"Verrückt (2/4) - Der Zwang zur Diagnose"

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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
O- Ton 1 Bock
Ich verfolge es mit zunehmendem Unbehagen, weil ich das Gefühl habe, langsam wird die
Psychiatrie uferlos und wir reklamieren jedes psychische Leid für uns.
O- Ton 2 Bock
Und ein Betroffener sagte zu mir: Jetzt nehmen Sie mir auch das noch weg, also er sagte,
ich bin immer schon ein Mensch gewesen, der eher zurückgezogen ist, nun soll das auch
schon eine Vorstufe von Krankheit sein, jetzt werde ich noch weiter enteignet.
Musik: Vox Balaenae
Titelansage:
Verrückt
Der Zwang zur Diagnose
Ein Feature von Martin Hubert.
Sprecherin
Dürfen wir noch trauern, solange wir traurig sind? Wie lange dürfen wir neben der Spur sein,
weil ein Ereignis uns aus der Bahn geworfen hat? Ab wann sind wir psychisch krank und
behandlungsbedürftig? Ab wann ist Gefahr in Verzug und „etwas“ könnte sich verfestigen?
Psychiatrische Diagnosen haben die Macht, das Leben von Patienten zu verändern.
Musik: KUU
O- Ton 3 Schuster
Es hat mich vor allem erst einmal erschreckt und ich habe gedacht „Nee“, und „Ich hab nicht“
und habe versucht mich selbst zu täuschen und hab' schon tief drin gemerkt, dass ich
sicherlich eine Essstörung habe.
Sprecherin:
Ist es sinnvoll, möglichst früh nach Anzeichen einer psychischen Erkrankung zu fahnden?
Und wann ist dies schädlich?
O- Ton 4 Schuster
Hab allerdings immer noch gedacht, ach, ist nicht weiter schlimm, wenn mir das jetzt zu viel
wird und die Hungerattacken zu unerträglich werden, dann kann ich auch morgen wieder
aufhören und das Ganze beenden. Da war's aber schon zu spät.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
Sprecherin:
Die Geschichte von Wibke Schuster.
O- Ton 5 Schuster
Bei mir hat das Ende 2006 angefangen, ich hatte einen Termin beim Hausarzt, wollte nur
eine
Kleinigkeit fragen und bin da kollabiert, mein Kreislauf ist total zusammengebrochen und
keiner wusste eigentlich warum und mein Hausarzt hat mich darauf hin komplett
auseinandergenommen, hat alle möglichen Untersuchungen mit mir gemacht,
körperlicherseits, da war aber alles in Ordnung, mir ging es aber einfach längere Zeit dann
nicht mehr besser.
Sprecherin:
Wibke Schuster aus Hamburg ist Ehefrau, Mutter und berufstätig, als sie plötzlich
zusammenbricht und vieles darauf hindeutet, dass psychische Probleme die Ursache sein
könnten.
O- Ton 6 Schuster
Der Appetit ist weggeblieben, ich bin sehr erschöpft gewesen, ich habe keine Fröhlichkeit
mehr gespürt, kam einfach nicht mehr auf die Füße, bin dann immer auch noch regelmäßig
zum Hausarzt gegangen, der dann ja noch weitere Untersuchungen gemacht hat.
Sprecherin:
Und nach vielen Untersuchungen gibt es eine Diagnose: schwere Essstörung.
O- Ton 7 Schuster
Ich denke aber Diagnosen, das ist einfach hauptsächlich wahrscheinlich ein Schlüssel, um
zwischen Arzt und Kasse abrechnen zu können.
Sprecherin:
Diagnosen des Arztes sind unvermeidlich, wenn die Krankenkasse zahlen soll. Auch in der
Psychiatrie. Doch, sind sie immer zutreffend? Und was können sie für den Betroffenen
bedeuten?
O- Ton 8 Schuster
Ich denke ganz viel Diagnosen oder die Symptome davon, die überschneiden sich auch
einfach. Also ich habe noch eine posttraumatische Belastungsstörung, ich habe noch eine
Depression und die Borderline Störung.
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
Sprecherin:
Wibke Schusters Symptome passen zu einer Vielzahl von Diagnosen. Um solche Diagnosen
zu stellen und eine Therapie einzuleiten, können Psychiater sich an so genannten „Leitlinien“
ihrer Fachgesellschaften orientieren. Vor allem aber nutzen sie Diagnosehandbücher, die
Kriterien für einzelne Krankheitsbilder definieren. Eines davon hat jetzt heftigen Streit
ausgelöst: das „DSM 5“, das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ in
seiner fünften Fassung. Das Handbuch wird von der amerikanischen psychiatrischen
Gesellschaft herausgegeben und hat großen internationalen Einfluss.
O- Ton 9 Frances
What I am afraid DSM 5 is doing is expanding the boundaries of psychiatry beyond its
necessity and this can have dramatic impacts on peoples’ life.
Übersetzer:
Ich befürchte, dass DSM 5 die Grenzen der Psychiatrie über das Notwendige hinaus
ausdehnt und so das Leben vieler Menschen dramatisch beeinflusst.
Sprecherin
Der amerikanische Psychiatrieprofessor Allen Frances gehört zu den schärfsten Kritikern des
DSM 5. Zwar ist er bereits emeritiert, aber sein Wort hat Gewicht. Denn Frances gestaltete
zwei frühere Ausgaben des Klassifikationshandbuchs maßgeblich mit.
O- Ton 10 Frances
What DSM 5 is doing is adding new diagnoses who are at that boundary, that may compass
millions of people, and also reducing the tresholds required in the definition of some of the
existing disorders. So whats now currently a diagnostic inflation may become a diagnostic
hyperinflation.
Übersetzer:
DSM 5 fügt der Psychiatrie neue Diagnosen hinzu, was Millionen von Menschen betreffen
könnte. Und es verringert die Schwellenwerte einiger bestehender Störungen. Wir haben
jetzt schon eine Inflation von psychiatrischen Diagnosen - jetzt könnte daraus eine
Hyperinflation werden.
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
Sprecherin:
Insgesamt, rechnet Frances vor, erhält heute schon jeder fünfte Amerikaner ein Medikament
wegen eines psychiatrischen Leidens. Auch in Deutschland erfüllen bereits 30 Prozent der
Menschen zwischen 18 und 65 Jahren die Kriterien für eine psychiatrische Erkrankung. Und
der Verbrauch von Antidepressiva hat sich in den letzten zehn Jahren in Deutschland fast
verdoppelt. Auch die Zahl der stationär versorgten Psychiatriepatienten stieg um 28 Prozent.
Allen Frances meint, das DSM 5 würde die Zahlen noch weiter nach oben treiben.
O- Ton 11 Frances
It is a misidentification of people who don't have a psychiatric disorder, who get the label.
They may suffer stigma and even more problematic: many of them will receive medications
that can be dangerous. So changes in diagnostic system really can change people’s live.
The problem is, it’s a very fuzzy boundary between mild psychiatric illness and normality.
The question is what are the criteria defining the disorders
Übersetzer:
Wenn Menschen unzutreffende Diagnosen erhalten, stigmatisiert man sie und behandelt sie
mit Medikamenten, die gefährliche Nebenwirkungen haben können. So verändern
Diagnosesysteme das Leben von Menschen. Die Grenze zwischen leichten psychiatrischen
Störungen und der Normalität ist außerordentlich unscharf. Die Frage ist: Mit welchen die
Kriterien, definieren wir Störungen?
Sprecherin:
Alle existierenden Diagnosehandbücher verzichten darauf, nach den Ursachen psychischer
Störungen zu fragen. Auch das DSM 5 geht rein beschreibend vor, indem es potenzielle
Symptome auflistet. Das hat für Wolfgang Gaebel Vorteile wie Nachteile. Gaebel ist Direktor
der psychiatrischen Universitätsklinik und der LVR-Klinik in Düsseldorf und war als einer der
wenigen nichtamerikanischen Psychiater an der Erstellung von DSM 5 beteiligt.
O- Ton 12 Gaebel
Antidepressiv kann behandelt werden, wenn jemand eine Depression hat, aber auch wenn
jemand eine depressive Symptomatik als Schizophrenie Kranker oder bei Angststörungen
oder sonst wo hat, das heißt die Unspezifizität unserer Therapieverfahren kann man auf der
einen Seite sozusagen positiv finden, dass man sagt, das ist ja prima, wenn immer
Depression auftritt, dann kann ich mit Antidepressiva behandeln. Es ist aber auch ein Indiz
dafür, dass eben offensichtlich die Trennschärfe zwischen den Diagnosen als handlungsund behandlungsrelevante Konstrukte nicht groß ist. Das muss man sagen.
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
Musik: Atmosphere 8
O- Ton 13 Schuster
Also mit der Diagnose „Essstörung“, das war für mich irgendwie von Anfang an, dass ich mir
dachte, okay das ist ein Begriff, das ist eine Diagnose, aber eigentlich ist das gar nicht
meins, dass ist nicht mein Grundproblem, das habe ich schon gespürt, bevor andere
überhaupt geschnallt haben, was wirklich bei mir los ist, was da noch für Diagnosen
schlummern.
Sprecherin:
Nach DSM 5 ist jemand etwa dann depressiv, wenn er zwei Wochen lang mindestens fünf
von neun möglichen Symptomen aufweist: zum Beispiel Stimmungsveränderung,
Schlaflosigkeit, Konzentrations- und Denkstörungen, Gefühle der Wertlosigkeit und
Suizidgedanken. Es können aber auch verstärkte Unruhe oder verminderter Appetit in Frage
kommen. Für Kritiker liegt genau in dieser Flexibilität die Gefahr, dass Diagnosen zu stark
ausgeweitet werden. Wenn die Mehrheit der Psychiater aufgrund der Studienlage glaubt,
dass neue Symptome zu einem Krankheitsbild hinzugefügt werden müssen, wird in den
DSM-Gremien darüber entschieden.
O- Ton 14 Schuster
Ich habe aber einfach gemerkt, dass ich durch die Appetitlosigkeit und das wenige Essen
angefangen habe, abzunehmen, habe das dem Hausarzt dann auch geschildert und
gemerkt, dass er in Sorge geraten ist und das wird sicherlich unterbewusst mit mir
irgendetwas gemacht haben, dass ich gemerkt habe: Mensch, da gibt es irgend eine
Verbindung, ich nehme ab und da ist jemand in Sorge, da hört mir endlich mal jemand zu,
dass es mir nicht gut geht, der sieht das, und das hat dann rückblickend dazu geführt, dass
ich dann mehr und mehr den Fokus darauf gerichtet habe, bewusst abzunehmen, aus Sorge,
dass mir diese Fürsorge vielleicht wieder genommen werden könnte. Ja, und er hat das
dann aber kurz danach aber auch festgestellt und gesagt, dass ich sicherlich eine
Essstörung habe und ein paar Monate später musste ich dann auch wirklich in die Klinik, weil
es mir auch körperlich so schlecht ging und auch psychisch war ich nicht mehr fähig.
Sprecherin
Wibke Schuster hat die Erfahrung gemacht, dass eine Diagnose zwar bei der ersten
Orientierung helfen kann, aber nicht abbildet, was in ihr vorgeht.
O- Ton 15 Schuster
Und geholfen hat mir dann, als ich tatsächlich dann noch mal eine andere Diagnose dann
ganz klar bekommen habe, weil daraufhin das Therapieprogramm noch einmal geändert
wurde und was mir sehr geholfen hat in meinem Verhalten noch einmal, die
Verhaltensmuster zu erkennen, zu verändern, achtsamer mit mir selber umzugehen.
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
Sprecherin:
Der Psychiater Allen Frances glaubt, dass es den allermeisten Psychiatern um das Wohl
ihrer Patienten gehe. Doch hätten Übereifer und die Interessen der Pharmakonzerne - dazu
geführt, dass Krankheitsbilder in DSM 5 in problematischer Weise erweitert wurden. Zum
Beispiel bei der Depression.
O- Ton 16 Frances
The most controversial change has been turning normal grief into major depressive disorder
that someone could have just two weeks at the loss of someone he had loved deeply. Just
two weeks later, if they have sadness, loss of interest, loss of appetite, trouble of sleeping
and loss of energy! … And the way the world works, that means that the doctor very quickly
is likely to give him a pill.
Übersetzer:
Die umstrittenste Änderung besteht darin, ganz normale Verlusttrauer in eine große
Depression zu verwandeln. Jemand, der nur 2 Wochen lang nach dem Verlust eines
geliebten Menschen noch traurig ist, interesselos, appetitlos, schlecht schläft und keinen
Antrieb verspürt - ein solcher Mensch würde nach DSM 5 bereits als depressiv eingestuft.
Und wie die Dinge in der Welt so laufen, werden ihm die Ärzte eine Pille verschreiben.
Sprecherin:
Im Jahr 1980 durften wir nach dem alten DSM-Handbuch beim Verlust eines Angehörigen
noch länger als ein Jahr trauern – man denke an das berühmte Trauerjahr - und erst danach
wurden wir als depressiv eingestuft. Im Jahr 2000 waren nur noch etwas mehr als zwei
Monate Trauer erlaubt. Allen Frances meint daher, in DSM 5 werden ganz normale und
gesunde Trauerprozesse unnötig pathologisiert.
Wolfgang Gaebel kann diese Kritik in gewissem Sinn nachvollziehen, verteidigt aber auch die
neue Regelung.
O-Ton 17 Gaebel
Der Punkt ist hier in diesem Fall, dass die Trauerreaktion, selbst wenn sie sich in einem
Maße zeitlich bewegt, was noch unterhalb einer Schwelle liegt, wo man sagen würde, das
beginnt pathologisch zu werden, dass das offenbar doch ein Risikofaktor für das Entstehen
einer echten depressiven Störung ist. Als Risikofaktor sozusagen dieses zu betrachten, das
heißt ja noch nicht, dass man hier gleich mit der Pharma-Keule zuschlägt.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
Sprecherin
Tatsächlich hat die Kritik von Allen Frances und vielen anderen Psychiatern und
Therapeuten dazu geführt, dass die Macher des DSM 5 eine Kompromissformel in ihr
Handbuch einführten. Sie fordern die Psychiater auf, jeden Verlust, den ein Mensch erleidet,
besonders „vorsichtig“ und „sorgfältig“ zu untersuchen, bevor sie die Diagnose „milde oder
leichte Depression“ stellen. Professor Thomas Bock, der Leiter der sozialpsychiatrischen
Ambulanz am Psychiatrischen Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sieht nicht ein,
warum es neben der eindeutig definierten „schweren Depression“ noch mittlere und leichte
Depressionsdiagnosen geben muss.
O- Ton 18 Bock
Bei der Depression fangen wir an, immer weiter zu spannen, was alles depressiv ist - wenn
man in die Leitlinien guckt, steht bei leichten Depressionen „zuwarten“. Wofür brauche ich
dann eine Diagnose, wenn ich zuwarte? Bei mittleren Diagnosen weiß ich, dass Placebos
dieselbe Wirkung haben wie Medikamente. Wofür brauche ich dann eine Diagnose?
„Schwere Depression“ reicht!
Sprecherin:
Der Streit dreht sich noch um weitere Krankheitsbilder der psychiatrischen
Diagnoserichtlinien. Kritiker monieren unter anderem, dass auch die Diagnose für ADHS, die
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung auf Erwachsene ausgeweitet werden soll:
Extensives Arbeiten von Selbstständigen im Konkurrenzkampf könnte schon als
psychiatrische Störung gelten. Oder sie beanstanden, dass jemand, der innerhalb von drei
Monaten einmal pro Woche eine Essattacke hat, unter die neue „Komafressstörung“ fällt.
Kinder, die häufig unerklärliche Wutanfälle bekommen, erhalten künftig die neue Diagnose
„Gemütsregulationsstörung mit Verstimmung“.
O- Ton 19 Bock
Ich finde, da wird es richtig gefährlich. Also Wutanfälle zu haben ist ja fast auch in
bestimmten Kontexten auch ein Ausdruck von Gesundheit, von Sich-Wehren, Aus-SichHerausgehen, auch Gefühle zeigen. Und speziell bei Kindern oder Pubertierenden
Wutanfälle zur Krankheit zu erklären, da wird Wahrnehmung eingeengt, da wird das
Wahrnehmen der Eltern eingeengt, da wird die Selbstwahrnehmung der Kinder eingeengt.
Das löst ja etwas aus, was wir da machen. Alle, die da jetzt zu Gange sind, tun so, als ob
das wertfrei und neutral und alles nur wohlmeinend sei, und das klingt mir fast dumm.
Musik: Alone
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
O- Ton 20 Schuster
Das ist bestimmt ein Hilferuf auch von meiner Seele gewesen, auf jeden Fall. Denn ich habe
es ja vorher schon bemerkt, dass ich irgendwie den Faden zum Leben irgendwie
angefangen habe zu verlieren. Also ich habe manchmal irgendwie auf dem Wochenmarkt an
der Kasse irgendwo am Stand angestanden und grundlos angefangen zu weinen, das habe
ich aber erst hinterher alles verstanden.
Sprecherin:
Wichtiger als die Diagnosen war für Wibke Schuster, über das eigen Leben nachzudenken:
wer bin ich eigentlich und wie bin ich so geworden?
O- Ton 21 Schuster
Und ich weiß auch rückblickend, dass ich ständig als Kind immer schon gesagt habe „Oh
spinnst du hier eigentlich rum?“ und „Bist du eigentlich voll schräg?“. Aber auch später habe
ich irgendwie gedacht, so, das kann ja irgendwie gar nicht normal sein, dass ich so schnell
irgendwie ausraste, wenn irgendwie eine Fliege an der Wand lang läuft, ja, aber auch von
meinem Umfeld, manchmal kam das, ja, mein Gott, nun stell dich nicht so an oder
sinngemäß: Beiß' die Zähne mal zusammen oder sonstiges, das kam auch schon mal von
der einen oder anderen Seite bzw. habe ich Äußerungen als solches empfunden, die
vielleicht nicht mal so gemeint waren.
O- Ton 22 Frances
The people working in DSM 5 are trying to copy the model in the rest of medicine, of
diagnosing medical illness earlier and treating it before it becomes full blown but it will be not
possible.
Übersetzer:
Die Macher von DSM 5 versuchen das Modell der restlichen Medizin zu kopieren und
Krankheiten frühzeitig zu diagnostizieren, damit die Störung nicht voll ausbricht. Aber das
funktioniert nicht.
Sprecherin:
Der Streit um den Umgang mit leichten Symptomen um das so genannte „Verminderte
Psychosesyndrom“ uferte aus. Es sollte eigentlich als eigene Störungskategorie in das DSM
5 eingeführt werden, weil anhand von Risikosymptomen, so die Hoffnung, Psychosen wie die
Schizophrenie früh erkannt und behandelt werden könnten.
Musik: 11 Echoes Of Autums
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
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O- Ton 23 Gaebel
Dann geht es um Wahnbildung, um Halluzination, um Denk- oder Sprechstörungen, die
allerdings noch in einer Form sozusagen vorhanden sein sollen, wo zum Beispiel das
Realitätsurteil noch vorhanden ist. Das heißt Wahn heißt ja eigentlich, ich weiß nicht, dass
ich wahnhaft bin - hier soll es also um eine Vorform gehen.
Sprecherin
Die vor allem schon früh im Kindes-und Jugendalter auftritt. Nach heftigen Debatten erhielt
das „Verminderte Psychosesyndrom“ im DSM 5 dann doch nicht den Rang einer eigenen
Störung, wird aber weiter als zu erforschendes Phänomen aufgeführt. Allen Frances hält das
für einen großen Erfolg der Kritiker. Aber…
O- Ton 24 Gaebel
Es ist nicht sozusagen verbannt aus dem System.
Sprecherin:
Denn die Befürworter geben sich noch längst nicht geschlagen. Jetzt wird darum gekämpft,
ob das „verminderte Psychosesyndrom“ in künftige Diagnosehandbücher eingehen soll.
O-Ton 25 Ruhrmann
Grundsätzlich bin ich da sehr für…
Sprecherin:
Stefan Ruhrmann ist Oberarzt an der psychiatrischen Klinik der Universität Köln und leitet
dort das Früherkennungszentrum für psychische Krisen, eines der ersten und
einflussreichsten Zentren dieser Art weltweit. Er forscht zur so genannten Prodromalphase,
der Phase, die einer Psychose vorausgeht und sie ankündigen soll.
O- Ton 26 Ruhrmann
Wir haben gesehen im Laufe dieser Früherkennungsforschung, dass die Menschen, die
diese Kriterien erfüllen, eben nicht nur ein virtuelles Risiko haben, so ähnlich als wenn man
sagen würde, ihr Cholesterinspiegel ist erhöht, vielleicht bekommen Sie mal einen
Schlaganfall und ansonsten geht es ihnen eigentlich aber gerade gut. Diese Personen
kommen primär, weil sie bereits Hilfe suchen und Hilfe suchen sie nicht wegen einem Risiko,
von dem wissen sie nämlich in der Regel gar nichts, sondern um die Hilfe ersuchen sie, weil
sie in der Leistung abgefallen sind, weil sie sich nicht mehr richtig konzentrieren können, weil
darüber ihre Stimmung schlecht geworden ist, weil ihre Lebensqualität deutlich schlechter
geworden ist, weil sie nicht mehr wissen, was mit ihnen los ist usw. usf.
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
Sprecherin
Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits im Jahr 2004 dem Präventionsgedanken bei
Psychosen große Bedeutung zugewiesen. Außerdem ist bekannt, dass eine Psychose
schlechter behandelbar ist, je länger sie unerkannt dahinschwelt. Allen Frances überzeugt
das nicht.
O-Ton 27 Frances
The literature is pretty clear: the attempt to predict the risk of later schizophrenia in the very
best of hands around the world has a false positive range of two thirds. The two thirds of the
people who are designated as being at risk or ultra high risk or psychosis risk don't never
become schizophrenia. Now: it gets worse. If you take the criteria into regular practice, not at
the expert clinics, the rates go way up and the prediction would be perhaps for 10 percent
accurate, 90 percent inaccurate, They would be stigmatized as being proned to psychosis.
They feel worried about having a condition that they never will have and - worst of all -they
will get powerful antipsychotic medication, that they don't need.
Übersetzer
Die wissenschaftliche Literatur sagt sehr klar, dass eine Schizophrenie aufgrund früher
Risikosymptome nur zu 30 Prozent sicher vorhergesagt werden kann. Zwei Drittel aller
Menschen mit solchen Risikosymptomen werden also niemals schizophren. Und wenn man
von den speziellen Kliniken in die alltägliche Praxis der Hausärzte und niedergelassenen
Psychiater geht, werden die Zahlen noch viel schlechter. Schätzungsweise werden dann nur
10 Prozent aller Risikopatienten richtig eingeschätzt, 90 Prozent der Betroffenen aber als
potenzielle Psychotiker stigmatisiert. Sie leben in Angst vor einer Störung, die sie nie haben
werden und erhalten starke antipsychotische Medikamente, die sie gar nicht brauchen.
O- Ton 28 Ruhrmann
Ich stimme sehr mit Herrn Frances darin überein, dass solche komplexen diagnostischen
Untersuchungen eben nicht etwas für die Breite sind. Die sollten nicht ohne weiteres von
jedem durchgeführt werden.
Sprecherin
Dafür gäbe es ja Spezialisten, sagt Stefan Ruhrmann, der Leiter des Kölner Zentrums zur
Früherkennung psychischer Krisen. Und gibt Allen Frances in diesem Punkt Recht.
O- Ton 30 Ruhrmann
Das ist auch eine Forderung, die wir übrigens in die guidance der europäischen
psychiatrischen Vereinigung auch eingeführt haben, die steht jetzt da drin, als Leitlinie: es
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
soll nur von Spezialisten durchgeführt werden, es soll Rücksprache genommen werden mit
den Früherkennungszentren. Aber wenn Sie sich mal das Gegenstück in der Medizin
angucken, der somatischen Medizin, nehmen wir mal das Beispiel eines anderen
Früherkennungsbereiches, nämlich des Mammatumors, da ist man inzwischen so weit, auch
mit Unterstützung der Politik zu sagen, nein, nicht jeder macht eine radiologische
Vorsorgeuntersuchung, sondern es sind die spezialisierten Zentren, die sehr genau wissen,
weil sie genügend Zahlen haben, weil sie genügend trainiert sind, was sie da tun.
Musik: Accepting What Is
O- Ton 31 Schuster
Es gibt Fragen, die bei mir irgendwie ein unglaubliches Patienten-Therapeuten-Gefälle
herstellen, wo ich mich wirklich minderwertig fühle, oder wie ein kleines Dummchen. Und das
ist etwas, das geht eigentlich für mich gar nicht, also das fühlt sich nicht gerade toll an. Oder
auch drängende Fragen, wo ich das Gefühl habe, ich darf jetzt auch nichts sagen, ich
möchte es nicht erzählen. Ich bin auch schon einmal retraumatisiert worden, also das ist
auch kein schönes Gefühl, wenn da jemand so mit einem Panzer durchschreddert, ist es
auch nicht gerade angenehm.
Sprecherin.
Wibke Schuster weiß inzwischen, was ihr gut tut. Sie muss nicht jeden Versuch von
Psychiatern oder Psychotherapeuten, ihre Symptome anzugehen, zulassen.
O- Ton 32 Schuster
Ich habe auf jeden Fall ganz viel dadurch verstanden, erst recht je weiter das in die Kindheit
zurückging, habe ich einfach endlich verstanden, warum ich bin wie ich bin, warum ich diese
Hochsensibilität habe, diese Feinfühligkeit für das Zwischenmenschliche, warum ich
teilweise von jetzt auf gleich starke Stimmungsschwankungen habe oder extreme
Aggression. Und jetzt habe ich einfach verstanden, wo's herkommt. Und was mir dann eben
auch hilft, dass Situationen von heute das nicht mehr so stark auslösen, weil ich es einfach
von der Vergangenheit wesentlich besser jetzt trennen kann, weil ich einfach weiß, früher
war früher und das, was jetzt ist, ist jetzt.
Musik: KUU
O- Ton 33 von Klitzing
Je näher wir uns der Adoleszenz, dem Jugendalter nähern, umso schillernder werden die
Symptome, also dass ein Junge mal eine Derealisation macht, dass er mal einen massiven
Stimmungseinbruch hat, das gibt es schon in der normalen Entwicklung auch häufig. Und zu
sagen, das ist jetzt psychotisch oder Prodrom von eine Psychose und das nicht - also nach
meiner Übersicht ist die Euphorie von diesen Frühbehandlungszentren eigentlich schon fast
wieder vorbei.
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Sprecherin:
Kai von Klitzing ist Direktor der psychiatrischen Klinik für das Kindes-und Jugendalter der
Universität Leipzig und Präsident der World Association for Infant Mental Health. Von Klitzing
hat sich nie einem Frühdiagnosezentrum für psychische Krisen angeschlossen. Wie für Allen
Frances ist ihm die dreißigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass aus frühen Symptomen
tatsächlich eine psychotische Krankheit wird, zu gering, um präventive Maßnahmen
einzuleiten. Und von Spezialisten ist er nicht so überzeugt.
O- Ton 34 von Klitzing
Wenn sie ein Kind in ein Frühdiagnostikzentrum schicken, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es
mit einer Diagnose herauskommt, ja relativ hoch. Also auch die Ärzte zum Beispiel, die sich
spezialisieren auf ADHD, dort ist die Wahrscheinlichkeit, dass dann ein ADHD dann dabei
rauskommt, ist da sehr viel höher. Wir hatten in Basel mal eine Phase, brachte völlig neu das
Borderline Syndrom auf, und die Diagnosehäufigkeit von Borderline stieg danach ins
Astronomische an! Also wir müssen auch schon ein bisschen selbstkritisch sagen, dass wir
mit unseren diagnostischen Entitäten, sie können uns helfen, aber sie können uns auch
schaden.
Sprecherin:
Zum Beispiel, einem zwölfjährigen Jungen, wenn ihm tatsächlich zur Prävention
Psychopharmaka verschrieben werden.
O- Ton 35 von Klitzing
Wir wissen zu wenig, wie die atypischen Neuroleptika auf das zwölfjährige Gehirn wirken,
also da wäre ich sehr zurückhaltend.
Musik: Three
Sprecherin:
Prävention psychischer Krisen. Geht das nur, indem man sie Spezialisten überlässt, die die
Kriterien psychiatrischer Diagnosen immer weiter ausdehnen? Spricht das per se gegen das
Konzept psychiatrischer Prävention? Gibt es Alternativen?
O- Ton 36 Ruhrmann
Die 30 Prozent sind so niedrig nicht, die 30 Prozent sind in vielen Bereichen der Medizin
ausreichend, um zu sagen, das ist eine Abwägung, wie schwer ist denn das, was dabei
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rauskommt. Im Übrigen, wenn ich die Dauer weiter hochtreibe und die Kriterien auch
entsprechend noch einmal modifiziere, komme ich da auch auf deutlich höhere Raten.
Sprecherin:
Präventionsforscher wie Stefan Ruhrmann wollen mit hohem Forschungsaufwand und
raffinierten Analysemethoden versuchen, die Argumente ihrer Kritiker zu entkräften.
O- Ton 37 Ruhrmann
Wir haben im Rahmen einer europäischen, Studie, die European Prediction of Psychosis
Study in die Psychiatrie in gewisser Hinsicht eingeführt ein Modell, das es in der Onkologie
schon gibt, den sogenannten prognostischen Index.
Sprecherin:
Sie arbeiten daran, die Vorhersage zu verbessern, wenn das Risiko, eine Psychose zu
entwickeln bei Personen mit bestimmten Diagnosekriterien bei nur 20 Prozent liegt. Doch
was sagt diese statistische Größe aus über den konkreten Menschen?
O- Ton 38 Ruhrmann
Die Kunst ist jetzt, zu sagen, ich mache jetzt nicht Kriterien, wo ich von den 20 Prozent noch
5 Prozent rausschmeiße, nur um sicher zu sein, sondern ich versuche, die Gruppe so weit zu
unterteilen, dass ich mich annähere.
Musik: Three
Sprecherin:
Hilfe für krisengefährdete Menschen? Oder deren Unterwerfung unter eine Statistik, die
Laien nicht mehr durchschauen können und die sie bei sogenannten „leichten“ Symptomen
als krank diagnostiziert, statt alles daran zu setzen ihre Widerstandskräfte zu fördern.
O- Ton 39 Ruhrmann
Da haben wir in den Guidelines, diesen europäischen, eine Empfehlung jetzt formuliert,
nämlich in dem Sinne, dass wir gesagt haben, zunächst soll die nebenwirkungsärmste Form
natürlich, in dem Fall die Verhaltenstherapie angewendet werden. Wenn das nicht greift,
wenn wir ein deutliches Fortschreiten oder eine sehr schwere Symptomatik sehen, die das
nicht möglich macht, dann kann man erwägen, Medikamente hinzuzunehmen mit dem Ziel,
wiederum auch Therapie zu etablieren.
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
O- Ton 40 Bock
Also ich würde eher noch weiter gehen und würde sagen: Prävention im Sinne von Bemühen
um seelische Gesundheit und die Stärkung von resilienten Kräften ist selbstverständlich
sinnvoll und nötig, ist aber keine urmedizinische Aufgabe.
Sprecherin:
Thomas Bock, der Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz des Klinikums HamburgEppendorf hat eine Alternative:
O- Ton 40 Bock
Dafür brauche ich keine Diagnose, dafür brauche ich keine Prodromalphase. Natürlich
kommen Menschen in Krisen, gerade in diesem Alter, natürlich nehme ich auch wahr, dass
bestimmte Schülerinnen und Schüler in Konflikten festhängen und in Teufelskreisen drin
hängen und dann ist es sinnvoll, Programme zu haben, Hilfsmöglichkeiten zu haben, gute
Lehrer zu haben, die das thematisieren um präventiv zu wirken, aber ich sehe wenig Heil
darin, das alles zur Aufgabe von Medizin zu erklären.
Sprecherin.
Thomas Bock ist Mitinitiator der Initiative „Irre menschlich“, die unter anderem in Schulen
geht, um auf andere Art und Weise Prävention zu betreiben:
O- Ton 41
Wir gehen in die Schulklassen, um den Lehrer bei seinem Unterricht zu unterstützen, zum
Unterricht von Schule gehört auch psychische Erkrankung, seelische Gesundheit, Biologie,
Religion, Ethik, und zum Bildungsauftrag von Schule gehört auch: wie gehe ich mit Krisen
um und was bedeutet das, Schwierigkeiten zu haben, wo kann ich mir Hilfe holen usw. Und
bei dieser doppelten Funktion, thematisch und präventiv helfen wir dem Lehrer.
Atmo: Schule
Musik: No Tiles
O- Ton 42 Schuster
Die sind schon fasziniert, dass da jetzt jemand sitzt, der sich das nicht irgendwie theoretisch
aus dem Lehrbuch selbst beigebracht hat, was das alles heißt, sondern der es wirklich am
Eigenbeispiel erzählen kann.
Sprecherin:
Wibke Schuster gehört zu den Betroffenen, die mit dem Programm „Irre menschlich“ in die
Schulen gehen.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden.
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Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der
Zwang zur Diagnose
O- Ton 43 Schuster
Also wenn ich jetzt zum Thema Essstörungen da bin, dann wollen die oft wissen, was mal
mein niedrigstes Gewicht war oder was ich denn heute wiege, das sind zwei von den ganz
wenigen Fragen, die ich bewusst nicht beantworte. Weil ich einfach da die Verantwortung für
die Schüler habe, ich weiß nicht, was das mit denen macht, wenn die mich sehen und das
Gewicht dazu kennen, werden wahrscheinlich viele automatisch anfangen, sich zu
vergleichen mit ihrem Gewicht und ihrer Größe und mir und das ist mir zu gefährlich.
O- Ton 44 Bock
Und da spielt die Geschichte, die die Betroffenen erzählen vielleicht die Hauptrolle, weil die
Schüler hören gebannt zu, das ist immer so, weil da jemand so offen ist und so erlebt hat
und fast immer oder nahezu immer ist das Ergebnis, dass die dann auch eine Ahnung
kriegen, Mensch, das ist ja ein Mensch wie jeder andere auch und die Zerrbilder, die ich aus
dem Film so und so kenne, stimmen überhaupt nicht, das sind ganz normale Menschen, die
auch mal erkranken können. Und das ist eine wichtige Botschaft, weil es zu mehr Toleranz
führt im Umgang mit anderen und zu mehr Sensibilität im Umgang mit sich selber, beides hat
präventive Bedeutung.
O- Ton 45 Schuster
Wenn ich jetzt merke, da sitzt vielleicht irgendjemand mit in der Gruppe, der vielleicht selber
schon ziemlich mit der Thematik selbst zu tun hat, entweder betroffen oder angehörig, dann
gehe ich auch noch ein bisschen vorsichtiger damit um, gerade wenn Fragen kommen, ob
ich auch mal Suizidgedanken hatte oder solches. Und ich sehe zu, dass ich grundsätzlich
zum Ende des Gesprächs auch dahin komme, wie es mir jetzt geht, was ich alles schon für
mich erreicht habe, um eben einfach noch einmal zu verdeutlichen, dass man nicht für immer
und ewig da drin stecken muss, es gibt einen Weg raus.
ABSAGE
Verrückt
Der Zwang zur Diagnose
Ein Feature von Martin Hubert
Es sprachen: Johanna Gastdorf und Eckhard Leue
Technische Realisation: Jürgen Glosemeyer und Barbara Göbel,
Regieassistenz: Natia Koukoulli-Marx,
Regie: Claudia Johanna Leist.
Redaktion: Dorothea Runge.
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2016.
Am kommenden Sonntag geht es weiter mit der Feature-Serie:
„Verrückt: Die multiple Störung der Versorgung“.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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