08-175

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann
Wissenswert
Geschwistergeschichten –
Graumulle
Von Frank Eckhardt
Dienstag, 30.12.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Sprecher: Hans-Peter Schupp
08-175
COPYRIGHT:
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Seite 2
Signet: Geschwistergeschichten
Anmod.: In der kommenden Viertelstunde berichten wir von einer ganz ungewöhnlichen
Geschwistergeschichte, einer Geschwistergeschichte aus dem Reich der Zoologie. Von Insekten
weiß jeder noch aus dem Schulunterricht, dass sie Staaten bilden, dass beispielsweise bei den
Bienen eine einzige Königin den Nachwuchs zeugt: alle anderen Bienen im Staat legen keine
Eier. Im Süden von Afrika gibt es aber auch Säugetiere, in deren Kolonien jeweils nur ein
einziges Weibchen und ein einziges Männchen sexuell aktiv sind. Alle ihre Kinder leben
unterirdisch mit dem Elternpaar in großen Geschwistergruppen zusammen; sie suchen nach
Nahrung, sie reparieren den Bau, sie verteidigen ihn, und kümmern sich um die Aufzucht ihrer
jüngeren Geschwister. Diese Tiere heißen Mulle. Frank Eckhardt hat eine deutsche Zuchtstation
für Mulle besucht.
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Atmo 1
Geräusche „Mullarium“, fiepender Graumull
abblenden, bleibt leise unter Text stehen
Sprecher
Sie fiepen, sie knabbern und sie schaben ein bisschen: Viel mehr bekommt man
zunächst nicht mit von den afrikanischen Graumullen, die im so genannten
„Mullarium“ der Universität Essen leben. Das Mullarium ist ein großer Raum, in
dem Dutzende gläserne Käfige stehen: Glaskäfige, so groß wie ein Aquarium, befüllt
mit Torf und mit Tonröhren.
Atmo nochmals freistehend
Sprecher
Graumulle gehören zu den Nagetieren. Jeweils mehrere von ihnen bewohnen einen
der Glaskäfige. In ihrer Heimat Afrika leben die Graumulle in weitläufigen
unterirdischen Gangsystemen – sagt die Biologin Marie Therese Bappert.
O-Ton 1
Wir haben hier in der allgemeinen Zoologie zwei verschiedene Arten, die kleinen
Graumulle, die werden so etwa hamstergroß, ein bisschen kleiner, und die RiesenGraumulle, da haben wir schon stärkere Männchen dabei, die auch schon mal 500
Gramm wiegen, die sind also durchaus so’n bisschen vergleichbar mit einem
Meerschweinchen von der Größe her, vom Aussehen aber nicht. Als unterirdisch
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lebende Tiere sind sie von der Körperform sehr an dieses Leben in Gängen
angepasst. Also man könnte sie vielleicht vergleichen mit einer Wurst, die vier
kurze Beine hat, und vorne die Nagetier-typischen Schneidezähne. Die sind
eigentlich das Prägnanteste an diesen Tieren, weil sie mit ihren Zähnen graben.
Seite 4
Sprecher
Die vier auffällig großen, gebogenen Schneidezähne ragen aus dem Maul der
kleinen Tiere heraus. Genauer gesagt: sie ragen vor dem Maul heraus. Die
Graumulle können ihre Lippen nämlich hinter den Schneidezähnen verschließen; so
bekommen sie beim Graben nicht ständig die Erde ins Maul. Diese Zähne wachsen
lebenslang nach, denn in ihrer natürlichen Heimat ist die Erde knochentrocken und
hart; die Zähne nutzen sich also rasch ab. Weil die Essener Graumulle in weichem
Torf leben und ihre Zähne daher beim Graben immer weiter wachsen würden,
haben die Forscher ihnen Tonröhren in ihre Behausungen gelegt – an denen können
sie herumnagen und sich zugleich in ihnen verstecken.
Atmo 2
Graumull schabt mit den Zähnen auf Ton
Sprecher
Ansonsten benutzen die Graumulle ihre riesigen Zähne vorwiegend zum Fressen.
O-Ton 2
Die ernähren sich rein von den Dingen, die sie unter der Erde finden können beim
Graben, weil sie ja strikt subterran leben. Und das heißt, in Afrika sind das die
unterirdischen Pflanzenteile, die da zu finden sind. Also Knollen, Speicherorgane,
irgendwelche Zwiebeln, Wurzeln natürlich, sehr viele Wurzeln. Und bei uns
bekommen sie Kartoffeln und Karotten. Das reicht. Die Tiere trinken nicht, weil
unter der Erde findet man kein freies Wasser. Die kriegen ihre Feuchtigkeit allein
durch die Pflanzen, die sie fressen.
Atmo 3
Tier knabbert an einer Möhre (unter Text abblenden)
Sprecher
Auch die Augen der Graumulle sind an das Leben unter der Erde angepasst. Weil
die Tiere fast ständig in Dunkelheit leben, sehen sie relativ schlecht. Sie können
aber immerhin hell und dunkel unterscheiden. Das haben die Essener Forscher in
eigenen Versuchen herausgefunden, erläutert die Biologin Dr. Sabine Begall.
O-Ton 3
Wir hatten eine Zweifachwahlapparatur. In der einen Kammer war es komplett
dunkel, in der anderen war es hell, und dann bietet man den Tieren Zellstoff an und
schaut, in welcher der Kammern wird das Nest gebaut. Und die Tiere bauen
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überwiegend, also zu einem signifikant hohen Anteil im Dunklen, ziehen also die
dunkle Kammer der hellen Kammer vor. Außerdem haben wir gezeigt, das die Tiere
Farben unterscheiden können, also beispielsweise blau und gelb, das war
überhaupt kein Problem.
Break
Sprecher
Die Graumulle sehen zwar nicht besonders gut. Sie haben aber eine Fähigkeit, die
bei Säugetieren bisher nur selten nachgewiesen wurde: Sie nehmen das Magnetfeld
der Erde wahr. Vermutlich geschieht das ebenfalls mit den Augen, denn in deren
Hornhaut hat man eisenhaltige Partikel gefunden. Den Magnetsinn der Graumulle
haben Essener Forscher in einem einfachen Versuch nachgewiesen: In einem
runden Käfig boten sie einigen Graumullen Zellstoff zum Nestbau an und
beobachteten, wo die Graumulle ihre Nester bauten. Das Ergebnis: Der Nestbau
erfolgte nicht zufällig irgendwo in diesem runden Käfig – sondern überwiegend im
Südosten. Im zweiten Schritt wurde das irdische Magnetfeld durch ein künstliches
Magnetfeld überlagert.
O-Ton 4
Wenn man das Erdmagnetfeld nun künstlich verändert, das heißt die Polarität
versetzt, so dass magnetisch Nord nicht mehr dort ist, wo das Erdmagnetfeld sein
magnetisch Nord hat, sondern das um beispielsweise 90 Grad dreht, dann drehen
die Tiere sozusagen mit. Das heißt, die Nester werden dann nicht mehr im
Südosten, sondern beispielsweise im Nordosten gebaut.
Sprecher
Die Graumulle hatten demnach das künstliche Magnetfeld wahrgenommen und sich
nun an diesem orientiert.
O-Ton 5
In der unterirdischen Welt, in der Licht kaum eine Rolle spielt und auch nur tiefe
Frequenzen weitergeleitet werden – man bräuchte irgendeinen Parameter, der da
unten stabil ist, vorhersagbar ist, und da bietet sich das Erdmagnetfeld natürlich an.
Das ist immer präsent sozusagen und sehr verlässlich.
Sprecher
Allerdings können die Graumulle auch recht gut hören, vor allem niedrige
Frequenzen; tiefe Töne verbreiten sich unter der Erde besser als die hohen. Wenn in
Afrika ein Raubtier nach Graumullen gräbt, dann ist es womöglich lebensrettend,
wenn sie diese dumpfen Geräusche sicher orten können. Die Forscher haben zudem
Seite 6
herausgefunden, dass die Graumulle sich mit etwa zehn verschiedenen
Lautäußerungen verständigen, darunter beispielsweise Aggressions- oder
Paarungslaute.
Atmo 4
Fiepender Graumull
Sprecher
Mindestens ebenso wichtig wie die akustische Verständigung ist die Kommunikation
mittels Duftstoffen. Alle Tiere einer Kolonie können sich anhand ihres Geruchs
erkennen. Eine besondere Rolle spielt dabei die von Biologen so genannte
„Anogenitalregion“, also jener Bereich zwischen Genitalien und Darmausgang, an
dem sich auch Hunde beschnüffeln.
O-Ton 6
Das ist eine Region von der angenommen wird, dass dort viele Duftdrüsen sitzen
und Sekret abgesondert wird. Wir wissen oder haben in Verhaltensversuchen
herausgefunden, dass die Tiere sich individuell erkennen können anhand des
Geruchs. Also, Anogenitalgeruch ist der eine Duft, der eine große Rolle spielt. Urin
und Fäzes, also Kot der Tiere, ist natürlich die andere große Geruchsquelle. Und
dann gibt es einen bestimmten Verhaltensversuch; anhand dieses Versuches
können wir sagen: Ja, die Tiere können Familienmitglieder voneinander
unterscheiden.
Sprecher
Und diese Familien können sehr groß sein, obwohl eine Graumull-Kolonie nur aus
Eltern und ihren Kindern besteht. Forscher schätzen, dass bei den kleinen
Graumullen bis zu 40 Tiere dazu gehören, bei den Riesengraumullen können es
sogar 60 bis 100 sein.
Break
Sprecher
Für Säugetiere sehr ungewöhnlich ist nicht so sehr die Koloniebildung, sondern vor
allem das Fortpflanzungssystem der Nager, erläutert Marie Therese Bappert.
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O-Ton 7
Es ist nur ein einziges Paar, was sich reproduziert in einer Kolonie, also quasi ein
Elternpaar. Die nennen wir dann auch King und Queen, so wie man das von Ameisen
zum Beispiel bereits kennt. Und alle weiteren Tiere, die in der Kolonie leben, sind
Nachfahren von eben diesem einen reproduktiven Paar.
Sprecher
King und Queen, König und Königin also. Nur dieses Königspaar pflanzt sich fort,
alle anderen Tiere verzichten auf Nachkommen; stattdessen ziehen sie ihre eigenen
Geschwister groß: Ein Fortpflanzungssystem, das man eher bei Staaten bildenden
Insekten wie Ameisen, Bienen oder Wespen erwartet, aber nicht bei Säugetieren.
Die Biologen nennen eine solche Lebensweise „Eusozialität“ – wörtlich übersetzt:
gute Kameradschaft. Und eine gute Kameradschaft beobachtet Marie Therese
Bappert tatsächlich unter den Graumullen.
O-Ton 8
Die Tiere sind sozial, untereinander sind sie äußerst freundlich, miteinander. Man
sieht oft, dass sie sich halt gegenseitig das Fell pflegen. Man hat den Eindruck, die
gehen unglaublich liebevoll miteinander um. (Stimme oben)
Sprecher
... aber hin und wieder gibt es auch mal Kämpfe um die Rangordnung. Doch dabei
verletzen sich die Tiere nicht ernsthaft.
O-Ton 9
Das sind ritualisierte Kämpfe, da wird dann der andere mal hinten ins Fell, am Popo
gezwickt und weggezogen rabiat. Ganz typisch sind Kämpfe, wo sie ihre Schneidezähne so einhakeln, quasi wie Armdrücken, versuchen die Tiere sich dann gegenseitig auf den Rücken zu werfen oder wegzuziehen. Das interpretieren wir als eine
Art von Kraftmessen, da wird dann geklärt, wer der Stärkere ist, wer das Sagen hat.
Und dabei verletzten sich die Tiere dann eben nicht, nicht untereinander die in einer
Kolonie. Wenn da jetzt ein fremdes Tier drin wäre, dann sieht das schon anders aus,
ja.
Sprecher
So liebevoll die Graumull-Geschwister auch miteinander umgehen, eines gehört
nicht dazu: Sex. Brüder und Schwestern paaren sich nicht. Sie sind füreinander
offenbar sexuell völlig unattraktiv.
Seite 8
O-Ton 10
Die könnten sich reproduzieren. Sie tun es nur einfach nicht, weil sie sich alle
untereinander kennen. Die kennen sich individuell, die Tiere, wissen, das ist mein
Bruder oder das ist meine Schwester, oder in dem Fall natürlich auch, das ist mein
Vater oder meine Mutter, und dadurch sind die halt sexuell unattraktiv. Wenn wir
also so ein Tier rausnehmen und wir kombinieren es mit einem gegengeschlechtlichen Tier aus einer anderen Kolonie, dann können die völlig problemlos
sofort selber eine Kolonie gründen. Die kopulieren und bekommen dann auch
Nachwuchs.
Sprecher
Im Essener Labor sorgen die Forscher ab und zu dafür, dass sich zwei fremde Tiere
aus verschiedenen Kolonien treffen. In der freien Natur kommen solche
Begegnungen vermutlich sehr selten vor – und es darf kein anderes Tier dabei sein,
sagt Hynek Burda. Der gebürtige Tscheche ist Professor für Zoologie an der
Universität Essen.
O-Ton 11
Das muss wirklich eine Konstellation sein, dass sich zwei Tiere unterschiedliches
Geschlechts, zwei erwachsene Tiere treffen, also ein Weibchen und Männchen, die
sich nicht kennen, die aus zwei unterschiedlichen Kolonien stammen, und dass kein
Tier desselben Geschlechts aus eigener Familie dabei ist. Weil ein Männchen würde
sofort ein fremdes Männchen angreifen, ein Weibchen würde ein fremdes Weibchen
angreifen. Aber ein Weibchen wird nicht ein fremdes Männchen angreifen und
umgekehrt.
break
Sprecher
Für Säugetiere ist es äußerst ungewöhnlich, dass es in einer Gruppe ein
„Königspaar“ gibt, das sich fortpflanzt, während dessen Nachkommen lebenslang
als Helfer im Nest bleiben. Was durchaus häufiger vorkommt, ist, dass Kinder ihren
Eltern eine Zeit lang helfen und danach erst ihrer Wege ziehen. Das ist zum Beispiel
bei Bibern, Wölfen und südafrikanischen Krallenaffen so, sagt Hynek Burda.
O-Ton 12
Meist ist es so, dass die Kinder, die Nachkommen verbleiben mit den Eltern nur
vielleicht ein paar Jahre, beziehungsweise die kümmern sich um eine oder zwei
Generationen von den jüngeren Geschwistern und dann verlassen sie auch das
Nest. Bei den Graumullen ist es nun so, dass jedes Tier etwa im Durchschnitt sechs
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Generationen von jüngeren Geschwistern versorgt. Das ist wirklich sehr selten. Wir
kennen so etwas bei den Nacktmullen, wir kennen das bei den Graumullen. Aber
ansonsten kennen wir das nur noch bei Präriewühlmäusen aus Amerika. (Stimme
oben)
Sprecher
... denn unterirdisch lebende Nagetiere sind meistens Einzelgänger, anders als die
koloniebildenden Graumulle und ihre Verwandten, die Nacktmulle. Gemeinsam ist
allen Arten das Problem, unter der Erde einen geeigneten Partner zu finden. Die
Lebensweise alleine erklärt also nicht, warum sich gerade bei den zwei Mulle-Arten
das ungewöhnliche Fortpflanzungssystem entwickelt hat. Bei der Suche nach den
Gründen ist Burda auf einen körperlichen Faktor gestoßen, der dazu beigetragen
haben könnte.
O-Ton 13
Die Weibchen sind nicht fähig, Körperfett zu speichern. Die können beliebig viel
fressen, die haben auch genug Nahrung, aber die Weibchen werden kein Fett
speichern. Die machen keine Körperfettvorräte.
Sprecher
Ein Graumull-Weibchen muss also regelmäßig fressen, um nicht zu verhungern.
Doch während der Schwangerschaft schwillt ihr Körper so stark an, dass sie nicht
mehr durch die engen Gänge kommt. Das Weibchen und seine ungeborenen
Nachkommen überleben nur, wenn sie von den älteren Kindern mit Nahrung
versorgt werden und – vor dem ersten Werfen – vom Männchen. Durch diese
biologische Notwendigkeit, so die Annahme, entwickelte sich das Helferverhalten
der Kinder. Bevor der Nachwuchs also eigene Kinder bekommen kann, ist er schon
vollauf damit beschäftigt, die jüngeren Geschwister zu versorgen.
Atmo Geräuschcollage „Mullarium“: Hintergrundatmo, fiepender Graumull, knabberndes
Tier, Graumull schabt mit den Zähnen auf Ton abblenden, bleibt leise unter Text
stehen
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Sprecher
Im Essener „Mullarium“ wühlen sich die afrikanischen Graumulle wie Maulwürfe
durch den Torf. Sie wetzen ihre Zähne, die im Unterkiefer übrigens ziemlich
beweglich sind, und sie knabbern Möhrchen. Ab und zu nehmen die Biologen
einige Tiere aus den gläsernen Käfigen, um noch mehr über ihre Lebensweise
und über ihr Verhalten herauszufinden. Wie gut ist zum Beispiel ihr
Raumgedächtnis? Wie lange erinnern sie sich an ihre Geschwister, wenn sie
getrennt werden? Sind König und Königin einander treu: oder gibt es auch
Seitensprünge? – Es gibt auch in Zukunft noch viel zu erforschen an diesen
Nagern mit den langen Zähnen; an den Graumullen, bei denen die Jungtiere auf
eigenen Nachwuchs verzichten zugunsten der Pflege ihrer Geschwister.
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