Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose O- Ton 1 Bock Ich verfolge es mit zunehmendem Unbehagen, weil ich das Gefühl habe, langsam wird die Psychiatrie uferlos und wir reklamieren jedes psychische Leid für uns. O- Ton 2 Bock Und ein Betroffener sagte zu mir: Jetzt nehmen Sie mir auch das noch weg, also er sagte, ich bin immer schon ein Mensch gewesen, der eher zurückgezogen ist, nun soll das auch schon eine Vorstufe von Krankheit sein, jetzt werde ich noch weiter enteignet. Musik: Vox Balaenae Titelansage: Verrückt Der Zwang zur Diagnose Ein Feature von Martin Hubert. Sprecherin Dürfen wir noch trauern, solange wir traurig sind? Wie lange dürfen wir neben der Spur sein, weil ein Ereignis uns aus der Bahn geworfen hat? Ab wann sind wir psychisch krank und behandlungsbedürftig? Ab wann ist Gefahr in Verzug und „etwas“ könnte sich verfestigen? Psychiatrische Diagnosen haben die Macht, das Leben von Patienten zu verändern. Musik: KUU O- Ton 3 Schuster Es hat mich vor allem erst einmal erschreckt und ich habe gedacht „Nee“, und „Ich hab nicht“ und habe versucht mich selbst zu täuschen und hab' schon tief drin gemerkt, dass ich sicherlich eine Essstörung habe. Sprecherin: Ist es sinnvoll, möglichst früh nach Anzeichen einer psychischen Erkrankung zu fahnden? Und wann ist dies schädlich? O- Ton 4 Schuster Hab allerdings immer noch gedacht, ach, ist nicht weiter schlimm, wenn mir das jetzt zu viel wird und die Hungerattacken zu unerträglich werden, dann kann ich auch morgen wieder aufhören und das Ganze beenden. Da war's aber schon zu spät. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 1 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose Sprecherin: Die Geschichte von Wibke Schuster. O- Ton 5 Schuster Bei mir hat das Ende 2006 angefangen, ich hatte einen Termin beim Hausarzt, wollte nur eine Kleinigkeit fragen und bin da kollabiert, mein Kreislauf ist total zusammengebrochen und keiner wusste eigentlich warum und mein Hausarzt hat mich darauf hin komplett auseinandergenommen, hat alle möglichen Untersuchungen mit mir gemacht, körperlicherseits, da war aber alles in Ordnung, mir ging es aber einfach längere Zeit dann nicht mehr besser. Sprecherin: Wibke Schuster aus Hamburg ist Ehefrau, Mutter und berufstätig, als sie plötzlich zusammenbricht und vieles darauf hindeutet, dass psychische Probleme die Ursache sein könnten. O- Ton 6 Schuster Der Appetit ist weggeblieben, ich bin sehr erschöpft gewesen, ich habe keine Fröhlichkeit mehr gespürt, kam einfach nicht mehr auf die Füße, bin dann immer auch noch regelmäßig zum Hausarzt gegangen, der dann ja noch weitere Untersuchungen gemacht hat. Sprecherin: Und nach vielen Untersuchungen gibt es eine Diagnose: schwere Essstörung. O- Ton 7 Schuster Ich denke aber Diagnosen, das ist einfach hauptsächlich wahrscheinlich ein Schlüssel, um zwischen Arzt und Kasse abrechnen zu können. Sprecherin: Diagnosen des Arztes sind unvermeidlich, wenn die Krankenkasse zahlen soll. Auch in der Psychiatrie. Doch, sind sie immer zutreffend? Und was können sie für den Betroffenen bedeuten? O- Ton 8 Schuster Ich denke ganz viel Diagnosen oder die Symptome davon, die überschneiden sich auch einfach. Also ich habe noch eine posttraumatische Belastungsstörung, ich habe noch eine Depression und die Borderline Störung. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 2 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose Sprecherin: Wibke Schusters Symptome passen zu einer Vielzahl von Diagnosen. Um solche Diagnosen zu stellen und eine Therapie einzuleiten, können Psychiater sich an so genannten „Leitlinien“ ihrer Fachgesellschaften orientieren. Vor allem aber nutzen sie Diagnosehandbücher, die Kriterien für einzelne Krankheitsbilder definieren. Eines davon hat jetzt heftigen Streit ausgelöst: das „DSM 5“, das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ in seiner fünften Fassung. Das Handbuch wird von der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft herausgegeben und hat großen internationalen Einfluss. O- Ton 9 Frances What I am afraid DSM 5 is doing is expanding the boundaries of psychiatry beyond its necessity and this can have dramatic impacts on peoples’ life. Übersetzer: Ich befürchte, dass DSM 5 die Grenzen der Psychiatrie über das Notwendige hinaus ausdehnt und so das Leben vieler Menschen dramatisch beeinflusst. Sprecherin Der amerikanische Psychiatrieprofessor Allen Frances gehört zu den schärfsten Kritikern des DSM 5. Zwar ist er bereits emeritiert, aber sein Wort hat Gewicht. Denn Frances gestaltete zwei frühere Ausgaben des Klassifikationshandbuchs maßgeblich mit. O- Ton 10 Frances What DSM 5 is doing is adding new diagnoses who are at that boundary, that may compass millions of people, and also reducing the tresholds required in the definition of some of the existing disorders. So whats now currently a diagnostic inflation may become a diagnostic hyperinflation. Übersetzer: DSM 5 fügt der Psychiatrie neue Diagnosen hinzu, was Millionen von Menschen betreffen könnte. Und es verringert die Schwellenwerte einiger bestehender Störungen. Wir haben jetzt schon eine Inflation von psychiatrischen Diagnosen - jetzt könnte daraus eine Hyperinflation werden. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 3 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose Sprecherin: Insgesamt, rechnet Frances vor, erhält heute schon jeder fünfte Amerikaner ein Medikament wegen eines psychiatrischen Leidens. Auch in Deutschland erfüllen bereits 30 Prozent der Menschen zwischen 18 und 65 Jahren die Kriterien für eine psychiatrische Erkrankung. Und der Verbrauch von Antidepressiva hat sich in den letzten zehn Jahren in Deutschland fast verdoppelt. Auch die Zahl der stationär versorgten Psychiatriepatienten stieg um 28 Prozent. Allen Frances meint, das DSM 5 würde die Zahlen noch weiter nach oben treiben. O- Ton 11 Frances It is a misidentification of people who don't have a psychiatric disorder, who get the label. They may suffer stigma and even more problematic: many of them will receive medications that can be dangerous. So changes in diagnostic system really can change people’s live. The problem is, it’s a very fuzzy boundary between mild psychiatric illness and normality. The question is what are the criteria defining the disorders Übersetzer: Wenn Menschen unzutreffende Diagnosen erhalten, stigmatisiert man sie und behandelt sie mit Medikamenten, die gefährliche Nebenwirkungen haben können. So verändern Diagnosesysteme das Leben von Menschen. Die Grenze zwischen leichten psychiatrischen Störungen und der Normalität ist außerordentlich unscharf. Die Frage ist: Mit welchen die Kriterien, definieren wir Störungen? Sprecherin: Alle existierenden Diagnosehandbücher verzichten darauf, nach den Ursachen psychischer Störungen zu fragen. Auch das DSM 5 geht rein beschreibend vor, indem es potenzielle Symptome auflistet. Das hat für Wolfgang Gaebel Vorteile wie Nachteile. Gaebel ist Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik und der LVR-Klinik in Düsseldorf und war als einer der wenigen nichtamerikanischen Psychiater an der Erstellung von DSM 5 beteiligt. O- Ton 12 Gaebel Antidepressiv kann behandelt werden, wenn jemand eine Depression hat, aber auch wenn jemand eine depressive Symptomatik als Schizophrenie Kranker oder bei Angststörungen oder sonst wo hat, das heißt die Unspezifizität unserer Therapieverfahren kann man auf der einen Seite sozusagen positiv finden, dass man sagt, das ist ja prima, wenn immer Depression auftritt, dann kann ich mit Antidepressiva behandeln. Es ist aber auch ein Indiz dafür, dass eben offensichtlich die Trennschärfe zwischen den Diagnosen als handlungsund behandlungsrelevante Konstrukte nicht groß ist. Das muss man sagen. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 4 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose Musik: Atmosphere 8 O- Ton 13 Schuster Also mit der Diagnose „Essstörung“, das war für mich irgendwie von Anfang an, dass ich mir dachte, okay das ist ein Begriff, das ist eine Diagnose, aber eigentlich ist das gar nicht meins, dass ist nicht mein Grundproblem, das habe ich schon gespürt, bevor andere überhaupt geschnallt haben, was wirklich bei mir los ist, was da noch für Diagnosen schlummern. Sprecherin: Nach DSM 5 ist jemand etwa dann depressiv, wenn er zwei Wochen lang mindestens fünf von neun möglichen Symptomen aufweist: zum Beispiel Stimmungsveränderung, Schlaflosigkeit, Konzentrations- und Denkstörungen, Gefühle der Wertlosigkeit und Suizidgedanken. Es können aber auch verstärkte Unruhe oder verminderter Appetit in Frage kommen. Für Kritiker liegt genau in dieser Flexibilität die Gefahr, dass Diagnosen zu stark ausgeweitet werden. Wenn die Mehrheit der Psychiater aufgrund der Studienlage glaubt, dass neue Symptome zu einem Krankheitsbild hinzugefügt werden müssen, wird in den DSM-Gremien darüber entschieden. O- Ton 14 Schuster Ich habe aber einfach gemerkt, dass ich durch die Appetitlosigkeit und das wenige Essen angefangen habe, abzunehmen, habe das dem Hausarzt dann auch geschildert und gemerkt, dass er in Sorge geraten ist und das wird sicherlich unterbewusst mit mir irgendetwas gemacht haben, dass ich gemerkt habe: Mensch, da gibt es irgend eine Verbindung, ich nehme ab und da ist jemand in Sorge, da hört mir endlich mal jemand zu, dass es mir nicht gut geht, der sieht das, und das hat dann rückblickend dazu geführt, dass ich dann mehr und mehr den Fokus darauf gerichtet habe, bewusst abzunehmen, aus Sorge, dass mir diese Fürsorge vielleicht wieder genommen werden könnte. Ja, und er hat das dann aber kurz danach aber auch festgestellt und gesagt, dass ich sicherlich eine Essstörung habe und ein paar Monate später musste ich dann auch wirklich in die Klinik, weil es mir auch körperlich so schlecht ging und auch psychisch war ich nicht mehr fähig. Sprecherin Wibke Schuster hat die Erfahrung gemacht, dass eine Diagnose zwar bei der ersten Orientierung helfen kann, aber nicht abbildet, was in ihr vorgeht. O- Ton 15 Schuster Und geholfen hat mir dann, als ich tatsächlich dann noch mal eine andere Diagnose dann ganz klar bekommen habe, weil daraufhin das Therapieprogramm noch einmal geändert wurde und was mir sehr geholfen hat in meinem Verhalten noch einmal, die Verhaltensmuster zu erkennen, zu verändern, achtsamer mit mir selber umzugehen. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 5 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose Sprecherin: Der Psychiater Allen Frances glaubt, dass es den allermeisten Psychiatern um das Wohl ihrer Patienten gehe. Doch hätten Übereifer und die Interessen der Pharmakonzerne - dazu geführt, dass Krankheitsbilder in DSM 5 in problematischer Weise erweitert wurden. Zum Beispiel bei der Depression. O- Ton 16 Frances The most controversial change has been turning normal grief into major depressive disorder that someone could have just two weeks at the loss of someone he had loved deeply. Just two weeks later, if they have sadness, loss of interest, loss of appetite, trouble of sleeping and loss of energy! … And the way the world works, that means that the doctor very quickly is likely to give him a pill. Übersetzer: Die umstrittenste Änderung besteht darin, ganz normale Verlusttrauer in eine große Depression zu verwandeln. Jemand, der nur 2 Wochen lang nach dem Verlust eines geliebten Menschen noch traurig ist, interesselos, appetitlos, schlecht schläft und keinen Antrieb verspürt - ein solcher Mensch würde nach DSM 5 bereits als depressiv eingestuft. Und wie die Dinge in der Welt so laufen, werden ihm die Ärzte eine Pille verschreiben. Sprecherin: Im Jahr 1980 durften wir nach dem alten DSM-Handbuch beim Verlust eines Angehörigen noch länger als ein Jahr trauern – man denke an das berühmte Trauerjahr - und erst danach wurden wir als depressiv eingestuft. Im Jahr 2000 waren nur noch etwas mehr als zwei Monate Trauer erlaubt. Allen Frances meint daher, in DSM 5 werden ganz normale und gesunde Trauerprozesse unnötig pathologisiert. Wolfgang Gaebel kann diese Kritik in gewissem Sinn nachvollziehen, verteidigt aber auch die neue Regelung. O-Ton 17 Gaebel Der Punkt ist hier in diesem Fall, dass die Trauerreaktion, selbst wenn sie sich in einem Maße zeitlich bewegt, was noch unterhalb einer Schwelle liegt, wo man sagen würde, das beginnt pathologisch zu werden, dass das offenbar doch ein Risikofaktor für das Entstehen einer echten depressiven Störung ist. Als Risikofaktor sozusagen dieses zu betrachten, das heißt ja noch nicht, dass man hier gleich mit der Pharma-Keule zuschlägt. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 6 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose Sprecherin Tatsächlich hat die Kritik von Allen Frances und vielen anderen Psychiatern und Therapeuten dazu geführt, dass die Macher des DSM 5 eine Kompromissformel in ihr Handbuch einführten. Sie fordern die Psychiater auf, jeden Verlust, den ein Mensch erleidet, besonders „vorsichtig“ und „sorgfältig“ zu untersuchen, bevor sie die Diagnose „milde oder leichte Depression“ stellen. Professor Thomas Bock, der Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz am Psychiatrischen Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sieht nicht ein, warum es neben der eindeutig definierten „schweren Depression“ noch mittlere und leichte Depressionsdiagnosen geben muss. O- Ton 18 Bock Bei der Depression fangen wir an, immer weiter zu spannen, was alles depressiv ist - wenn man in die Leitlinien guckt, steht bei leichten Depressionen „zuwarten“. Wofür brauche ich dann eine Diagnose, wenn ich zuwarte? Bei mittleren Diagnosen weiß ich, dass Placebos dieselbe Wirkung haben wie Medikamente. Wofür brauche ich dann eine Diagnose? „Schwere Depression“ reicht! Sprecherin: Der Streit dreht sich noch um weitere Krankheitsbilder der psychiatrischen Diagnoserichtlinien. Kritiker monieren unter anderem, dass auch die Diagnose für ADHS, die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung auf Erwachsene ausgeweitet werden soll: Extensives Arbeiten von Selbstständigen im Konkurrenzkampf könnte schon als psychiatrische Störung gelten. Oder sie beanstanden, dass jemand, der innerhalb von drei Monaten einmal pro Woche eine Essattacke hat, unter die neue „Komafressstörung“ fällt. Kinder, die häufig unerklärliche Wutanfälle bekommen, erhalten künftig die neue Diagnose „Gemütsregulationsstörung mit Verstimmung“. O- Ton 19 Bock Ich finde, da wird es richtig gefährlich. Also Wutanfälle zu haben ist ja fast auch in bestimmten Kontexten auch ein Ausdruck von Gesundheit, von Sich-Wehren, Aus-SichHerausgehen, auch Gefühle zeigen. Und speziell bei Kindern oder Pubertierenden Wutanfälle zur Krankheit zu erklären, da wird Wahrnehmung eingeengt, da wird das Wahrnehmen der Eltern eingeengt, da wird die Selbstwahrnehmung der Kinder eingeengt. Das löst ja etwas aus, was wir da machen. Alle, die da jetzt zu Gange sind, tun so, als ob das wertfrei und neutral und alles nur wohlmeinend sei, und das klingt mir fast dumm. Musik: Alone © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 7 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose O- Ton 20 Schuster Das ist bestimmt ein Hilferuf auch von meiner Seele gewesen, auf jeden Fall. Denn ich habe es ja vorher schon bemerkt, dass ich irgendwie den Faden zum Leben irgendwie angefangen habe zu verlieren. Also ich habe manchmal irgendwie auf dem Wochenmarkt an der Kasse irgendwo am Stand angestanden und grundlos angefangen zu weinen, das habe ich aber erst hinterher alles verstanden. Sprecherin: Wichtiger als die Diagnosen war für Wibke Schuster, über das eigen Leben nachzudenken: wer bin ich eigentlich und wie bin ich so geworden? O- Ton 21 Schuster Und ich weiß auch rückblickend, dass ich ständig als Kind immer schon gesagt habe „Oh spinnst du hier eigentlich rum?“ und „Bist du eigentlich voll schräg?“. Aber auch später habe ich irgendwie gedacht, so, das kann ja irgendwie gar nicht normal sein, dass ich so schnell irgendwie ausraste, wenn irgendwie eine Fliege an der Wand lang läuft, ja, aber auch von meinem Umfeld, manchmal kam das, ja, mein Gott, nun stell dich nicht so an oder sinngemäß: Beiß' die Zähne mal zusammen oder sonstiges, das kam auch schon mal von der einen oder anderen Seite bzw. habe ich Äußerungen als solches empfunden, die vielleicht nicht mal so gemeint waren. O- Ton 22 Frances The people working in DSM 5 are trying to copy the model in the rest of medicine, of diagnosing medical illness earlier and treating it before it becomes full blown but it will be not possible. Übersetzer: Die Macher von DSM 5 versuchen das Modell der restlichen Medizin zu kopieren und Krankheiten frühzeitig zu diagnostizieren, damit die Störung nicht voll ausbricht. Aber das funktioniert nicht. Sprecherin: Der Streit um den Umgang mit leichten Symptomen um das so genannte „Verminderte Psychosesyndrom“ uferte aus. Es sollte eigentlich als eigene Störungskategorie in das DSM 5 eingeführt werden, weil anhand von Risikosymptomen, so die Hoffnung, Psychosen wie die Schizophrenie früh erkannt und behandelt werden könnten. Musik: 11 Echoes Of Autums © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 8 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose O- Ton 23 Gaebel Dann geht es um Wahnbildung, um Halluzination, um Denk- oder Sprechstörungen, die allerdings noch in einer Form sozusagen vorhanden sein sollen, wo zum Beispiel das Realitätsurteil noch vorhanden ist. Das heißt Wahn heißt ja eigentlich, ich weiß nicht, dass ich wahnhaft bin - hier soll es also um eine Vorform gehen. Sprecherin Die vor allem schon früh im Kindes-und Jugendalter auftritt. Nach heftigen Debatten erhielt das „Verminderte Psychosesyndrom“ im DSM 5 dann doch nicht den Rang einer eigenen Störung, wird aber weiter als zu erforschendes Phänomen aufgeführt. Allen Frances hält das für einen großen Erfolg der Kritiker. Aber… O- Ton 24 Gaebel Es ist nicht sozusagen verbannt aus dem System. Sprecherin: Denn die Befürworter geben sich noch längst nicht geschlagen. Jetzt wird darum gekämpft, ob das „verminderte Psychosesyndrom“ in künftige Diagnosehandbücher eingehen soll. O-Ton 25 Ruhrmann Grundsätzlich bin ich da sehr für… Sprecherin: Stefan Ruhrmann ist Oberarzt an der psychiatrischen Klinik der Universität Köln und leitet dort das Früherkennungszentrum für psychische Krisen, eines der ersten und einflussreichsten Zentren dieser Art weltweit. Er forscht zur so genannten Prodromalphase, der Phase, die einer Psychose vorausgeht und sie ankündigen soll. O- Ton 26 Ruhrmann Wir haben gesehen im Laufe dieser Früherkennungsforschung, dass die Menschen, die diese Kriterien erfüllen, eben nicht nur ein virtuelles Risiko haben, so ähnlich als wenn man sagen würde, ihr Cholesterinspiegel ist erhöht, vielleicht bekommen Sie mal einen Schlaganfall und ansonsten geht es ihnen eigentlich aber gerade gut. Diese Personen kommen primär, weil sie bereits Hilfe suchen und Hilfe suchen sie nicht wegen einem Risiko, von dem wissen sie nämlich in der Regel gar nichts, sondern um die Hilfe ersuchen sie, weil sie in der Leistung abgefallen sind, weil sie sich nicht mehr richtig konzentrieren können, weil darüber ihre Stimmung schlecht geworden ist, weil ihre Lebensqualität deutlich schlechter geworden ist, weil sie nicht mehr wissen, was mit ihnen los ist usw. usf. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 9 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose Sprecherin Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits im Jahr 2004 dem Präventionsgedanken bei Psychosen große Bedeutung zugewiesen. Außerdem ist bekannt, dass eine Psychose schlechter behandelbar ist, je länger sie unerkannt dahinschwelt. Allen Frances überzeugt das nicht. O-Ton 27 Frances The literature is pretty clear: the attempt to predict the risk of later schizophrenia in the very best of hands around the world has a false positive range of two thirds. The two thirds of the people who are designated as being at risk or ultra high risk or psychosis risk don't never become schizophrenia. Now: it gets worse. If you take the criteria into regular practice, not at the expert clinics, the rates go way up and the prediction would be perhaps for 10 percent accurate, 90 percent inaccurate, They would be stigmatized as being proned to psychosis. They feel worried about having a condition that they never will have and - worst of all -they will get powerful antipsychotic medication, that they don't need. Übersetzer Die wissenschaftliche Literatur sagt sehr klar, dass eine Schizophrenie aufgrund früher Risikosymptome nur zu 30 Prozent sicher vorhergesagt werden kann. Zwei Drittel aller Menschen mit solchen Risikosymptomen werden also niemals schizophren. Und wenn man von den speziellen Kliniken in die alltägliche Praxis der Hausärzte und niedergelassenen Psychiater geht, werden die Zahlen noch viel schlechter. Schätzungsweise werden dann nur 10 Prozent aller Risikopatienten richtig eingeschätzt, 90 Prozent der Betroffenen aber als potenzielle Psychotiker stigmatisiert. Sie leben in Angst vor einer Störung, die sie nie haben werden und erhalten starke antipsychotische Medikamente, die sie gar nicht brauchen. O- Ton 28 Ruhrmann Ich stimme sehr mit Herrn Frances darin überein, dass solche komplexen diagnostischen Untersuchungen eben nicht etwas für die Breite sind. Die sollten nicht ohne weiteres von jedem durchgeführt werden. Sprecherin Dafür gäbe es ja Spezialisten, sagt Stefan Ruhrmann, der Leiter des Kölner Zentrums zur Früherkennung psychischer Krisen. Und gibt Allen Frances in diesem Punkt Recht. O- Ton 30 Ruhrmann Das ist auch eine Forderung, die wir übrigens in die guidance der europäischen psychiatrischen Vereinigung auch eingeführt haben, die steht jetzt da drin, als Leitlinie: es © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 10 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose soll nur von Spezialisten durchgeführt werden, es soll Rücksprache genommen werden mit den Früherkennungszentren. Aber wenn Sie sich mal das Gegenstück in der Medizin angucken, der somatischen Medizin, nehmen wir mal das Beispiel eines anderen Früherkennungsbereiches, nämlich des Mammatumors, da ist man inzwischen so weit, auch mit Unterstützung der Politik zu sagen, nein, nicht jeder macht eine radiologische Vorsorgeuntersuchung, sondern es sind die spezialisierten Zentren, die sehr genau wissen, weil sie genügend Zahlen haben, weil sie genügend trainiert sind, was sie da tun. Musik: Accepting What Is O- Ton 31 Schuster Es gibt Fragen, die bei mir irgendwie ein unglaubliches Patienten-Therapeuten-Gefälle herstellen, wo ich mich wirklich minderwertig fühle, oder wie ein kleines Dummchen. Und das ist etwas, das geht eigentlich für mich gar nicht, also das fühlt sich nicht gerade toll an. Oder auch drängende Fragen, wo ich das Gefühl habe, ich darf jetzt auch nichts sagen, ich möchte es nicht erzählen. Ich bin auch schon einmal retraumatisiert worden, also das ist auch kein schönes Gefühl, wenn da jemand so mit einem Panzer durchschreddert, ist es auch nicht gerade angenehm. Sprecherin. Wibke Schuster weiß inzwischen, was ihr gut tut. Sie muss nicht jeden Versuch von Psychiatern oder Psychotherapeuten, ihre Symptome anzugehen, zulassen. O- Ton 32 Schuster Ich habe auf jeden Fall ganz viel dadurch verstanden, erst recht je weiter das in die Kindheit zurückging, habe ich einfach endlich verstanden, warum ich bin wie ich bin, warum ich diese Hochsensibilität habe, diese Feinfühligkeit für das Zwischenmenschliche, warum ich teilweise von jetzt auf gleich starke Stimmungsschwankungen habe oder extreme Aggression. Und jetzt habe ich einfach verstanden, wo's herkommt. Und was mir dann eben auch hilft, dass Situationen von heute das nicht mehr so stark auslösen, weil ich es einfach von der Vergangenheit wesentlich besser jetzt trennen kann, weil ich einfach weiß, früher war früher und das, was jetzt ist, ist jetzt. Musik: KUU O- Ton 33 von Klitzing Je näher wir uns der Adoleszenz, dem Jugendalter nähern, umso schillernder werden die Symptome, also dass ein Junge mal eine Derealisation macht, dass er mal einen massiven Stimmungseinbruch hat, das gibt es schon in der normalen Entwicklung auch häufig. Und zu sagen, das ist jetzt psychotisch oder Prodrom von eine Psychose und das nicht - also nach meiner Übersicht ist die Euphorie von diesen Frühbehandlungszentren eigentlich schon fast wieder vorbei. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 11 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose Sprecherin: Kai von Klitzing ist Direktor der psychiatrischen Klinik für das Kindes-und Jugendalter der Universität Leipzig und Präsident der World Association for Infant Mental Health. Von Klitzing hat sich nie einem Frühdiagnosezentrum für psychische Krisen angeschlossen. Wie für Allen Frances ist ihm die dreißigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass aus frühen Symptomen tatsächlich eine psychotische Krankheit wird, zu gering, um präventive Maßnahmen einzuleiten. Und von Spezialisten ist er nicht so überzeugt. O- Ton 34 von Klitzing Wenn sie ein Kind in ein Frühdiagnostikzentrum schicken, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mit einer Diagnose herauskommt, ja relativ hoch. Also auch die Ärzte zum Beispiel, die sich spezialisieren auf ADHD, dort ist die Wahrscheinlichkeit, dass dann ein ADHD dann dabei rauskommt, ist da sehr viel höher. Wir hatten in Basel mal eine Phase, brachte völlig neu das Borderline Syndrom auf, und die Diagnosehäufigkeit von Borderline stieg danach ins Astronomische an! Also wir müssen auch schon ein bisschen selbstkritisch sagen, dass wir mit unseren diagnostischen Entitäten, sie können uns helfen, aber sie können uns auch schaden. Sprecherin: Zum Beispiel, einem zwölfjährigen Jungen, wenn ihm tatsächlich zur Prävention Psychopharmaka verschrieben werden. O- Ton 35 von Klitzing Wir wissen zu wenig, wie die atypischen Neuroleptika auf das zwölfjährige Gehirn wirken, also da wäre ich sehr zurückhaltend. Musik: Three Sprecherin: Prävention psychischer Krisen. Geht das nur, indem man sie Spezialisten überlässt, die die Kriterien psychiatrischer Diagnosen immer weiter ausdehnen? Spricht das per se gegen das Konzept psychiatrischer Prävention? Gibt es Alternativen? O- Ton 36 Ruhrmann Die 30 Prozent sind so niedrig nicht, die 30 Prozent sind in vielen Bereichen der Medizin ausreichend, um zu sagen, das ist eine Abwägung, wie schwer ist denn das, was dabei © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 12 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose rauskommt. Im Übrigen, wenn ich die Dauer weiter hochtreibe und die Kriterien auch entsprechend noch einmal modifiziere, komme ich da auch auf deutlich höhere Raten. Sprecherin: Präventionsforscher wie Stefan Ruhrmann wollen mit hohem Forschungsaufwand und raffinierten Analysemethoden versuchen, die Argumente ihrer Kritiker zu entkräften. O- Ton 37 Ruhrmann Wir haben im Rahmen einer europäischen, Studie, die European Prediction of Psychosis Study in die Psychiatrie in gewisser Hinsicht eingeführt ein Modell, das es in der Onkologie schon gibt, den sogenannten prognostischen Index. Sprecherin: Sie arbeiten daran, die Vorhersage zu verbessern, wenn das Risiko, eine Psychose zu entwickeln bei Personen mit bestimmten Diagnosekriterien bei nur 20 Prozent liegt. Doch was sagt diese statistische Größe aus über den konkreten Menschen? O- Ton 38 Ruhrmann Die Kunst ist jetzt, zu sagen, ich mache jetzt nicht Kriterien, wo ich von den 20 Prozent noch 5 Prozent rausschmeiße, nur um sicher zu sein, sondern ich versuche, die Gruppe so weit zu unterteilen, dass ich mich annähere. Musik: Three Sprecherin: Hilfe für krisengefährdete Menschen? Oder deren Unterwerfung unter eine Statistik, die Laien nicht mehr durchschauen können und die sie bei sogenannten „leichten“ Symptomen als krank diagnostiziert, statt alles daran zu setzen ihre Widerstandskräfte zu fördern. O- Ton 39 Ruhrmann Da haben wir in den Guidelines, diesen europäischen, eine Empfehlung jetzt formuliert, nämlich in dem Sinne, dass wir gesagt haben, zunächst soll die nebenwirkungsärmste Form natürlich, in dem Fall die Verhaltenstherapie angewendet werden. Wenn das nicht greift, wenn wir ein deutliches Fortschreiten oder eine sehr schwere Symptomatik sehen, die das nicht möglich macht, dann kann man erwägen, Medikamente hinzuzunehmen mit dem Ziel, wiederum auch Therapie zu etablieren. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 13 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose O- Ton 40 Bock Also ich würde eher noch weiter gehen und würde sagen: Prävention im Sinne von Bemühen um seelische Gesundheit und die Stärkung von resilienten Kräften ist selbstverständlich sinnvoll und nötig, ist aber keine urmedizinische Aufgabe. Sprecherin: Thomas Bock, der Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz des Klinikums HamburgEppendorf hat eine Alternative: O- Ton 40 Bock Dafür brauche ich keine Diagnose, dafür brauche ich keine Prodromalphase. Natürlich kommen Menschen in Krisen, gerade in diesem Alter, natürlich nehme ich auch wahr, dass bestimmte Schülerinnen und Schüler in Konflikten festhängen und in Teufelskreisen drin hängen und dann ist es sinnvoll, Programme zu haben, Hilfsmöglichkeiten zu haben, gute Lehrer zu haben, die das thematisieren um präventiv zu wirken, aber ich sehe wenig Heil darin, das alles zur Aufgabe von Medizin zu erklären. Sprecherin. Thomas Bock ist Mitinitiator der Initiative „Irre menschlich“, die unter anderem in Schulen geht, um auf andere Art und Weise Prävention zu betreiben: O- Ton 41 Wir gehen in die Schulklassen, um den Lehrer bei seinem Unterricht zu unterstützen, zum Unterricht von Schule gehört auch psychische Erkrankung, seelische Gesundheit, Biologie, Religion, Ethik, und zum Bildungsauftrag von Schule gehört auch: wie gehe ich mit Krisen um und was bedeutet das, Schwierigkeiten zu haben, wo kann ich mir Hilfe holen usw. Und bei dieser doppelten Funktion, thematisch und präventiv helfen wir dem Lehrer. Atmo: Schule Musik: No Tiles O- Ton 42 Schuster Die sind schon fasziniert, dass da jetzt jemand sitzt, der sich das nicht irgendwie theoretisch aus dem Lehrbuch selbst beigebracht hat, was das alles heißt, sondern der es wirklich am Eigenbeispiel erzählen kann. Sprecherin: Wibke Schuster gehört zu den Betroffenen, die mit dem Programm „Irre menschlich“ in die Schulen gehen. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 14 Tiefenblick, Verrückt (2/4) – Der Zwang zur Diagnose O- Ton 43 Schuster Also wenn ich jetzt zum Thema Essstörungen da bin, dann wollen die oft wissen, was mal mein niedrigstes Gewicht war oder was ich denn heute wiege, das sind zwei von den ganz wenigen Fragen, die ich bewusst nicht beantworte. Weil ich einfach da die Verantwortung für die Schüler habe, ich weiß nicht, was das mit denen macht, wenn die mich sehen und das Gewicht dazu kennen, werden wahrscheinlich viele automatisch anfangen, sich zu vergleichen mit ihrem Gewicht und ihrer Größe und mir und das ist mir zu gefährlich. O- Ton 44 Bock Und da spielt die Geschichte, die die Betroffenen erzählen vielleicht die Hauptrolle, weil die Schüler hören gebannt zu, das ist immer so, weil da jemand so offen ist und so erlebt hat und fast immer oder nahezu immer ist das Ergebnis, dass die dann auch eine Ahnung kriegen, Mensch, das ist ja ein Mensch wie jeder andere auch und die Zerrbilder, die ich aus dem Film so und so kenne, stimmen überhaupt nicht, das sind ganz normale Menschen, die auch mal erkranken können. Und das ist eine wichtige Botschaft, weil es zu mehr Toleranz führt im Umgang mit anderen und zu mehr Sensibilität im Umgang mit sich selber, beides hat präventive Bedeutung. O- Ton 45 Schuster Wenn ich jetzt merke, da sitzt vielleicht irgendjemand mit in der Gruppe, der vielleicht selber schon ziemlich mit der Thematik selbst zu tun hat, entweder betroffen oder angehörig, dann gehe ich auch noch ein bisschen vorsichtiger damit um, gerade wenn Fragen kommen, ob ich auch mal Suizidgedanken hatte oder solches. Und ich sehe zu, dass ich grundsätzlich zum Ende des Gesprächs auch dahin komme, wie es mir jetzt geht, was ich alles schon für mich erreicht habe, um eben einfach noch einmal zu verdeutlichen, dass man nicht für immer und ewig da drin stecken muss, es gibt einen Weg raus. ABSAGE Verrückt Der Zwang zur Diagnose Ein Feature von Martin Hubert Es sprachen: Johanna Gastdorf und Eckhard Leue Technische Realisation: Jürgen Glosemeyer und Barbara Göbel, Regieassistenz: Natia Koukoulli-Marx, Regie: Claudia Johanna Leist. Redaktion: Dorothea Runge. Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2016. Am kommenden Sonntag geht es weiter mit der Feature-Serie: „Verrückt: Die multiple Störung der Versorgung“. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden. 15