Zur Bedeutung von Geschlechtsrollen in der psychiatrischen Diagnostik und Therapie Karin Gutiérrez-Lobos MedUni Wien Gender: Definition der WHO “Menschen werden weiblich oder männlich geboren, jedoch lernen sie Mädchen oder Junge zu sein, um dann zu Frau oder Mann heranzuwachsen. Gender studies behandeln die Resultate, die sich aus der gesellschaftlichen Rollenverteilung von Mann und Frau ergeben. Es werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Lebensgestaltung, Gesundheit und Wohlergehen erörtert. Da in diesem Zusammenhang größtenteils Frauen durch diese Unterschiede benachteiligt sind, liegt das Hauptaugenmerk von Gender Studies auf der Betrachtung Frauen-spezifischer Problematiken.“ Draft WHO Gender Policy, Gender: A Working Definition 1998 Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit Soziale Ungleichheit von Frauen und Männern (Unterschiede in Wissen, Geld, Macht und Prestige) Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen von Frauen & Männern (z.B. physische und psychische Belastungen, Stress, Ausgrenzung) Unterschiede in den Bewältigungsressourcen von Frauen & Männern (z.B. Bildung, Teilhabechancen, soziale Unterstützung, Selbstbewusstsein) Unterschiedliche gesundheitliche Versorgung von Frauen & Männern (z.B. Zugang zu gesundheitsfördernde Maßnahmen) Unterschiede im Gesundheitsverhalten Gesundheitliche Ungleichheit von Frauen und Männern Nach: Rosenbrock 2001 Geschlechterrollen und Gesundheitsverhalten Die Geschlechtervorstellungen haben eine Funktion für die Identitätsbildung (Selbstkonzept) •Riskantes Verhalten gilt demnach als „männlich“: z.B. schnelles Autofahren, Fahren ohne Sicherheitsgurt, starkes Trinken, Rauchen, riskante Sportarten, Waffengebrauch, Kampf... •Alkoholkonsum ist eine „Schlüsselkomponente“zur Darstellung der männlichen Geschlechtsrolle •Bewusstes Achten auf die Gesundheit wird als unmännlich angesehen Psychiatrie lange Tradition Symptome für psychische Erkrankung geschlechtsspezifisch aufzufassen Antike Symptome bei Frauen: Störung ihrer Sexualorgane, moralische Schwäche Symptome bei Männern: Vernunftsproblem 19. Jahrhundert “Exzessives Grübeln, übertriebene Hingabe an vielerlei Interessen und Neigungen und Besorgtheit um politischen und sonstigen Erfolg ... Männer neigen vermehrt zu Lektüreforschung und Theoretischem. Sie sind ungezügelter als Frauen in ihren Ambitionen und Neigungen, im Erwerb von Wissenszuwachs oder wissenschaftlichem Fortschritt.” „Somatische“ Strategien von Frauen & Männern Frauen Vorsorgeuntersuchungen, Präventionsprogramme, private Sorgeleistungen bzgl. Gesundheit, Krankheit und Pflege, aktives Hilfesuchverhalten, illness reporting, größeres informelles Netzwerk Männer Körper wird funktionalistisch betrachtet, gehen mehr Risiken ein, rücksichtsloseres Verhalten gegenüber dem Körper, Inanspruchnahme des Gesundheitssystems erst bei manifesten Symptomen, setzen ihre Anliegen dann schneller und präziser durch, größeres formelles Netzwerk Stein-Hilbers 1995, Courtenay 2000 Doppelter Standard Psychisch gesund – psychisch krank Eigenschaften psychisch gesunder Erwachsener = Eigenschaften psychisch gesunder Männer Instrumentalität: aktiv, ehrgeizig, objektiv, dominant ≠ Eigenschaften psychisch gesunder Frauen Expressivität: unterwürfig, leicht beeinflussbar, unsicher, gefühlsbetont, leicht verletzbar Broverman et al 1972, Nesbit & Penn 2000 Weibliche und männliche Stereotype Weiblich: abhängig, abergläubisch, affektiert, einfühlsam, furchtsam, geschwätzig, liebevoll, sanft, schwach, sexy, unterwürfig, Männlich: aggressiv, aktiv, dominant, ernsthaft, erfinderisch, rational, selbstbewusst, stark, unabhängig, grob, grausam erhoben in Europa, USA, Südafrika, Südamerika, Australien, Neuseeland, Williams & Best 1990 Geschlechtsstereotype und Diagnosen „Frauen sind expressiver“ Mehr Frauen als Männern wird daher Störung mit entsprechender Emotionalität zugesprochen z.B. Borderline PS, Histrionische PS, Depression Normative Wertungen und Stereotype fließen in Diagnose ein MMPI-2 “GeschlechtsrollenSkalen” Maskulin Feminin „Ich habe in der Schule nur langsam gelernt“ stimmt nicht stimmt „Ich gehe gerne ins Theater“ stimmt nicht stimmt stimmt nicht Stimmt stimmt nicht Stimmt stimmt stimmt nicht „Ich denke oft schneller als ich spreche“ „Ich bin in der Liebe enttäuscht worden“ „Ich bin voller Selbstvertrauen“ Gender Bias & Diagnose Frauen mit „männlichem“ Störungsbild und Männer mit „weiblichem“ Störungsbild werden als schwerer krank eingeschätzt. (Born 1992) Einschätzung stereotypengeleitet ohne Berücksichtigung von Diagnosekriterien (Garb 1997) Externe Validierung von Diagnosen klammert die Geschlechtszugehörigkeit aus DSM-III Pathologisierungsbias zuungunsten von Frauen (Kaplan 1983) Einschätzung der DiagnostikerInnen von eigenen Geschlechtsrollenstereotypien abhängig (Moermann & Van Mens-Verhulst 2004) jährliche Inzidenz / 100.000 Bevölkerung Einfluss der Interaktion Zivilstand x Geschlecht auf Depressionsraten 160 144,9 140 120 107,0 100 80 59,3 51,1 60 Männer Frauen 40 20 1 : 1,3 1 : 1,1 geschieden verwitwet 0 Gutierrez et al 2001 jährliche Inzidenz / 100.000 Bevölkerung Einfluss der Interaktion Zivilstand x Geschlecht auf Depressionsraten 110,4 120 96,7 100 72,2 80 Männer Frauen 60 30,9 40 20 1 : 1,1 1 : 2,3 0 nicht verheiratet verheiratet Gutierrez et al 2001 Female/male ratios of rates of depressed patients (per 100.000 population per year) for sex, marital status and employment status employed never married married divorced widowed total 1,33 1,95 1,03 0,90 1,71 not employed 1,28 2,14 1,94 1,41 1,31 total 1,35 2,33 1,35 1,16 1,77 Gutierrez-Lobos et al 2001 Depression und reproduktive Phase Praemenstruell dysphorisches Syndrom - PMDD: 3 - 8 %; PMS: 75 % Postpartale Depression: 10-15 %; postpartum blues: 50-80 %; PPP: 1:1000 Perimenopausale Depression ??? In DSM - II war Involutionsdepression eine Diagnose, wurde aus DSM-III gestrichen. -- ERT (HRT): Ist nicht effektiv in der Behandlung einer “perimenopausalen” Depression. ¾ Frauen leben 1/3 ihres Lebens in der Menopause! Die Einstellung zur Menstruation ist manipulierbar Frauen, denen eine erhöhte Erwartung für negative Stimmung während der Menses induziert wurde, berichten über mehr dysphorische Symptome als andere Frauen, dies jedoch über den gesamten Zyklus Frauen, die annahmen, in der prämenstruellen Zyklusphase zu sein, schilderten im Vergleich zu anderen Frauen mehr menstruationsbezogene Symptome, unabhängig von ihrer aktuellen Zyklusphase. Versuchspersonen, denen gesagt wurde, dass eine Frau aktuell in der prämenstruellen Zyklusphase sei, attribuierten negative emotionale Äußerungen dieser Frau vorwiegend biologisch, nicht aber positive Frauen, die über die Teilnahme an einer Studie zum Menstruationszyklus informiert waren, schilderten in der prä- und paramenstruellen Phase mehr emotionale und körperliche Symptome als naive Studienteilnehmerinnen Jarvis und Cabe 1991 Stereotype im Umgang mit mittlerem Lebensalter Betonung des „Mangelzustandes“ Hitzewallungen, Schweißausbrüche Depressionen („menopausales Irresein“) Empty Nest BIPS-Studie „FrauenLebenGesundheit“ „Welches waren für Sie persönlich die wichtigsten Veränderungen in Zusammenhang mit den Wechseljahren?“ mehr Ruhe und Distanz zum täglichen Kleinkram Haare werden grau mehr Spaß am Sex Gefühl von Freiheit zweite Eheschließung Verlust des Arbeitsplatzes Bremen 1997 Biologistische Tendenzen Frauen und Männer seien aufgrund ihrer körperlichen Eigenschaften so wie sie sind „neueste Erkenntnisse der Gehirn- und Evolutionsforschung mit aktueller Verhaltenspsychologie. Endlich eine Antwort auf die Frage, warum Frauen und Männer so sind, wie sie sind“ Aber: Differenzen, die anhand der körperlichen Unterschiede (sex) festgestellt werden, müssen als Ergebnis von gender interpretiert werden – kulturelle, soziale, gesellschaftliche Mechanismen und die politischen und institutionellen Regeln, denen ein Individuum aufgrund von „sex“ unterliegt Kleiner Unterschied im Gehirn? Ja - Steuerung der Fortpflanzung Nein – kognitive Funktionen Science 2008 Guiso et al: Culture, Gender, and Math Hude et al: Gender Similarities characterize Math Performance Culture, Gender and Math Guiso et al, Science 2008 Humboldt, 1805: „Frauen, die studieren werden von ihrer natürlichen Veranlagung und den wesentlichen Aufgaben in der Familie abgelenkt.“ Summers, 2005: „Scheinbar auf vielen Ebenen, und für die verschiedensten menschlichen Eigenschaften, wie etwa Körpergröße und Gewicht, kriminelle Tendenzen, Intelligenzquotient, sowie mathematische und wissenschaftliche Fähigkeiten im Allgemeinen - dass gibt es recht klare Evidenz für einen inhärenten Unterschied zwischen Mann und Frau." 0 Studierende Erstabschluss Drittmittel Ass.Innen Quelle: Statistisches Jahrbuch 2008 Doz.Innen Vedmed. Wien MU Graz MU Innsbruck MU Wien Vedmed. Wien MU Graz MU Innsbruck MU Wien Vedmed. Wien MU Graz MU Innsbruck MU Wien Vedmed. Wien MU Graz MU Innsbruck MU Wien Vedmed. Wien MU Graz MU Innsbruck MU Wien Vedmed. Wien MU Graz MU Innsbruck MU Wien Karriereverläufe von Frauen an Med. Universitäten & an VetMed Wien Frauenanteil in % 100 80 60 40 20 Prof.Innen Frauen Männer (n=236) (n=197) Internistische Fächer Chirurgische Fächer Kinder- und Jugendheilkunde Frauenheilkunde u. Geburtshilfe Allgemeinmedizin Diagnostische/Labor-Fächer Psychiatrie Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Theoretische, nicht-klinische Fächer Keine Angabe Gesamt 30,1 16,1 19,1 14,4 6,8 2,5 5,1 1,8 2,1 2,0 41,1 31,5 7,1 0,0 6,3 4,6 1,5 0,9 3,0 4,2 100,0 100,0 Gesamt (n=433) X2 35,1 5,74 23,1 14,28 13,6 13,05 7,9 30,80 6,5 0,08 3,5 1,32 3,5 4,07 2,8 0,74 2,5 0,37 1,5 100,0 p .017 <.001 <.001 <.001 .772 .251 .044 .391 .542 Kinder als Risiko für Uni-Karriere? Anteil kinderloser ProfessorInnen in % Quelle: Research and Training Network „Women in European Universities", Lind & Banavas (2009), Krimmer et al. (2004); Majcher (2007). Gender und Exzellenz • Matthäus Effekt – Exzellenz als sich selbst verstärkendes System – wird an bestimmten Personen definiert, bekannte AutorInnen werden häufiger zitiert und erhalten mehr selektive Aufmerksamkeit – „Es wird im Nachhinein etwas so beurteilt, als sei es von vorneherein evident. Wer anerkannt wird, muss gut sein“ (Beaufays 2006) I.S.T.A. • Matilda Effekt – Verdrängung bzw. Leugnung der Leistungen von Frauen – Arbeiten nicht zitiert, bei Kooperationen in Fußnote genannt, bei Preisen vergessen • Empirische Befunde über die gängigen Kriterien für Bewertung von Exzellenz weisen darauf hin, dass diese nicht geschlechtsneutral sind z.B. Wenneras & Wold (1997): Nepotism and Sexism in Peer Review, Nature Rollenverständnis-Mann/Frau • Ein Familienfoto steht auf seinem Schreibtisch: Er ist ein solider, treusorgender Mann. • Ein Familienfoto seht auf ihrem Schreibtisch: Ihre Familie kommt vor dem Beruf • Sein Schreibtisch ist überladen: Er ist belastbar & fleißig • Ihr Schreibtisch ist überladen: Sie ist unordentlich & chaotisch • Er ist mit dem Chef zum Essen: Er macht Karriere • Sie ist mit dem Chef zum Essen: Sie haben was miteinander • Er ist nicht an seinem Schreibtisch: Er wird in der Konferenz sein. • Sie ist nicht am Schreibtisch: Sie wird auf der Toilette sein. • Er habilitiert: Er ist tüchtig • Sie habilitiert: Sie ist karrieregeil Nach N. Josefowitz; Impression from an office