Selbstmutilationen – Selbst verletzendes

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Selbstmutilationen – Selbst verletzendes Verhalten
Zusammenfassung:
Pathologische Selbstmutilationen ( Mutilation = Verstümmelung ) – die
absichtliche Beeinträchtigung oder Zerstörung der Körperhaut ohne
bewusste suicidale Absicht – konnte einerseits als Symptom einer
psychischen Störung und andererseits als eigenständiges Syndrom
erkannt werden.
Aus den Ergebnissen und Aussagen der Literatur zu diesem Thema lässt
sich eine Einteilung in drei Basiskategorien vornehmen.
1. Schwere Selbstmutilationen – Seltene Handlungen, die zu
erheblichen Gewebeschaden führen sind üblicherweise assoziiert mit
psychotischen Störungen oder akuten Intoxikationen.
2. Stereotype Selbstmutilationen – fixierte rhythmische
Handlungen, die keinen symbolischen Inhalt erkennen lassen, treten
im allgemeinen bei Intelligenzminderungen auf.
3. Oberflächliche oder moderate Selbstmutilationen –
Handlungen wie Schneiden der Haut, oder Verbrennungen, diese
treten in Assoziation mit einer Reihe von psychischen Störungen auf.
Repetitive oberflächliche oder moderate Selbstmutilationen sollten in
die Gruppe der Impulskontrollstörungen eingereiht werden, wobei
sie in den meisten Fällen mit einer Persönlichkeitsstörung oder
Charakterpathologie koexistieren.
Selbstzerstörerisches Verhalten umfasst einen großen Bereich:
Suicidversuche, suicidale Gesten, die Beendigung von lebensnotwendigen
Behandlungen, zum Beispiel das Beenden einer Dialyse - mit bewusster
Selbsttötungsabsicht. Als auch Hochrisikoverhalten im Sport, wie
Freiklettern oder in der Arbeitswelt, wie Berufstauchen, akute
Intoxikationen mit Alkohol oder chronischer Alkoholismus oder schwerer
Zigarettenmissbrauch - mit indirekter Selbstschädigung oder Selbsttötung.
Diese Formen der Selbstzerstörung werden von der Diskussion
ausgenommen.
Schwere Selbstmutilationen
Schwere Selbstmutilationen sind keine essentiellen Symptome einer
psychischen Störung sondern sie können akut aber selten bei einer Reihe
von Störungen als assoziierte Symptome auftreten. Diese sind
Schizophrenie, schwere depressive Episoden mit psychotischen
Symptomen, akute psychotische Störungen, akute Intoxikationen,
manische Episoden mit psychotischen Symptomen, geistige Retardierung
und Transexualismus.
Typischerweise kommen Amputation von Gliedmassen, Enucleation der
Augen oder Kastration vor. Ein Fall einer versuchten Denervierung der
Nebennierendrüse ist bekannt.
Manche Patienten sind indifferent gegenüber ihrem Handeln, andere
bieten Erklärungen an, die im entsprechenden Wahnsystem eine Logik
beinhalten.
Als Strafe für Sünden, folgend der wörtlichen Auslegung des Evangeliums:
„Wenn dich die Hand zur Sünde verführt, so schlage sie ab.“
Vermeintliche dämonische Einflüsse, Besessenheit, die entfernt werden
müssen, im Gefolge von befehlenden Stimmen, aus Angst vor
Homosexualität oder Hypersexualität.
Stereotype Selbstmutilationen
Stereotype Selbstmutilationen werden am häufigsten in Instituionen
beobachtet, die Menschen mit geistigen Behinderungen,
Intelligenzminderungen betreuen.
Eine Erhebung bei über 10 000 intelligenzgeminderten
Institutionsbewohnern in Texas ergab eine Prävalenz von 13,6 %.
Sie treten als eigenständiges Symptom auf oder im Zusammenhang mit
Autismus, Lesch-Nyhan Syndrom, Tourette Syndrom, akuten
psychotischen Zuständen, Schizophrenien und Zwangsstörungen.
Die Formen sind Schlagen des Kopfes gegen die Wand, Schlagen auf
harte Gegenstände, Finger in den Rachen oder in die Augen bohren,
selbstinduziertes Erbrechen, selbst beißen, Zähne ausreißen, Gelenke
dislozieren.
Diese Handlungen tendieren dazu monoton, repetitive und gelegentlich
rhythmisch zu sein.
Sie entbehren einer symbolischen Bedeutung und lassen keinen
besonderen Affekt erkennen. In der Anwesenheit von Beobachtern lässt
sich keine Scham oder Schuld erkennen, die die Handlungen modifizieren
könnten.
Die Patienten scheinen einen primären zwanghaften Drang folgen zu
müssen.
Autoerotische Antwort auf mangelnde Stimulation, Ausdruck von
Frustration, auf sich gekehrte Wut, Zorn und Aggression werden als
Erklärungsmodelle herangezogen.
Oberflächliche oder moderate Selbstmutilation
Superfizielle oder moderate Selbstmutilationen sind sehr häufige
insbesondere bei Jugendlichen weit verbreitete Verhaltensweise. Sie
geschätzten Prävalenzzahlen schwanken in einem Bereich von 400-1400
pro 100 000 Einwohner pro Jahr. Sie können vereinzelt, in gehäuften
Episoden, oder wiederholten Episoden auftreten. Der durchschnittliche
Beginn ist mit13 Jahren. Die Dauer der episodischen Verlaufsform kann
Jahrzehnte, typischerweise aber 10-15 Jahre andauern.
Frauen sind 7 mal häufiger betroffen als Männer. Asiatische Frauen
besonders häufig.
Schneiden der Haut meist mit Rasierklingen, Kratzen der Haut mit spitzen
Gegenständen, Verbrennen der Haut vorwiegend mit Zigaretten oder
Feuerzeugen sind die am häufigsten beobachteten Ausdrucksformen.
Die häufigsten Lokalisationen sind beim Schneiden die linken Handgelenke
im weiteren die Unterarme, Oberarme, Oberschenkel, Bauch, Brüste und
alle Hautpartien der Vorderseite.
Als Auslöser lassen sich Schikanen in der Schule, Konflikte mit den Eltern,
Scheidung der Eltern, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung und der
Eintritt in eine Erziehungsinstitution erkennen.
Im Rahmen psychischer Störungen finden sich Selbstverletzungen bei
Posttraumatischen Belastungsstörungen, dissoziativen Störungen, und
Essstörungen.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Selbstverletzungen in einer Studie
mit bulimischen Patienten, die Laxantien missbrauchten, in 40 % vorkam.
Bei Persönlichkeitsstörungen treten die Borderlinestörung und die
histrionische Persönlichkeitsstörung hervor. Im ICD 10 ist
selbstverletzendes Verhalten ein Symptom der Störung.
Es findet sich häufig bei Gefängnissinsassen mit antisozialer
Persönlichkeitsstörung.
In Hinblick auf die Schilderungen der Patientinnen kann man die
Selbstverletzung als krankhafte Form der Selbstbehandlung auffassen.
Schneiden ermöglicht eine rasche vorübergehende Erleichterung von
innerlicher Spannung, Gedankenkreisen, depressiver Stimmung,
Erleichterung von Gefühlen der Einsamkeit und des Zurückgewiesenseins,
es vermindert konflikthaft erlebte sexuelle Gefühle, oder steigert sexuelle
Erregung, es befreit von Schuldgefühlen und stellt
Selbstbestrafungsimpulse zufrieden. Es gibt ein Gefühl von
Kontrollfähigkeit und Besondersartigkeit. Es befreit von
Depersonalisations- und Derealisationsgefühlen. Neben der Erleichterung
kommt auch Scham und Angewidertsein von sich selbst danach auf.
Personen, die sich Piercings oder Tatoos anbringen lassen, suchen die
Aufmerksamkeit und Provokation und Identifikation mit einer Gruppe.
Patienten mit Selbstverletzungen verstecken diese schamhaft unter ihrer
Kleidung. Die Aufmerksamkeit und die Sorge die das Selbstverletzen
erregt ist ihnen unangenehm. Die negative Aufmerksamkeitssuche, die
dieser Störung zugeschrieben wird, ist unbewusst, die Aufmerksamkeit
wird sehr ambivalent erlebt.
Biologische Erklärungsmodelle ziehen das endogene Opiatsystem,
serotonerge und dopaminerge Mechanismen in Betracht.
Soziale Betrachtungsweisen heben den Aspekt der endemischen nahezu
ansteckenden Ausbreitung hervor, wie es in insbesondere repressiv
geführten Erziehungseinrichtungen auftritt. In jugendpsychiatrischen
Stationen beobachten wir auch die endemische Verbreitung, die im Sinne
der Gruppenidentifikation gedeutet werden kann.
Interkulturelle und historische Betrachtungen können ebenfalls das
Verständnis bereichern.
Das Anbringen von Tätowierungen oder Narbenreihen steht meist im
Zusammenhang mit Initiationsriten, dem rituell geführten Eintritt in das
Erwachsen sein, und hat interessante zeitliche Parallelen zum
durchschnittlichen Manifestationsalter. In der christlichen und in anderen
religiösen Traditionen finden sich unzählige Beispiele von
Selbstmutilationen.
Über Jahrhunderte hinweg wurden von der Kirche Menschen heilig
gesprochen, die sich fleischlich peinigten. Manche Hindus durchbohren
sich, um sich dem Gott Murugon zu nähern.
Tiefenpsychologisch ist der Abwehrmechanismus der Spaltung
vordergründig.
Als prädisponierende Faktoren konnten physischer oder sexueller
Missbrauch, chirugische Eingriffen in der frühen Kindheit,
Hospitalisierungen in der Kindheit wegen körperlicher Krankheiten,
elterlicher Alkoholismus und Depressionen und das Aufwachsen in
Erziehungsinstitutionen erfasst werden.
Die unmittelbaren Auslöser sind meist reale oder phantasierte
Zurückweisungen oder Situationen die Gefühle der Hilflosigkeit, Wut oder
Schuld hervorrufen.
Zusammenfassend kann das Syndrom der wiederholten Selbstverletzung
so beschrieben werden:
Zunehmendes Eingenommensein von dem Drang sich selbst zu verletzen.
Zunehmende Anspannung unmittelbar vor der Selbstverletzung.
Wiederholtes Versagen dem Selbstverletzungsimpuls zu widerstehen,
sodass es zu einer Schädigung der Haut kommt.
Zufriedenstellung oder ein Gefühl der Erleichterung nach der
Selbstverletzung.
Wiederholte Selbstverletzungen beinhalten keine suicidale Absicht. Es
kann aber das labile psychische Gleichgewicht, vergleichbar mit einer
Bulimie, zusammenbrechen und tatsächliche Suicidabsichten auftreten.
Behandlung
Es gibt keine Behandlungsrichtlinien aus kontrollierten Studien.
Die psychotherapeutische Behandlung lehnt sich an die Behandlung der
Bordelinestörung an.
Drei Methoden treten dabei mit Ergebnissen hervor.
Die psychodynamisch orientierte unterstützende Psychotherapie
( Rockland ).
Sie umfasst das Herstellen einer therapeutischen Beziehung, es gibt
Anweisungen, Vorschläge, Lob, Ermutigung zu konkreten Handlungen,
Suggestionen, Betonung der Ressourcen und Stärken, soziale
Interventionen, Einbeziehung von Familienmitgliedern.
Die dialektische Verhaltenstherapie ( Linnehan ).
Sie erfolgt im Einzel- und Gruppensetting.
Maladaptive Gedanken und Selbstbilder werden angesprochen und
verändert. Der Ausdruck von Emotionen gefördert, Entspannungs- und
Selbstwahrnehmungstrainigs durchgeführt.
Die Übertragungsfocusierte Psychotherapie ( Kernberg ).
Eine psychodynamische tiefenpsychologische Methode, die die aktuellen
Übertragungsgefühle zum Therapeuten in den Mittelpunkt stellt,
eingbettet in eine klar struktuturierte Behandlungsabsprache.
Heftige Gegenübertragungsgefühle stellen bei der Behandlung der
Borderlinestörung ein besondere Herausforderung und Belastung dar.
Diese können bei dieser Methode therapeutisch genützt werden.
Bei der medikamentösen Behandlung orientiert an der zugrunde
liegenden Störung oder begleitenden Symptomen.
Antipsychotika bei schweren Selbstmutilationen im Rahmen einer
Schizophrenie, Antidepressiva und Antipsychotika bei schweren
depressiven Episoden mit psychotischen Symptomen ect.
SSRIs können bei der wiederholten oberflächlichen Selbstmutilation
versucht werden, auch in höherer Dosierung, vergleichbar mit der
Bulimiebehandlung.
Opiatantagonisten ( Naltrexon-Revia )stellen einen alternativen oder
additiven Behandlungsansatz dar bei der oberflächlichen Selbstverletzung
mit Depersonalisation und Derealisation sowie bei repetitiven
Selbstmutilationen bei Intelligenzminderung.
Dr. Bernhard Mohr
Facharzt für Psychiatrie
Psychotherapeut
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