Raum unbegrenzter Möglichkeiten - Zum Begriff

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Deutschlandfunk Dossier
Red. Frank Kämpfer
Dossier / 19.15 Uhr
Freitag, den 21.4.2006
Raum unbegrenzter Möglichkeiten
Zum Begriff des "Neuen" in der Musik
Hanno Ehrler (Gesamtlänge 43´45´´)
MUSIK 01
Luigi Ceccarrelli: Danza con mani
Luigi Ceccarelli, Maurizio Giri: Aniccham, elektronische Musik, BMG Ariola
S.p.A. CCD 3005, ohne LC-Nummer
ca. 0´20´´ frei, unterlegen (max. 3´06´´)
Zitat
Sprecher 2/3 Oft stürzt das Neue über uns herein wie eine Naturgewalt. Muss der Einzelne nicht immer wieder mit Produkten klarkommen, die er nie verlangt hat? Unverständliche Computerprogramme, Handys mit leeren Akkus, überkomplizierte Video-Recorder?
Steht er nicht ratlos vor neuen Fahrkarten-Automaten, sitzt er beim OnlineZahlungsverkehr nicht schimpfend vor dem Computer? (Matthias Hennies)
Zitat
Sprecher 2/3 Das Neue ist unausweichlich, unvermeidlich, unverzichtbar. Und in diesem
Sinne ist die Forderung nach Innovation, wenn man will, die einzige Realität, die in der
Kultur zum Ausdruck gebracht wird. Denn unter Realität versteht man das Unausweichliche, Unverfügbare, Unverzichtbare. Indem die Innovation unverzichtbar ist, ist sie Realität.
(Boris Groys)
Zitat
Sprecher 2/3 Wirklich Neues ist überall zu finden – meistens dort, wo man noch nicht gesucht hat. Das Lapidare, scheinbar Nebensächliche an ungewöhnlichem Ort, das Unauffällige. Nicht in offensichtlichen Auffälligkeiten zeigt sich Neues, sondern in spezifischen
Bezugssystemen, im Netzwerk der Deutungsmöglichkeiten. (Robin Hoffmann)
Zitat
Sprecher 2/3 Das Prädikat "neu" ist heute ein Waschmittelprädikat und steht für die Lüge
von Innovation und Creation, die in Wahrheit nur Modifikation der ewig gleichen Substanz
ist. Jede Gewöhnung an musikalische Erscheinungsformen hat man zu irgend einem Zeitpunkt als Regel zementiert. Insofern sind Harmonielehre und Kontrapunkt und alle davon
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abweichenden Theorien die Konservierungsmittel für den Sammler kultureller Besitztümer.
(Franz Hummel)
Zitat
Sprecher 2/3 Das Neue entzieht sich per definitionem der Definition. Könnte man es definieren, könnte man Gesetzmäßigkeiten finden, dann wäre das Neue vorhersehbar und
somit nichts neues mehr. Das ist ja auch das Problem von science fiction, dass die Entwicklung der Technik immer anders verläuft als erwartet. Entwicklungen erscheinen immer
erst im Nachhinein als die einzig folgerichtigen und Lösungen sind nur dann einfach, wenn
man sie schon kennt. Ich denke also, dass das "Neue" nur ganz schlicht definiert werden
kann als das, was man nicht kennt. (Klaus Lang)
Zitat
Sprecher 2/3 Die Frage nach dem Neuen in der elektroakustischen Musik hat schon etwas provokatives: Wie kann man eine musikalische Entwicklungsrichtung, die für sich seit
ihrer Entstehung stets reklamiert hat, das Neue schlechthin zu verkörpern, ja, einen Großteil ihres Selbstverständnisses aus eben dieser Tatsache ableitet, nach ihrer Legitimation
grade in dieser Bereich fragen. Ebenso gut könnte man wohl den Papst fragen, wie er es
mit dem Katholizismus hält. (André Ruschkowski)
Zitat
Sprecher 2/3 Aber – man geniert sich schon, den Gemeinplatz auszusprechen – kreative
Lust, zumal sie eine Sache des Selbsterhaltungstriebes ist, wird es immer geben, und die
ist immer wieder neu, so wie jeder Mensch und jede Situation immer wieder neu ist. Der
Begriff des "Neuen" in einem fortschrittsgläubigen, objekthaften Sinne bedeutet überhaupt
nichts, aber er bedeutet alles im Sinne von leben und entdecken. Dann bekommt er Aspekte, die unerschöpflich sind. (Helmut Lachenmann)
MUSIK 01 Ende
Sprecher 1
Raum unbegrenzter Möglichkeiten
Zum Begriff des "Neuen" in der Musik
von Hanno Ehrler
MUSIK 02
Guilio Caccini: Amarilli, mia bella
Récital René Jacobs, René Jacobs Gesang, Konrad Junghänel Laute
Harmonia mundi HMA 1901183, LC 7045
max. 2´55´´ (1´26´´)
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Sprecher 4 Das Neue als ästhetisches Prinzip (ev, vor MUSIK 02)
Sprecher 1 Im Jahr 1601 veröffentlichte Guilio Caccini die Madrigal- und Ariensammlung
"Le nuove musiche", "die neuen Musiken". Das diesen Stücken stolz verliehene Attribut
"neu" trugen sie zu recht. Ihre Melodien folgten nicht mehr den strengen Gesetzen der
Mehrstimmigkeit und eines ausgeklügelten Kontrapunkts. Vielmehr orientierte sich die
musikalische Struktur am Ausdruck der Worte, am Inhalt des vertonten Textes. Die melodische Linie, der rezitierende und ariose Sologesang mit seiner unmittelbaren emotionalen
Geste dominierte die Musik. Dieses Neue ist auch verbunden mit der Erfindung einer
neuen Gattung, der Oper und hier vor allem mit dem Namen Claudio Monteverdi.
Die von Guilio Caccini als "neu" bezeichnete Kompositionsweise nannte man "seconda
pratica" – im Gegensatz zur "prima pratica", die den Konventionen des mehrstimmigen
Komponierens verpflichtet blieb. So standen sich an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zwei Musikstile und zwei Arten, über Musik zu Denken, gegenüber. Sie verkörpern das Alte einerseits und andererseits, emphatisch und selbstbewußt, das Neue.
Die Gegenüberstellung von "alt" und "neu" ist zum ersten Mal im 14. Jahrhundert dokumentiert und zieht sich seitdem durch die gesamte abendländische Musikgeschichte. Um
das Jahr 1320 veröffentlichte Philippe de Vitry, einer der führenden Intellektuellen seiner
Zeit, Bischof, Musiktheoretiker und Komponist, ein Traktat mit dem Titel "Ars nova", "neue
Kunst". Dabei ging es um die Weiterentwicklung und Verfeinerung der alten, "ars antiqua"
genannten Kompositionsweise. Seit 1919 dann diente das Attribut "neu" nicht mehr nur
als Stil-, sondern sogar als Epochenbezeichnung, nachdem der Musikkritiker Paul Bekker
eine Vortrag mit dem Titel "Neue Musik" gehalten hatte. Neben der Bezeichnung "zeitgenössische Musik" klassifiziert "neue Musik" noch heute gegenwärtig entstehende Werke.
So ist "neu" ein bedeutendes Merkmal der abendländischen Musik, ja ein zentrales ästhetisches Prinzip. Der Wunsch, "neu" zu sein, "Neues" zu schaffen, hat die Musikentwicklung maßgebend bestimmt. Er ist die Triebfeder des Komponierens und des Denkens über Musik.
MUSIK 03
Frederic Chopin: Variationen für Klavier und Orchester op. 2
Klavier: Alexander Schawgolidse, Hochschulorchester der Frankfurter Musikhochschule, Leitung: Wojciech Rajski
Mozart Paraphrasen, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst,
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, MP 112005,
ohne LC-Nummer
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ca. 0´30´´, unterlegen
Zitat
Sprecher 2/3 Ich saß mit Florestan am Clavier…
Sprecher 1 schreibt Robert Schumann in seiner Kritik zu Frederic Chopins Variationen
op. 2 über das Mozart-Thema "là ci darem la mano".
Zitat
Sprecher 2/3 Florestan ist, wie du weißt, einer von jenen seltenen Musikmenschen, die
alles Zukünftige, Neue, Außerordentliche wie vorausahnen. Heute stand ihm aber dennoch eine Überraschung bevor. Mit den Worten "Hut ab, ihr Herren, ein Genie" legte Eusebius ein Musikstück auf. Den Titel durften wir nicht sehen. Ich blätterte gedankenlos im
Heft; dieses verhüllte Genießen der Musik ohne Töne hat etwas Zauberisches. An manchen Stellen ward es lichter - ich glaubte, Mozarts "là ci darem la mano" durch hundert
Akkorde geschlungen zu sehen. Leporello schien mich ordentlich wie anzublinzeln und
Don Juan flog im weißen Mantel vor mir vorüber. "Nun spiel's", meinte Florestan - Eusebius gewährte, in eine Fensternische gedrückt hörten wir zu.
MUSIK 03 weiter und Ende
Innovation und Fortschritt
Sprecher 1 Der Begriff "neu" bezeichnet zum einen die Weiterentwicklung des Alten, bei
der es darum geht, dieses zu erweitern, zu verbessern, zu übertreffen. Zum anderen steht
"neu" auch ein für den Bruch mit dem Alten, für die radikale Abkehr vom Gewohnten, für
das mutige Betreten völlig unbekannten Terrains.
In beiden Fällen verkörpert das Attribut "neu" einen qualitativen Schritt und transportiert
eine teleologische Komponente. Deutlicher als im Wort "neu" offenbart sie sich im Begriff
"innovativ". Innovation zielt auf ein Streben nach Erneuerung mit dem Ziel, eine bessere
und höhere Stufe zu erreichen. Innovation ist das Postulat der modernen Welt und ein
gewichtiges Stück ihres Selbstverständnisses. Sie ist der Motor der neuzeitlichen zivilisatorischen Entwicklung. Nur wer weitergeht, kann gewinnen, in Ästhetik und Kunst, in
Technik, Wissenschaft und Gesellschaft gleichermaßen.
Das Streben nach Innovation hat die Ideologie des Fortschritts hervorgebracht. Unsere
Kultur ist eine Kultur der Vorwärtsbewegung, in der Stillstand schon als Rückschritt gilt –
wie es die im Wirtschaftsjargon gängigen, absurden Begriffe Null- und Minus-Wachstum
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symbolisieren. Das Fortschreiten, die Bewegung beziehungsweise der Prozeß von A nach
B garantiere schon an sich, so die Fortschrittsoptimisten, einen Zugewinn an Wissen, Erkenntnis und Handlungsmöglichkeiten, eine Verbesserung von Gesellschaftsstrukturen,
eine Erweiterung der Freiheit.
Trotz allem Zweifel und aller Kritik an der Selbstverständlichkeit dieser Haltung lebt ungebrochener Fortschrittsoptimismus vielerorts weiter. Positiv betrachtet steht er für den festen Glauben an die gestaltende Kraft der Innovation, auch wenn dieser Glaube angesichts
der globalen Probleme in Technik und Gesellschaft heute ein eher naiver ist. Auf der negativen Seite wird Fortschrittsoptimismus mißbraucht als eine gesellschaftlich sanktionierte Ideologie für die Schönfärbung oder Vertuschung schädlichen und egoistischen Handelns.
In der Musik lässt sich die Ideologie des Fortschritts an der Entwicklung des musikalischen Materials bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ablesen. Bis dahin galt es,
immer mehr und anderes akustisches Material zum Komponieren nutzbar zu machen und
die Verwendung dieses Materials auch ästhetisch zu legitimieren. Einige Schritte in dieser
Entwicklung sind: die Vorantreibung der motivisch-thematischen Arbeit und der entwickelnden Variation in der klassisch-romantischen Musik, die Ausweitung der Tonalität über
Atonalität und 12-Ton-Technik zum Serialismus; die Legitimierung der Collage als Formprinzip; der Einbezug von elektronisch generierten Sounds und nicht zuletzt die Verwendung von Geräuschen, insbesondere von Stör- und Umweltgeräuschen als kompositorisches Material.
MUSIK 04
Leo Ornstein: Suicide in an Airplane
The Bad Boys, Steffen Schleiermacher Klavier
hat ART CD 6144, LC 6048
ca. 0´05´´, unterlegen
Sprecher 1 1913 erschien das Manifest "L´Arte dei rumori", "Die Kunst der Geräusche",
von Luigi Russolo.
Zitat
Sprecher 2/3 Beethoven und Wagner haben unsere Nerven und unsere Herzen viele
Jahre lang erschüttert. Jetzt haben wir sie satt und verspüren einen weit größeren Genuß,
wenn wir im Geist die Geräusche der Straßenbahn, des Explosionsmotors, der Wagen
und der lärmenden Menschen kombinieren.
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Sprecher 1 Einige futuristische Komponisten bezogen sich mit ihrer Musik ganz konkret
auf Symbole der technischen Entwicklung. Arthur Honegger portraitierte im Orchesterstück "Pacific 231" eine Lokomotive, George Antheil schrieb eine Flugzeug-Sonate, und
Leo Ornstein das Klavierstück "Suicide in an Airplane", "Selbstmord im Flugzeug".
Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts fand der Prozeß der fortschreitenden Materialentwicklung sein Ende. Jeder beliebige Ton oder Klang, jedes Geräusch – sei es nun ein
symbolisierter Maschinenklang wie in Leo Ornsteins Klavierstück, sei es der Maschinenklang selbst – all das ist seitdem für Musik verwendbar. Die Materialentwicklung als Kriterium für musikalischen Fortschritt geriet in eine Krise und mit ihr, da es ja kein neues Material mehr gibt, die Kategorie des "Neuen" ganz allgemein.
MUSIK 04 weiter
Zitat
Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden. (Arthur C. Clarke)
Zitat
In der Natur findet sich der Fortschritt in Form von Evolution: Weil Vögel kein eigenwilliges
Bewußtsein haben, fangen sie gar nicht erst an, Hi-Tech-Nester zu bauen. In der Natur
ereignet sich der Fortschritt über Tausende von Jahren und hat mit Anpassung zu tun. Die
Menschheit hat, da die Natur sich in unserem Fall selbst übertroffen hat, die Vorstellung
von einer Evolution abstrahiert, eine manische Vorstellung daraus gemacht, die sie auszuleben verpflichtet ist, als ob sie sich in einer Falle befände. Natürlich könnte man sagen,
dass es gut ist, dass ich hier sitze und dieses schreibe, anstatt ein Mollusk oder ein Einzeller im Meer zu sein, aber die Tatsache, dass wir über diese Dinge nachdenken können
- im Gegensatz zum Mollusken, der sie zufrieden annimmt -, bedeutet schon unseren Abgang. Der Fortschritt ist unser Schicksal. (Chris Newman)
Zitat
Die Entropievermehrung ist durch den Wirtschaftsprozeß ungeheuer beschleunigt; der
soziale Fortschritt besteht darin, dass immer mehr Maschinen entstehen, mit deren Hilfe
Rohstoffe in Abfall und Energie in Abwärme verwandelt werden. Wirtschaftswachstum,
durch die Brille des Thermodynamikers gesehen, ist nichts anders als ein Wettlauf um die
Reste von niedriger Entropie, damit diese so schnell wie möglich in Entropie, also in Wertloses umgesetzt werden können. (Lothar Mayer)
Zitat
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Der Mythos Technik befindet sich in einer viel ernsthafteren Krise, als wir Kritiker sie jemals provozieren konnten. Der Traum der sechziger Jahre, jene grenzenlose Fortschrittsgläubigkeit, ist überall ausgeträumt, trotz Autos mit Bordcomputer und Laserdisc für jedermann. In allen Bereichen, die an die Substanz gehen, sind Technik und Naturwissenschaft an eine unsichtbare Wand gelaufen. Nicht nur, dass sie ihre ökologischen Folgeschäden nicht in den Griff bekommt - ob es Aids ist oder Krebs, am Ende erweist sich die
mächtige Technik bei den wirklich wichtigen Dingen, bei den Dingen des Lebens, als
machtlos, als gänzlich inkompetent. (Matthias Horx)
Zitat
Der Fortschritt hat seine Handlanger. Fortschrittssüchtige, Fortschrittsgläubige, Fortschrittsmächtige, Fortschrittstüchtige, Fortschrittsdogmatiker, Fortschrittsgewinnler, sogar
Fortschrittskritiker. Wir wollen wissen! Erkennen und Handeln ist lustvoll! Ja, der Fortschritt braucht für seine Existenz neben seinen Handlangern zuvörderst die, die ihn entdecken, alte Schranken niederreißen, die im Sein des Realen wie der Utopie enthaltenen
Möglichkeiten eines Seins – in welchem Vorschein auch immer – finden und zeigen. Jedoch: Wissen wir genug über Fortschritt, seine Gesetzmäßigkeiten, Geschwindigkeiten
und Möglichkeiten? (Nicolaus A. Huber)
Zitat
Die Vorstellung von Avantgarde, Avanciertheit oder Progressivität ist sehr eng verbunden
mit der technologischen Revolution des 19. Jahrhunderts. Eigentlich beginnt das schon in
der Renaissance, wenn das Individuum die zentrale Position in der Gesellschaft einnimmt.
Das ist sehr eng verbunden mit der Vorstellung von Fortschritt. Ich zweifle allerdings sehr
daran, ob uns dieses Modell in die Zukunft führen kann. Wenn man mal unseren Planeten
betrachtet, seine begrenzten Ressourcen, die Feindseligkeit von Regierungen und kommerziellen Interessen dem Wohlbefinden der Menschen gegenüber, dann bin ich umso
mehr überzeugt, dass die Strategien, die wir wirklich brauchen, Ideen einbeziehen müssen wie: wo ist mein Platz in der Gemeinschaft der Menschen. Das ist auch ganz konkret
künstlerisch gemeint. Ich finde es nicht interessant, an meinem eigene Ego zu arbeiten, zu
sagen, ich bin der Größte und Beste, mir gewissermaßen individualistisch auf die Brust zu
schlagen. Das ist heute nicht mehr die richtige Antwort auf die Fragen der Zeit. /// Auf den
Materialaspekt der Musik bezogen heißt das für mich: es ist ziemlich überflüssig, ja sogar
arrogant anzustreben, die musikalische Sprache irgendwie zu erweitern. Mich interessiert
es, an die Essenz dessen zu kommen, was Musik ist und sein kann. /// (Sidney Corbett)
MUSIK 04 weiter und Ende
Sprecher 4 Die postmoderne Krise
Sprecher 1 Oft fällt die Charakterisierung "postmodern", wenn es um Phänomene der
Musikproduktion der letzten Jahrzehnte geht: das Zappen zwischen den Stilen, die
Gleichwertigkeit allen Materials, die Nivellierung zwischen "guter" und "schlechter" Musik,
zwischen anspruchsvollen Werken und Unterhaltungsmusikproduktionen. Überhaupt dient
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"Postmoderne" als Schlagwort, um einen diffusen Widerpart zur Avantgarde, die sich ja
ausdrücklich als Moderne verstand, zu formulieren. Der Begriff Postmoderne ist der Platzhalter für vieles, was danach kam, für eine Rückwendung zum Konservativismus, für eine
Ablösung von der rationalen Fundierung der künstlerischen Arbeit, und auch für die Legitimation von Beliebigkeit jedwelcher Art.
Doch sind das unstatthafte Simplifizierungen und Verzerrungen dessen, was die postmoderne Strömung eigentlich beabsichtigt. Denn sie versteht sich nicht als Widerpart der
Moderne, sondern als ihre Modifikation. Sie versucht, die Sackgassen zu durchbrechen, in
die sich die moderne Kunst manövriert hat – zum Beispiel beim musikalischen Material:
postmoderne Ansätze betrachten das Ende der 60er Jahre abgearbeitete und aufs Unendliche erweiterte Klangmaterial als einen Steinbruch, dessen Trümmer keineswegs Abfallprodukte sind, sondern wertvolle Bausteine, die es neu zu verwenden gilt. Ernst genommen meint Postmoderne eine pluralistische Öffnung der avantgardistischen Konzepte, eine Mehrfachkodierung von bisher als eindeutig betrachteten Phänomenen.
Die postmoderne Situation, die ihren Ursprung in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts
hat, besteht, mittlerweile vielfach ausgeleuchtet, noch heute. In der Musik zeigt sie sich
durch die beliebige Verfügbarkeit von Material, von Genren und Stilen, Beliebigkeit jedoch
nicht im Sinne einer Gleichgültigkeit, sondern einer freien, nicht durch historische oder
semantische Dogmen erschwerten Zugänglichkeit.
Da die Postmoderne an den Endpunkt der Avantgarde anknüpft, bedarf mit ihr auch der
Begriff des "Neuen" eine neue Definition. Bis dahin stand "neu" in der Musik für die Ausweitung des Materials, für seine Weiterentwicklung im Bewußtsein der historischen Prägung, die einem jeden Material anhaftet. Doch solche Entwicklung und auch das historische Bewußtsein, das mit ihr einhergeht, sind jetzt nur noch marginale Komponenten von
Musik.
Was "neu" ist, muss nun an anderen Kriterien festgemacht werden. Wie zum Beispiel
schöpfen Komponisten die beliebige Verfügbarkeit des Materials aus, wie gehen sie mit
diesem schier unendlichen Feld der Möglichkeiten um, wie entwickeln sie daraus kompositorische Strategien, und wie schaffen sie Bedeutsames, wenn nicht nur die materielle
Basis der Musik, sondern auch ihre Bewertungskriterien vielfältig und mehrdimensional
geworden sind?
MUSIK 05
John Oswald: Field
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John Oswald: Discosphere, Cuneiform Records, ReR JOCD, ohne LCNummer
max. 3´20´´
Zitat
Sprecher 2/3 Die Fenster des Universums sind sehr klein, das Glas ist überzogen mit einer gelblich bräunlichen Schmutzschicht, die eine oder andere Scheibe ist gesprungen.
Der ursprünglich weiße Lack hat eine graue Tönung angenommen und ist bereits an vielen Stellen sowohl vom Fensterkreuz als auch vom Rahmen abgeblättert. In manchen Ecken gibt es verwaiste Spinnennetze und auf der Fensterbank liegen vereinzelt verschieden große, vertrocknete schwarze Fliegen. (Klaus Lang)
Zitat
Sprecher 2/3 Nachdem die Kunst der Avantgarde von vielen zunächst noch als Abbildung
der inneren, verborgenen Wirklichkeit, als weitere Suche nach der Wahrheit interpretiert
worden war, stellte die künstlerische Verwendung des Ready-mades, das heißt der direkten Zitate aus der außerkulturellen Wirklichkeit, den Begriff der Wahrheit radikal in Frage.
Indem das Kunstwerk die Wirklichkeit selbst direkt zitiert, wird es auf eine völlig triviale
Weise wahr, denn seine Übereinstimmung mit der äußeren Wirklichkeit ist dabei zwangsläufig gegeben. (Boris Groys)
Zitat
Sprecher 2/3 Odysseus Methode, sich Wachs in die Ohren zu stecken, um dem Gesang
der Sirenen zu entgehen, war eskapistisch. Diese Methode wende ich auch manchmal an,
um mich dem täglichen Bombardement von Informationen zu entziehen. Reizentzug. Kein
Fernsehen. Stecker raus. Letztendlich verliert man dabei aber auch den Kontakt zur Umwelt, und damit den Blick für das Schöne, das sich im Lärm verbirgt. Ich habe mich für
eine expressionistische Herangehensweise entschieden. Augen auf, Ohren auf. Was sich
mir in den Weg stellt, wird einverleibt, zerknüllt, bestraft und zurückgeleitet. Bitte sehr. (Felix Kubin)
Zitat
Sprecher 2/3 In Holland hat ein Komponist, Louis Andriessen, gesagt, dass es im Moment eine Art von radioaktivem Abfall gibt, wo kleine Splitter von Boulez, Ellington, Folk,
Messiaen, Strawinsky zusammenkommen. Die vielen Einflüsse geben eine gewissen adogmatischen Impuls. Vielleicht wird eine neue Musik daraus. Ich hoffe, dass wir dazu
beitragen können, die unsinnigen Barrieren zwischen E und U niederzureißen. (Maarten
Altena)
Zitat
Sprecher 2/3 Vor einigen Jahren waren Diebe in meinem Haus und haben alle meine interessanten CDs gestohlen. Die lagen nämlich ganz oben. Wahrscheinlich konnten diese
Diebe aber nicht gut lesen, denn diese CDs, von Szymanowski, Janacek, Ives und so weiter, sind ziemlich schwierig zu verkaufen. Die Sinfonien von Beethoven, von Karajan dirigiert, lagen darunter und wurden nicht gestohlen, nur die, die leicht wegzunehmen waren.
Als ich dann nach Hause kam, habe ich einfach gedacht, ich muss mich wieder selbst er-
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finden. Das war gar nicht so schlecht. Ich dachte an Leute, die all ihr Hab und Gut verkaufen und durch die Gegend ziehen. (John White)
MUSIK 05 weiter und Ende
Sprecher 4 Komponieren im Raum der unbegrenzten Möglichkeiten
Sprecher 1 So schwierig es geworden ist, das "Neue" in Kunst und Musik zu definieren,
so inflationär wird die Bezeichnung "neu" nach wie vor benutzt – umgangssprachlich ohnehin, aber auch in der fachlichen Diskussion redet man unentwegt von neuen Techniken,
neuen Stilen, neuen Phänomenen und ähnlichem.
Für den Komponisten ist die Lage komplizierter. Er arbeitet unter dem Stigma der postmodernen Situation. Tagtäglich steht er vor dem Problem, veritables "Neues" zu schaffen.
Dabei kann er nicht mehr auf allgemein akzeptierte Bedingungen zurückgreifen, wie es bis
Ende der 60er Jahre etwa mit der Fortentwicklung des Materials und dem Tabu, sich in
historischen Stilen zu ergehen, noch möglich war. Das Sicherheitsnetz eines ästhetischen
Konsenses ist zerrissen. Mittel, die an sich etwas "Neues" garantieren, gibt es nicht mehr.
Zugleich ist das Freiheitspotential wesentlich größer geworden, und es gilt, Konzepte und
Strategien zu ersinnen, dieses Potential sinnvoll auszuschöpfen und "Neues" zu konstituieren.
So pflegen Komponisten einen kritisch reflektierenden Umgang mit den Neuen. Sie
mißtrauen naiver Innovation und hinterfragen ihre Motivationen. Sie verweigern sich dem
Fortschritt um jeden Preis und verlangen ihm eine Legitimation ab. Und sie erkennen die
Individualität als einen bedeutenden Faktor bei der Arbeit an. Neue Werke, und mit ihnen
das "Neue" selbst, gewinnen eine aktuelle, möglicherweise gar zukunftsweisende Qualität,
indem die Komponisten Konsequenzen aus den Geschehnissen des letzten halben Jahrhunderts ziehen.
So könnten Kunst und Musik ein Vorbild für die Gesellschaft sein. Denn niemand wird
bestreiten, dass ein kritisch reflektierender Umgang mit Innovation und Fortschritt das Gebot der Stunde ist. Bei der Umwelt-, Energie- und Rohstoffproblematik sowie bei Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen herrscht jedoch oft noch blinder Fortschrittsoptimismus. Er dient lobbyistischen Gruppierungen oder wirtschaftlichen beziehungsweise
finanziellen Interessen. An Stelle dessen wären Strategien gefragt, die den Ernst der Situation analysierten und im Sinne der Vernunft entwickelten. Diese Strategien könnten, als
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Sinnbilder vernünftigen und kreativen Handelns, der Gesellschaft Anstöße für Problemlösungen geben.
Solche Strategien in der Musik generieren das Neue eines Werks. Eine Methode, um veritables Neues hervorzubringen, ist zum Beispiel die Kontextualisierung, in der ein Material
erscheint. Eine andere ist die Gewichtung des Erlebnismoments der Aufführung und der
Einmaligkeit dieser Erfahrung. Auch schöpfen Komponisten Neues aus der Idee der Tabula rasa, indem sie versuchen, ein jedes auch noch so bekanntes und abgearbeitetes Material neu zu empfinden und neu zu verwenden.
Sprecher 4 Die Kontextualisierung
1. O-Ton Eggert
Dieses Wechseln interessiert mich dabei, also mich interessiert dieses Zapping, mich interessiert diese Fallhöhe, die ich plötzlich habe, wenn ich von einem vollkommen fremden
Stil zu einem anderen Stil komme, was in einem wirklichen Leben passiert, wenn ich im
Hotel in Aufzug steige, und es läuft so Muzak, und dann gehe ich auf die Straße, dann hat
irgendjemand heavy metal im Auto, das hör ich auch, und dann geh ich um die Ecke und
gehe ins Sinfoniekonzert rein, das sind drei verschiedene Musikstile die mir innerhalb von
wenigen Minuten begegnen, Sekunden zum Teil im Fernsehen wenn ich zappe, und das
interessiert mich son bisschen, wie sich aus den Sachen plötzlich auch eine neue Sprachlichkeit zusammensetzt. 0´33´´
MUSIK 06
Moritz Eggert, Die Schnecke, Oper
Produktion des Nationaltheaters Mannheim
Aufnahme SWR 2004
ca. 0´55´´, unterlegen
Sprecher 1 In der 2004 uraufgeführten Oper "Die Schnecke" verwendet der 40jährige
Komponist Moritz Eggert Elemente aus der klassischen Oper und der Operette, aus der
zeitgenössischen Musik und aus Jazz, Pop, Rock und Techno. Ein orchestraler Rap geht
über in eine Melodik, die an seichte Unterhaltung gemahnt, in die wiederum BigbandAnklänge eingestreut sind; darauf folgen operettenhafte Passagen.
MUSIK 06 weiter und Ende
Sprecher 1 Ganz verschiedene Genres und Stilrichtungen treffen in diesem Werk zusammen. Es spricht gewissermaßen in verschiedenen musikalischen Sprachen. Moritz
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Eggert bewegt sich frei auf dem Möglichkeitsfeld heutigen Komponierens, wo alles Material verwendet werden kann, ganz gleich, welchem Genre es angehört, welche Ästhetik
ihm zugrunde liegt, auch ob es als "gute" oder "schlechte" Musik bewertet wird. Zunächst
ist es schlicht Rohmaterial, dessen Semantik und Herkunft eine nur marginale Bedeutung
besitzen. Erst durch die kompositorische Arbeit werden die Bausteine verschiedenen Ursprungs geformt, in einen Zusammenhang gebracht und dadurch mit einer neuen Bedeutung versehen. Eine solche Kontextualisierung von Material ist ein wesentlicher Akt des
kompositorischen Prozesses und für Moritz Eggert auch ein Teil seiner alltäglichen WeltErfahrung.
2. O-Ton
Heute haben wir einen Mix aus Kulturen wir kriegen eben auch was mit von der indischen
Kultur von der chinesischen, das wird auch immer wichtiger werden diese äußeren Einflüsse, zeitgenössisch ist es sicherlich deswegen, weil unser Lebensalltag eben mehr von
soner Kontextualisierung geprägt, ist, automatisch schon dadurch, dass wir verschiedene
Medien nutzen, die Gleichzeitigkeit von Dingen, wir telefonieren, spülen dabei ab, hören
gleichzeitig Radio, das sind irgendwie schon neue Aspekte unseres gesellschaftlichen
Lebens, die es im 19. Jahrhundert einfach nicht so gab, deshalb funktionieren auch die
Mittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr, diese Art von neuer Geschwindigkeit und die Fähigkeit, sehr disparate Sachen nebeneinander wahrzunehmen und trotzdem sowas wie ne
Handlung zu verstehen, wäre vor 40 50 Jahre noch gar nicht möglich gewesen, es beginnt
so experimentell im Genrekino mit Hitchcock, das man mit dieser Form experimentiert,
aber das hat sich ja weiterentwickelt. 0´53´´
Sprecher 1 Durch die Kontextualisierung werden Bezugssysteme kreiert, die es erlauben,
im schier unendlichen Möglichkeitsfeld des Komponierens Wege zu finden, Richtung einzuschlagen, Vernetzungen herzustellen und Markierungen zu setzen. Es sind Vektoren,
die dem musikalischen Material verliehen werden und die seinen Inhalt und seine Bedeutung beeinflussen und verändern. So entstehen neue Referenzen, durch die sich das
"Neue" einer Musik offenbart.
MUSIK 07
Moritz Eggert: Hämmerklavier XI What if 1 composer from 1 country wrote 60
pieces under a second for solo piano?
Guy Livingstone, Klavier
Don´t Panic! 60 Seconds for Piano, WERGO 66492, LC 00846
1´18´´
Sprecher 4 Die Einmaligkeit der Erscheinung
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Sprecher 1 Ein Faktor, der das Neue einer gegenwärtigen Musik ausmacht, scheint die
zunehmende Aufmerksamkeit zu sein, die dem Augenblick des Erklingens gewidmet wird.
Dabei wird der Erfahrung, dass man Musik im Hier und Jetzt erlebt und dass jedes Erleben ein einmaliges ist, großer Wert zugemessen. Das hat die Vorstellung erschüttert, ein
Werk könnte komponiert, in einer Partitur notiert und dann immer wieder identisch wiederholt werden. Mehr und mehr konzentrieren Komponisten ihre kompositorische Arbeit auf
die Entstehung von Musik im Moment ihrer Aufführung. Sie versuchen, die musikalischen
Parameter so zu formulieren, dass sie die Entfaltung einmaliger, unwiederholbarer Ereignisse zulassen, ohne dass die Identität des Werks darunter leidet.
Bei der Probe zu seinem Stück "Bankgeheimnis" gibt der 47jährige Komponist Thomas
Witzmann den Musikern einen Plan über den strukturellen Verlauf einer Schlagzeugpassage an die Hand. Er enthält Informationen über Dichte, Dynamik, die Verwendung von
Instrumenten und ähnliches mehr. Wie jedoch die musikalische Struktur im einzelnen
aussieht, liegt in der Hand der Interpreten.
MUSIK 08
Thomas Witzmann, Bankgeheimnis, Probe
Reporterband
??
(Macht´s halt am Anfang nicht zu ausfallend, wir sind hier ja nicht in Witten, und
stop und anfangen…)
3. O-Ton Witzmann
Es ist richtig dass mich Sinnlichkeit insoweit eigentlich am meisten interessiert, als ich den
Moment feiere, das heißt, wenn ich improvisatorische Elemente einsetze, wenn ich szenische Elemente einsetze, mache ich klar, dass das jetzt genau in dieser Zeit passiert und
nicht mehr wiederholbar ist, so dass es nicht darum geht, jetzt ein Werk zu schaffen, was
immer wieder genau gleich wiederholt werden kann, sondern einfach immer wieder neu
entsteht, also es mir schon die Verstärkung des Singulären sehr wichtig, das heißt, dass
die Aufführungssituation einfach eine einmalige ist, es lebt schon auch aus dem Moment
heraus, aus dem ephemeren. 0´47´´
Die Musik, die so entsteht, bezieht ihr "Neues" aus der Spontaneität der Musiker in der
jeweiligen Aufführungssituation. Die Idee, ein Werk als einen quasi statischen, für die Ewigkeit geschaffenen Gegenstand zu betrachten, tritt in den Hintergrund. Die Partitur als
Konstante eines Werks verliert gegenüber der Aufführung als Variable an Gewichtung.
Neu sind die Erfahrungen, die sich durch Ausschöpfen der Variablen ergeben.
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4. O-Ton Witzmann
Man muss dem Zufall die Chance geben, Koinzidentien herzustellen, dass man die Assoziation hat, super, das paßt ja genau! 0´07´´
Sprecher 4 Die Tabula rasa: Komponieren von Ton zu Ton
5. O-Ton Hechtle
Alle Musik die wir als gelungen erleben, ist immer dann gelungen, wenn sies versteht, Energien zu bewegen und zu kanalisieren und freizusetzen, ob es dann tatsächlich funktioniert im musikalischen Kontext, hängt damit zusammen, ob der Komponist spürt, wie das
eine auf das andere folgen soll, wie lange kann ich Ton halten, wann muss das Crescendo beginnen, wie muss eine Figuration aussehen, dass sie ein gestisches Potential hat,
das ist das, was ich mit Energie meine, wie komm ich von einem Ton zum nächsten, überhaupt die Grundfrage beim Komponieren, ganz einfach, wie komm ich von einem Ton
zum nächsten, so dass es für mich und natürlich dann auch für den Hörer in irgendeinem
Aspekt Sinn macht. 0´43´´
Hinter dieser scheinbar banalen Erkenntnis, die der 38jährige Komponist Markus Hechtle
formuliert, verbirgt sich eine Grund-Befindlichkeit des gegenwärtigen Komponierens –
nämlich, dass es nichts Allgemeingültiges mehr gibt, sondern dass alles neu entworfen
werden muss, die Struktur des Materials, die Form eines Werks, die ästhetische Legitimation. Der Komponist muss immer wieder von vorn anfangen und sich sein eigenes Orientierungsfeld schaffen. Dann erst kann ein sinnstiftender musikalischer Ablauf entstehen.
Markus Hechtle strebt dabei eine möglichst große Offenheit den Klängen gegenüber an,
eine Freiheit gegenüber den historischen Prägungen, den Bewertungen und den im eigentlichen Sinne des Wortes Vor-Urteilen, die den musikalischen Phänomenen anhaften.
Hechtle scheut sich nicht, Romantizismen oder Volksmusikelemente aufs Papier zu setzen, solange sie seinem kompositorischen Ziel dienlich scheinen. Jedesmal, wenn er sich
an den Schreibtisch setzt, möchte er "tabula rasa" machen.
6. O-Ton Hechtle
Man entkommt ja beidem nicht, man entkommt nicht der, man entkommt nicht der sogenannten Tradition, und natürlich auch nicht an den eigenen ich nenns mal Arbeitsbiografie, so ist man natürlich nicht frei davon, man ist nicht frei von sich, einerseits ist das ja ne
gute Sache andererseits wär man gern, oder ich wäre oft gern auch ein anderer, das ist
auch ein Gedanke, der mich manchmal treibt zu dem Versuch der Tabula rasa, der natürlich unmöglich ist, ich muss zum Beispiel auch, das vielleicht ein schöneres Bild dafür, ich
muss immer zwischen zwei Stücken muss ich komplett meinen Schreibtisch aufräumen
also und eigentlich noch das ganze Arbeitszimmer putzen, sonst kann ich nicht das nächste Stück beginnen, ich weiß nicht ob das was Zwanghaftes ist schon und Therapiebedarf
auch ebenfalls, das ist ein Bild dafür, auch ein Ausdruck dafür, ich versuche sozusagen,
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jetzt muss erst mal alles wieder weg, und dann setze ich mich wieder neu hin, natürlich in
dem Bewußtsein, dass ich das nicht auskehren kann, ich kann nicht den Kopf auskehren
und die Seele auskehren, aber jetzt vielleicht nochmal einen anderen Ansatz auszuprobieren oder einen anderen Blick auf die Dinge zuwerfen. 1´09´´
Das Bild der Tabula rasa ist eine durchaus legitime Utopie, eine Zielsetzung fürs Komponieren, die den Blick befreien kann und es erlaubt, Perspektiven einzunehmen, die zuvor
mit Verbotsschildern belegt waren. Aus diesen Perspektiven kann "Neues" entstehen,
selbst wenn Markus Hechtle alte beziehungsweise bekannte Klänge, Strukturen und Formen verwendet. Durch das Neu-Empfinden von Altem gelingt es dem Komponisten,
"Neues" zu generieren.
Ganz bewußt, man könnte auch sagen selbstbewußt, vertraut Markus Hechtle auf die Individualität des kreativen Impulses. Sie erlaubt ihm ein freies Agieren mit Klang und die
Entfaltung von neuen Kontexten, neuen Formulierungen, schließlich von neuer Musik im
emphatischen Sinn des Begriffs.
7. O-Ton Hechtle
Was eben bleibt ist, am Ende spricht nur die Musik und da muss man versuchen auch
drauf zu vertrauen, diese Vertrauen kommt einem natürlich manchmal abhanden, weil als
Komponist neigt man dazu, sich legitimieren zu müssen vielleicht nach außen, gerade in
sonem Betrieb, der seit Jahrzehnten geprägt ist von Legitimationsgerede, von erklär mir
das doch mal, wie ist denn das gemacht, und was steckt da dahinter, und da ist dann ein
Vertrauen abhanden gekommen, die Gefahr besteht zumindest, dem nicht einfach vertrauen zu können, was da klingt, aber das ist natürlich das A und das O. 0´35´´
MUSIK 09
Markus Hechtle: Still für Sprecher und vier Männerstimmen mit Akkordeon
André Wilms Sprecher, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Teodoro Anzellotti
Wittener Tage für Neue Kammermusik 2003, WDR CD 03, ohne LC-Nummer
1´18´´
8. O-Ton Huber
Das sind ganz neue, für mich wenigstens ganz neue Perspektiven des Denkens, wo alles
eigentlich beweglich ist und nicht mehr mit festen abgerundeten Teilchen arbeitet, obwohl
da immer noch die Notenköpfe natürlich sind, auch in Bezug auf die Beweglichkeit von
Zuständen, von Quantenzuständen zum Beispiel hatte ich im Fernsehen einen, der hat
den alternativen Nobelpreis bekommen, er ist Physiker, und er hat erzählt, es ist eigentlich
eine Fantasielosigkeit der Gegenstände, dass sie am nächsten Morgen, wenn wir kommen, noch so aussehen, dass wir sie noch wiedererkennen. 0´14´´
Kaul
Ich denk einfach nur an Jetzt, und nach drei Jahren ist das auch alt für mich, vielleicht für
die anderen immer noch neu, für mich selbst ist es alt und ich wills auch nicht mehr hören,
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vielleicht wollens andere hören, und es interessiert mich natürlich auch immer nur das
Neuste, diese Polieren von Werken dahingehend dass mans auch noch originalgetreu
weiterführt, das fiel uns bei Kagel zum Beispiel auf, als wir Acustica probten, dass ist sozusagen historische Aufführungspraxis mit ihm, das war natürlich wahnsinnig spannend zu
gucken, was der in den 60ern dachte, aber der will das da auch lassen, das wäre bei mir
nicht so, also ich würde dann einfach ne neue Version machen von solchen Sachen,
wenn es mich treiben würde das zu tun. 0´41´´
Burger
Man muss quasi vor der Herde herlaufen und neue Sachen einführen, und irgendwann
kriegt mans mit, das hat sich eingeführt, ich mach das seit 23 Jahren, und vor 23 Jahren
gabs vielleicht in Deutschland 5 oder 8 oder 10 Barfußläufer, und jetzt gibts bestimmt
schon 500 oder 800, auch der Regisseur von Herr der Ringe, und und und, also das fängt
an eine Schule zu werden, seit 25 Jahren verabschiede ich mich mit Halleluja, da gibts
inzwischen ein Dorf in Italien, wo man sich auch mit Hallelujah verabschiedet, irgendwo in
Piemont im Gebirge, ja, das hab ich einfach eingeführt, im letzten Polizeiruf 110 hat auch
einer Hallelujah gesagt, es ist jetzt durch die Institutionen hat sichs etabliert. 0´44´´
Hechtle
Mir würden natürlich Scharen von Kritikern sofort gegenübertreten, würden sagen, grade
das was du tust, ist nicht neu, und ich hatte jetzt am Wochenende eine Begegnung mit
jemand, der vollkommen überzeugt war, dass es nichts Neues geben kann, es gibt nur
unterschiedliche Anordnungen von bereits Bekanntem oder es gibt vielleicht qualitative
Sprünge durch Veränderung der Quantitäten von bereits Bekanntem, das mag alles richtig
sein, nur ich bin grundsätzlich skeptisch, weil wenn man so etwas behauptet, es gibt
nichts Neues mehr oder es kann nichts Neues mehr geben, dann impliziert das ja, dass
man das weiß, also dass man das weiß, das ist ja nicht nur ne Vermutung, sondern das
entspringt ja offensichtlich einer tiefen Überzeugung, und da bin ich also ganz nennen wirs
mal naiv, weil ich glaube an die Unermeßlichkeit der menschlichen Phantasie, selbst wenn
ich mir nicht vorstellen kann, es käme nichts Neues, glaube ich, dass wir dann böse überrascht werden irgendwann, das dann plötzlich jemand auftaucht, der genau das leistet,
und ich glaube schon sehr stark an die individuelle schöpferische Potenz, ich glaube, das
liegt ganz stark an der schöpferischen Kraft des Einzelnen, und da könnte ich nie behaupten, es gäbe nicht Neues, weil ich ja, ich möchte ja überrascht werden, am besten gleich
morgen, am besten noch heute, dass ich das Radio anschalte und denke, das, das ist
jetzt was Neues. 1´22´´
MUSIK 09 weiter
Sprecher 1
Raum unbegrenzter Möglichkeiten
Zum Begriff des Neuen in der Musik
von Hanno Ehrler
es sprachen ??, Markus Bruderreck und der Autor
Redaktion Frank Kämpfer
17
Produktion des Autors im Auftrag des Deutschlandfunks 2006
MUSIK 09 weiter und Ende
ENDE
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Srpecher 1 Hanno Ehrler
Sprecher 2 Markus Bruderreck
Sprecher 3
Sprecher 4
Musiknachweis
MUSIK 01
Luigi Ceccarrelli: Danza con mani
Luigi Ceccarelli, Maurizio Giri: Aniccham, elektronische Musik, BMG Ariola
S.p.A. CCD 3005, ohne LC-Nummer
MUSIK 02
Guilio Caccini: Amarilli, mia bella
Récital René Jacobs, René Jacobs Gesang, Konrad Junghänel Laute
Harmonia mundi HMA 1901183, LC 7045
MUSIK 03
Frederic Chopin: Variationen für Klavier und Orchester op. 2
Klavier: Alexander Schawgolidse, Hochschulorchester der Frankfurter Musikhochschule, Leitung: Wojciech Rajski
Mozart Paraphrasen, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst,
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, MP 112005,
ohne LC-Nummer
MUSIK 04
Leo Ornstein: Suicide in an Airplane
The Bad Boys, Steffen Schleiermacher Klavier
hat ART CD 6144, LC 6048
MUSIK 05
John Oswald: Field
John Oswald: Discosphere, Cuneiform Records, ReR JOCD, ohne LCNummer
MUSIK 06
Moritz Eggert, Die Schnecke, Oper
Produktion des Nationaltheaters Mannheim
Aufnahme SWR 2004, Bandnummer 3506031
MUSIK 07
19
Moritz Eggert: Hämmerklavier XI What if 1 composer from 1 country wrote 60
pieces under a second for solo piano?
Guy Livingstone, Klavier
Don´t Panic! 60 Seconds for Piano, WERGO 66492, LC 00846
MUSIK 08
Thomas Witzmann, Bankgeheimnis, Probe
Reporterband
MUSIK 09
Markus Hechtle: Still für Sprecher und vier Männerstimmen mit Akkordeon
André Wilms Sprecher, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Teodoro Anzellotti
Wittener Tage für Neue Kammermusik 2003, WDR CD 03, ohne LC-Nummer
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