Adoleszenz Entwicklungspsychopathologie selbstschädigenden Verhaltens F. Resch Kindheit Erwachsenenalter Vorpubertät - Pubertät Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Klinikum Heidelberg Basel, 2009 Risikoverhalten Verhaltensweisen, die zwar ein Schädigungspotential gegenüber dem eigenen Leben, der Umwelt oder den eigenen Lebensbedingungen besitzen, aber zur Stabilisierung von Selbstwert und Identität dienen. Gesundheitsgefährdendes RV • Alkohol- und Drogeneinnahme („Kampfsaufen“) • Selbstverletzendes Verhalten und Suizidverhalten • Riskante Outdoor-Sportarten • S-/U-Bahn-Surfen • Illegale Autorennen • Strommastklettern • Ernährungs-, Hygiene-, Hör- und Sexualverhalten 1 Körper als Quelle Selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter Körperinszenierungen Selbstbericht einer Patientin „Wenn ich mich selbst nicht mehr spür, dann schneide ich mich und merke ich lebe noch. (...) Definition selbstverletzenden Verhaltens „Zufügen einer Verletzung am eigenen Körper, die mit einer Gewebeschädigung einhergeht, wobei keine bewusste suizidale Intention vorliegt“ Wenn etwas mir im Inneren schrecklich weh tut, dann verletze ich mich, damit ihr seht wie sehr es mir weh tut“ (Simeon et al., 1992) 2 Selbstschädigendes Verhalten Suizidales VH Selbstverletzung Risikoverhalten Erhängen, Erschießen, Sturz aus großer Höhe, Ertränken Überdosis Schneiden Verbrennen Beißen Kratzen Ritzen Nadelstechen Wunden aufkratzen Schlagen Haare ausreißen Körperliche Überlastung Selbstbestrafung Medikamente Absetzen Drogengebrauch Rasen mit Fahrzeug Definition offener Selbstbeschädigungshandlungen • Andauernde Beschäftigung sich selbst körperlich zu verletzen • Wiederkehrendes Versagen dem Impuls zur Selbstverletzung zu widerstehen • Zunehmende Anspannung kurz vor der Selbstverletzung • Keine bewusste suizidale Intention • Kein Zusammenhang mit einer psychotischen Störung, Transsexualismus, mentale Retardierung oder tiefgreifender Entwicklungsstörung (Modif. nach Skegg 2005) Definition heimlicher („artifizieller“) Selbstbeschädigungshandlungen • Künstliche Erzeugung, Aggravation oder Vortäuschung von körperlichen und/oder psychischen Krankheitssymptomen. • Einnahme der Krankenrolle • Komorbidiät mit offenen Formen der Selbstverletzung Formen offener Selbstbeschädigungserkrankungen Leichte Formen („delicate self-cutting“) • Oberflächliches Ritzen der Haut (Rasierklingen, spitze Gegenstände) • z. T. weitflächige Kratzspuren • Schlagen des Kopfes oder der Extremitäten • Manipulation von Wunden Schwere Formen („deliberate selfharm syndrome“) • Tiefe Schnittverletzungen • Verbrennungen • Bisswunden, Verletzungen im Genitalbereich 3 Arten der Selbstverletzung Gesundheitserhebung 2004 Automutilation („self-mutilation“ [SM]) Autodestruktives Verhalten („major SM“) Stereotype Automutilation („stereotypic SM“) Dissoziative Automutilation („superficial/moderate SM“) Episodisch Zwanghaft • Gesundheitsamt Heidelberg (Steen, Münch, Klett) • Pädagogische Hochschule Heidelberg (Roos) • Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg (Haffner, Parzer, Resch) Repetitiv (modif. nach Favazza, 1998) Gesundheitserhebung 2004 Epidemiologie der Selbstverletzung Prozent 40 20 45.09 6.99 4.04 2.95 1.03 1-3 pro Jahr >3 pro Jahr 0 • 15-16jährige Schüler in Heidelberg und Rhein-Neckar-Kreis (116 von 121 Schulen) • Anonyme Fragebogenerhebung in den Klassen (YSR und Risikoverhalten) • Angesprochen: 6185 • Rücklauf: 6085 (98,4%) • Auswertbar: 5832 (94,3%) 60 80 39.89 nie Selbstverletzendes Verhalten männlich weiblich 4 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Familienstruktur) 0 0 5 5 Prozent Selbstverletzung 10 15 Prozent Selbstverletzung 10 15 20 25 20 (Lebenszeitprävalenz) weiblich männlich Beide Eltern Alleinerzieher Elternteil und Partner Andere Wohnt bei ... Geschlecht Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Alkoholkonsum) nie gelegentlich mind. einmal pro Woche Zigaretten täglich 0 0 Prozent Selbstverletzung 20 10 Prozent Selbstverletzung 10 20 30 30 40 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Zigarettenkonsum) nie gelegentlich mind. einmal pro Woche Alkohol 5 nie gelegentlich mind. einmal pro Woche 0 Prozent Selbstverletzung 20 40 60 Prozent Selbstverletzung 10 20 30 0 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Suizidideen) 80 40 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Drogenkonsum) nie Drogen oft Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Körperschema) Prozent Selbstverletzung 10 15 5 nein einmal Selbstmordversuch mehrmals 0 0 Prozent Selbstverletzung 20 40 60 20 80 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Suizidversuch) gelegentlich Selbstmordgedanken zu dünn gerade richtig Körperschema zu dick 6 25 Prozent Selbstverletzung 10 20 30 Prozent Selbstverletzung 10 15 20 5 zu dünn gerade richtig Körperschema weiblich zu dick 0 0 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Problembelastung) 40 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Körperschema) keine männlich viele Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Emotionale Probleme) 0 0 50 Angst/Depressivität (YSR) 20 10 Gesamtwert (YSR) 100 150 30 200 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Verhaltensprobleme) einige Sorgen/Probleme nein ja Selbstverletzung nein ja Selbstverletzung 7 40 Selbstverletzendes Verhalten bei 15-16jährigen (Aggressivität) Suizidales Verhalten Vollzogener Suizid Suizidversuch Suizidale Äußerungen Suizidgedanken Selbstverletzung als Prävention! 0 Aggressives Verhalten (YSR) 30 10 20 • • • • nein ja Selbstverletzung Klinische Phänomenologie • Kränkung • Wut • Verzweiflung • Angst • Hilflosigkeit • Hoffnungslosigkeit • Depersonalisation / Derealisation • Körpergefühls- und Bewegungsstörung • Schmerzunempfindlichkeit • Trance-zustände Spannungsbogen Spannungsbogen der Selbstverletzung internale und externale Stressoren Anspannung Wut Verzweiflung Scham negative Selbstbewertung Dissoziation Entfremdungserleben Entlastung Euphorie Selbstverletzung 8 Symptom-Cluster bei pathologischer Dissoziation Entwicklung des dissoziativen Symptomkomplexes wiederholte Extremtraumata • Primäre dissoziative Sypmtome – Gedächtnissymptome: Verlust des Zeitgefühls, „black-outs“, Amnesien, fragmentarisches autobiographisches Gedächtnis – Prozesssymptome: Depersonalisation, Derealisation, Tranceartige Zustände, verschiedene Persönlichkeitszustände, plötzliche Verhaltensänderung • Assoziierte posttraumatische Symptome somatische Einflüsse genetische Disposition – Intrusion, Vermeidungsverhalten, vegetative Übererregtheit • Sekundäre Symptome: Depression, Angst, Somatisierung • Tertiäre Symptome: Substanzmissbrauch, suizidales und selbstdestruktives Verhalten, sexualisiertes Verhalten Fragilität vs. Plastizität der kindlichen Persönlichkeit Dissoziation als Abwehr- und Bewältigungsstil (Dissoz. Episode, PTSD) psychosoziale Entwicklungseinflüsse Vulnerable Persönlichkeit • Dissoziationsbereitschaft • Amnestische Episoden • Depressive Verstimmungen • Depersonalisation • Somatisierung • Selbstverletzung • Suizidalität • Suchtmittelmissbrauch Fehlen von protektiven Faktoren, sozialer Unterstützung Borderline-Störung Komorbide Störungen • Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) stellt sowohl im Jugendalter als auch im Erwachsenenalter eine schwere und chronische psychiatrische Störung, charakterisiert durch ein hohes Ausmaß an 90% mindestens eine psychiatrische Diagnose am häufigsten Depression – Impulsivität – Instabilität im Affekt und sozialen Beziehungen – selbstschädigendem Verhalten • BPD hat ihren Beginn in der Adoleszenz oder frühem Erwachsenalter und zeigt ihre schwerste Symptomatik in der Spätadoleszenz und am Beginn der 20er (Blum et a., 2002) • Hohe Prävalenzraten in psychiatrischen Institutionen und ärztlichen Primärversorgung Essstörungen Bulimie Substanzmissbrauch Suizidalität Suizidversuche 55% 32% 39% 87% 55% 9 Neurobiologie der Selbstverletzung (1) • Serotoninerge Aktivität ↓ Neurobiologie der Selbstverletzung (2) • Serotonintransporter-gen-promotor (5 HTTLPR) polymorphismus – 5-HIAA • PRL response auf Fenfluramin ↓ – Serotoninerge Funktion ↓ • Serotoninrezeptor-bindungskapazität ↓ – Keine Assoziation mit Selbstverletzung und Suizid – Aber: s-Allel bei Selbstverletzung häufiger, wenn gleiche psychiatrische Diagnose – Verminderte Aktivität Neurobiologie der Selbstverletzung (3) Suizidales und Selbstverletzendes Verhalten Depression Stresserleben Life events wenn 5-HTTLPR polymorphismus s-Allel-träger Bei l/l Homozygoten nicht!! Endophänotyp „Impulsivität“?? Ätiopathogenetische Aspekte • Schwere familiäre Vernachlässigungen und/oder Gewalterfahrungen • Schuldgefühle und Selbstbestrafungsimpulse als Folge von Missbrauchserfahrungen • Störung der Körperwahrnehmung im Kontext von Bindungsstörungen • Bewältigung wiederkehrender belastender Erinnerungen • pathologische Formen der Emotionsregulierung (Lin et al., 2004 Brent u. Mann, 2005) 10 Rolle von Bindungserfahrungen • • • Biographische Analyse ca. 80% misshandelter Kinder und Kleinkinder zeigen ein Bindungsverhalten vom disorganisierten Typus (Cicchetti u. Walker, 2001) disorganisierte Bindungstypus: widersprüchliche Verhaltensmuster, Desorientierung, Fluktuation im Bindungsverhalten, plötzliche Erstarrung, dissoziative Muster Adaptationsversuche an die elterlichen sprunghaften, nichtkontigenten Verhaltensmuster „Kumulatives Trauma“ – Kontrolle über unterschiedlichen affektiven und kognitiven Zustände ist erschwert • Modulation affektiver Verhaltenszustände Vorraussetzung zur Regulierung von Emotionen und sozialem Verhalten Entwicklungspsychopathologie der Selbstverletzung Psych. kranke Mutter Narzisstisches Selbstobjekt Bindungsstörung Deprivation Gewalt Forcierte Autarkie Säugling Kleinkind Parentifizierung Instabile Generationengrenzen Schuldzuweisung Deprivation Gewalt Sexueller Missbrauch, Inzest Schulkind Adoleszenz Dissoziative Vulnerabilität Auslöser selbstverletzender Handlungen • • • • Enttäuschende Beziehungserfahrungen Kränkungen und Zurückweisungen Isolation Nichtbewältigung von Selbstständigkeitsanforderungen • Aufnahme sexueller Beziehungen • „Ansteckung“ unter Mitpatienten (Werther-Effekt) 11 Selbstverletzung als Selbstfürsorge intrapersonal interpersonal Intrapsychische Bedeutung der Selbstverletzung Selbstverletzung als paradoxe selbstfürsorgliche Handlung („Blut tut gut“) • Spannungsventil • Suizidprophylaxe • Psychoseprophylaxe • „Antidepressivum“ • Identitätsstiftung • Selbstbestrafung • magischer Ritus (Resch, 2007) Interpersonale Bedeutung der Selbstverletzung • Präverbaler Appell • Interpersonelle Reinszenierung durch projektive Identifikation • Aggression / Manipulation / Erpressung • Flucht aus sozialer Überforderung • sekundärer Krankheitsgewinn • Solidarisierung unter Gleichaltrigen/Mitpatienten Psychodynamik Selbsthass Selbstabwertung negative Selbstbesetzung unerreichbares Ich-Ideal archaisches Überich Trauma Depersonalisation Instrumentalisierung des Körpers (Resch, 2007) 12 Soziales Selbst Selbstdomänen Soziales Selbst Spirituell/ emotionales Selbst aktionales Selbst Körperselbst „Leib“ Aktionales Selbst • • • • • Insuffizienz Machtlosigkeit Undurchschaubarkeit Kontrollbedürfnis vs. Kontrollverlust Impulsivität • • • • Negative Beziehungserwartung Hohes Leistungsideal Ungenügen Überstrenges Gewissen Schuld, Scham Einsamkeit Emotionales/„spirituelles“ Selbst • Unverständnis gegenüber eigenen Gefühlen • Negative Gefühlsmischungen • Negative Erwartungen: Person/Zukunft/Schicksal • Gefühl der Sinnlosigkeit/Leere 13 Körperselbst Soziales Selbst • Negative Besetzung • Entfremdung • Instrumentalisierung Aktionales Selbst Spirituell/ Emotionales Selbst Körper als Instrument Wirkung gegen Hilflosigkeit Depression Scham/Schuld Wut Ekel Angst vor Objektverlust Soziales Selbst Aktionales Selbst Prognose selbstverletzender Verhaltensweisen Spirituell/ Emotionales Selbst Körper als Instrument Wirkung gegen: Identitätsverlust Dissoziation Angst vor Selbstverlust • Suizidale und Selbstverletzungsimpulse bleiben stabil, Handlungen häufig reduziert (Sabo et al., 1995) Vitale Erfahrungen – Flukturiender Typus – Typus mit seltenen einzelnen SVV – Typus mit kontinuierlich abnehmenden Selbstverletzungen • Symptomshift (z. B. bulimische Symptomatik) • Syndromshift (z. B. Essstörung, Suchterkrankung, affektive Störung) 14 Therapeutische Aspekte • • • • Reduktion lebensbedrohlicher Verhaltensweisen Reduktion therapiegefährdender Verhaltensweisen Aufbau verbesserter Lebensumstände Zuwachs an Coping-Fähigkeiten – Steigerung der Affekttoleranz, Minderung des Dissoziationsneigung – Erlernen alternativer Stressreduktionsmethoden – Stärkung internaler Affektregulationsmechanismen • Psychotherapie • Pharmakotherapie Psychopharmakologische Behandlung selbstverletzenden Verhaltens SSRIs: Impulsivität, Depression, Irritabilität Carbamazepin: Affektlabilität, Impulsivität Opiatantagonisten: Schwere SVV, Analgesie bei SVV ß-Blocker: Impulsivität, Dissoziation, Hyperarousal Neuroleptika: Aggression, Angst, paranoide Ideen Cave: Benzodiazepine, MAO-Hemmer, Trizyklische Antidepressiva Therapie der Selbstverletzung • • • • • Flexibles multimodales Therapieangebot Multiprofessionelles Team Einbeziehung der Angehörigen Erhalt der Selbstverantwortung Flexibles Setting: stationär – teilstationär ambulant (Intervalltherapie) Dialektisch-Behaviorale Therapieelemente (DBT) • Therapiefokus: Emotionsregulation und Validierung, Entwicklung von alternativen Emotionsregulationsstrategien • Gruppensitzungen sind psychoedukativ: Vermittlung sozialer Kompetenzen, Stresstoleranz, Emotionsregulationsstrategien • Einzelsitzungen: Akzeptanzvermittlung (Validierung), Problemlösefähigkeiten, Kommunikationsstrategien (Linehan et al., 1993) 15 Psychodynamische Therapieelemente der Selbstverletzung DANKE * Emotionale Neuerfahrung * Mentalisierung * Traumaverarbeitung • Sichere Beziehung – – – – • • • • • Psychodynamisches Verständnis Verlässlichkeit Klare Grenzen Kontingenz Containing („professionalisierte Empathie“) Aktion vs. Sprache Zukunftsperspektive Biographische Rekonstruktion / Integration Geduld, Bescheidung 16