sein. Der Euro erspart erhebliche Transaktionskosten. Die europäische Integration – ein Friedensprojekt Die beteiligten Regierungen haben ihren Bürgern das europäische Integrationsprojekt als einmaliges Friedensprojekt in Europa dargestellt. Die Bürger haben nur indirekt ihren Eliten die Ermächtigung gegeben, dieses Projekt zu verfolgen, und nur in den wenigsten Fällen ein Mitspracherecht gefordert. Wichtig war nur der Erfolg. Regelwerke zur Stärkung des Wettbewerbs Die EU will mit ihrem Regelwerk den einheitlichen Binnenmarkt EU schaffen. Dadurch erhalten die Bürger sichere, kostengünstige und umweltgerechte Produkte. Europäisches Parlament hat mehr Rechte Das Europäische Parlament hat nun erstmalig das Recht, den Präsidenten der Kommission zu wählen. Daher werden diese Europawahlen besonders wichtig. 2 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 7. März 2014 2. Der europäische Integrationsprozess Datum 18. April 1951 1. Juli 1968 Ereignisse Mit der Unterzeichnung des Vertrages über die Montanunion entstand ab 1952 zwischen Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Italien und den Benelux-Staaten die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Gründung der „Gemeinsamen Versammlung“ als beratendes Gremium für die EGKS Frankreich, Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Bundesrepublik Deutschland und Italien gründen die Westeuropäische Union (WEU) als kollektiven Beistandspakt. Mit den Römischen Verträgen entstand die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Gründerstaaten sind die sechs Mitglieder der Montanunion. Durch die Fusion von EWG, EGKS und Euratom entsteht die Europäische Gemeinschaft (EG). Verwirklichung der Zollunion 1. Januar 1973 9./10. Dezember 1974 1979 bis 1998 Großbritannien, Dänemark und Irland treten der EG bei. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft (EG) vereinbaren die Errichtung des Europäischen Rates. Das Europäische Währungssystem (EWS) tritt in Kraft. 7. und 10. Juni 1979 3. Oktober1990 7. Februar 1992 26. März 1995 Erste Direktwahl zum Europäischen Parlament (EP) Wiedervereinigung Deutschlands und Integration der neuen Bundesländer in die EG Aus der EG wird die Europäische Union (EU) mit Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht. Umsetzung des Abkommens von Schengen: An den Binnengrenzen der EU entfallen die Personenkontrollen. Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zur haushaltspolitischen Überwachung der Mitgliedsländer Vertrag von Amsterdam: U. a. Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments Vertrag von Nizza mit einer Revision der EUVerträge Einführung des Euro in 12 EU-Ländern 1952 5. Mai 1955 1. Januar 1958 1. Juli 1967 17. Juni 1997 16./17. Juni 1998 26. Februar 2001 1. Januar 2002 1. Mai 2004 29. Oktober 2004 13. Dezember 2007 2010 - 2011 Aufnahme der osteuropäischen Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn sowie Malta und Zypern Vertrag über eine europäische Verfassung: Die Franzosen/Niederländer lehnen mehrheitlich ab. Vertrag von Lissabon mit Ausbau der EUInstitutionen und Vertiefung der Integration Erläuterungen Durch die Vergemeinschaftung der Schlüsselindustrien von Kohle und Stahl wollten die Mitgliedsländer indirekt die deutsche (Rüstungs-)Industrie unter supranationale Kontrolle bringen. Vorläufer des Europäischen Parlaments, das sich erst 1971 so bezeichnen durfte. Die WEU bereitete den Weg, den NATOBeitritt der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. Die EWG war der Vorläufer der EU. Die Bevölkerung der beteiligten Länder wurde nicht befragt. Vor allem Frankreich wollte aus Sicherheitsgründen Deutschland in die westliche Gemeinschaft einbinden. Die drei Gemeinschaften erhalten gemeinsame Institutionen. Der Handel zwischen den Mitgliedstaaten wird nicht mehr durch Zölle behindert. Gemeinsamer Zolltarif für Importe. Mit Großbritannien erfolgt ein wichtiger Schritt hin zur künftigen EU. Durch diese neuen regelmäßigen Regierungstreffen erhielt die europäische Integration neue Impulse. Das EWS – Vorläufer der Euro-Zone bewirkte eine Stabilisierung der beteiligten nationalen Währungen. Das EP ist die erste und auch einzige direkt gewählte europäische Institution. Die problemlose Aufnahme gab der EG neue Integrationsimpulse nach Osten. Der Vertrag ist Grundlage für die Wirtschafts- und Währungsunion. In der EU entsteht ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Nicht alle EU-Länder sind beigetreten. Die Mitglieder geben sich hiermit strenge Haushaltskriterien und vereinbaren bei Verstößen Sanktionen. Das Parlament erhält bis auf die Agrarpolitik Mitentscheidungsrechte. Mit dem Vertrag wurde eine Abgrenzung der Zuständigkeiten in der EU versucht. Entstehung der Eurozone mit Abschaffung der nationalen Währungen Die EU erfüllt ihr Versprechen, die osteuropäischen Länder aufzunehmen. Erstmalig wird die Bevölkerung befragt – und diese lehnt ab! Der Vertrag entfällt. Nach einer Ablehnung in Irland und einer Wiederholung der Abstimmung tritt der Vertrag am 1. Dezember 2009 in Kraft. Entstehung der Eurokrise mit Gründung von Ursache der Krise: Verstöße gegen die Rettungsfonds (EFSF und ESM). Über die Stabilitätskriterien. Eurokritiker sowie EURettungsfonds entsteht gegen heftige Wider- Skeptiker erhalten politischen Aufwind. stände eine Haftungsunion. 3 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 7. März 2014 Arbeits- und Informationsblatt zu: Europawahl 2014 (1) – EU zwischen EU-Müdigkeit und EU-Begeisterung Name: Klasse/Stufe: 1. Der Widerspruch der anstehenden Europawahlen 1.1 Aus welchen Gründen sinkt von Wahl zu Wahl die Wahlbeteiligung? 1.2 Ist die Wahlbeteiligung ein Zeichen für die Bedeutung einer Wahl? 1.3 Wie bewerten Sie den Versuch des Europäischen Parlaments, durch Spitzenkandidaten der Europawahl ein „Gesicht“ zu geben? 2. Euroskeptiker bemängeln, dass die Bürger zu wenig am europäischen Einigungsprozess beteiligt werden. 2.1 Welche Gründe sprechen für diese Kritik? Datum: Das Europäische Parlament wird immer wichtiger bei EU-Gesetzesverfahren. Es kann Gesetze beschließen, Gesetzesvorlagen verändern oder blockieren. Trotzdem sank die Wahlbeteiligung seit 1979 von 63,0 Prozent auf nur 43 Prozent 2009. Das wollen die meisten Parteizusammenschlüsse im Europäischen Parlament ändern. Sie lassen Spitzenkandidaten zur Wahl antreten. Sie wollen damit der Wahl ein europäisches Gesicht geben. Für die Sozialdemokraten tritt Martin Schulz, amtierender Parlaments-präsident, an. JeanClaude Juncker, ehemaliger Ministerpräsident von Luxemburg, soll für die Konservativen kandidieren. Die Grünen treten mit Ska Keller und José Bové an, für die Liberalen kandidieren der ehemalige belgische Premierminister Guy Verhofstadt und Olli Rhen, Vizepräsident der EUKommission. Für die Linken kandidiert der Grieche Alexis Tsipras, der die Troika wegen deren Sparpolitik bekämpft 2.2 Nennen Sie Beispiele dafür, dass Bürger beteiligt wurden. 2.3 Welche Ergebnisse hatte die Bürgerbeteiligung für den Einigungsprozess? 3. Nennen Sie Gründe dafür, dass „man“ sich für das europäische Einigungsprojekt begeistern sollte. 4. Auch wenn man sich für das europäische Einigungsprojekt begeistern könnte, besteht grundsätzlich eine zunehmende Europamüdigkeit. Woran können Sie das festmachen? 5. Je mehr die EU-Kommission regeln will, desto skeptischer werden die EU-Bürger. Können Sie dem Satz zustimmen? Begründen Sie Ihre Antwort. 6. Nennen Sie Ereignisse des europäischen Einigungsprozesses, die zu Fortschritten bei der europäischen Integration bzw. zu Rückschlägen geführt haben. 6.1 Welche Ereignisse können als Fortschritte bezeichnet werden? 6.2 Welche Ereignisse können als Rückschritt bezeichnet werden? 4 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 7. März 2014 (8) Betriebsratswahlen 2014 Kompetenzen: 1. Aufgaben und Funktion des Betriebsrates beschreiben können. 2. Bedeutung der Mitbestimmung durch den Betriebsrat erläutern können. 1. Der aktuelle Anlass Die regulären Wahlen zu den Betriebsräten haben begonnen. Millionen Arbeitnehmer können ihre Betriebsräte wählen. Die Wahlen sind nach dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) alle vier Jahre in der Zeit vom 1. März bis zum 31. Mai durchzuführen. Die vierjährige Amtszeit der Betriebsräte beginnt mit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses, oder wenn zu diesem Zeitpunkt noch ein Betriebsrat besteht mit Ablauf von dessen Amtszeit. Die Amtszeit endet spätestens am 31. Mai des Jahres, in dem die Neuwahlen anstehen. Da in den größeren Betrieben nicht nur auf Werksebene gewählt wird, sondern auch auf Unternehmensebene Gesamtbetriebsräte zu wählen sind, handelt es sich um ein mehrstufiges Wahlverfahren, das einige zeitliche Vorbereitung erfordert. Auf europäischer Ebene können sogar Euro-Betriebsratswahlen durchgeführt werden, wenn es sich um ein europaweit tätiges Unternehmen handelt. Die letzten Betriebsratswahlen fanden 2010 statt. Die Betriebsräte sind ein wichtiges Organ der betrieb- lichen Mitbestimmung, das mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Betriebsverfassung geworden ist. Bei der Betriebsratswahl vor vier Jahren hat die Wahlbeteiligung bei 70 Prozent gelegen. Die Marke soll dieses Jahr übertroffen werden. 2. Geschichte der Mitbestimmung In einer Denkschrift des „Centralverbands deutscher Industrieller“ aus dem Jahr 1887 heißt es noch: „Der Arbeiter ist nicht der gleichberechtigte Teilhaber des Arbeitgebers… er ist dessen Untergebener, dem er Gehorsam schuldig ist… die Zwischenschiebung einer regelmäßigen Instanz zwischen Arbeitgeber und Arbeiter ist unzulässig.“ (Quelle: Mitbestimmung ist trieben wurden Obleute gewählt. Das Betriebsrätegesetz schützte die Betriebsräte, die für ein Jahr gewählt wurden, vor Nachteilen, Sanktionen und Schikanen. Die Entlassung oder Versetzung eines Betriebsratsmitglieds war nur mit Zustimmung des Betriebsrats möglich. Die Sitzungen der Betriebsräte mussten außerhalb der Arbeitszeit stattfinden. Matthias Jena, Vorsitzender des DGB Bayern: „Beschäftigten geht es besser mit Betriebsrat. In Betrieben mit Betriebsräten gibt es im Schnitt mehr als zehn Prozent höhere Löhne und sicherere Arbeitsplätze.“ Und weiter sagte er: „Während der Einzelne mit seinen Anliegen bei der Personalabteilung oder dem Chef abblitzt, sorgen Betriebsräte dauerhaft für und die Interessenvertretung der Beschäftigten auf Augenhöhe. Gemeinsam haben die Beschäftigten durch Betriebsräte eine starke Stimme. Diese Stimme ist umso stärker, je höher die Wahlbeteiligung ist.“ Quelle: DGB 2014 eine gute Sache, hrsg. vom BMAS, 2012) Die Nazis machten nach ihrer Machtergreifung der Mitbestimmung in den Betrieben ein Ende. Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 verbot alle betriebsrätlichen Aktivitäten. Fortan schuldeten die Arbeiter und Angestellten als „Gefolgschaft“ dem Führer des Betriebes Treue und Gehorsam. Mit der Novelle zur Gewerbeordnung von 1891 wurde erstmals eine gesetzliche Grundlage für freiwillig gebildete Arbeiterausschüsse geschaffen. In sehr engen Grenzen bestimmten dann die Novellen des Bayerischen (1900) und des Preußischen Berggesetzes (1905) für Betriebe mit mehr als 20 bzw. 1000 Arbeitnehmern, dass Arbeiterausschüsse gebildet werden mussten. Nach Kriegsende wurden in den Ländern Betriebsrätegesetze erlassen, die hinsichtlich der Reichweite ihrer Regelungen höchst unterschiedlich waren. Nachdem frühere Ansätze nicht zum Durchbruch gelangten, gab es die erste Mitbestimmung während des Ersten Weltkrieges. 1916 wurden Männer zwischen 17 und 60 zur Arbeit für die Kriegswirtschaft verpflichtet. Im Gegenzug wurde die Mitbestimmung für Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten gesetzlich vorgeschrieben. Allerdings hatten die Arbeiterausschüsse nur Beratungs- und Anhörungsrechte. Für Konflikte gab es eine paritätische Einigungsstelle. Am 11. November 1952 trat das Betriebsverfassungsgesetz in Kraft. Zur Enttäuschung der Gewerkschaften regelte das Gesetz überwiegend Informations- und Konsultationsrechte, während sich die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte praktisch auf „soziale Angelegenheiten“ beschränkten. Mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 1972 verbesserten sich zwar die Mitbestimmungsrechte, allerdings blieb es im Bereich der wirtschaftlichen Mitbestimmung bei bloßer Information und Beratung. Nach Kriegsende erstreikten sich Arbeitnehmer ein Rätesystem zur Mitbestimmung. In Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung fand sich danach ein dreistufiges System aus Arbeiterräten, von der Betriebs- zur Bezirks- und Reichsebene. Trotz weiterer Reformen und Anpassungen des Gesetzes mit denen ein Minderheitenschutz und ein vereinfachtes Verfahren für Kleinbetriebe eingeführt wurden, sind die Mitbestimmungsrechte im wirtschaftlichen Bereich nach wie vor eher bescheiden. Das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 brachte den Durchbruch und gilt als Vorläufer der heutigen Betriebsverfassung. Betriebsräte gab es nun in Betrieben mit über 20 Beschäftigten, in kleineren Be5 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 Für welche Betriebe ist ein Betriebsrat einzurichten? Wahlberechtigung Wählbarkeit Größe des Betriebsrats Wahl Wahlvorstand Zeitpunkt der Wahlen Zusammensetzung des Betriebsrats Amtszeit Vorsitzender Betriebsausschuss Bildung von Ausschüssen Freistellungen der Betriebsräte von der Arbeit Allgemeine Aufgaben Rechte und Pflichten des Betriebsrats 7. März 2014 In Betrieben mit in der Regel mindestens 5 ständigen wahlberechtigten AN (ab 18 Jahre), von denen 3 wählbar sind. Alle AN unabhängig von der Dauer der Zugehörigkeit, auch Leiharbeiter, die länger als 3 Monate im Betrieb eingesetzt sind. Wahlberechtigung und 6 Monate Betriebszugehörigkeit In Betrieben - mit mehr als 1500 AN erhöht sich die Zahl der Mitglieder des Betriebsrats je angefangene weitere 500 AN um zwei Mitglieder. - mit mehr als 5000 AN erhöht sich die Zahl der Mitglieder des Betriebsrats je angefangene weitere 1000 AN um zwei Mitglieder. - mit mehr als 9000 AN erhöht sich die Zahl der Mitglieder des Betriebsrats je angefangene weitere 3000 AN um zwei Mitglieder. 5 -20 AN= 1 21 -50 = 3 51 -100 = 5 101 -200 = 7 201 -400 = 9 401 -700 = 11 701 -1000 = 13 1001 -1500 = 15 Wahl erfolgt geheim und unmittelbar. Wahlberechtigte AN und die Gewerkschaften können Wahlvorschläge machen. Spätestens 10 Wochen vor Ablauf seiner Amtszeit bestellt der Betriebsrat einen aus 3 Wahlberechtigten bestehenden Wahlvorstand. Der Wahlvorstand hat die Wahl durchzuführen und das Wahlergebnis mitzuteilen. Für Kleinbetriebe gilt ein vereinfachtes Verfahren. 1. März bis 31. Mai Der Betriebsrat soll sich möglichst aus AN der einzelnen Organisationsbereiche und verschiedenen Beschäftigungsarten der im Betrieb tätigen AN zusammensetzen. Das Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, muss mindestens entsprechend seinem zahlenmäßigen Verhältnis im Betriebsrat vertreten sein. 4 Jahre Betriebsrat wählt aus seiner Mitte den Vorsitzenden und dessen Stellvertreter. ab 201 AN; der Betriebsausschuss führt die laufenden Geschäfte des Betriebsrats. Der Betriebsrat kann weitere Aufgaben übertragen. Nur in Betrieben mit mehr als 100 AN können Ausschüsse gebildet werden. Erfolgt ab 200 AN; bei 200 AN wird 1 Betriebsrat freigestellt, bei 500 = 2 usw. ; Teilfreistellungen sind möglich Betriebsrat wacht darüber, dass, • die zugunsten der AN geltenden Bestimmungen durchgeführt werden; • Maßnahmen, die dem Betrieb und der Belegschaft dienen, beim AG beantragt werden, usw. Soziale Angelegenheiten ● Lage und Verteilung der Arbeitszeit ● Gleitzeit, Arbeitszeitkonten, Schichtarbeit ● Urlaub ● Auszahlung der Entgelte ● betriebliche Lohngestaltung ● Festsetzung von Akkord, Prämien und leistungsbezogenen Entgelten Personelle Angelegenheiten und Berufsbildung ● Einstellungen, Versetzungen ● Beurteilungen ● Kündigungen ● Personalplanung ● Beschäftigungssicherung ● Berufliche Weiterbildung Gesundheitsschutz, Arbeitsplatzgestaltung ● Arbeitsunfälle ● Gesundheitsgefahren verhüten ● Allgemeine Aufgaben im Umwelt- und Arbeitsschutz ● Arbeit humanisieren ● Arbeitsabläufe und Arbeitsumgebung gestalten Wirtschaftliche Angelegenheiten ● Betriebsänderungen ● Interessenausgleich ● Sozialplan ● Wirtschaftsausschuss in Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten Informationsrechte Anhörungs- und Beratungsrechte Widerspruchs- und Vetorechte Mitbestimmungsrecht Durchsetzung der Rechte; Streitigkeiten Kündigungsschutz AG hat Betriebsrat zu informieren. AG ist verpflichtet, dem Betriebsrat die Möglichkeit zu geben, Einwendungen zu erheben. AG muss sich mit den Einwendungen auseinandersetzen. AG kann die geplante Maßnahme zwar durchführen, kann sie aber gegen den Widerspruch des Betriebsrates so nicht aufrechterhalten. Das Zustimmungsverweigerungsrecht bei Kündigungen führt zum Weiterbeschäftigungsanspruch. Stärkste Form eines Beteiligungsrechts, die Wirksamkeit der Maßnahme des AG hängt von der Zustimmung des Betriebsrats ab. Einigungsstelle; Arbeitsgericht; Straf- und Bußgeldvorschriften Betriebsratsmitglieder genießen besonderen Kündigungsschutz. (AN = Arbeitnehmer; AG = Arbeitgeber) 6 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 7. März 2014 Arbeits- und Informationsblatt zu: Betriebsratswahlen 2014 Name: Klasse/Stufe: Datum: 1. Wer ist bei Betriebsratswahlen wahlberechtigt? 2. Wer ist in den Betriebsrat wählbar? 3. Erläutern Sie Zweck und Aufgaben des Betriebsrats. 4. In welchen Betrieben ist ein Betriebsrat einzurichten? 5. Erläutern Sie die Rechte des Betriebsrats a. Informationsrecht b. Initiativrecht c. Widerspruchsrecht d. Mitbestimmungsrecht 6. Der Volkswagenkonzern betreibt in Chattanooga, Tennessee, USA, ein Werk und wollte dort einen Betriebsrat nach deutschem Vorbild installieren. Die Lokalpolitiker in Tennessee waren außer sich, denn ein Betriebsrat und eine Gewerkschaft seien in den Südstaaten undenkbar. Jahrelang sind die Südstaaten gut damit gefahren, neben Subventionen gewerkschaftsfreie Standorte anzubieten. Dort gibt es praktisch keine organisierten Arbeiter, keine Mitbestimmungsrechte, miese Löhne. Aber gerade dort haben sich wegen der niedrigeren Arbeitskosten viele Autohersteller angesiedelt: neben VW produzieren dort BMW, Mercedes sowie japanische und koreanische Autokonzerne. In geheimer Abstimmung im Herbst vergangenen Jahres, an der sich 89 Prozent der Beschäftigten beteiligt hatten, lehnten die Beschäftigten mit 712 zu 626 Stimmen ab, sich durch die AutomobilGewerkschaft United Auto Workers (UAW) vertreten zu lassen und damit einen Betriebsrat nach deutschem Vorbild schaffen zu wollen. Im Vorfeld der Wahl hatten republikanische Politiker damit gedroht, bei einem Sieg der Gewerkschaft VW künftig von Investitionshilfen auszuschließen. Ein Senator sagte zudem, ein VW-Manager habe ihm gesagt, das VW-Werk werde bei einem gewerkschaftsfreundlichen Votum ein geplantes neues Modell verlieren. Der VW-Werksleiter dementierte dies. Die US-Autogewerkschaft UAW will das jedoch nicht hinnehmen: Sie hat das Wahlergebnis angefochten und verlangt Neuwahlen. Grund sind „Einmischung von Politikern und Lobbygruppen". Die zuständige Aufsichtsbehörde National Labor Relations Board (NLRB) muss nun entscheiden, ob dies eine unzulässige Beeinflussung war. Beschreiben Sie die Situation in dem VW-Werk in den USA mit eigenen Worten. Wie beurteilen Sie die Lage der Arbeitnehmer in dem Werk in der Zukunft? Begründen Sie Ihre Meinung. 7. Der damalige Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, erklärte zum Jubiläum „60 Jahre Betriebsverfassung“ im Juli 2012: „Die Erfahrungen der deutschen Wirtschaft mit dem Betriebsverfassungsgesetz sind insgesamt gut. Die gelebte Betriebsverfassung hat sich bewährt. Die Arbeitgeber bekennen sich zu Tarifautonomie und Betriebspartnerschaft als wichtigen Pfeilern der Sozialen Marktwirtschaft. Betriebliche Mitbestimmung funktioniert auf der Grundlage einer vertrauensvollen Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Betriebsrat zum Wohl der Arbeitnehmer und der Betriebe.(…) Die betriebliche Mitbestimmung wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen, weil den Betriebspartnern beispielsweise durch vielfältige tarifvertragliche Öffnungsklauseln mehr Verantwortung übertragen wird. Damit ist eine funktionierende, vertrauensvolle betriebliche Mitbestimmung mehr denn je Voraussetzung für ein erfolgreiches Unternehmen." Beschreiben Sie anhand der Erklärung das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland. Beschreiben Sie die Unterschiede zu der Situation in dem Beispiel (s.o.) aus den USA. 7 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 (3) Ukraine und Russland am Rande eines Krieges? Kompetenzen: 1. Die aktuelle Situation in der Ukraine kennen. 2. Die Geschichte der Ukraine und der Krim kennen. 1. Der aktuelle Anlass Nach den gewaltsamen Zusammenstößen vom 18.20.02.2014 befindet sich die Ukraine in einer Zeit des Umbruchs (siehe Chronik unter Ziff. 3). Währenddessen spitzt sich die Lage auf der ukrainischen Halbinsel Krim weiter zu, nachdem russische Truppen diese besetzt haben. Sie wird zum Schauplatz separatistischer Unruhen. Auch der Abzug der russischen Truppen von der Westgrenze der Ukraine nach der Abhaltung eines Großmanövers wirkt sich auf die Situation auf der Krim nicht aus - die Lage bleibt dort kritisch. Russische Einheiten kontrollieren de facto die gesamte Halbinsel, vor allem aber die Militäranlagen. 7. März 2014 Hinweis: Sie zu diesem Thema auch PA 04/2014 „Die Ukraine und die EU“ autonomen Republik Krim soll mit einem Referendum entschieden werden. Ursprünglich war es für den Tag der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine am 25. Mai vorgesehen. Auf Grund der aktuellen Entwicklung soll es auf den 30. März vorgezogen werden. Die Ukraine bat die Nato um militärischen Beistand. US-Präsident Obama warf dem russischen Präsidenten Putin die Verletzung des Völkerrechts und der ukrainischen Souveränität vor. Die Zukunft der 2. Die Ukraine 1991 Seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 ist die Ukraine unabhängig. International schwankt sie zwischen einer Westorientierung und der damit verbundenen Integration in die Europäische Union und einer starken politischen Orientierung hin zu Russland. 2004 Diese Frage war 2004 entscheidend, als sich im Zuge der „Orangenen Revolution“ der westlich orientierte Präsidentschaftskandidat Juschtschenko gegen den von Russland unterstützten Janukowitsch durchsetzen konnte und Präsident des Landes wurde. Die Uneinigkeit der wichtigsten Personen des orangenen Lagers – Juschtschenko und Timoschenko – führte allerdings zu einer politischen Stagnation, die viele Hoffnungen der Ukrainer enttäuschte. 2006 Bei den ersten Parlamentswahlen nach der Orangenen Revolution im Jahr 2006 wurde die „Partei der Regionen“ (PdR) des damaligen Oppositionsführers Viktor Janukowitsch stärkste Fraktion vor dem „Block Julija Tymoschenko“ (BJuT) und Juschtschenkos „Unsere Ukraine“(UU). Janukowitsch wurde Ministerpräsident. Die Spannungen zwischen Präsident Juschtschenko und Ministerpräsident Janukowitsch nahmen kontinuierlich zu. 2007 Im April 2007 löste Präsident Juschtschenko das Parlament auf. Es kam zu Neuwahlen am 30. September 2007. Nach Einschätzung der OSZE/ODIHR entsprachen diese Parlamentswahlen im Wesentlichen demokratischen Standards. Das Wahlergebnis lautete: Partei der Regionen“ 35,37 % (175 Sitze), „Block Julija Tymoschenko“ 30,71 % (156 Sitze), „Block Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes“ 14,15 % (72 Sitze), „Kommunistische Partei der Ukraine“ 5,39 % (27 Sitze), „Block Lytwin“ 3,96 % (20 Sitze). Alle übrigen Parteien und Blöcke scheiterten an der Drei-Prozent-Hürde. Mit 226 Stimmen wurde Julia Timoschenko im Dezember 2007 zur Ministerpräsidentin gewählt. 2010 Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 kam es zwischen Timoschenko und Janukowitsch, die sich beide für die Einführung „europäischer Standards“ in der Ukraine aussprachen, zur Stichwahl, die Janukowitsch mit 48,96 % gewann. Die OSZE hatte die Präsidentschaftswahlen zuvor als frei und überwiegend fair bezeichnet. Der neu gewählte Präsident Janukowitsch erklärte nach seinem Amtsantritt im Februar 2010, die Ukraine wolle ein blockfreies Land sein und verstehe sich als „eine Brücke zwischen Russland und der EU“. Einer NATO-Mitgliedschaft erteilte er eine klare Absage. Janukowitsch kündigte ein Assoziierungsabkommen mit der EU auf und versuchte sich enger an Russland zu binden. Unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen, noch im Jahr 2010, kam es zu einem Misstrauensvotum gegen Timoschenko. Mykola Asarow wurde zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Janukowitsch baute seine Macht durch eine Verfassungsänderung auf alle Bereiche des politischen Lebens in der Ukraine aus. Das unter Juschtschenko eingeführte Gesetz zur Machtbegrenzung des Präsidenten wurde rückgängig gemacht. Die Presse wurde zunehmend zensiert. Durch eine Verwaltungsreform (Dezember 2010) und das Gesetz über das Ministerkabinett wurde aus dem Präsidenten zusätzlich zum „Garanten der Verfassung“ de facto der Regierungschef. 2012 Im Oktober 2012 fanden Parlamentswahlen statt. Die Partei der Region, deren Ehrenvorsitzender Janukowitsch ist, erhielt 30% der Stimmen und 187 Sitze. Stärkste Oppositionspartei und zweitstärkste Fraktion im Parlament wurde mit 25,55% und 103 Sitzen die Allukrainische Vereinigung "Vaterland" unter ihrer Vorsitzenden Timoschenko. 8 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 2012 2013 2014 7. März 2014 In der Opposition stand daneben die Ukrainische demokratische Allianz für Reformen - UDAR des mehrfachen Boxweltmeisters Vitali Klitschko, die mit 13,9% der Stimmen 40 Abgeordnete stellte. Mit diesen beiden demokratischen und pro-europäischen Oppositionsparteien verbündet ist in der aktuellen Krise in der Ukraine die rechtsradikale "Swoboda", die mit 10,45% und 37 Sitzen nach mehreren erfolglosen Kandidaturen erstmals im Parlament vertreten ist. Die Kommunistische Partei der Ukraine konnte deutlich Stimmen gewinnen und erreichte mit 13,18% (2007: 5,39%) nun 32 Sitze. Mit insgesamt 7 Sitzen sind 4 weitere kleine Parteien im Parlament vertreten. Hinzu kommen 43 direkt in den Wahlkreisen gewählte Unabhängige. Im November 2013 begannen die „Euromaidan“ genannten Proteste. Alle Demonstranten forderten Neuwahlen, doch gab es viele unterschiedliche Gruppierungen, die zusätzlich eigene Interessen vertraten. Im Gegensatz zu der "Orangenen Revolution" von 2004 richtete sich die EuromaidanBewegung auch gegen die verbreitete Korruption und setzte sich für eine Westorientierung ein. Am 28. Januar 2014 trat Asarow als Ministerpräsident zurück, um in der im Lande herrschenden Konfliktsituation „zusätzliche Möglichkeiten für einen gesellschaftlich-politischen Kompromiss“ und „die friedliche Beilegung des Konflikts“ zu schaffen. Im Februar 2014 kam es zu einer Einigung, welche die Rückkehr zur vorherigen Verfassung, die bis September 2010 in Kraft war, und die faktische Absetzung des Präsidenten beinhaltete. (s. Chronik der Ereignisse ab Februar 2014) 3. Chronik der Ereignisse ab Februar 2014 20.02. Sicherheitskräfte schießen in Kiew auf Demonstranten. Dabei sterben 80 von ihnen. Die Oppositionsführer und Janukowitsch vereinbaren Präsidentschaftswahlen bis Ende des Jahres. 21.02. Das Parlament beschließt die Rückkehr zur Verfassung von 2004 mit weniger Rechten für den Staatspräsidenten. Das Parlament enthebt Janukowitsch des Amtes und setzt für den 25. Mai eine vorgezogene Wahl 22.02. an. Janukowitsch flieht nach Russland. Das Parlament wählt Alexander Turtschinow zum Übergangspräsidenten. Vorrangige Aufgaben sind 23.02 die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage. Außerdem verfügt das Parlament die sofortige Freilassung Julija Timoschenkos. 25.02. Vitali Klitschko erklärt seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl. Der sogenannte Maidan-Rat, in dem die Führungsspitzen der bisherigen Oppositionsbewegung versammelt sind, nominiert den pro-euopäischen Politiker Arseni Jazenjuk, Vorsitzender der Vaterlandspartei von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, als Chef der Übergangsregierung. 26.02. Kiew beantragt einen internationalen Haftbefehl gegen Janukowitsch wegen mehrfachen Mordes. Putin ordnet eine Militärübung an der Grenze zur Ukraine an. Auf der Krim kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern der neuen Führung in Kiew. Jazenjuk wird als Regierungschef vom Parlament bestätigt. Pro-russische Milizen besetzen den Regierungssitz und das Parlament in der Krim-Hauptstadt 27.02. Simferopol. Das Regionalparlament in Simferopol beschließt, ein Referendum über die Frage abzuhalten, ob man der autonomen Teilrepublik den Status eines Staates einräumen soll. Nach Angaben Kiews landen 2000 russische Soldaten auf einem Luftwaffenstützpunkt auf der 28.02. Halbinsel. US-Präsident Barack Obama droht Moskau mit ernsten Konsequenzen, sollte die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine verletzt werden. Der russische Präsident Putin lässt sich vom Parlament die Entsendung russischer Soldaten in die Ukraine billigen. Bewaffnete Einheiten der in Sewastopol stationierten Schwarzmeerflotte besetzen wichtige Gebäude auf der Krim. 01.03. Kiew beschuldigt Russland, inzwischen 6000 Soldaten und 30 Panzerfahrzeuge auf die Halbinsel verlegt zu haben. Die ukrainische Armee wird in Alarmbereitschaft versetzt. Das Referendum über den künftigen Status der autonomen Teilrepublik wird auf den 30. März vorverlegt. Die Ukraine mobilisiert alle Reservisten, Übergangsregierungschef Arseni Jazenjuk wirft Moskau eine "Kriegserklärung" vor. Pro-russische Milizen setzen ukrainische Soldaten auf der Krim in ihren 02.03. Kasernen fest. Die G-7-Staaten legen die Vorbereitungen für den für Juni geplanten G-8-Gipfel in Sotschi auf Eis. Putin akzeptiert den Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem Dialog mit einer "Kontaktgruppe". Nach Angaben des ukrainischen Grenzschutzes setzt Russland die Verlegung von Truppen auf die Krim ungebremst fort. Die USA verlangen die sofortige Entsendung von OSZE-Beobachtern. 03.03. Russlands Börsen und der Rubel brechen ein. Die EU-Außenminister ringen in Brüssel um eine gemeinsame Position zu der Krise. In Simferopol kommt es zu pro-russischen Demonstrationen. Sie kritisieren die Geschehnisse in Kiew als Umsturz, der dazu geführt hat, dass dort nun Nationalisten und Faschisten an der Macht 04.03. sind. Auch sie sind zwar frustriert vom Ex-Präsidenten Janukowitsch, verurteilen aber die Versuche des Westens, die Ukraine in die EU zu zerren. Ihnen schwebt eine selbständige Krim vor. 9 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 7. März 2014 4. Die Krim Die Halbinsel Krim liegt im Schwarzen Meer und ist eine autonome Teilrepublik der Ukraine. Aufgrund ihrer strategisch wichtigen Lage, war sie seit jeher heiß umkämpft. 1237 1440 Die Mongolen erobern die Krim. Die Tataren gründen ein eigenes Khanat, nachdem sich das mongolische Reich aufgelöst hatte. (Khanat: Bezeichnung für die historischen Staatsgebilde der türkischen und mongolischen Stämme im Sinne eines mittelalterlichen Feudalstaates. Sie wurden von einem Khan regiert.) 1478 1774 1783 1853 – 1856 1941 1945 1954 1971 1991 1992 1997 2010 Die Krim wird Teil des Osmanischen Reichs, bleibt aber autonom. Die Krim wird vom Osmanischen Reich unabhängig. Die russische Zarin Katharina die Große annektiert die Krim und befiehlt deren Kolonialisierung durch Russen. Viele Tataren wandern in das Osmanische Reich aus. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts baut Russland in der Hafenstadt Sewastopol eine Marinebasis, die bis heute Heimathafen der Schwarzmeerflotte ist. Weil er Profit aus dem osmanischen Niedergang schlagen will, führt Zar Nikolaus I. gegen das Osmanische Reich den Krimkrieg. Russland unterliegt. Hitlers Wehrmacht erobert die Krim. Nicht wenige Tataren treten in die Waffen-SS ein. Nach der Rückeroberung durch die Rote Armee (1944) ließ Stalin die Krimtataren brutal umsiedeln. Tausende starben. Im Badeort Jalta auf der Krim legen Kreml-Chef Josef Stalin, US-Präsident Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill Grundzüge der Nachkriegsordnung fest. Auch die Gründung der UN wird vorbereitet. Die Krim wird Teil der Ukraine. Stalins Nachfolger als Kreml-Chef und Parteichef der KPdSU, Nikita Chruschtschow, selbst Ukrainer, schlägt die Krim der ukrainischen Sowjetrepublik zu. Sowjetführer Leonid Breschnew und Bundeskanzler Willy Brandt sprechen in Jalta über die neue deutsche Ostpolitik. Seit dem Ende der Sowjetunion 1991 gibt es immer wieder russische Gebietsansprüche. Die Ukraine kann ihre Herrschaft über die Krim nur mühsam durchsetzen. Mit Druck verhindert Kiew ein Referendum über die Unabhängigkeit. Als Zugeständnis wird 1992 die Autonome Republik Krim errichtet. Dort ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Russland hat mit der Ukraine einen Pachtvertrag über die Nutzung der Häfen für die Flotte abgeschlossen. Die Schwarzmeerflotte war zu Zeiten der Sowjetunion eine der großen Flotten der UdSSR. Sie hat inzwischen zwar stark an Bedeutung verloren, die geostrategische Bedeutung der Halbinsel Krim für Russland als Zugang zum Mittelmeer besteht aber unvermindert fort. Die Hafenstadt Sewastopol (mehr als 300.000 Einwohner) mit dem Marinestützpunkt gehört nicht zum Autonomiegebiet, sondern wird direkt von Kiew aus verwaltet. In einem Abkommen mit der Regierung in Kiew wird vereinbart, dass die Marinebasis für 20 Jahre bestehen bleiben soll. Die Schwarzmeerflotte wird zwischen der Ukraine und Russland aufgeteilt. Janukowitsch verlängert diesen Vertrag bis 2042 mit Option bis 2047. Die ethnische und sprachliche Lage auf der Krim Von den rund 2,4 Millionen Einwohnern sind etwa 25 % Ukrainer und knapp 60 % Russen. Bei einer Volkszählung im Jahr 2001 bezeichneten sich rund 1,4 Millionen Bürger als Russen und 576.000 als Ukrainer. Damit ist die Krim die einzige Region der Ukraine, in der die Mehrheit der Menschen aus Russland stammt. Eine weitere wichtige Volksgruppe ist die der russlandkritischen Krimtataren mit rund 245.000 Menschen (ca. 12 %). Ihre Sprache ist offiziell anerkannt. Sie bekennen sich zum sunnitischen Islam und siedelten vor ihrer Vertreibung von der Krim als Bauern, Fischer und Viehzüchter. Stalin hatte rund 200.000 Tataren völkerrechtswidrig 1944 von der Krim nach Zentralasien deportieren lassen mit der Begründung, sie hätten mit den Deutschen kollaboriert. Die Tataren verloren all ihren Besitz, viele von ihnen wurden ermordet oder starben an Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung bei der Zwangsumsiedlung. Seit 1988 dürfen sie wieder in ihre angestammte Heimat zurücksiedeln. Von den insgesamt schätzungsweise 500.000 Krimtataren machten bisher rund 250.000 davon Gebrauch. Nach einem Erlass von 1993 wurde den Rückkehrern Land zugeteilt. Schon nachdem die Krim 1783 von Russland annektiert worden war, wanderten viele der turksprachigen Krimtataren ins Osmanische Reich aus. Kleinere Gruppen leben heute unter anderem in Zentralasien, der Türkei, Bulgarien, Rumänien, Polen oder den USA. Die Tataren stehen auf der Seite der Ukrainer und machen gegen eine Angliederung der Krim an Russland Front. Sie drohen mit massivem Widerstand. Die Krim als Urlaubsort Die Krim ist ein beliebter Urlaubsort für Millionen Touristen. Zu Zeiten der Sowjetunion entwickelte sie sich zum Reiseziel für die Massen. Mittlerweile sind die Preise aber stark gestiegen, so dass vor allem wohlhabende Russen und Ukrainer dort Urlaub machen. Die Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte gelten als Touristenattraktion. Weltweit bekannt ist der nach der Halbinsel benannte Krimsekt. • • 10 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 (3) Europawahl 2014 (2) - Bundesverfassungsgericht kippt Drei-Prozent-Hürde Kompetenzen: Das Urteil mit seinen wesentlichen Argumenten zusammenfassen können. 1. Der aktuelle Anlass Am 26. Februar 2014 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl für verfassungswidrig. Damit wird es bei der Europawahl am 25. Mai erstmals keine Sperrklausel geben. Für eine Partei reicht damit ein Stimmenanteil von 7. März 2014 etwa einem Prozent für ein Mandat im Europaparlament aus. Das Gericht hatte im November 2011 die FünfProzent-Hürde bei Europawahlen gekippt. Im Juni 2013 beschloss der Bundestag die Drei-ProzentHürde. Dagegen klagten kleinere Parteien. 2. Urteilsbegründung (Auszug aus der Presseerklärung des BVerfG) …Unter den gegebenen rechtlichen und tatsäch- Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der lichen Verhältnissen ist der mit der Sperrklausel politischen Parteien rechtfertigen. Eine maßgebliche verbundene schwerwiegende Eingriff in die Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit (Anm. d. Red.: Verhältnisse ist seither nicht eingetreten. Die DreiArt. 3 Abs. 1 GG) und Chancengleichheit (Anm. d. Prozent-Sperrklausel findet keine Rechtfertigung im Red.: Art. 21 Abs. 1 GG) nicht zu rechtfertigen. Eine Hinblick auf zu erwartende politische und abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung kann institutionelle Entwicklungen und damit verbundene der Funktionsbedingungen des sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich Änderungen Parlaments in der nächsten ändern. Künftige Entwicklungen kann der Europäischen Gesetzgeber dann maßgeblich berücksichtigen, Wahlperiode. wenn sie aufgrund hinreichend belastbarer a) Der Gesetzgeber geht zutreffend davon aus, dass tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig eine antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition auf europäischer Ebene unter Umständen verlässlich zu prognostizieren sind. dann eine Sperrklausel im deutschen Europa…. Im vorliegenden Verfahren kann offenbleiben, wahlrecht rechtfertigen kann, wenn in rechtlicher und inwieweit dem Ansatz des Deutschen Bundestages tatsächlicher Hinsicht Verhältnisse gegeben sind, die zu folgen ist, dass Sperrklauseln bereits unter denen auf nationaler Ebene vergleichbar sind, wo die Aspekten der Vorsorge gegen Gefahren für die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer Funktionsfähigkeit gerechtfertigt sind. Dies kann handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende allenfalls für Volksvertretungen gelten, bei denen Unterstützung nötig ist. Eine dahingehende eine Schwächung der Funktionsfähigkeit gleichbe- Entwicklung des Europäischen Parlaments wird zwar deutend sein kann mit einer entsprechenden Schwä- politisch angestrebt, steckt indes noch in den chung der Fähigkeit, hierauf mit einer Korrektur des Anfängen. Tatsächliche Auswirkungen auf die Wahlrechts zu reagieren. Denn bezogen auf das Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments Europäische Parlament sind Korrekturen durch den sind derzeit nicht abzusehen, so dass für die nationalen Wahlrechtsgesetzgeber möglich. Mit einer Prognose des Gesetzgebers, es drohe ohne die eine Funktionsbeeinrein vorsorglich statuierten Sperrklausel würde der Drei-Prozent-Sperrklausel schwerwiegende Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit trächtigung des Europäischen Parlaments, die Grundlage fehlt. in unverhältnismäßiger Weise vorverlagert. d) Die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliegt einer b) Das Europäische Parlament verfolgt ausweislich strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Dies folgt seiner Entschließung vom 22. November 2012 im aus der generellen Erwägung, dass die Einverständnis mit der derzeitigen Kommission das parlamentarische Mehrheit mit Regelungen, die die Ziel einer Stärkung der politischen Legitimität beider Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, Institutionen, deren Wahl jeweils unmittelbarer mit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und der Entscheidung der Wähler verknüpft werden soll. gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr Um dies zu fördern, sollen die europäischen besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich politischen Parteien Kandidaten für das Amt des statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Kommissionspräsidenten nominieren. Eine Änderung Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt. Aus der europarechtlichen Grundlagen wird jedoch nicht diesem Grunde kann die verfassungsgerichtliche angestrebt. Auch bleibt unklar, wie das politische Kontrolle auch nicht durch Zubilligung von Anliegen, die demokratische Willensbildung auf weitgehend frei ausfüllbaren Prognosespielräumen europäischer Ebene zu stärken, im Rahmen des geltenden Unionsrechts mit Relevanz für die hier zu zurückgenommen werden. 4. Nach diesen Maßstäben ist die Drei-Prozent- entscheidende Frage umgesetzt werden soll. Die Sperrklausel (§ 2 Abs. 7 EuWG) mit Art. 3 Abs. 1 und damit verbundenen Fragen können jedoch dahin Art. 21 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Senat hat im stehen. Urteil vom 9. November 2011 festgestellt, dass die c) Es ist nämlich bereits in tatsächlicher Hinsicht bei der Europawahl 2009 gegebenen und nicht konkret absehbar, dass die angestoßene fortbestehenden tatsächlichen und rechtlichen politische Entwicklung ohne eine Sperrklausel im Europawahlrecht zu einer Verhältnisse keine hinreichenden Gründe bieten, die deutschen des Europäischen den mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel verbundenen Funktionsbeeinträchtigung schwerwiegenden Eingriff in die Grundsätze der Parlaments führen könnte. 11 © Madog Druck & Verlag GmbH – Alle Rechte vorbehalten Die Vervielfältigung und Weitergabe dieser PDF-Datei ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages erlaubt. Politik Aktuell Nr. 07/2014 7. März 2014 Zusammenhalt gerade erhöhen. Zudem ist offen, ob eine infolge stärkerer parteipolitischer Profilierung veränderte Wahrnehmung des Europäischen Parlaments nicht Wähler mehr als bislang zu strategischem Wahlverhalten veranlassen und dies einer Zunahme der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien entgegenwirken würde. aa) Derzeit lässt sich nicht einmal abschätzen, in welchem Umfang und mit welchen Auswirkungen die in der Entschließung vom 22. November 2012 zum Ausdruck gebrachte Position sich gegenüber den Vertretern der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und im Rat wird durchsetzen lassen. Auch der Umfang damit möglicherweise einhergehender Veränderungen im politischen Prozess innerhalb des Europäischen Parlaments in der kommenden Wahlperiode bleibt spekulativ. Soweit die DreiProzent-Sperrklausel danach mit der Erwägung gerechtfertigt werden sollte, der beabsichtigte „Demokratisierungsschub“ dürfe nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass von Deutschland aus eine Zersplitterung des Europäischen Parlaments in Kauf genommen werde, verfehlte dies nicht nur die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der politischen Parteien. Es würde auch der Offenheit des politischen Prozesses nicht gerecht, der für die parlamentarische Debatte gerade im Hinblick auf mögliche Umstrukturierungen wesentlich ist und zu dem kleine Parteien einen wichtigen Beitrag leisten können. (3) Die in der mündlichen Verhandlung genannte Zahl von künftig möglicherweise 80 kooperationsunwilligen Abgeordneten lässt sich angesichts derartiger Ungewissheiten nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit prognostizieren. Ohnehin bezogen sich die betreffenden Äußerungen nicht auf die Zahl der zu erwartenden fraktionslosen Abgeordneten kleiner Parteien mit einem oder zwei Abgeordneten, sondern auf Abgeordnete bestimmter unionskritischer Parteien, die voraussichtlich nicht an einer Sperrklausel scheitern werden. (4) Im Hinblick auf die Integrationskraft der Fraktionen ist schließlich nicht ersichtlich, dass in der kommenden Wahlperiode neu gewählte Abgeordnete kleinerer Parteien von vornherein keine Aufnahme in einer der etablierten Fraktionen oder in einer neu gegründeten weiteren Fraktion finden könnten. Es wird allerdings zu beobachten sein, wie sich eine denkbare Wahl von Abgeordneten weiterer, in der deutschen Parteienlandschaft im Wettbewerb stehender Parteien auswirken wird. Gesicherte Einschätzungen sind derzeit auch diesbezüglich nicht möglich. Sich etwa konkret abzeichnenden Fehlentwicklungen kann der Gesetzgeber Rechnung tragen. bb) Es ist auch nicht belegbar, dass die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament infolge der angestrebten Politisierung strukturell beeinträchtigt wird. (1) Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament in Zukunft nicht mehr oder in signifikant geringerem Umfang stattfindet. Ob und inwieweit dies der Fall sein wird, ist jedoch ungewiss; denkbar sind jedenfalls auch Entwicklungen, die die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments unbeeinträchtigt lassen. So kann es Gründe für die Annahme geben, dass die beiden großen Fraktionen, die regelmäßig eine absolute Mehrheit der Mandate auf sich vereinen, auch weiterhin in einer Vielzahl von Fällen an einer Zusammenarbeit interessiert, wenn nicht sogar auf eine solche angewiesen sind. (2) Darüber hinaus kann auch nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass die bislang praktizierte flexible Mehrheitsbildung im Parlament durch die Zuwahl neuer Abgeordneter kleiner Parteien nennenswert erschwert würde. Möglich ist auch, dass etwaige deutlichere politische Gegensätze zwischen den einzelnen Fraktionen deren internen Herausgeber: POLITIK AKTUELL Schriftleitung: Postfach 10 13 48 41545 Kaarst Postvertriebsstück G 2251 Entgelt bezahlt d) Die Drei-Prozent-Sperrklausel greift zwar weniger intensiv in die Wahlrechtsgleichheit und in die Chancengleichheit der Parteien ein als die frühere Fünf-Prozent-Sperrklausel. Daraus folgt jedoch nicht, dass der auch mit der Drei-Prozent-Sperrklausel verbundene Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit vernachlässigbar wäre und keiner Rechtfertigung bedürfte. Ein Sitz im Europäischen Parlament kann bereits mit etwa einem Prozent der abgegebenen Stimmen errungen werden, so dass die Sperrklausel praktische Wirksamkeit entfaltet. Da eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht gegenwärtig bereits nicht erforderlich ist, es also an der Rechtfertigung bereits dem Grunde nach fehlt, kommt es auf Fragen der Angemessenheit der DreiProzent-Klausel nicht an. G. Blaß †, J. Rauball. D. Zillmer E. Bizer, Gerhart-Hauptmann-Str. 1, 41516 Grevenbroich Tel. 02182-3445; E-Mail: [email protected] Druck und Verlag/ Bestellanschrift: Mado^^g Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, Postfach. 101348, 41545 Kaarst Tel.: 02131-64053, Fax: 02131-63580, E-Mail: [email protected] www.madog.de Bezugsbedingungen: PA erscheint 40 x im Jahr (Unterbrechung während der Schulferien). Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages kein Entschädigungsanspruch. Für Abonnementkündigungen gilt eine Frist von 6 Wochen zum Halbjahresende. PA kann für Unterrichtszwecke kopiert werden. 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