Konsenskritik und Dissensdemokratie Oliver Flügel-Martinsen 1 Einleitung In der normativen Demokratietheorie der Gegenwart ist eine Unterscheidung einflussreich, die Jürgen Habermas in den 1990er Jahren ausgearbeitet hat, um seine eigene Position und die von ihr beanspruchte integrative Leistung kenntlich machen. Habermas’ Überlegungen bieten deshalb einen guten Ausgangspunkt für die nachfolgende Erkundung eines politischen Denkens der Demokratie, das Konsenskritik und Dissens betont, weil sich in ihnen ein grundlegendes Verständnis von Demokratietheorie paradigmatisch zum Ausdruck bringt, dem eine politische Theorie der Demokratie geradezu fremd ist. Habermas weist nämlich wie selbstverständlich und ohne diese entscheidende Weichenstellung überhaupt zu diskutieren der Theorie die Aufgabe zu, Politik zu limitieren: Demokratietheorie dient so aus seiner Sicht dazu, Begründungen für bestimmte normativ abgesicherte Verfahren bereitzustellen, die politische Auseinandersetzungen einhegen sollen, da sie gerade nicht mehr zur Disposition stehen sollen. Für die dissensdemokratischen Positionen, die im vorliegenden Beitrag ein wenig ausgeleuchtet werden sollen, muss Demokratietheorie demgegenüber eine zugleich bescheidenere und radikalere Rolle übernehmen: Sie ist zu verstehen als eine politische Theorie, in der das Adjektiv politisch nicht einfach einen Gegenstandsbereich, sondern auch einen Modus der Theoriebildung bezeichnet. Politisch ist dann keine einfache Kennzeichnung, die besagt, dass das Feld der Politik in den Blick genommen werden soll, sondern politisch verweist auch darauf, wie dieses Feld zu verstehen ist: Als eines, in dem dauerhafte und begründungstheoretisch nicht im Vorhinein eingehegte Auseinandersetzungen darüber geführt werden, welche Gestalt politische Institutionen, Verfahren und Entscheidungsprozesse annehmen. Theorie hat so einen wesentlich kritisch-befragenden Sinn im Unterschied zu jenem begründenden Charakter, den ihr Habermas zuschreibt. In diesem Sinne lässt sich auch von einer Demokratietheorie sprechen, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 W. Friedrichs, D. Lange (Hrsg.), Demokratiepolitik, Bürgerbewusstsein, DOI 10.1007/978-3-658-11819-8_2 12 Oliver Flügel-Martinsen die eine Demokratiepolitik in ihr Zentrum stellt, um damit die unhintergehbar politische, also befragende Dimension der Demokratie hervorzuheben. Habermas’ sortierender Vorschlag kann hier einleitend als eine Art Konstrastmittel genutzt werden, um die Konturen eines begründungstheoretischen Verständnisses von Demokratie zu umreißen, das dann im weiteren Fortgang einer befragenden Kritik unterzogen werden soll. Zudem umfasst Habermas’ Unterscheidung zugleich auch einen Vorschlag, wie aus einer begründungstheoretischen Sicht die Dimensionen von Konsens und Dissens zu vermitteln sind: Indem nämlich aus theoretischer Perspektive Dissensartikulationen ein eng umrissenerer Platz zugewiesen wird; wir werden später unter anderem in Auseinandersetzung mit Rancière sehen können, dass dadurch der demokratisch grundlegende Sinn von Dissensäußerungen letztlich konterkariert wird. In Faktizität und Geltung (1994) und noch deutlicher in einem heute für seine Demokratietheorie im Grunde kanonischen kurzen Text aus der Aufsatzsammlung Die Einbeziehung des Anderen (1996a), der den programmatischen Titel Drei normative Modelle der Demokratie (1996c) trägt, unterscheidet Habermas zwischen drei grundsätzlichen demokratietheoretischen Alternativen. Auf der einen Seite steht dabei das liberale Modell, das im Kern ein privatistisches Verständnis von Demokratie vorschlägt, da in seinem Zentrum die liberalen, auf ihren je eigenen, mithin privaten Nutzen bedachten Subjekte stehen, die nach dem berühmten Modell des homo oeconomicus modelliert sind, das Hobbes im 17. Jahrhundert in die Politische Theorie eingeführt hat und das bis heute in Rational Choice-Ansätzen den wichtigsten analytischen Bezugspunkt ausmacht. Die demokratische Ordnung erscheint aus dieser Perspektive, wie politische Ordnung überhaupt, dann als legitim, wenn sie einen geeigneten Rahmen bietet, um die Verfolgung der privaten Interessen jener liberalen Subjekte zu ermöglichen. In diesem Modell findet ein quasi marktanaloger Streit um die Programmierung des politischen Systems statt, dessen klassische Beschreibung Anthony Downs in seiner ökonomischen Demokratietheorie geliefert hat (1968). Der Streit hat in diesem Modell also eine zentrale Rolle, der freilich ein bestimmtes Verständnis beigelegt wird, nämlich das einer Konkurrenz um Stimmen und Einfluss. Habermas entwickelt aus seiner deliberativen Perspektive einen fundamentalen Einwand, der sich auch in anderen Denktraditionen, etwa in Charles Taylors kommunitaristischem Demokratiedenken (vgl. Taylor 2002), findet. Dieser Einwand lautet im Kern, dass die liberale Fixierung auf – mit Taylor gesprochen – atomistische Subjekte (vgl. Taylor 1996, Teil I), politische Ordnung nicht angemessen zu erfassen in der Lage ist und durch den bloß negativen Bezug auf die Institutionen und Praktiken demokratischer Selbstregierung eine lebensfähige Vorstellung von Demokratie verfehlt. Die privatistische Instrumentalisierung der demokratischen Öffentlichkeit im Konsenskritik und Dissensdemokratie 13 Zeichen einer Konkurrenz um den größtmöglichen Vorteil taugt aus dieser Sicht nicht, um das anspruchsvolle Projekt demokratischen Selbstregierens zu tragen. Auf der anderen Seite kontrastiert Habermas ein Demokratiemodell, dem er den Namen des Republikanismus beilegt und das viele Kennzeichen mit dem schon kurz erwähnten kommunitaristischen Demokratiedenken teilt; wir werden weiter unten übrigens noch sehen, dass es ein Fehler wäre, die republikanische Denktradition auf jenes Modell zu verkürzen, das Habermas unter dieser Bezeichnung diskutiert. Im Zentrum dieser Alternative zum liberalen Modell steht ein Merkmal, von dem Habermas meint, dass es auf einen spiegelbildlichen Fehler hinauslaufe: Wo der Liberalismus den demokratischen Staat als eine im Konkurrenzdiskurs zu programmierende Agentur für Privatzwecke versteht, setzt der Republikanismus nach Habermas’ Einschätzung auf einen kollektiv-ethischen, dem politischen Geschehen gewissermaßen vorgängigen Konsens eines gemeinsamen Ethos. Während das liberale Modell demnach zu stark auf die Einzelsubjekte fokussiert ist, überbetont das republikanische eine ethisch verstandene Gemeinschaftsvision und verfehlt damit seinerseits den radikalen weltanschaulichen Pluralismus, der moderne Demokratien kennzeichnet. Republikanischer Konsens und liberaler Dissens als Konkurrenz stehen sich somit, folgt man Habermas’ Rekonstruktion der normativen Demokratietheorie, mit wechselseitigen Lücken und Ausblendungen gegenüber. Habermas’ eigene Vorstellung von Demokratie, die sich seither als ein heute gängiges Standardparadigma etablieren konnte, beansprucht dabei bekanntlich eine Integration von Dimensionen beider Ansätze, die die wechselseitigen Fehler vermeiden soll. Dabei wird auch das Verhältnis von Konsens und Dissens neu austariert: Während Habermas die Möglichkeit eines vorgängigen ethischen Konsenses bestreitet und auf die weltanschauliche Pluralität in den westlichen Gegenwartsgesellschaften verweist (vgl. 1996b),1 setzt er in einer anderen Hinsicht doppelt auf Konsensannahmen. Beide Konsensanahmen finden sich im Zentrum seines eigenen Demokratiemodells. Dieses beruht wesentlich auf der Vorstellung einer argumentativen Verständigung in rationalen Diskursen, die Habermas zunächst im Bereich der Moraltheorie ausgearbeitet (1983 und 1991) und dann auf die Demokratietheorie übertragen hat (Habermas 1994). Ein Konsens muss, wie Habermas in jüngerer Zeit noch einmal im Rückblick auf die Kernelemente seiner Demokratietheorie unterstrichen hat, zunächst über die „Beratungs- und Entscheidungsverfahren“ (Habermas 2013b, S. 69) bestehen. Dieser Konsens zehrt sodann zweitens von der grundsätzlichen theoretischen Annahme, dass sich in 1 Seit einigen Jahren diskutiert Habermas dabei vor allem auch das Verhältnis von demokratischem Rechtsstaat und der Religiosität von Gruppen seiner Bürgerinnen und Bürger. Vgl. für seine jüngeren Überlegungen Habermas 2012b. 14 Oliver Flügel-Martinsen rationalen Argumentationsspielen durch den sogenannten zwanglosen Zwang des besseren Arguments prinzipiell ein Konsens erzielen lassen könnte, wenngleich in realen politischen Situationen selbstredend Abstriche zu machen sind, da dort keine ideale Sprechsituation hergestellt werden kann. Dennoch zehrt die verständigungstheoretische Anlage von Habermas’ Demokratietheorie von der von ihm prinzipiell angenommenen Möglichkeit eines solchen Konsenses, dessen begrifflich zu supponierende Möglichkeit gewissermaßen die faktisch stattfindenden Verfahren korrektiv und kritisch tragen soll. Der Dissens, für den diese Demokratievorstellung noch Raum lässt, ist mithin zu verstehen als ein rationaler, auf der Basis von allgemeinen und reziproken Gründen zu artikulierender Einspruch, wie es in der Terminologie des Habermas-Schülers Rainer Forst heißt (vgl. Forst 2007b, S. 15). Ohne Zweifel ist Habermas’ Unterscheidung dieser drei Demokratiemodelle ebenso wie seine eigene Vorstellung deliberativer Demokratie gegenwärtig von großem und anhaltendem Einfluss. Vielleicht ist es sogar berechtigt, derzeit von einer Form hegemonialer Dominanz dieses Paradigmas – zu dem dann auch Rawls’ politisches Denken zu rechnen ist 2 – in der normativen Demokratietheorie zu sprechen. Allerdings haben sich von Anfang an Gegenstimmen artikuliert, die sich erstens nicht in diese Trias von Demokratiemodellen einpassen lassen und die zweitens grundlegende Einwände gegen Habermas’ gesamtes Demokratiedenken und seine Aufgabenbestimmung der Demokratietheorie formulieren. Diese von Habermas und der von ihm beeinflussten Demokratietheorie bis heute weitgehend vernachlässigten Strömungen eint, bei vielen Unterschieden en detail, eine vehemente Insistenz auf der Bedeutung eines Dissenses, der sich nicht vorab argumentationstheoretisch einhegen und zähmen lässt. Ja, vielen dieser zur habermasschen Position oppositionellen Ansätzen erscheinen Habermas’ Konsens- und Rationalitätsannahmen als eine Bedrohung des emanzipatorischen Charakters der Demokratie, der von einem nicht eingehegten Widerspruch und einer rückhaltlosen Befragung zehrt. Diese Positionen lassen sich, sucht man eine gemeinsame Begrifflichkeit für sie vorzuschlagen, vielleicht am ehesten als eine Art radikaler Zivilrepublikanismus verstehen, der allerdings, deutlich abweichend von dem kollektivethischen Republikanismus, der Habermas vor Augen steht, als ein Dissens-Republikanismus zu verstehen ist. In einem großzügigen Sinne lassen sich dazu u. a. Autorinnen und Autoren wie Claude Lefort, Jacques Rancière, Chantal Mouffe, Jean-Luc Nancy, Etienne Balibar, Miguel Abensour, Iris Marion Young und James Tully rechnen. 2 Wenngleich sich bestimmte Unterschiede ergeben. Vgl. zusammenfassend Forst 2007c. Eigene Stellungnahmen gibt es auch von Rawls (1996, Lecture XI) resp. Habermas (1996a, Teil II und aktuell noch einmal 2012a, Aufsätze 8 und 9). Konsenskritik und Dissensdemokratie 15 Da eine umfängliche, jeweils einzeln verfahrende Exegese hier allein schon aus Platzgründen nicht durchgeführt werden kann, wird es nur um die Erörterung von zwei übergreifenden Fragedimensionen gehen können: Erstens werden die Einwände gegen die Konsensbetonung und die zentrale Stellung des Dissenses untersucht (2.) und zweitens sollen dann die Konsequenzen einer solchen dissensrepublikanischen Annäherung an die Demokratie reflektiert werden (3.). 2 Dissens: Eine politische Theorie der Demokratie Die bahnbrechende Unterscheidung, auf die sich in verschiedenen Varianten dissenstheoretische Annäherungen an die Demokratie heute zumeist wenigstens implizit beziehen, findet sich in den Schriften Claude Leforts (v. a. 1986a). Lefort nimmt eine Kritik der politischen Philosophie und des politikwissenschaftlichen Denkens vor, in deren Zentrum die mittlerweile gängige Unterscheidung von Politik (la politique) und Politischem (le politique) steht (vgl. Marchart 2010), mit deren Hilfe es möglich wird, die grundlegende Bedeutung von Konflikt und Dissens für das Denken der Demokratie herauszustellen. Mit dem Politischen bezeichnet Lefort dabei eine aufbrechende Bewegung, die die institutionelle Ordnung der Politik in Frage stellt (vgl. Lefort 1986b). Das Politische zu denken, heißt somit einen Modus zu denken, der gleichsam unterhalb der politischen Institutionen ansetzt, da er sie (wie soziale Institutionen überhaupt) erst konstituiert (vgl. Lefort 1986b, S. 20). Die politikwissenschaftliche Annäherung an die Demokratie unterdrückt nach Leforts Eindruck die gedankliche Erkundung dieser subversiven, tiefer liegenden Ebene (Lefort 1986b, S. 20) – und verfehlt damit die Demokratie im Ganzen. Demokratie ist nämlich gerade nicht zu verstehen als eine feste institutionelle Ordnung, die sich wissenschaftlich auf den Begriff bringen lässt, sondern sie besteht aus einer nicht zu fundierenden Operation, die bestehende institutionelle Gefüge stets aufs Neue in Frage stellt. Von dieser begrifflichen Distinktion aus lässt sich nun überhaupt erst die grundlegende Bedeutung des Dissenses für die Demokratie ermessen. Die Idee der demokratischen Selbstregierung muss, wie Lefort mit großem Nachdruck betont, vor dem Hintergrund einer Ungewissheit über letzte Gründe verstanden werden, die feste Antworten zulassen könnten. Demokratie ist so verstanden eine Praxis des Selbstregierens, die darauf aufruht, dass sich feste Antworten nicht geben lassen; sie ist eine Selbstregierungspraxis jenseits letzter Gewissheiten (Lefort 1986b, S. 30). Wir verdanken Jacques Derrida den Hinweis, dass Demokratie überhaupt erst dadurch eine demokratische Selbstregierungspraxis sein kann – denn ließe sie sich 16 Oliver Flügel-Martinsen auf feste Antworten zurückführen, dann würde es sich nicht um demokratische Entscheidungen über den einzuschlagenden Weg handeln, sondern es liefe schlicht ein Programm ab. Die Offenheit der Zukunft, die für die Demokratie so elementar ist, zehrt von der Unberechenbarkeit (vgl. Derrida 2000, S. 55). Demokratie muss demnach eher als fluides Geschehen denn als festes institutionelles Gefüge verstanden werden. Diesen Gesichtspunkt greift auch Jacques Rancière auf, wenn er Demokratie in dem Sinne als an-archische Unternehmung versteht, als sie keine archē, kein festes Prinzip, keinen Grund, von dem aus sie sich logisch ableiten ließe, besitzt (vgl. Rancière 2002, S. 28). Hier kommt wieder der nämliche Gedanke variiert zum Einsatz: Demokratie ist mit Offenheit verbunden und diese Offenheit besteht in der Möglichkeit des Dissenses nicht nur über diese oder jene Entscheidung, sondern des Dissenses über die Einrichtung unserer Entscheidungsprozesse und Verteilungssysteme im Ganzen. Das ist der fundamentale Charakter des Dissenses, der allerdings vollkommen antifundamentalistisch verstanden werden muss, da ja gerade kein neues Fundament gelegt werden soll, sondern die Abwesenheit von Fundamenten und letzten Gründen in den Blick gerückt wird. Der Dissens ist deshalb so wesentlich, weil wir nicht wissen können, was zu tun ist, sondern es entscheiden müssen – und uns als demokratische Bürgerinnen und Bürger, die nicht auf feste Gründe rekurrieren können, nicht allein über die Entscheidungen, sondern auch über die Entscheidungsverfahren streiten müssen. Es ist dieser Punkt, der Balibar zu einer plakativen und radikalen Behauptung führt: „Die demokratische Staatsbürgerschaft ist also konfliktgeladen oder sie ist nicht“ (2012, S. 236, Herv. i. O.). So gesehen werden Dissens und Konflikt zur conditio sine qua non der Demokratie. Und das werden sie aus ganz und gar nicht-fundamentalistischen Gründen: Konflikt und Dissens sind nicht fundamental, weil sie in der menschlichen Natur angelegt sind oder weil sie zur Ontologie des Sozialen gehören.3 Sie sind fundamental, weil wir keine Fundamente haben und weil wir deshalb über die Wege, die wir beschreiten oder nicht beschreiten, ebenso streiten müssen wie darüber, wie wir das entscheiden. Es sind diese Argumente, auf die sich die von ganz unterschiedlichen Seiten geäußerten Einwände gegen die heute so einflussreiche – und aus der hier vertretenen Sicht – hochgradig problematische Demokratietheorie Habermas’ und ihre Konsensannahmen stützen. Rancière weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass schon der grundlegende Zug von Habermas’ Demokratietheorie, einen demokratischen Diskurs zwischen gleichberechtigten Gesprächspartnern anzunehmen und diesen wiederum als argumentativen Austausch rationaler Gründe zu verstehen, zutiefst 3 Bei Chantal Mouffe sieht es allerdings in der Tat zuweilen so aus, als gäbe es eine soziale Ontologie des Konflikts. Vgl. dazu kritisch Flügel-Martinsen 2013a. Konsenskritik und Dissensdemokratie 17 verfehlt ist (vgl. Rancière 2002, S. 59ff.). Demokratie und Politik müssen Rancière zufolge verstanden werden als ein Streit darüber, welche Sprache gesprochen wird und welche Subjekte sprachberechtigt sind: „Das Problem ist nämlich die Frage, ob die Subjekte, die im Gespräch gezählt werden, ‚sind‘ oder ‚nicht sind‘, ob sie sprechen oder Lärm machen“ (Rancière 2002, S. 62). Es ist, wie Rancière mit dieser Überlegung zu unterstreichen sucht, selbst Ergebnis einer bestimmten politischen Einteilung der diskursiven Welt, welche Sprache in einem Diskurs Anerkennung findet und welche Subjekte als würdig befunden werden, diese mitsprechen zu können. Die Vorstellung eines universellen Diskurses ist so gesehen zutiefst verfehlt, geht doch die für Habermas zentrale Idee des argumentativen Austauschs selbst auf eine bestimmte Einteilung des Sinnlichen4 zurück und muss also selbst zur Disposition stehen können, da dieser Austausch Ausgeschlossene hervorbringt, in deren politischer Dissensartikulation eine demokratische Handlung besteht. Auf eine Parole gebracht ließe sich, wie es Rancière in einem der Kapitel seines Buches Das Unvernehmen dann auch tatsächlich tut, sagen: Demokratie oder Konsens (2002, S. 105ff.). Konsens steht hier, um Rancières zentrale Überlegung noch einmal zu unterstreichen, deshalb im Gegensatz zur Demokratie, weil die Demokratie nur so lange existiert, wie alle bestehenden Konsensannahmen zur Disposition gestellt werden können – vor allem auch solche darüber, dass der politische Streit im Modus der rationalen Argumentation zu führen ist. Eine solche Demokratietheorie muss daher in einem eminenten Sinne als politische Theorie bezeichnet werden. Politisch ist sie dabei insofern, als in ihrem Zentrum eher der Versuch steht, den konflikthaften und dynamischen Charakter von Demokratie nachzuzeichnen, als eine bestimmte Konzeption von Demokratie zu begründen. Solche Versuche, Demokratietheorie als Begründung eines bestimmten institutionellen Settings zu betreiben, verfehlen nicht nur die Unternehmung der Demokratie, wie Lefort meinte – worauf weiter oben bereits hingewiesen wurde -, sondern sie machen, mit Rancières These gefasst, Schluss mit Politik und Demokratie. Sie sind, so hält es Rancière in Das Unvernehmen fest, eine Form der Postdemokratie (vgl. Rancière 2002, S. 105ff.). Postdemokratisch ausgelöscht wird Demokratie nämlich genau dann, wenn unter ihrem Namen eine Gesamtheit von Institutionen präsentiert wird, deren Sinn gerade darin besteht, den grundlegenden Streit, der Demokratie Rancière zufolge ausmacht, zu unterbinden. Nun ist diese Betonung des konfliktgeladenen Charakters von Demokratie und Politik konzeptionell allerdings insofern problematisch, als sie ihrerseits durchaus gerade zu einer Essentialisierung der Gegenannahme verleiten kann und also wie4 Le partage du sensible, wie auch der Titel eines einschlägigen Buchs Rancières lautet (2000). 18 Oliver Flügel-Martinsen derum eine Gewissheit dort unterstellen würde, wo wir mit Lefort Ungewissheit annehmen müssen. Das geschieht genau dann, wenn der konflikthafte Charakter von Demokratie und Politik zu einer Ontologie des Konflikts ausgebaut wird. Das ist eine Gefahr, die sich anhand der Demokratietheorie Chantal Mouffes nachzeichnen lässt (vgl. Mouffe 2007 und 2008a). Wiewohl Mouffe nämlich ebenso klar wie Lefort (vgl. Lefort 1982, S. 463) vor Augen steht, dass wir in einem Zeitalter der Ungewissheit leben, wodurch wir gut daran tun, auf essentialistische Annahmen zu verzichten, tendiert sie an manchen Stellen ihrer Überlegungen durchaus dazu, den Konflikt zu essentialisieren. Das geschieht bspw. dann, wenn sie zwar einerseits postuliert, dass das Denken des Politischen ohne letzten Grund auszukommen habe (vgl. Mouffe 2007, S. 25), gleichzeitig aber von einer Untilgbarkeit des Antagonismus spricht (vgl. Mouffe 2007, S. 28, s. a. Mouffe 2008b, S. 100/101). Die in politischen Auseinandersetzungen empirisch konstatierbaren Konflikte tendieren in einer solchen Fassung dazu, zu einer sozialen und politischen Ontologie antagonistischer Konflikte überhöht zu werden. Zwar ist es richtig, dass Mouffe keineswegs bei der antagonistischen Konstellation stehen bleiben möchte, sondern ein Demokratiedenken vorschlägt, in dem die antagonistische Freund-Feund-Konstellation in eine von ihr als agonistisch (von altgriechisch agon bzw. agonia = Wettstreit) bezeichnete Konstellation demokratischer Gegner überführt werden soll (vgl. Mouffe 2008b). Der Streit soll damit nicht getilgt, wohl aber entschärft werden: In einer antagonistischen Konstellation stehen sich Feinde gegenüber, die in letzter Konsequenz dazu bereit sind, sich wechselseitig auch physisch zu attackieren, wie es etwa im politischen Denken Carl Schmitts ausgeführt wird (vgl. Schmitt 1996, S. 33), an den sich Mouffe verschiedentlich anlehnt (vgl. Mouffe 1999) – dabei jedoch versuchend, seine Denkfiguren links zu wenden. In einer agonistischen Konstellation hingegen stehen sich zwar auch verschiedene und durchaus konfligierende Positionen gegenüber, allerdings wird das Gegenüber dort im Unterschied zur antagonistischen Konfrontation als ein Gegner wahrgenommen, dessen Position im politischen Meinungsstreit bekämpft, dem aber nicht die Berechtigung abgesprochen wird, eine andere Position zu vertreten und dessen Recht, zu sein, nicht im Mindesten zur Disposition steht (vgl. Mouffe 2008b, S. 103): „Während der Antagonismus eine Wir-Sie-Beziehung ist, in der sich Feinde ohne irgendeine gemeinsame Basis gegenüberstehen, ist der Agonismus eine Wir-Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, daß es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt“ (Mouffe 2007, S. 29/30). Mit dieser mouffschen Lösung verbinden sich allerdings zwei Schwierigkeiten, die sie im Ganzen nicht überzeugend machen. Erstens sieht sie sich, um den Übergang vom Antagonismus zum Agonismus zu bewerkstelligen, dazu gezwungen, unter der Hand doch auf Konsensannahmen zu rekurrieren, die Konsenskritik und Dissensdemokratie 19 dann aber eigentümlich in der Luft schweben, da unklar bleiben muss, warum dieser Hintergrundkonsens möglich sein soll, während Konsens in anderen Hinsichten, wie Mouffe sehr plausibel aufweist, keineswegs ohne hegemonialen Zwang möglich ist. Konsens soll nach ihrer Auffassung nämlich über „eine gemeinsame Bindung an ethisch-politische Prinzipien liberaler Demokratie“ (Mouffe 2008b, S. 103) bestehen, auf deren Grundlage die agonistische Konfliktlösung möglich werden soll (vgl. auch Mouffe 2007, S. 43, wo explizit von Konsens die Rede ist). Zweitens ändert dieser Zug zum Agonismus nichts daran, dass sie eine antagonistische Verfasstheit des Gesellschaftlichen und des Politischen als „ontologische“ Gewissheit zu unterstellen scheint. Eine Dissenstheorie der Demokratie ist aber, wie deutlich geworden sein sollte, besser beraten, auf Gewissheiten zu verzichten, lässt sich der andauernde Dissens doch gerade als Folge der Abwesenheit von Gewissheiten verstehen: Wir streiten uns über die soziale und politische Einrichtung unserer Welt schließlich gerade deshalb, weil wir keine Gewissheit über ihre Beschaffenheit besitzen. Wie die demokratietheoretischen Konsequenzen eines solchen Dissensdenkens beschaffen sind, gilt es deshalb nun zu erkunden. 3 Eine Dissenstheorie der Demokratie – und ihre Folgen Im Zentrum des Dissensdenkens der Demokratie steht, wie wir sehen konnten, die Unterscheidung einer institutionellen Sphäre der Politik und einer subversiven, befragenden Ebene des Politischen, wobei sich diese Unterscheidung mit der These verbindet, dass Demokratie wesentlich in der Konfrontation der beiden Seiten dieser Unterscheidung besteht. So weit, so gut. An diese zentrale Überlegung sind aber aus demokratietheoretischer und aus post-fundamentalistischer Perspektive zwei wichtige Fragen zu richten: Erstens ist zu fragen, ob und inwiefern aus dieser Dissensbetonung etwas anderes als eine vollkommen anti-institutionelle, womöglich gar jede institutionelle Dimension auflösende Sicht auf Demokratie folgen kann; und zweitens steht auf dem Prüfstand, inwieweit dieses Dissensdenken selbst auf mehr oder weniger letzten Gründen aufruht – solchen nämlich, die essentialistisch eine politische Ontologie des Konflikts unterstellen. Für beide Fragen bieten wiederum die Überlegungen Jacques Rancières fruchtbare Ansatzpunkte. Rancières Demokratietheorie bewegt sich, wie sein politisches Denken insgesamt, um die Unterscheidung von Politik (politique) und Polizei (politique) (vgl. Rancière 2002, S. 33-54). Mit dieser Unterscheidung inkorporiert Rancière in gewisser Weise die Distinktion von Politik und Politischem in sein Denken, wobei sich zahlreiche Überschneidungen zwischen beiden Unterscheidungen ergeben. Auf den ersten 20 Oliver Flügel-Martinsen Blick leicht verwirrend ist freilich die terminologische Verschiebung. Während mit Politik (la politique) im Anschluss an Lefort (vgl. 1986a) die institutionelle Sphäre und mit dem Politischen (le politique) der untergründige Konstitutions- und Subversionsmodus bezeichnet wird, versieht Rancière die institutionelle Ordnung, ihr Verteilungssystem und ihre Legitimationslogik mit dem Begriff der Polizei (la police) und reserviert für den streitenden Modus des Aufbrechens den Begriff der Politik (la politique) (vgl. Rancière 2002, S. 33-55). Rancière fasst seine begriffliche Verschiebung in den folgenden Formulierungen zusammen: „Allgemein bezeichnet man mit dem Namen der Politik die Gesamtheit der Vorgänge, durch welche sich die Vereinigung und die Übereinstimmung der Gemeinschaften, die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legitimierung dieser Verteilung vollziehen. Ich schlage vor, dieser Verteilung und dem System ihrer Legitimierung einen anderen Namen zu geben. Ich schlage vor, sie Polizei zu nennen.“ (Rancière 2002, S. 39/40, Herv. i. O.). Politik meint demgegenüber das Aufbrechen dieser Ordnung (vgl. Rancière 2002, S. 41), wobei Rancière diese Ordnung als eine sinnliche Ein- oder Aufteilung (partage) der Welt versteht (vgl. Rancière 2000) und damit der Politik jene konstitutive Funktion beilegt, die bei Lefort mit dem Politischen verbunden wird. Beide sind sich übrigens darin einig, dass das konventionelle politische Denken diese wesentliche Dimension des Politischen (Lefort) bzw. der Politik (Rancière) nicht zu fassen vermag (vgl. Lefort 1982, S. 462 und Rancière 2002, S. 12/13). In beiden Konzeptionen ist dabei die Dimension des Dissenses wesentlich, die wiederum bei beiden eng mit der Demokratie verknüpft wird, ja in ihr liegt sowohl bei Lefort als auch bei Rancière der eigentliche Sinn der Demokratie. Lefort betont dabei, dass die Demokratie als eine dauerhafte Infragestellung der Fundamente des Gesetzes, der Macht und der sozialen Beziehungen zu verstehen ist (Lefort 1986c, S. 563); und Rancière charakterisiert in vergleichbarer Weise die Politik als wesentlich durch das Unvernehmen (mésentente) geprägt (Rancière 2002, S. 12), um sodann Demokratie und Politik aneinander anzunähern, indem er beide als Unterbrechung der polizeilichen Logik versteht (vgl. Rancière 2002, S. 108). Diese Konfrontation von polizeilicher Ordnung und Politik, die nach Rancières Überzeugung wesentlich Demokratie ausmacht, müssen wir nun genauer betrachten, um den beiden oben genannten Fragen nach der Rolle der Institutionen im Diskurs der Dissensdemokratie und der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, auf eine Ontologie des Konflikts zu verzichten, nachzugehen. Mit dem Begriff der Politik bezeichnet Rancière, wie wir gesehen haben, einen grundlegenden Konflikt über die Einrichtung der politischen und sozialen Welt. Ausgetragen wird dieser Konflikt, wie Rancière es fasst, über die polizeiliche http://www.springer.com/978-3-658-11818-1