«Alte Menschen bevorzugen sanfte und ruhige Töne»

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SCHWERPUNKT Kunsttherapien
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CURAVIVA 1/2007
Musiktherapie im Alterspflegezentrum
«Alte Menschen bevorzugen
sanfte und ruhige Töne»
■ Elisabeth Rizzi
«Demente können oft noch alle
Strophen eines Liedes singen»,
beobachtet die Musiktherapeutin
Ruth Müller. Immer wieder betreut
die Aargauerin auch Schlaganfallpatienten, die wegen einer
Sprachstörung nicht mehr verbal
kommunizieren, aber noch singen
können.
■ Bei welchen Betagten ist eine
Musiktherapie indiziert?
Ruth Müller: Musiktherapie kann
prinzipiell bei allen Betagten eingesetzt werden. Es gibt kaum jemanden,
der nicht darauf anspricht. Singen ist
besonders beliebt. Aber ich arbeite
auch mit dem Hören von Musik oder
lasse die Betagten selbst improvisieren
und musizieren.
■ Sie arbeiten im Regionalen Pflegezentrum Baden. Wie läuft hier eine
Therapiestunde ab?
Müller: In der Liedergruppe singen wir
zu einem bestimmten Thema, beispielsweise zur Jahreszeit, und knüpfen dann in Gesprächen an die Lieder
an. Wir sprechen über die Gefühle und
Erinnerungen, die das Gesungene
auslösen. In den Musikgruppen hat
uns als roter Faden Mozarts Leben und
Werk durchs vergangene Jahr begleitet.
Wir haben Schönes und Schwieriges
mit unserer Situation, unserem
Erleben und Empfinden verglichen,
seine Musik gehört und selber improvisiert und musiziert.
■ Wie wichtig ist das Gespräch?
Müller: Der Hauptteil der Therapie ist
Musik. Aber das Gespräch ist wichtig,
um das Empfundene zu reflektieren.
Auch sollen die Gruppenmitglieder die
Gemeinschaft spüren.
den bettlägerigen Patienten vordringt, dann singe oder spiele ich
Musik zum Wohlfühlen und Entspannen – also schöne, harmonische
Klänge.
■ Wie unterscheidet sich eine
Einzeltherapie
davon?
Müller: Hier kann
ich besser auf
aktuelle, persönliche Probleme/Situationen eingehen.
Bei schwer Dementen kann ich mich
nicht auf kürzlich
Ruth Müller: «Es geht nicht darum, ‹richtig› zu spielen»
zurückliegende
Foto: eri
Erinnerungen
beziehen. Ich muss
stattdessen mit
Erinnerungen aus der Jugendzeit und
■ Wie oft musizieren Sie mit den
dem im Moment Vorhandenen und
Betagten?
Entstehenden arbeiten.
Müller: Es findet einmal wöchentlich
eine Einzel- oder Gruppentherapie
■ Wie muss man sich das vorstellen?
statt. Einzelne Leute besuchen sowohl
Müller: Ich habe beispielsweise eine
die Einzel- wie auch die Gruppenschwer demente Patientin, die jedes
sitzung.
Mal von Neuem wieder herausfinden muss, wozu man Klangstäbe
■ Welche Instrumente verwenden Sie
benützen kann. Handkehrum ist
in der Therapie?
bei vielen Dementen noch viel
Müller: Ich arbeite vorwiegend mit
Liedgut aus der Jugendzeit vorhanden,
Klangstäben, Pauke, Kantelen, Gitarre
das ich abrufen kann. Wenn die
oder Klangschalen.
Leute unruhig sind, hören oder
spielen wir Musik zur Entspannung,
■ Warum wählen Sie gerade diese
oder ich lasse die Patienten auch mal
Instrumente?
«auf die Pauke hauen». In der SterbeMüller: Es ist wichtig, einfach zu
begleitung, wenn fast nichts mehr zu
spielende Instrumente zu wählen.
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Denn es geht in der Musiktherapie
nicht darum, ein Instrument technisch
zu beherrschen. Das wäre beispielsweise bei Geige oder Klavier der Fall.
Viel mehr sollen Gefühle ausgedrückt
werden. Zudem sollen die Instrumente schön klingen, das heisst einen
vollen Ton haben und weder schrill
noch zu laut sein. Denn alte Menschen
bevorzugen sanfte und ruhige Töne.
Spielzeuginstrumente darf ich allerdings auch nicht verwenden,
denn die Betagten wollen als erwachsene Menschen wahrgenommen
werden.
■ Was ist das Ziel einer Musiktherapie?
Müller: Musiktherapie vermittelt
Freude und ist erlebnisorientiert. Die
Klienten finden Zugang zu Gefühlen,
auch wenn diese verdrängt sind. Das
Selbstbewusstsein wird gestärkt. Und
all das ist möglich ohne Worte.
■ Unterscheidet sich Musiktherapie
mit Betagten von Musiktherapie mit
Kindern oder Jugendlichen? Falls ja:
Wie?
Müller: Bei Kindern und Jugendlichen
steht ein klares therapeutisches Ziel im
Vordergrund, beispielsweise Hyperaktivität, psychische Konflikte, Angst
oder ein Trauma. Bei alten Menschen
geht es dagegen mehr darum, sich mit
Musik etwas Gutes zu tun.
■ Wie machen Sie bei Betagten
Erfolgskontrolle?
Müller: Oft merke ich, wie sich Verkrampfungen im Verlauf der Therapiestunde lösen. Oder ich sehe, wie sich
die Atmung beruhigt. Auch der
Gesichtsausdruck und der Blick sagen
viel aus. Patienten, die gesundheitlich
noch fitter sind, sagen, ob es ihnen
gefällt, und freuen sich auf die nächste
Therapiestunde.
■ Wie messen Sie den Erfolg bei
Demenzpatienten?
Müller: Wenn sie plötzlich zu lachen
beginnen und Freude zeigen. Aber das
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ist alles sehr flüchtig und jeweils nach
wenigen Minuten bereits wieder
vorbei. Allerdings zeigen demente
Menschen auch klar, wenn ihnen etwas
nicht gefällt. Sie stehen dann auf und
gehen.
■ Wie gehen Sie damit um, wenn
wegen der Demenz kaum mehr eine
Interaktion zwischen Ihnen und dem
Patienten möglich ist?
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schen in die Ruhe zurückzuführen. Ich
werde leiser, langsamer und harmonischer. Das Gegenüber macht diesen
Prozess mit. In der Regel hält die
Beruhigung dann für einige Zeit an.
■ Wie lange?
Müller: Nicht gleich eine Woche, aber
doch länger als nur einen Moment. Es
gibt auch Demente, die stereotyp
gewisse Wörter oder Sätze wiederho-
Klänge rufen Erinnerungen wach an Orte und Situationen, in denen die Betagten
etwas Schönes erlebt haben.
Müller: Selbst die Frau, die jedes Mal
nicht mehr weiss, was sie mit den
Klangstäben machen soll, findet
irgendwann in der Stunde heraus, dass
man damit Töne produzieren kann. In
solchen Fällen beginne ich, und
irgendwann kommen dann auch Töne
von der Gegenseite, und oft entsteht
ein reges Zusammenspiel.
■ Wie wirkt Musiktherapie gegen
Aggressivität?
Müller: Es gilt das so genannte Isoprinzip. Das heisst: Ich muss die Menschen
dort abholen, wo sie sind. Ich muss
aggressiv beginnen, also zum Beispiel
dissonant und mit Paukenschlägen.
Dann muss ich versuchen, die Men-
Foto: eh
len. Wenn es gelingt, mit Musik diesen
Kreislauf zu durchbrechen, dann
dauert es auch einige Zeit, bis wieder
ein Rückfall in die Stereotypie stattfindet.
■ Was löst Musik bei den alten
Menschen aus?
Müller: Die Klänge rufen Erinnerungen
wach an Orte und Situationen, in
denen die Betagten etwas Schönes
erlebt haben. Denn Wohlklänge sind
mit schönen Erinnerungen verbunden.
Der Mensch spürt, dass Musik Körper
und Seele gut tut. Allerdings kann man
das nicht verallgemeinern. Als Therapeut muss man ein feines Sensorium
dafür haben, wenn man etwas «Fal-
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sches» vorspielt. Denn auch schöne
Musik kann schlechte Erinnerungen
auslösen. Ich hatte beispielsweise
einen Patienten, der ein bestimmtes
klassisches Musikstück in einer
früheren schwierigen Lebensphase
gehört hat. Als wir dieses Stück in der
Therapie hörten, hat er sich deshalb
verkrampft.
Vergangenheit und somit andere
Klanggeschmäcker entwickelt haben …
Müller: Bei alten Menschen dominiert
in Bezug auf Dissonanzen sicher die
Lebensprägung. Man ist zurückhaltender. Wenn man früher Musik gemacht
hat, hatte man schön zu spielen. Das ist
bei Kindern und Jugendlichen nicht
mehr so. Sie sind freier und offener.
■ Suchen die Betagten irgendwelche
Klangmuster oder Melodien, die sie von
früher her kennen?
Müller: Nein, denn ich verwende
vielfach pentatonische Instrumente,
also Fünfton-Tonleitern. Das verunmöglicht klassische Dur-Moll-Kombinationen. Wie gesagt: Es geht nicht
darum, «richtig» zu spielen. Demente
spielen allerdings manchmal immer
wieder die gleichen Klangmuster. Ich
vermute jedoch eher eine Stereotypie
dahinter als einen Zusammenhang mit
der Melodie. Interessanterweise habe
ich auch eine Patientin, die immer nur
Töne aufwärts spielt. Ich habe mehrfach versucht, sie auch absteigende
Melodien spielen zu lassen, was
unmöglich zu sein scheint.
■ Wie wichtig ist es, Texte und
Melodien von alten Liedern zu spielen,
welche die Betagten aus ihren jungen
Jahren kennen?
Müller: Das ist sehr wichtig, denn sie
haben in der Jugendzeit viel gesungen.
Singen weckt Erinnerungen an die
«gute alte Zeit».
■ Stärker als bei der Malerei oder
auch beim Theater gibt es in der Musik
schnell eine Grenze von «schön» und
«hässlich». Wie reagieren die alten
Menschen auf Dissonanzen?
Müller: Oft entferne ich bewusst Töne
aus dem Instrumentarium, die eine
dissonante Klangzusammenstellung
ermöglichen würden. In gewissen
Situationen, in denen Dissonanz
erwünscht ist, füge ich sie wieder
hinzu. Grundsätzlich bemerke ich bei
geistig noch wachen Betagten Hemmungen, diese Dissonanzen dann
tatsächlich auch zu spielen. Demenzpatienten sind hingegen spontaner
und enthemmter.
■ Reagieren alte Menschen eigentlich
grundsätzlich anders auf Musik als
junge? Ich denke zum Beispiel, dass sie
andere Musik gehört haben in der
■ Wo sind die Grenzen von Musiktherapie?
Müller: Ich sehe eigentlich keine –
ausser wenn mich jemand ablehnen
würde. Aber das habe ich noch nie
erlebt. Allerdings ist es möglich, dass
in einer Therapiestunde mit Dementen
manchmal nach wenigen Minuten
genug ist. Das muss ich akzeptieren.
■ Was war Ihr schönstes Erlebnis mit
einem betagten Therapieteilnehmer?
Müller: Immer wieder finde ich
Folgendes sehr beeindruckend: Ich
musiziere in der Sterbebegleitung am
Bett von jemandem, der nicht mehr
aktiv an der Umwelt teilnimmt:
Plötzlich huscht ein Strahlen übers
ganze Gesicht, das ist dann ein grossartiges Erlebnis für mich. Auch wenn
Schlaganfall-Patienten, die kein Wort
mehr sagen können, plötzlich zu
singen beginnen, läuft es mir jeweils
kalt den Rücken herunter.
■
Die ausgebildete Musiktherapeutin und Musikpädagogin Ruth Müller arbeitet im Regionalen
Pflegezentrum Baden sowie im Zentrum für
körperbehinderte Kinder in Baden-Dättwil.
Musiktherapie
Die Musiktherapie wird unterteilt in aktive und rezeptive Formen. Die rezeptive Musiktherapie
basiert auf dem Zuhören von auf den Patienten abgestimmter Musik. Bei der aktiven Musiktherapie beteiligt sich der Patient selbst am Musizieren, entweder in der Gruppe oder in Einzelstunden. Die Kommunikation zwischen Therapeut und Patienten ist bei der aktiven Musiktherapie der Ausgangspunkt. Die Musik wird dabei mit Gesprächen ergänzt.
Ergotrope Musik (beispielsweise zeitgenössische Musik, Militärmusik, Märsche) ist dynamisch
und kraftvoll, sowie stark rhythmisiert und oft dissonant. Sie dient zur Aktivierung und Stimulierung. Trophotrope Musik (barocke und klassische Musik, Kirchen-, Kinder- und Volkslieder)
ist demgegenüber sanft fliessend, schwebend und harmonisch. Sie bringt Befreiung und Entspannung. Musik zeigt Veränderungen im vegetativen Nervensystem, Herz-Kreislauf, Stoffwechsel, in der Atmung und kann die Schmerzschwelle beeinflussen. Ausserdem werden der
Muskeltonus vermindert und muskuläre Spannungen gelöst.
Schon in der Antike wurde davon ausgegangen, dass kranke Menschen durch die Hilfe von Musik ihre geistige und körperliche Harmonie wiederfinden. Im Mittelalter gehörte die Musik zum
Fächerkanon eines Medizinstudiums. In der Zeit der Renaissance und des Barocks stand die Regulation des Blutes durch Schwingungen im Mittelpunkt. Die Romantik stellte die Psychologie
ins Zentrum der Musik. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand der heutige Begriff von Musiktherapie. In den Siebziger- und Achtzigerjahren bildeten sich anerkannte Berufsbilder heraus.
Weitergehende Infos unter: www.musictherapy.ch
(eri)
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Wie Musizieren und Musikhören das Gehirn von Demenzpatienten verändern
«Mit Musik kann ein Zustand des
Dahinvegetierens vermieden werden»
■ Elisabeth Rizzi
Demenzpatienten, die regelmässig musikalisch aktiviert
werden, profitieren auch in
anderen Lebensbereichen von
verbesserter Motorik, Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung.
Das sagt der Neuropsychologe
Lutz Jäncke.
■ Die Studienergebnisse bezüglich des
Nutzens von Musiktherapie bei Demenz
sind widersprüchlich: Etliche Untersuchungen weisen methodische Mängel
auf. Heisst das: Musik hilft bei Demenz
nicht wirklich?
Lutz Jäncke: Zuerst muss festgestellt
werden: Demenz ist zum heutigen
Zeitpunkt nicht heilbar. Doch konnte
gezeigt werden, dass intensives und
aktives Musikhören beziehungsweise
Musizieren vorbeugend wirkt gegen
Demenz. Das muss man so verstehen:
Durch die regelmässige musikalische
Betätigung wird die kognitive Reserve
gesteigert und es finden günstige
Strukturveränderungen im Hirn statt.
Das Arbeitsgedächtnis, die Aufmerksamkeit und die Motivation verbessern
sich. Ein altersbedingter Abbau von
Nervenzellen fällt wegen dieser
Reserven erst viel später ins Gewicht
als bei nicht musizierenden Menschen.
■ Was aber, wenn Demenz bereits
eingetreten ist?
Jäncke: Einen wissenschaftlichen Beleg
gibt es noch nicht. Aber ich vermute,
dass auch bei Demenzpatienten eine
Reihe von günstigen Effekten ausgelöst werden kann. Ich denke dabei an
Intensives und aktives Musikhören beziehungsweise Musizieren
wirkt vorbeugend gegen Demenz.
die positive Wirkung von Musik auf
die Gefühlswelt und den Antrieb, sich
zu beschäftigen. Insofern halte ich es
für wahrscheinlich, das Musizieren
den demenziellen Abbauprozess
verlangsamen kann.
Fotos: eri
■ Wie verändert Musik die Hirnstrukturen von Dementen?
Jäncke: Das hat bislang noch niemand
untersucht. Und wir sind erst dabei,
eine solche Studie zu konzipieren.
Ergebnisse erwarten wir erst in etwa
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Jäncke: «Patienten lernen auch dann noch,
wenn sie dies nicht mehr bewusst
wahrnehmen.»
dungen auslösen. Moll wird beispielsweise als traurig wahrgenommen,
während Dur fröhlich wirkt. Ebenso
wirken Konsonanzen angenehmer als
Dissonanzen.
Gedächtnisfunktionen, die Regeln,
Handlungen und Automatismen
bestimmen. In diesem Sinn lernen die
Patienten auch dann noch, wenn sie
dies nicht mehr bewusst wahrnehmen.
Das hat zur Folge, dass der Abbau von
motorischen Fähigkeiten oder von
Aufmerksamkeit hinausgezögert
werden kann. Darüber hinaus gilt es
immer zu beachten: Musik zu machen,
heisst auch Freude geben. Mit Musik
kann ein Zustand des Dahinvegetierens vermieden werden.
■ Aber schwer Demente können nichts
mehr zu den Klängen assoziieren?
Jäncke: Das kann man so nicht sagen.
Denn die zuletzt gelernten Dinge
gehen zuerst verloren. Prägungen aus
Kindheit und Jugend bleiben dagegen
am längsten erhalten. Auf Musik
bezogen bedeutet das: Das Hören von
Kinderliedern, die mit grossen Emotionen aus der Kindheit verknüpft
sind, kann in den Betagten wieder
Assoziationen auslösen. Bilder und
Gerüche von damals leben dann
wieder auf. Die Fähigkeit, feste Verbindungen zwischen Dingen zu
machen, kann somit gestärkt werden.
Das verschafft den Demenzpatienten
auch Vorteile in anderen Lebensbereichen.
■ Genügt es, Musik über den CD-Player
abzuspielen, oder müssen die Dementen
aktiv mitmusizieren?
Jäncke: Die aktive Teilnahme ist sehr
wichtig. Aber vermutlich bewirkt auch
passives Hören bereits viel.
■ Wie oft müssen Demenzpatienten
mit Musik in Berührung kommen, damit
ein messbarer Effekt resultiert?
Jäncke: Ich schätze, sie sollten sich ein
bis zwei Stunden täglich mit Musik
beschäftigen.
■ Wie muss Musik bei Demenzpatienten angewandt werden, damit ein
klinischer Nutzen resultiert?
Jäncke: Man muss zwischen den
unterschiedlichen Demenzgraden
unterscheiden. Bei leichten Formen
können beim Musizieren viele kognitive Funktionen verbessert werden:
Die Patienten lernen Musikstücke,
trainieren die Motorik und versuchen
auch, auswendig zu lernen. Diese
Fähigkeiten können auch in anderen
Lebensbereichen genutzt werden.
■ Was löst Musik emotionell bei
Demenzpatienten aus?
Jäncke: Je dementer ein Mensch ist,
desto grösser ist der Verlust des
semantischen Gedächtnisses. Das
heisst, desto mehr Schwierigkeiten hat
ein Mensch damit, Töne und Bilder
miteinander zu verknüpfen. Was
verloren geht, ist die Fähigkeit zu
assoziieren. Die einzelnen Gegenstände selbst bleiben dabei allerdings
erhalten. Sehr wohl kann also eine
solche Person Musik noch wahrnehmen.
■ Spielt es eine Rolle, ob Rockmusik,
Klassik oder Ländler in der Therapie
verwendet werden?
Jäncke: Musik, die uns besonders
gefällt, aktiviert das Hirn am stärksten.
Das lässt sich messen. Es ist dabei
keineswegs so, dass klassische Musik
mehr bewirkt als Rock oder irgendeine andere Musikrichtung. Ausschlaggebend ist eher die Lebenserfahrung eines Menschen; also das,
was er mit einer bestimmten Musik
verbindet.
■
■ Und bei schwerer Demenz?
Jäncke: Hier können durch Musik so
genannt prozeduale Gedächtnisanteile
aktiviert werden: Das sind diejenigen
■ Wie?
Jäncke: Alle Musikstücke besitzen
physikalische Merkmale, die bei den
meisten Menschen ähnliche Empfin-
anderthalb bis zwei Jahren. Ich
vermute allerdings, dass gewisse
strukturelle Veränderungen nachweisbar sein werden. Ich könnte mir
vorstellen, dass sich die Hirnareale,
welche die Hörfunktionen kontrollieren, strukturell verändern. Des Weiteren vermute ich, dass Veränderungen
im Stirnhirn eintreten werden. Dort
sind die Aufmerksamkeitsfunktionen
lokalisiert. Bei gesunden Menschen
finden solche Hirnveränderungen
bereits nach einem halben Jahr
regelmässigen Musizierens statt.
■ Das würde heissen: Es kann nicht
nur der demenzielle Abbauvorgang
verlangsamt werden, sondern es werden
sogar Hirnfunktionen wieder aufgebaut?
Jäncke: Ja, das würde es bedeuten.
Prof. Dr. Lutz Jäncke ist Ordinarius des Lehrstuhls für
Neuropsychologie an der Universität Zürich. Er ist
Experte für das Fachgebiet «Hirn und Musik».
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