Friedrich Nietzsche — Geschichte, Affekte, Medien

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in: Renate Reschke, Volker Gerhardt (Hg.): Friedrich Nietzsche — Geschichte, Affekte, Medien.
Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzschegesellschaft, Band 15. Berlin 2008. S. 167-188.
Physiologische Ästhetik – Nietzsches Konzeption des Körpers als Medium
Annette Bitsch
1. Physiologische Ästhetik
Im charakteristischen Stil, nämlich mit der Dynamik eines Hammers zerstört Nietzsche alle
filigranen, feingeistigen von klassischer Schule dressierten Gefühlsantennen, die im sinnlichen
Schein des Kunstwerks die Levitation von Seele, Urbild, tiefem Sinn erspüren. Er diffamiert all jene,
die in platonischer Tradition in der Schönheit des Kunstwerks nicht die Sinnlichkeit von Form und
Farbe, Lilino, Celeste und Bleu Planète, sondern vielmehr den übersinnlichen Charakter dieser
Schönheit anbeten. Mit unverbesserlichem Donnerhall verweist er, für den Seele Nervenaktivität
und der tiefe Sinn ein wirksames Narkosemittel1 ist, auf
"jene gänzlich irrthümliche Scheidung von 'Geist' und 'Körper' [...], die, besonders seit Plato, wie ein
Fluch auf der Philosophie liegt. [...] Alle jene Vielheit und Buntheit der erfahrungsmäßig bekannten
Welt, der Wechsel ihrer Qualitäten, die Ordnung in ihrem Auf und Nieder wird erbarmungslos als ein
bloßer Schein und Wahn bei Seite geworfen; [...] Nur in den verblaßtesten, abgezogensten
Allgemeinheiten, in den leeren Hülsen der unbestimmtesten Worte soll jetzt die Wahrheit wie in
einem Gehäuse aus Spinnefäden, wohnen: und neben einer solchen 'Wahrheit' sitzt nun der
Philosoph, ebenfalls blutlos wie eine Abstraktion und rings in Formeln eingesponnen. Die Spinne will
doch das Blut ihrer Opfer; aber der parmenideische Philosoph haßt gerade das Blut seiner Opfer, das
Blut der von ihm geopferten Empirie." (KSA 1, 844)
Er beleidigt Oberlehrer, die im Geiste eines Christian Fürchtegott Gellert die Subjekte vermittels
der Kunst von einer korrupten Wirklichkeit purgieren, sie existentiell am Wahren, Guten, Schönen
ausrichten und auf das Absolute der Idee hin emotionieren, indem er andere, ganz andere Motive
unterstellt: "So haben sich einige Völker, vermöge dieser Kunst des Idealisirens, aus Krankheiten
grosse Hülfsmächte der Cultur geschaffen: zum Beispiel die Griechen, welche in früheren
Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten
und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben. — Die Griechen besassen
nämlich Nichts weniger, als eine vierschrötige Gesundheit;" (KSA 2, 175) Er zerschmettert die in
Marsilio Ficinos Theologia platonica niedergelegten Grund- und Heilssätze zur göttlichen Idee des
Schönen2, verstört Kastalische Quellen und sabotiert die Mission à la Leonardo, Dürer, Michelangelo
– Humanismus, Persönlichkeit, moralische Veredelung -, unmissverständlich darlegend, dass deren
ästhetisch-künstlerische Ambitionen von anderen Mächten angeschoben werden und als solche
"zunächst der physiologischen Beleuchtung und Ausdeutung [bedürfen], [...] alle insgleichen warten
auf eine Kritik von seiten der medicinischen Wissenschaft." (KSA 5, 290)
Die Anagogen lässt er aus der contemplatio hochfahren und wild um sich blicken auf ein
Laboratorium, "[in dem] wir [mit uns] experimentiren [...], wie wir es uns mit keinem Thiere
erlauben wurden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was
liegt uns noch am 'Heil' der Seele!" (KSA 5, 358). Aus der Weltseele, die der Graf von Shaftesbury mit
dem Schönen, Guten, Wahren identifizierte3, macht er den Willen, eine das principium
individuationis zersprengende dionysische Urkraft4, sich manifestierend als Ohrschmerz5 oder als
1
Vgl. KSA 2, 108: "Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Aenderung
der Empfindung zu wirken [...] Je mehr Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird
er die Ursachen des Uebels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Narkotisirung,
wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die
Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die
wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge, was freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt — denn zur
Tragödie findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen, unbezwinglichen Schicksals immer
enger wird —, noch schlimmer aber für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung
menschlicher Uebel."
2
Zu Ficino vgl. Kristeller (1972) und Albertini (1997).
3
Vgl. Shaftesbury (1999): S. 98-102.
4
Vgl. KSA 1, 577; vgl. auch KSA 7, 365.
5
Vgl. KSA 3, 424: "Habe ich noch Ohren? Bin ich nur noch Ohr und Nichts weiter mehr? Hier stehe ich inmitten
des Brandes der Brandung, deren weisse Flammen bis zu meinem Fusse heraufzüngeln – von allen Seiten heult,
droht, schreit, schrillt es auf mich zu, während in der tiefsten Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie singt,
1
"physiologische Ubertät, die sich entladen möchte, und einen Druck bis zum Gehirn ausübt"(KSA 7,
446). Und die von Gregor dem Grossen und auch in den Libri Carolini mit Sorgfalt und Bedacht
gemachten Ausführungen zu der unterweisenden und auf Gott ausrichtenden Zielsetzung der Kunst6
kompromittiert er, indem er jenen Gott bzw. dessen Sohn, den "Stifter des Christenthums", auf die
Position eines "Zahnarztes" versetzt, "der jeden Schmerz durch Ausreissen des Zahnes heilen will; so
zum Beispiel indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Rathschlage ankämpft: 'Wenn dich dein Auge
ärgert, so reisse es aus.'" (KSA 2, 590) Und die Antwort auf Johann Georg Sulzers in der Allgemeinen
Theorie der Schönen Kunst (1773-75) gegebene Bestimmung der Kunst - "ihr Zweck ist lebhafte
Rührung der Gemüther, und in ihrer Anwendung haben sie die Erhöhung des Geistes und Herzens
zum Augenmerk [...] der Tugend Reizung zu geben"7 – lautet: "[...] Unter ihnen fehlt auch jene
ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die verlognen Missgeburten, die darauf aus sind, 'schöne
Seelen' darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit, in Verse und andere Windeln gewickelt,
als 'Reinheit des Herzens' auf den Markt bringen: die Species der moralischen Onanisten und
'Selbstbefriediger'." (KSA 5, 370f)
Aus den bis zu diesem Punkt mit Hammerschlag und Donnerhall vorgebrachten Passagen und Zitaten
schliesst sich bereits auf, dass Nietzsches Konzept einer physiologischen Ästhetik das auf der
Trennung und zugleich Akkordanz von Körper und Geist, res extensa und res cogitans, basierende
Phantasma eines einheitlichen leibgeistigen Subjekts unrettbar subvertiert und damit mit einer
jahrhundertelangen ästhetischen Tradition bricht, die auf dem Primat des Geistes über den Körper,
der Metaphysik über Physis und Sinnlichkeit, der Bedeutung über dem materiellen Signifikanten
beruhte. Die idealistische Philosophie des Geistes wird zu einer Medienphilosophie des Geistes, und
die klassische Scheidung von Leib und Seele, die vor solchem medialen Hintergrund natürlich nicht
mehr verfangen kann, wird ersetzt durch die Dialektik von Gesundheit und Krankheit, die das
gesamte Werk wie ein gänzlich unidealistischer Spuk durchdünt8. Das Subjekt Nietzsches spekuliert
nicht mehr auf das Wahre und Gute, sondern auf einen Zustand von Gesundheit, den es nur dadurch
herbeizuführen vermag, dass es all seine Krankheitssymptome und körperlichen Störfrequenzen,
seinen Schmerz und sein Leiden in Zeichen überträgt, oder besser: entlädt. Auf diese Weise wird es
in der physiologischen Ästhetik zum Medium von einer Krankheit und einem Schmerz, die es selbst
als Subjekt im innersten konstituieren, um via Kommunikation, oder, mit Nietzsche:
"Transfiguration" (KSA 3, 345) dionysische Heilungserfahrungen und fröhliche
Wissenschaftserlebnisse zu durchlaufen9, die jedoch – die zyklothyme, zwischen Euphorie und
Lebensekel alternierende Struktur seines gesamten Werkes und Denkens zeigt es – ambulante, durch
kein göttlich-metaphysisches Fundament mehr auf Dauer gestellte Zustände darstellen. Denn im
Unterschied zum Logos zeichnet sich ein Körper vielmehr durch seine Unzuverlässigkeit,
Unberechenbarkeit, seine genuine Anfälligkeit für Infekte und Defekte aller Art aus von
"Kopfkrankheiten" (KSA 5, 260) über "intestinale Krankhaftigkeit" bis zur "Neurasthenie" (KSA 5, 266).
"Kopfkrankheiten", "intestinale Krankhaftigkeit", "Neurasthenie", physiologische Funktionen,
Dysfunktionen und Bedürfnisse am Grund aller grossen Würfe und Werke aus Kunst, Philosophie,
Literatur – die physiologische Ästhetik rückt genau das, dessen sich die klassische Ästhetik
dumpf wie ein brüllender Stier: er stampft sich dazu einen solchen Erderschütterer-Tact, dass selbst diesen
verwetterten Felsenunholden hier das Herz darüber im Leibe zittert [...]." zit. nach Deuber-Mankowsky (2007).
6
Vgl. Angenendt (2001) und Riché (1996).
7
Sulzer (1792): S. xxx
8
So beschreibt Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Die fröhliche Wissenschaft und auch in
Menschliches Allzumenschliches den Prozess, in dem er sich zum erkenntnisbegeisterten Philosophen und
passionierten Schriftsteller entwickelt hat, als eine nach langer Krankheit eintretende Genesung. (KSA 3,
345ff). Um weiter einen Einblick zu gewähren in die Dominanz des Begriffspaars von gesund und krank in den
unterschiedlichsten Kontexten (moralische, historische, ästhetische, philosophische Fragen) seien hier nur –
und nicht einmal erschöpfend – entsprechende Stellen aus der Genealogie der Moral und aus Menschliches
Allzumenschliches angegeben: KSA 2, 17-21; 44; 62; 66-76; 102; 113; 118-122; 136; 139; 175; 189; 204; 209,
231-233; 279; 372-376; 404-407; 414; 422; 444; 448; 460; 492; 497f; 502-504; 519-523; 531; 567; 588; 593; 604;
609; 621; 627; 633-636; 644; 657; 666; 670; 685; 692; 696; 703. Zu Nietzsches Übersetzung künstlerischer
Prozesse und Entwicklungen in die physiologischen Termini von Gesundheit und Krankheit vgl. auch DeuberMankowsky (2007).
9
Vgl. Deuber-Mankowsky (2008): S. xxx. "Sie [die Philosophie als Kunst der Darstellung, Anm. A.B.] vermittelt
dem Philosophierenden die Möglichkeit, seinen Zustand zu kommunizieren. Und darin liegt auch schon das
Geheimnis ihrer heilenden Kraft: Die 'Umsetzung seines Zustandes in die geistigste Form und Ferne' ist bereits
der Gang aus der Untätigkeit und als solcher Teil der Gesundung. [...] Aus diesem Zustand eines existentiellen
Sinnverlusts soll die Philosophie nach Nietzsche allein dadurch heraus führen, dass sie ihn symbolisiert. Für
Nietzsche besteht die genuine Aufgabe der Philosophie darin, dass sie, über den Umweg der Zeichensetzung,
den Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Denkens überwinden hilft." Vgl. auch Brusotti (1997).
2
verweigert und das sie im Namen des Geistes aus dem inneren System10 evakuiert hatte, nämlich die
unbewussten und physiologischen Faktoren am und als Grund der philosophischen wie künstlerischen
Erkenntnisse gleichermassen ins Zentrum ihres wissenschaftlich-produktionsästhetischen Interesses.
"Sieht man jene Kraft näher an, so ist hier auch kein künstlerisches ganz freies Erfinden: das wäre
etwas Willkürliches, also Unmögliches. Sondern die feinsten Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit
auf einer Fläche gesehn: sie verhalten sich wie die Chladni'schen Klangfiguren zu dem Klang selbst:
so diese Bilder zu der darunter sich bewegenden Nerventhätigkeit. Das allerzarteste sich Schwingen
und Zittern! Der künstlerische Prozeß ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles
Denken erscheint uns auf der Oberfläche als willkürlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die
unendliche Thätigkeit nicht." (KSA 7, 446)11
2. Psycholabor und Nervenklinik
Aus diesem sowie den vorangegangenen Zitaten – Nerven-Epidemien, Epilepsien, Ausstrahlungen von
Nerventhätigkeit, Experimente, bei denen vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe
aufgeschlitzt wird, physiologische Entladungen und Überdruck im Hirn... - erschliesst sich
unmissverständlich, von welchem Diskurs die physiologische Ästhetik infundiert wird: die
Experimentalwissenschaft, materialistische Psychiatrie und Psychophysik des 19. Jahrhunderts. In
den Psycholaboratorien von Wundt, Ludwig, Helmholtz, Münsterberg, Charcot und Bechterev wird
die seit Platon mit metaphysischem Copywright versehene Seele in den Nerven positiviert, die
ehemals gottgeweihten und –gelenkten Akte Denken, Fühlen, Wollen werden als Funktionen der
Wahrnehmung experimentell untersucht und neurophysiologisch verifiziert. Ganz im Sinne
Nietzsches wird die Seele aus dem Ideenhimmel auf den Boden der physiologischen Tatsachen
geholt, wenn Wundt und Ludwig Versuchspersonen in Reiz- und Reaktionsexperimenten daraufhin
konditionieren, ihre seelischen oder psychischen Leistungen reproduzierbar und aufschreibbar zu
machen, und wenn Helmholtz und Du-Bois Reymond galvanometrische Messungen von
Nervenlaufzeiten in motorischen Fasern anstellen, die jede bewusste Wahrnehmungsschwelle
unterlaufen.12 Psycholabor und Nervenklinik – das sind die Zentralstationen, die als Andere
Schauplätze zugleich Nietzsches Unbewusstes zu beherrschen scheinen und als solche die Aussagen
des Philosophen, des Moralkritikers und des Schriftstellers in gleicher Weise soufflieren. So, wenn er
zum Beispiel das Aroma von Schizophrenie und Chloralhydrat, das er schliesslich selbst zur Genüge
inhaliert hat13, als Smog über dem gesamten europäischen Kulturraum wiedererkennend wittert:
"Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast
überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft, — ich rede, wie
billig, von den Culturgebieten des Menschen, von jeder Art 'Europa', das es nachgerade auf Erden
giebt." (KSA 5, 369)
Psycholabor und Nervenklinik – das sind die Orte, wo die Leib-Seele-Problematik, die Philosophie
und Wissenschaft seit Aristoteles in Atem hält und die in Nietzsches physiologischer Ästhetik eine
zentrale Rolle spielt, in eine neue Potenzebene übergeht14. Was nicht heisst, dass sie gelöst wird.
Was wiederum Nietzsche, der nicht nur Objekt in der Nervenklinik und Subjekt am Schreibtisch war,
sondern darüber hinaus noch vor Freud die Frage 'Wer spricht?' stellte, gewusst hat. Aber dazu
später. Der anti-platonische Kern der physiologischen Ästhetik, die die Seele, wie oben ausgeführt,
nicht als immaterielles Gewirke zwischen Absolutum und Negativ-Mondamin vom Körper trennt,
sondern im Gegenteil physiologisch als "feinste Ausstrahlung von Nerventhätigkeit" materialisiert,
hat seine Entsprechung in den Grundannahmen der Psychophysiker, Experimentalphysiologen und
Psychiater nach dem Ausgang des Göttinger Materialismus-Streits, "Seele oder Sekret", wobei die
Seele von Anfang an schon hoffnungslos verloren bzw. von den entsprechenden Apparaten des
Psycholabors auf ihre neuronalen Frequenzereignisse hin examiniert wurde.15 Die Quintessenz dieses
10
Vgl. Derrida (1993): S. 57-60.
Vgl. auch KSA 3, 350.
12
Ausführlich zu all diesen Geschehnissen im Psycholabor vgl. Holl (2002): S. 170-245.
13
Vgl. Frenzel (2000), Janz (1981) und besonders Volz (1990).
14
Zur Leib-Seele-Problematik vgl. auch Hermanni/Buchheim (2006).
15
Mit einschneidenden politischen und institutionellen Konsequenzen erhoben im Göttinger Materialismusstreit
von 1854, auf den Carl Vogt mit der Sentenz 'Seele oder Sekret' abhob, Physiologen, Chemiker und Physiker
Anspruch auf die Seele, die bis dato dem Monopol der Geisteswissenschaftler und Philosophen unterstand. Als
um 1870 die Trennung von Psychologie und Physiologie öffentlich deklariert und institutionell vollzogen wurde,
war die Seele als dichotomisches Pendant zum Sekret jedoch bereits verwirkt. Denn mit der Institution der
Psychologie als autonome Disziplin durch Wilhelm Wundt in Leipzig hatte sich bereits ein solches
11
3
Seele-gegen-Sekret-Gefechts könnte man übrigens auch mit Nietzsches Kommentar ziehen, "daß mit
dem Organischen auch das Künstlerische beginnt." (KSA 7, 436)
In den psychologischen wie psychotechnischen Laboratorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts
werden nun reihenweise Testgeräte und Vermessungsapparaturen konstruiert, zu denen in erster
Linie chronometrische und photographische Techniken gehören. Empfiehlt sich hierin einerseits eine
Geschichte der Verfeinerung der Aufzeichnungstechniken für physiologische Funktionen, so darf
darüber nicht vergessen werden, dass mit der Entwicklung neuer Test-Apparate auch neue Körper
konstruiert werden16, die dadurch konstituiert sind, dass gerade der Teil, der in den
unterschiedlichen Konzeptionen vom cartesischen Mechanismus bis zum psychophysischen
Parallelismus noch eindeutig vom Physischen separiert werden konnte, nun eingezogen wird in die
organischen Funktionen und konkretisiert als Reizverarbeitung in den Nerven. Im Übergang vom 19.
ins 20. Jahrhundert wird die Seele zum Nerv, und das heisst, Hermann von Helmholtz zufolge, zum
Telegraphendraht17. Man hätte an dieser Stelle auch Ludwig, Wundt, Charcot, Bleuler, Flechsig oder
Marey konsultieren können. [Man hätte sich an Sigmund Freud, Schüler von Brücke und Helmholtz
wenden können, der schreibt: "diese Seele ist nichts Einfaches, vielmehr eine Hierarchie von überund untergeordneten Instanzen, ein Gewirre von Impulsen"18, der weiter mit dem psychischen
Apparat ein auf der Verschränkung von neurophysiologischen, energetischen und
elektrizitätsphysikalischen Diskursen basierendes Modell für das Unbewusste konstruiert 19 und der
später die aus der Importation des Telegraphenrelais in eben diesen Apparat hervorgehende Theorie
der Signalangst inauguriert.20 Oder an Eugen Bleuler, demzufolge das Denken "sich am besten unter
dem Bilde von Schaltungen in einer elektrischen Anlage vorstellen [lässt], die verschiedene
Apparate miteinander verbinden und unabhängig voneinander laufen lassen, sie aus- und einschalten
kann"21. Man hätte Fechner fragen können, der in den Elementen der Psychophysik die
physikalischen Gesetze der Nervenaktivität als Relation zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke
analysiert und so das "Massprinzip der Empfindlichkeit" als Übertragungs- und (negative)
Verstärkungsformel von Physik in Psyche: gamma = k log beta/b instituiert 22.] Und natürlich und
nicht zuletzt hätte man Nietzsche in dieser Sache beanspruchen können, der dann klar gestellt
hätte, dass es mit all den Seelensachen "vorbei [ist], weil wir leicht auf ein verletztes Gehirn und
auf Krankheit schliessen. Es ist kein Zweifel, der Gegensatz von einer reinen unkörperlichen Seele
und einem Leibe ist fast beseitigt." (KSA 8, 38) Es wäre ja auch mehr als unwahrscheinlich, dass
Nietzsche auf einer seiner Passagen durch die Nervenheilanstalten und deren psychotechnische
Luna-Parks nicht auf einen Ruhmkorff, jenen legendären, direkt von der Induktionsmaschine
abgeleiteten Wechselstromgenerator, Zenit jedes Laboratoriums, gestossen, wenn nicht gar zwecks
Elektroschocktherapie mit ihm verkabelt worden wäre23. Um, in Folge, affirmieren zu können: Das
Nervensystem ist ein Stromkreislauf. Ein Nerv im Zeitalter des Experimentaldispositivs ist ein
Medium, das einen Wechselstrom, das heisst die endlose diskrete und selbstdekonstruktivistische
Alternation eines elektrischen und eines magnetischen Feldes implementiert. Und Gefühle sind
nicht länger Weihen und Wehen von Seele, Wesen, Innerlichkeit, Innigkeit. Gefühle sind
Impulsfrequenzen in afferenten Fasern. Gefühle sind radikal verzeitlichte Serien.
Frequenzereignisse. Gefühle sind operationalisierte Verdikte zur sinnlosen Reproduktion eines
traumatisch erfahrenen Signals. Gefühle sind letztendlich nichts als Schmerzen – z.B. die agonale,
dämonisch indifferente unterbrechungslose Serie von Unterbrechungen, das ostinate Pochen und
Pulsieren des berühmten Nietzschekopfschmerzs.
Die Frösche hat er in jedem Fall gesehen, die "'Reflexbewegungen' im Falle irgend einer plötzlichen
Schädigung und Gefährdung, von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine
wissenschaftliches Feld etabliert, das mit Seelen im Sinne von tiefem Wesen, Äthesie und geistgewirkter
Innerlichkeit hatte. Selbst in der Psychologie - von den Physiologen, die con brio Seelen- bzw. Nervenstränge an
Wechselstromgeneratoren und anderes Laborgerät anschlossen, gar nicht zu reden - wurde die Seelenanalyse
bereits als Nervenanalyse mittels der entsprechenden technischen Apparate fortgesetzt. Vgl. Holl (2002): S.
180ff, Vogt (1855) und Degen (1954).
16
Vgl. Holl (2002): S. 172f.
17
Vgl. Helmholtz (1870) S. 233: "Man hat die Nerven vielfach nicht unpassend mit Telegraphendrähten
verglichen......"
18
Freud (1999): GW XII, S. 9.
19
Vgl. Freud (1999): GW I, S. 511; GW II/III, S. 541-616; GW XIII, S. 29f, S. 60, S. 246-252 und S. 391.
20
Vgl. Freud (1999): GW X, S. 276-283; GW XI, S. 407-410; GW XI, S. 420; Vgl. auch Bitsch (2006): S. xxx
21
Bleuler (1916): S. 16.
22
Vgl. Fechner (1860): Bd. 2, S. 13.
23
Zum Ruhmkorffschen Wechselstromgenerator oder schlicht Ruhmkorff vgl. Siegert (1999): S. xxx und Kosack
(1903): S. 15f. Vgl. auch Bitsch (2006): S. 123f.
4
ätzende Säure loszuwerden" (KSA 5, 375). Die Reflexbewegungen jener Frösche, die zwecks
Inspektion ihrer Seelenaktivitäten mit ätzenden Chemikalien behandelt wurden oder die von Emil du
Bois-Reymond, inspiriert durch die Versuche seines Vorgängers Carlo Mateucci und angewiesen
durch seinen Lehrer Johannes Müller, an den auf Pages Induktionsspule zurückgehenden
Stromschneider angeschlossen wurden, einer Maschine, die den voltaischen Gleichstrom in eine
Serie fast dauerloser diskreter Impulse zerhackt, um sie so zu tetanisieren bzw. den Nachweis der
wechselstromartig zuckenden Konstitution der Froschseele, genannt "Nervenaktionsstrom", zu
führen.24
3. Wundt und Nietzsche
Die Seele – im Medienzeitalter der Experimentalisierung kein göttlich-überirdisches Sein mehr,
unstofflich, weihevoll, sakral in sich ruhend, sondern ein höchst profaner, neuronal lokalisierbarer
und induzierbarer Geist, ein ausgesprochen unruhiger Geist, ein im metronomischen Takt genau
jener chronometrischen Uhren und Messgeräte laufender Geist, die Wilhelm Wundt, von der
wissenschaftlichen Ausbildung her Physiologe, 1875 nach seinem nach Ruf als Professor für
Philosophie nach Leipzig25 dort in grossem Stil und vorbildlich für viele weitere PsycholaborGründungen auf der ganzen Welt aufgebaut hat.26 Das Forschungsfeld der mentalen Chronometrie
eröffnend, untersucht Wundt fortan den gesamten Bereich derjenigen neuronalen Aktivitäten, die
von der experimentellen Psychologie als Seelentätigkeiten adressiert werden - Perzeption,
Apperzeption, Aufmerksamkeit, Reminiszenz, Assoziation etc. Dabei geht es – wir befinden uns
schon weit jenseits der episteme der Repräsentation - weder Nietzsche noch Wundt um Sinn und
Bedeutung der jeweiligen Perzeptionen, Reminiszenzen, Assoziationen usf., sondern einzig und
allein um deren zeitliche Operationalität, um deren Takt – Rhythmen, dieses Schibboleth von
physiologischer Ästhetik und physiologischer Experimentalpsychologie gleichermassen.27 Denken,
Philosophieren, Schreiben, Existieren, alles wird von Nietzsche auf Rhythmen gebracht, immer
wieder und über sein ganzes Werk hinweg spricht es von Rhythmen, um zugleich von Rhythmen
skandiert zu werden, die sich im Optimalfall zu einer Choreographie fügen, in den Tanz der
Dionysos-Dithyramben eintreten. Die Gesammelten Werke scheinen überhaupt nirgends still stehen
zu können, überall und ohne Unterlass bebt es und webt und rüttelt vom charakteristischen
Nietzsche-Rhythmus. So wie die Seelen und Wesen, die Wundt zwecks Messung und Inspektion mit
den Medien seines Psycholabors kurzschliesst, und die jeden platonischen Urgrund unwiderruflich
vergessen haben:
"Unser Bewusstsein ist rhythmisch angelegt. Der Grund dieses Verhaltens liegt aber schwerlich in
einer spezifischen, bloss dem Bewusstsein zukommenden Eigenschaft, sondern er steht offenbar mit
unserer gesamten psychophysischen Organisation in engster Beziehung. Das Bewusstsein ist
rhythmisch angelegt. So folgen sich Herzbewegungen, Gehbewegungen in regelmässigen Rhythmen.
Unter ihnen empfinden wir zwar die Pulsation des Herzens im normalen Zustande nicht. Wohl aber
wirken schon die Atmungen, wenn auch nur als schwache Erregungen, auf uns ein, und bilden vor
allem die Gehbewegungen einen deutlichen erkennbaren Hintergrund unseres Bewusstseins." 28
Aber der Rhythmus ist nicht die einzige Losung, Schlüsselsignifikant, an dem sich Nietzsches
Partizipation an Wundts experimenteller Psychologie und den sie konstituierenden Medien ablesen
lässt. Vielmehr ist er vernetzt mit einem anderen Begriff bzw. Begriffspaar, das sich ebenfalls von
Wundt zu Nietzsche übertragen zu haben scheint. "Alle 'bösen' Handlungen sind motivirt durch den
Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des
Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse." (KSA 2, 96) "Begierde nach tiefem
Schmerz. [...] man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust.
(KSA 2, 344) "Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren
Schmerzen des höher cultivirten Menschen und der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die
Menge von Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso sehr reiche
Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste." (KSA 2, 227) "Das eigentliche Material
alles Erkennens sind die allerzartesten Lust- und Unlustempfindungen: auf jener Fläche, in die die
Vgl. Rothschuh (1969): S. 121 und Lenoir (1986/87): S. 9-12. Vgl. auch Siegert (2003): S. 349: "Der
experimentell hervorgerufene Starrkrampf ist eine psycho-physiologische Signatur des Wechselstromzeitalters."
25
Zu Wundts Denken und Leben vgl. Arnold (1980), Hiebsch (1977) und Holl (2002): S. 198-204.
26
Vgl. hierzu Pias (2000) S. 16. Zum weltweiten, von Ludwig und Wundt ausgehenden psychoinstitutionellen
Gründungboom vgl. auch Holl (2002): S. 182ff.
27
Vgl. Holl (2002): S. 194-205.
28
Wundt (1911) S. 3.
24
5
Nerventhätigkeit in Lust und Schmerz Formen hinzeichnet, ist das eigentliche Geheimniß: das, was
Empfindung ist, projicirt zugleich Formen, die dann wieder neue Empfindungen erzeugen. Es ist das
Wesen der Lust- und Unlustempfindung, sich in adäquaten Bewegungen auszudrücken: dadurch daß
diese adäquaten Bewegungen wieder andere Nerven zur Empfindung veranlassen, entsteht die
Empfindung des Bildes." (KSA 7, 448)
Eines der zentralen Ergebnisse der Wundtschen experimentellen Gefühlsanalyse ist: Alle komplexen
Gefühle wie Freude, Heiterkeit, Sorge, Zorn, Furcht etc. lassen sich in drei emotionale Grundpaare
zerlegen: Lust und Unlust, Spannung und Lösung, Erregung und Beruhigung, und umgekehrt können
aus diesen elementaren Gefühlspaaren alle höherstrukturierten Gefühle künstlich erzeugt werden.
Vorstellungen, Bedeutungen, Gefühle, früher beheimatet im logozentrischen Hoheitsbereich und
ausgezeichnet durch Ganzheit und Unantastbarkeit gegenüber jedem Versuch profaner
positivistischer Erdung, werden durch analytische Reduktion auf die kurz unterhalb der
Wahrnehmungsschwelle laufenden Elementarseelenoperationen Lust/Unlust, um ihre hieratisch
unergründbare Tiefe gebracht.29
4. Repräsentation vs. Übertragung
Sehr viel expliziter als Wundt hat Nietzsche diese seelische Lust/Unlust-Impulsserie, aus der via
metaphorischer Überdeterminierung alle weiteren Potenzen von Vorstellung, Bedeutung, Gefühl
hervorgehen, als medialen Verlaufsprozess erfasst und dargelegt. Die Stelle ist berühmt und sie
wiederholt sich, sie insistiert in verschiedenen Versionen im gesamten Werk30. Eine der vielen
Variationen:
"Das 'Ding an sich' (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner
ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge
zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz
zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite
Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere
und neue. [Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des
Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die Chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt,
ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen,
was die Menschen den Ton nennen, so geht es uns allen mit der Sprache.] Wir glauben etwas von
den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen
doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht
entsprechen. Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das räthselhafte X des Dings an sich einmal
als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der
Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der Mensch der
Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus
Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge." (KSA 1, 879)
Empörung, Erschütterung in mittleren Graden und Schlimmeres hätte sich ausgebreitet unter den
Geistern des abendländischen Logozentrismus, in der episteme der Repräsentation. Denn ineins mit
dieser Demontage des klassischen Zeichenmodells entweiht Nietzsche das 'Ding an sich' , das,
zusammen mit dem dazugehörigen idealistischen Bewusstseinskonzept, dieses Modell schliesslich
apriorisch transportieren und versichern sollte: die Bedeutung, jene sakrosankte Bedeutung des
Transzendentalsignifikats, die um Himmels und des Überlebens der klassischen episteme willen aus
dem Wesen der Dinge und bitte nicht aus Wolkenkukuksheim stammen sollte31. In aller Kürze zu
Vgl. Holl (2002): S. 198-204. Natürlich darf an dieser Stelle ein Verweis auf Freuds Lust-Unlustprinzip, das
ebenfalls zumindest teilweise durch den experimentalphysiologischen Diskurs formatiert wird, nicht fehlen.
Vgl. hierzu Freud (1999): GW II/III, S. 579-610; GW XI, S. 70f und S. 369-389; GW XIII, S. 3-7, S. 19f, S. 29-37, S.
67-69 und S. 249- 375.
30
Vgl. z.B. KSA 7, 454 und 490.; KSA 1, 878f.
31
Vgl. hierzu Derridas Dekonstruktion des an das Zeichenmodell der Repräsentation gebundenen
abendländischen Logozentrismus: Derrida (1993): S. 54-60. In ähnlicher Weise legt Foucault im Konzept der
reduplizierten Repräsentation die Komplizität des klassischen Zeichens mit dem idealistischen Bewusstsein dar.
Das für die episteme der Repräsentation bestimmende Schema sieht eine Dualität von Erkenntnissubjekt und
Erkenntnisobjekt vor. Ein solides und unveränderliches Erkenntnissubjekt beobachtet und beschreibt sein
Objekt, seinen wissenschaftlichen Gegenstand. In diesem Erkenntnissubjekt identifiziert Foucault unschwer das
cartesische Subjekt oder Bewusstsein, sich auszeichnend durch Selbstgewissheit und Selbsttransparenz,
welches in seinem Akt der Objektivierung des Gegenstands nichts geringeres vornimmt als eine Substitution.
Das Cogito ersetzt den realen, als solchen unergründbaren, unsagbaren und unvorstellbaren Gegenstand durch
29
6
diesem Zeichenmodell, das Bedeutungen und immaterielle Seelenstimmen hochhält von Port-Royal
bis Saussure und das von Derrida, Foucault, Lacan, allesamt passionierte Nietzsche-Leser, gründlich
untersucht und dekonstruiert worden ist. Zwei Teile bilden das klassische Zeichen - das Signifikat
bzw. die Bedeutung und der diese Bedeutung repräsentierende Signifikant -, und nichtsdestoweniger
ist es eine heilige Einheit. Erstens. Und zweitens wird es (und mit ihm die ganze Welt) monopolisiert
von genau dem grossartigen und luziden Bewusstsein der idealistischen Ästhetik, dem Nietzsche mit
seiner physiologischen Ästhetik Strom und Licht abdrehen will. Die Einheitlichkeit des Zeichens wird
bedingt und konsolidiert durch die Untrennbarkeit beider Teile, Signifikat und Signifikant – Saussure
vergleicht sie mit den beiden Seiten ein und desselben Blattes Papier: "man kann die Vorderseite
nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden"32 -, und in dieser Untrennbarkeit,
Unzerreissbarkeit erkennen Derrida und Lacan das eigentliche Haupt- oder Transzendentalsignifikat
der episteme der Repräsentation33: Natur, Seele, Logos oder was auch immer, jedenfalls nichts, was
im entferntesten in physiologischen Prozessen, hämatologisch oder endekrinologisch, in
Blutandrängen oder auf neurologisches Unheil deutenden Anisokurien materialisiert werden kann.
Aus diesem (dekonstruktivistischen) Blickwinkel zeigt sich, dass – um ein Begriffspaar von Georges
Bataille anzuwenden - die vordergründig dualistische Struktur des klassischen Zeichenbegriffs in
Wahrheit monistisch bestimmt ist34: Das Postulat der Untrennbarkeit stellt, zusammen mit der
Forderung nach Arbitrarität, die Dominanz der Bedeutung über den auf eine rein repräsentative
Funktion begrenzten Signifikanten sicher.35 Nur wenn der Signifikant, in seiner Funktion reduziert
auf ein rein instrumentelles Repräsentationsmodul, der jeweiligen einen und einzigen und nur dieser
Bedeutung unauflöslich verkettet ist, kann ein für das Zeichenmodell der Repräsentation und das
durch diese formatierte idealistische Bewusstseinskonzept tödlicher Krisenfall verhindert werden.
Nämlich jener von Saussure, dem letzten Apostel in logozentrischer Nachsaison, als Monstruosität
seine eigene Vorstellung von diesem Gegenstand. Die apriorische Voraussetzung dieser Erkenntnistechnik
jedoch bildet wiederum das Zeichenmodell der Repräsentation: Alle potentiellen Gegenstände der Erkenntnis
müssen, um überhaupt erst solche werden zu können, dem binären Zeichenmodell der Klassik bzw. des
Logozentrismus unterstellt werden. Die Folge ist eine durch das Signifikat dominierte untrennbare Verknüpfung
von Signifikant und Signifikat. Die reale Welt wird durch ein von der Bedeutung und vom Bewusstsein
dominiertes Zeichensystem gefiltert, und alles was durch diesen Filter fällt, wird fortan nicht mehr zur Welt
gehören, was nicht benennbar und vorstellbar ist, ist fortan nicht mehr existent. Die klassische episteme ist
konstituiert durch eine völlige Transparenz des Zeichensystems auf die Welt hin und darüber hinaus durch eine
Kongruenz des Seins und des Seins als Wort der Sprache - das Verb sein sichert die ontologische Überbrückung
von Sprache und Denken. Im Sinne einer reduplizierten Repräsentation repräsentiert das Verb sein zugleich das
Sein der Sprache bzw. der Repräsentation und (in Form einer attributiven Verbindung) das Sein aller anderen
Dinge. So kommt es, dass das klassische Subjekt die Welt in der Vorstellung zu imperialisieren vermag: Nur das,
wovon es eine Vorstellung und eine diese Vorstellung abbildenden Namen hat, hat eine ontologische
Berechtigung, alles andere wird ausgeblendet, eskamotiert. Ineins damit tritt jedoch eine perfekte Verkennung
dieser apriorischen oder unbewussten Mechanismen ein. Das klassische Cogito ist erstens blind gegenüber dem
der Bruch, der fundamentalen Unterschiedenheit zwischen der Existenz des realen Gegenstand und der
Existenz dieses Gegenstands als eine durch einen Signifikanten fixierte imaginäre Bedeutung im begrenzten
Radius seines Bewusstseins. Und zweitens ist es blind gegenüber der Tatsache, dass die Wahrheit dieser
Gegenstände nicht in einer metaphysisch fundamentierten und beglaubigten Bedeutung liegt, sondern vielmehr
in der Existenz des reinen und bedeutungslosen Signifikanten selbst. Denn nur dieser Signifikant garantiert die
Identität des vorgestellten Gegenstands mit sich selbst; nur aufgrund der Tatsache, dass die imaginäre, als
solche volatile Vorstellung mit einem ganz bestimmten materiellen Signifikanten verknüpft wird, ist eine
Kontinuität und Identität der Dinge der Welt in der Zeit möglich. Vgl. Foucault (1974): S. 98-102. Vgl. auch
Lacan (1978): S. 81f und S. 85-87.
32
Saussure (1967): S. 134.
33
Vgl. Derrida (1993): S. 71-73; Lacan (1975): S. 21-29; Lacan (1990): S. 160f. Vgl. auch Bitsch (2007): S. 272279.
34
Bataille entwickelt den für die Geschichte des abendländischen Denkens prägenden Gegensatz eines
monistischen und eines dualistischen Gedankenkreises ausgehend von der Gnosis. Vgl. Bataille (1986).
35
Vgl. Derrida (1993): S. 53-75; Lacan (1975): 17-30; Bitsch (2007). Nietzsche konterkariert mit einem quasievolutionistischen Konzept die in der klassischen Forderung der Arbritrarität implizierte metaphysische
Notwendigkeit der Beziehung eines ganz bestimmten Signifikanten auf ein ganz bestimmtes Signifikat: "Selbst
das Verhältniss eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde ist an sich kein nothwendiges; wenn aber
eben dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist, ja
zuletzt bei der gesammten Menschheit jedesmal in Folge desselben Anlasses erscheint, so bekommt es endlich
für den Menschen dieselbe Bedeutung, als ob es das einzig nothwendige Bild sei und als ob jenes Verhältniss
des ursprünglichen Nervenreizes zu dem hergebrachten Bilde ein strenges Causalitätsverhältniss sei; wie ein
Traum, ewig wiederholt, durchaus als Wirklichkeit empfunden und beurtheilt werden würde. Aber das Hartund Starr-Werden einer Metapher verbürgt durchaus nichts für die Nothwendigkeit und ausschliessliche
Berechtigung dieser Metapher." (KSA 1, 885)
7
gefürchteter36 und von Nietzsche als Tanz stimulierter Fall, in dem der Signifikant in Derridas Reich
der Dissemination eintritt, seine eigenen Wege zu gehen und zu tänzeln beginnt, um in den Bereich
der Bedeutungen zu interpolieren und deren Herrschaft unterminieren. Und genau das passiert,
wenn man den Zeichenprozess nicht länger mit der immateriellen Bedeutung, sondern mit in
"Nervenreizen" materialisierten Signifikanten beginnen lässt, die in Folge keineswegs das "Ding an
sich" oder "die reine folgenlose Wahrheit" repräsentieren, sondern vielmehr in
Metaphernoperationen "Bäume, Farben, Schnee und Blumen" und dann, ungezügelt und nicht länger
mit der einen jeweiligen Bedeutung untrennbar vernäht, womöglich eine diaphane Eisprinzessin, ein
nervöses Elektron, einen Busstop am Äquator, Arien von Purcell und den Code einer Liebe, etwas
Lapislazuliblaues, Bromazanil 6 und Neuschwanstein als Eisbombe generieren.
Es ist nicht nur legitim, sondern naheliegend, Nietzsche an diesem Punkt, an dem er das
repräsentationslogische Zeichen mit der Figur der Metapher destruiert, mit dem überzeugten
Nietzsche-Leser Lacan zu erläutern, der über 50 Jahre später den unbewussten Tanz der
Signifikanten nicht auf dieselbe, aber auf eine in den entscheidenden Punkten vergleichbare Weise
gegen das Signifikat des imaginären Bewusstseins ausspielt. Genau wie Nietzsche befördert Lacan
die Ablösung von dem idealistisch-repräsentationslogischen Ideal des Primats eines Urbilds,
Signifikats oder Begriffs und kehrt diese Beziehung nun dahingehend um, dass das Signifikat nurmehr
zum "Niederschlag" einer vorgängigen, in reinen Signifikanten ablaufenden metaphorischen Prozedur
wird.37 Entsprechend hebt Nietzsche hervor, "dass auch der Begriff, knöchern und 8eckig wie ein
Würfel und versetzbar wie jener, doch nur als das Residuum einer Metapher übrig bleibt, und dass
die Illusion der künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter so
doch die Grossmutter eines jeden Begriffs ist."(KSA 1,883) Genau wie bei Nietzsche wird Lacans
Metapher als Algorithmus zur Produktion von Bedeutung nicht mehr an der Wahrheit oder wahren
Bedeutung des 'Dings an sich' ausgerichtet, der dann ein Signifikant als reines
Repräsentationsmedium subordiniert wäre, sondern vielmehr arbeitet Lacan wie Nietzsche mit der
Vorstellung von Übersetzungen oder Transfigurationen, die auf der Ebene des Unbewussten ihren
Anlauf nehmen, also dort, wo Signifikanten im Realen des Körpers laufen wie Nietzschesche
Nervenreize. Ein unbewusster Signifikant, so Lacans Metaphernformel, wird durch einen anderen
Signifikanten ersetzt, welcher dann in einem folgenden Schritt als Signifikat auf die
Bewusstseinsebene übertragen wird, jedoch mit der unbewussten Kette verbunden, d.h. vom
Unbewussten her determiniert bleibt.38 Das Subjekt Lacans bedient sich nicht mehr eines
Signifikanten, um damit ein bestimmtes Signifikat zu repräsentieren, sondern um sein unbewusstes
Begehren zu be-deuten, zu verschlüsseln, zu übertragen. Und Nietzsches Subjekt ist in seinen Tanzund Transfigurationsakten nicht durch ein platonisches Wissen um das Urbild oder Ding an sich
beseelt, um dieses so wie die Wahrheit aller anderen Dinge der Welt in Zeichen zu repräsentieren,
sondern wird vielmehr motorisiert durch einen physiologisch in Form von Nervenreizen
prozessierenden Willen zur Übertragung, der sich, weil das Ding an sich bei Nietzsche wie bei Lacan
die Unübertragbarkeit selber ist, realisiert in metaphorischen Sprüngen, bei denen Signifikanten,
leichtfüssige, promiskuitive, pudrige, duftige und fröhlich aus jeder repräsentativen Bindung an die
eine Bedeutung entfesselte Signifikanten "Bäume, Farben, Schnee und Blumen" und dann womöglich
Revolver-Penny und Calamity-Jane, kandierte Positronen, Erinnerungen an die Zukunft, Venedig im
Winter und den geteilten Saal, E = mc², Twin Peaks und Apriorismen unter Kartoffel-KorianderKruste erzeugen.
Aber das ist als Erläuterung der berühmten Passage, ihrer zahlreichen berühmten Variationen, noch
nicht hinreichend. Das reicht noch nicht. Was genau ist diese Unübertragbarkeit bzw. "das
räthselhafte X des Dings an sich"? Es ist der Prozess selber, der im Körper des Subjekts ablaufende
Prozess – und genau hier ereignet es sich, genau hier springt es in die Augen, dass und wie das
Subjekt bei Nietzsche zum Medium wird – der metaphorischen Übertragung und Übersetzung, der
Ebenenwechsel von Nervenreizen zu Lauten und Klängen und weiter zu Farben und Formen und
Bildern und Aromen zwischen Patchouli und Chloroform, Fallkrisen und il n’y a pas d’amour
heureux. "Das räthselhafte X des Dings an sich", selbst unübertragbar, ist der Prozess der
Übertragung: "Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das räthselhafte X des Dings an sich einmal
als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus." Bei Nietzsche ist das Subjekt zum Medium seines
eigenen Schmerzes und ineins seines Willen zur Übertragung dieses Schmerzes in akustischen und
optischen Signifikanten geworden, Belladonna, Veronal, Totenglocken, kohlendioxidgraue Sicht,
Vgl. Derrida (1993) S. 65.
Vgl. Lacan (1975): S. 23f, 29 und 144.
38
Zu Lacans Konzept der Metapher vgl. Lacan (1973): S. 212f; Lacan (1975): S. 32, S. 40ff und S. 90; Lacan
(1978): S. 261f und Lacan (1990): S. 160. Vgl. auch Bitsch (2001): S. 141-149).
36
37
8
Signifikanten, die, weit jenseits der Repräsentation eines ganz bestimmten Was, vielmehr nur in
immer neuen Melodien und Kaleidoskopien das reine Dass chiffrieren. Das Dass des Schmerzes. Das
Dass des Existierens. Das Dass des Medium-Seins. Am Anfang kein Urbild, so sanft, sakrosankt und
ätherisch, wie nur körperlose Wesenheiten, Schleier, Feenhände, über eine Seele dahinstreichen
können. Am Anfang ein physiologischer Reiz, traumatisch à la Freud, schmerzhaft, blitzhaft,
blickzerstörend, mit dem das Sein als Medium operationalisiert wird, und in Folge ist es nicht, wie in
Platons Anamnese, die Seele, sondern der Körper, der nicht mehr vergessen kann..... "Vielleicht
kann der Mensch nichts vergessen. Die Operation des Sehens und des Erkennens ist viel zu
complicirt, als daß es möglich wäre, sie völlig wieder zu verwischen, d.h. alle Formen, die einmal
vom Gehirn und Nervensystem erzeugt sind, wiederholt es von jetzt ab so oft. Eine gleiche
Nerventhätigkeit erzeugt das gleiche Bild wieder."(KSA 7, 447)
5. Entladung und Signaltechnik
Die Hauptbeschäftigung des logozentristischen Bewusstseins, die Repräsentation eines Was, wird bei
Nietzsche dispensiert zugunsten der Aktivität eines unbewussten Willens, der wieder und wieder
und in immer neuen Metaphern das reine Dass seiner operationalen Konstitution, eines "höchst
complicirtes Letzten in der Natur.Nerven vorausgesetzt."(KSA 7, 462), überträgt. Oder auch zur
Entladung bringt. Denn wenn Nietzsches Metapher auch noch nicht so bedingungslos
informationstheoretisch funktionieren kann wie diejenige Lacans, so entspricht sie doch den
aktuellen technischen Standards ihrer Zeit. Und in dieser Hinsicht war Nietzsche, wie sich im
Kontext der Psychotechnik bereits gezeigt hat, stets auf der Höhe.
1881 lässt er sich von Peter Gast Robert Julius Mayers Mechanik der Wärme nach Genua schicken.
"Die Spuren der Mayer-Lektüre durchziehen die nachgelassenen Fragmente vom Frühjahr bis zum
Dezember 1881."39 Nietzsche liest die Schriftensammlung weniger auf die Resonanzen des
verkannten Entdeckers des Ersten Thermodynamischen Hauptsatzes hin, sondern konzentriert sich
auf Mayers späten Text Über Auslösung40. Nietzsche destilliert damit diejenigen Anteile des Buches,
die der im Energieerhaltungssatz implizierten Proportionalität von Ursache und Wirkung bereits
massiven inneren Widerstand entgegensetzen."Es giebt für uns nicht Ursache und Wirkung, sondern
nur Folgen (‘Auslösungen’) NB." (KSA 9, 472) "Man schließt aus großen Kraft-Auslösungen auf große
Ursachen. Falsch!" (KSA 9, 492) Nietzsche liest nicht die 1842 erschienenen Bemerkungen über die
Kräfte der unbelebten Natur, in denen Mayer aus schiffsärztlicher Tropenerfahrung heraus causa
aequat effectum: eine Ursache ruft eine bestimmte Wirkung hervor, diese ist wiederum Ursache für
eine andere Wirkung, ohne dass es je endet und versiegt, also die Religion von Thermodynamik I
deduziert, sondern er liest den Text desjenigen, den man nach einer Depersonalisationserfahrung,
die ihn in die geschlossene Psychiatrie geführt hat, logisch legitim als den zweiten Mayer
bezeichnen kann41. Die Nervenklinik (ganz sicher mit integriertem Psycholabor) ist der Ort, an dem
sich Mayer mit seinem ersten Selbst und seiner ersten Theorie überwirft und stattdessen eine
Vgl. Siegert (2003): S. xxx. Zu Nietzsches Mayer Rezeption vgl. auch Bauer (1984): S. 218.
Vgl. Mayer (1978b).
41
Während seines Dienstes als Schiffsarzt in den Tropen stellte Mayer Beobachtungen an, denen zufolge das
venöse Blut der Matrosen eine hellere Färbung aufweist als im mitteleuropäischen Klima. Mayer führte dies
darauf zurück, dass Oxydationsprozesse im Organismus in tropischen Gefilden verlangsamt ablaufen, weil ein
Teil der vom Körper benötigten Wärme von der Umwelt bereitgestellt wird. Diese Beobachtung gibt den ersten
Anstoss zur Formulierung des Energieerhaltungssatzes. Causa aequat effectum, so die Zauberformel des Ersten
Thermodynamischen Hauptsatzes: Eine Ursache induziert eine bestimmte Wirkung, und diese ist wiederum
Ursache für eine andere Wirkung. Diese Wirkungskräfte erachtet er als quantitativ unzerstörbare und qualitativ
mutative Objekte. Der Erste Thermodynamische Hauptsatzes relativiert alle Gegenstände oder Erscheinungen
innerhalb der äusseren Wirklichkeit dahingehend, dass er sie nur als unterschiedliche Materialisationsformen
und Transformationsstufen einer universalen Energie betrachtet. (Vgl. Mayer (1978a): S. 33ff; vgl. Serres (1995)
S. 44f.) Mayers Arbeiten werden zunächst von der physikalischen Wissenschaft herabgewürdigt oder ignoriert.
Erst nachträglich hat Tyndall 1862 in einem Vortrag an der Royal Institution Mayer als den eigentlichen
Entdecker des Energieerhaltungssatzes rehabilitiert, ohne dadurch dem mittlerweile internierten Mayer noch
Recht verschaffen zu können gegenüber dem bis heute als Begründer von Thermodynamik I verehrten Hermann
von Helmholtz, der fünf Jahre nach Mayer und zwei Jahre nach Joules Messungen, nämlich 1847 in Über die
Erhaltung der Kraft zu seinem Auditorium spricht: "Kräfte sind Ursachen; mithin findet auf dieselben volle
Anwendung der Grundsatz: causa aequat effectum. Ursachen sind (quantitativ) unzerstörliche und (qualitativ)
wandelbare Objekte." (Helmholtz (1882) S. 12f). Mayer hingegen spricht, mittlerweile wiegesagt in der
Nervenklinik, zu seinen Psychiatern nur noch in manischem, aber hellsichtigen Stil von 'Auslösungen'. Zum
Energieerhaltungssatz vgl. Simonyi (1990): S. 366-369 und Kassung (2001): S. 132-172 (speziell zu Mayer S. 150172).
39
40
9
medienapriorisch durch das Telegraphenrelais fundierte Logik der "Auslösung" ausruft42, die die
gesamte quietistische Ontologie von Ursache-und-Wirkung subvertiert. "Derselbe Mayer, dem die
Tropen die Wahrheit schenkten, die Helmholtz zum Propheten einer universalen Disziplin Physik
machte, die auf der metaphysischen Gleichung Ursache = Kraft = Gesetz beruhte, schrieb 35 Jahre
später also einen Text, der das Grundprinzip einer nicht dem Ursache-Wirkungs-Prinzip
unterstehenden Physik abhandelte." 43 Die Beispiele, die Mayer für sein Prinzip der Auslösung
vorbringt: der elektrische Funke als Auslöser der Knallgasexplosion und der Schuss lassen sehr nach
Art einer physiologischen Ästhetik in die Erfahrung eintreten, mit welchem Impetus das
Relaisprinzip in dem durch den Transzendentalversicherungskonzern Kausalität und die Ethik der
Konserve regulierten Welthaushalt von Thermodynamik I eintraf 44. Eine solche Detonation, ausgelöst
durch eine minimale Signalenergie, die in kein Ursache-Wirkung-Verhältnis hinsichtlich der von ihr
erzielten Resultate (gegenständlich betrachtet: Transzendentalpuschel und Konservendosen fliegen
durch die Luft) mehr zu bringen ist, musste natürlich Nietzsches Leidenschaft entfachen.
Ganz davon abgesehen, dass sich Mayers in der Nervenheilanstalt ereignende Metanoia von der
Energieerhaltung zur Auslösung perfekt mit Nietzsches genealogischer Methode konjugieren lässt,
findet Mayers späte Theorie in vieler Hinsicht Eingang in die physiologische Ästhetik. So stellt
Nietzsche klar, dass Kants und Schopenhauers "Erkenntniß a priori" im Zeitalter der Auslösung
inkommensurabel werden wird mit metaphysischen Glaubenssätzen, unter die auch der "Glauben an
Ursache und Wirkung" subsumiert werden muss, und darum neu angebunden und verbunden werden
müssen mit dem "Gefühl des Willens" (KSA 9, 661f). Dieser Wille muss jedoch streng demarkiert
werden von dem mit einem autonomen und einheitlichen Bewusstsein verknüpften Voluntarismus
des Idealismus. Vielmehr handelt es sich um einen sich physiologisch realisierenden und
unbewussten Willen, der einer das Bewusstsein unterlaufenden Nerven(-technik) folgt, so wie sie im
Experimentaldispositiv an der Tagesordnung ist. So macht beispielsweise Helmholtz am
Galvanometer, dem Gerät zur Messung von Nervenlaufzeiten in animalischen Muskelfasern, eine Art
Freudsche Erfahrung des Unbewussten zweiter Art.45 Uneinholbar entzieht sich die Geschwindigkeit
der Laufzeit des Signals im Nerven der bewussten Wahrnehmung, womit cartesische Seinsgewissheit
und Seinstransparenz, jede Möglichkeit eines selbstreferentiellen Denkaktes, in die Unmöglichkeit
fallen: "Der Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die Operationalität
des unbewussten Willens, bleibt dem Bewusstsein verschlossen."46 Analog dazu setzt Nietzsche den
medienapriorisch durch das Relais- oder Auslösungsprinzip bestimmten und an den
Tetanisiermaschinen der Psycholabors trainierten Willen auf direkten Konfrontationskurs zu allen
Waren Dampfmaschinen, Homöostaten und Transformatoren die paradigmatischen Gestelle der
Thermodynamik, so ist das Telegraphenrelais das typische Modul der Nachrichtentechnik. Das Telegraphenrelais
markiert einen Paradigmenwechsel, den Umbruch vom Schlusskapitel der Ontologie zum Anfangskapitel der
Operationalität. Die Thermodynamik bildete das letzte wissenschaftlich-ontologische Konzept aus, das ein
substantielles Substrat der Dinge, eine universale Substanz, eine Materie supponierte. Dann aber führte die
beginnende Nachrichten- und Kommunikationstechnik, in erster Linie die Telegraphie, das Telegraphenrelais
ein. Das Relais brachte den bahnbrechenden Schritt in die Epoche der Information, sofern sich mit ihm das
ursprüngliche Signal übertragen liess, aber nicht in Form derselben ursprünglichen Energie. Technisch basiert
das Telegraphenrelais auf dem Prinzip der Induktionsspule, des Mediums des Wechselstroms, der Signale
fortpflanzt und übertragt. Was jedoch das Telegraphenrelais gegenüber der einfachen Induktionsspule
auszeichnet, ist die Tatsache, dass die Ansprechschwelle des Relaisankers, der vom Magnetfeld, das das
ankommende Signal induziert, angezogen wird und dadurch den Ortsstromkreis schliesst, fast bis auf Null
reduziert werden kann. Damit war es möglich geworden, ein und dasselbe ursprüngliche Signal über weite
Strecken fortzupflanzen, dies jedoch in Form des Relais’ mittels eines Minimums an Übertragungsenergie. Die
Differenzierung zwischen Signal und Energie, deren technisch-apriorische Möglichkeitsbedingung das Relais
darstellt, läuft auf eine Demontage der auf Proportionalität basierenden Dampfmaschine, auf eine Demontage
der von dieser Dampfmaschine motorisierten Wirklichkeit hinaus. Der Dampfmaschinenweltmotor wird abgelöst
durch eine äusserst subtile elektrische und kurz darauf elektronische Apparatur, die nicht länger substantielle,
sondern die immateriellen und virtuellen Welten der Informatik generiert. Zum Telegraphenrelais und den
durch dieses bedingten Paradigmenwechsel vgl. Siegert (2003): S. 369-382. Vgl. auch Horwitz (1929), Beck
(1967): S. 131-177 und Wiener (1963): S. XXX.
43
Siegert (1993): S. XXX.
44
Zu Ethik ond Ontologie dieses Haushalts vgl Siegert (2003) S. 371: "Die Natur ist ein Nullsummenspiel, Gott
ein Buchhalter. Alles was irgendwo gewonnen wird, geht anderswo verloren, alles was irgendwo verloren geht,
wird anderswo gewonnen. Im Gesamtsystem aller Irgend- und Anderswos geht nichts verloren und wird auch
nichts gewonnen." Vgl. Wiener (1963) S. 74: "Die Erhaltung und die Abnahme der Energie sind die herrschenden
Grundsätze des Tages, und das Objekt der Begierde ist eine glorifizierte Wärmemaschine, die irgendeinen
brennbaren Stoff verbraucht anstatt des Glykogens der menschlichen Muskeln." Vgl. auch Vogl (2002): S. 47ff.
(xxx überprüfen)
45
Helmholtz (1883) Bd. II S. 873.
46
Ebd.
42
10
durch die Eudämonie des Ursache-Wirkung-Prinzips mechanisierten Gedankenkreisen von
Transzendentalphilosophie bis Thermodynamik I. Aus dem Blickwinkel der physiologischen Ästhetik,
aus dem Blickwinkel nietzscheanischen Perspektivismus muss das Prinzip Ursache-und-Wirkung
relativiert werden als ein Phantasma, das das einheitliche leibseelische Subjektkonzept unterstützt.
Und eine Ausserkraftsetzung des Ursache-Wirkung-Prinzips konterkariert dieses Konzept nach Art
einer Freudschen Dezentrierung des Subjekts und ersetzt es durch das Konzept eines unbewussten
Willens, der sich als ein Körper-Medium erweist, in dem Nervenimpulse metaphorisch Laute, Klänge,
Farben, Formen, Bilder und Aromen zwischen Niewiederkehr, leichenblauem Anathema und the
sleep of reason, weiter "Bäume, Farben, Schnee und Blumen" und dann womöglich ein leichtlebiges
Silberatom, eine ferne Schönheit im Anonyme-Park-Avenue-Lady-Stil, rauschende Feste, verbotene
Früchte und ein ungewisses Etwas, diskrete Irrfahrten, Hurst-Rauschen, Melancholie im Brutkasten
und eine Neurose auf Krustentier-Brandale mit Ingwer übertragen.
Hatte Nietzsche sich, wie oben erläutert, bereits 1873, die Verhältnisse von Reizen, Dingen, Bildern
und Worten als metaphorische Übersetzungsleistungen konzipierend, auf einem zur Rückkehr nicht
mehr geeigneten Weg vom Denk- und Zeichenprinzip der Repräsentation entfernt 47, so wird die
Opposition 1880 nach der Mayer-Lektüre absolut: Die Verhältnisse von Wort, Vorstellungsbild, Wille
und Handlung werden nun explizit als Signalkette beschrieben. 48 1880, nachdem die 1873 begonnene
physiologische Erkenntniskritik zu einer physiologischen Willenskritik eskaliert ist, wird das
Zeichenmodell der Repräsentation endgültig und mit Hammerdynamik vernichtet.
Unmissverständlich macht Nietzsche klar, "daß ein Wort oft ein Signal ist, keine Ursache, zur
Bewegung". (KSA 9, 289f) Die dionysos-dithyrambischen Bewegungen und Tänze des Philosophen
werden nicht länger bedingt, fundiert und notfalls aufgefangen durch metaphysische Ursachen,
sondern sie werden durch Signale ausgelöst wie die katatonischen Triller, Tremolos und
Zitterpartien der an den Apparaten des Psycholabors hängenden Versuchspatienten.
Ein kleines PS am Ende dieses Kapitels. Nietzsche hat nicht nur den späten Wahnsinns-Mayer genau
studiert, sondern mindestens ebensoviel Zeit und Leidenschaft in die Lektüre von Charles Féré
investiert, der Assistent Charcots und spätere Leiter der anatomischen Pathologie an der Clinique
des maladies du système nerveux. Im Jahr 1887 erscheint Férés Sensation et mouvement, in dem er
Faradays Induktion im Diskurs der experimentellen Psychologie und Psychiatrie installiert und das
Phänomen induction psycho-motrice einführt49, das in exakter Korrelation steht mit Nietzsches antirepräsentativischer Theorie des Zeichens als physiologisch wirkendes, impulsauslösendes Signal. Am
deutlichsten ist der Niederschlag der Spuren, die sich Féré lesend in Nietzsche eingeschrieben
haben, in seiner späten Restitution der mit der Geburt der Tragödie versäumten ästhetischen
Theorie sichtbar: Das frühere Konzept der Ansteckung wird nun – konsequent induktionselektrisch
und psychophysiologisch - in das Konzept der Induktion verwandelt.50
6. Medien
Die Belege liessen sich erweitern, die Quadrille zwischen den Diskursen amplifizieren – aber die
Richtung ist klar, die Übertragung hat stattgefunden, die physiologische Ästhetik hat durch das
tetanische Bibbern und Beben am Ruhmkorff und all die anderen paroxysmalen oder sonstwie
abenteuerlichen Nerven-Geschehnisse an all den anderen Experimentiergeräten des Psycholabors
zumindest an Schwung und Rückenwind gewonnen, was den Widerruf "jener gänzlich irrthümlichen
Scheidung von 'Geist' und 'Körper' [...], die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie
liegt", angeht. Es ist oben bereits ausführlich abgelichtet worden: In der Psychophysik wird die Seele
zur Nervenaktivität und der Körper an Kymographen, Pneumographen, Galvanometer,
Tachistoskope, Schlitteninduktorien, Stromschneider und Ruhmkorffsche Wechselstromgeneratoren
angeschlossen. Die Seelen von Fröschen und Menschen bestehen nicht in der Tiefe ihres Was,
sondern in der diskreten Waslosigkeit von Frequenzen und Oszillationen, eskalierend im Frenesie,
Tetanus oder den Insignien einer Kultur, die Nietzsche mit folgenden Worten beschreibt: "In der
Nachbarschaft des Wahnsinns. — Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die
ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte die
allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch
47
In dieser vor der Mayer-Rezeption situierten Phase erodiert Nietzsche Kausalität und Repräsentation mit Hilfe
von Johann Julius Baumanns Assoziationsbegriffs, der sich als Äquivalent zur Auslösung betrachten lässt. Vgl.
Siegert (2003): S. xxx.
48
Vgl. Siegert: S. xxx:
49
Féré (1900): S. 13.
50
Vgl. KSA 13, 296-298 und 409f; vgl. auch Siegert (2003): S. xxx
11
sind und fast jede ihrer grösseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist." (KSA 2,
204) Laborgeräte, Körper und ihre physiologischen Schnittstellen werden verbunden zu Medien51, das
alte beseelte Körperbild wird suspendiert zugunsten der Entwürfe und anthropologischen Modelle
einer neuen - operationalen – Ontologie, die nicht auf der Dualität zweier statischer Entitäten,
Seele und Körper, Subjekt und Objekt, res cogitans und res extensa basiert, sondern Seele und
Körper als ein und denselben, physiologisch verifizierbaren Vorgang, als ein Prozessieren von
Nervenreizen begreift, das, jede bewusste Wahrnehmung unterlaufend, imaginäre
Bedeutungseffekte wie klassische Cogitos und "Bäume, Farben, Schnee und Blumen" überträgt. Im
Experimentaldispositiv wird die Vorzeichnung und mehr noch: die technische Vorschrift darauf hin
gegeben, wie in Nietzsches physiologischer Ästhetik klassische Bewusstseinsleistungen der
Repräsentation in neurophysiologisch implementierte, also mediale Übertragungsprozesse
verwandelt werden: "Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten." (KSA 1, 879)
So weit ist die Verbindung installiert, aber ist das Subjekt Nietzsches, gezeichnet durch "die grösste
und unheimlichste Erkrankung [...], von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das
Leiden des Menschen am Menschen, an sich" (KSA 5, 324), darum schon gleichzusetzen mit den
faradaysierten und nervlich stroboskopierten Objekten, die Helmholtz & Co in ihren distanziertkühlen Forscherblick nehmen? Je nach Krisenzustand der Kreatur, die da grad am Galvanometer,
Stromschneider oder Ruhmkorff hängt, wäre eine Assoziation im Stile Nietzsches sicherlich
lagerecht:
"Hier ist Krankheit, es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen
gewüthet hat: — und wer es noch zu hören vermag (aber man hat heute nicht mehr die Ohren dafür!
— ) wie in dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei Liebe, der Schrei des sehnsüchtigsten
Entzückens, der Erlösung in der Liebe geklungen hat, der wendet sich ab, von einem unbesieglichen
Grausen erfasst… Im Menschen ist so viel Entsetzliches!… Die Erde war zu lange schon ein
Irrenhaus!…"(KSA 5, 333)
Aber das hätten sich Helmholtz & Co und ihre Nachfahren, die Neurologen und Internisten des 20.
und 21. Jahrhunderts, unmöglich erlauben dürfen. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass
kein Mediziner forschen und praktizieren könnte, wenn er seine Augen und Ohren nicht für genau
das verschlossen hätte, was Nietzsches ganzes Schreiben beherrscht und interpungiert: Schmerz und
Erleiden, wenn er nicht am toten Objekt arbeiten würde. Erst aus philosophischer Perspektive wird
diese einfach und nüchtern zu konstatierende Tatsache zum Problem, zeigt sie doch einerseits die
Grenzen von Nietzsches diskursiver Instruktion durch die Psychophysik auf und erfordert
andererseits eine in bezug auf die experimentelle Physiologie aktualisierte Wiederaufnahme der
Leib-Seele-Problematik bzw. der Supposition eines einheitlichen Subjekts. Was den ersten Punkt
betrifft, so verweist Nietzsche selbst auf die Differenz, die das Subjekt der physiologischen
Ästhetik, das von Krankheit und Schmerz erlösende und produktive Funktion macht, indem es seinen
Zustand in Zeichen überträgt, von den psychophysisch konfigurierten Wesen trennt:
"Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt. Wir
sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten
Eingeweiden – wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich
ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal,
Verhängniss in uns haben. Leben – das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und
Flamme verwandeln auch Alles, was uns trifft, wir k ö n ne n gar nicht anders." (KSA 3, 350)
Nicht dass ein Frosch keine Seele bzw. Nerven hätte, im Gegenteil, würde Du-Bois Reymond
protestieren. Aber erstens ist es fragwürdig, ob die ganze existenziale Dimension beim Frosch
ebenso dramatisch ausfällt wie beim Menschen – "Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual,
Gewissen, Schicksal, Verhängniss". Und zweitens, gewichtiger, ist der Frosch im Gegensatz zum
menschlichen Subjekt nicht durch die janusköpfige Gabe, Fluch und Destination zugleich,
ausgezeichnet, zum Medium seines eigenen Schmerzes zu werden, seinen eigenen Schmerz zu
übertragen als "Licht und Flamme" und zu transfigurieren in ein schockfarbenes Kammerflimmern
und dunkle Wellengänge, Seraphina in Chantilly-Spitze und Downtown-Diven, Belle de Jour einsam
auf den novembergrauen Promenaden von Deauville, Philipp Marlowe einsam in Edward Hoppers
Nachtbar und Popeye im L’Étoile über gerösteten Entenherzen mit Kaviarkartöffelchen, Paten und
Päpste, wütende Venus, La donna è mobile und Küsse aus Perugia, Metastasen in der Königsstadt
Ubud auf Bali und mit Blaulicht durch nichtgaußsche Berge die es niemals gab. Kurz und mit
51
Vgl. Holl (2002): S. 176.
12
Nietzsche: in "Poesie"52. Transfiguration als Spiel mit dem zur Übertragung des Dass befreiten
Signifikanten als der äusserste Gegensatz zur Petrifizierung des Signifikanten zwecks Repräsentation
der vom Cogito administrierten Bestände des Was.
Und selbst wenn, und damit ist der zweite Punkt: das leibgeistige Einheitssubjekt angesprochen,
Helmholtz & Co keine Frösche, sondern menschliche Versuchspatienten an ihren "Objektivir- und
Registrir-Apparaten" auf deren Nervenreaktionen hin beobachten und untersuchen, dann haben sie
es nicht mit Subjekten, sondern mit Objekten zu tun, anders und genauer formuliert: sie erzeugen
im Akt der Beobachtung und Untersuchung selbst ein Objekt. In dem Moment aber fällt die
materialistische Psychiatrie zurück in die Denkmatrix der idealistischen Philosophie. Denn auch
wenn als Grund und Integrationszentrum des Wesens jetzt nicht mehr die Seele, sondern der Leib
vorausgesetzt wird, so wird doch weiterhin mit der Hypothese eines einheitlichen, mit sich
identischen Wesens gearbeitet. Die nächsthöhere Potenzebene, die, wie oben formuliert, bezüglich
der Leib-Seele-Problematik in der Experimentalphysiologie erreicht wird, stellt also keine
tatsächliche Transzendierung des Einheitsdenkens dar. Vielmehr hat nur eine Inversion
stattgefunden: Anstelle der Seele hypostasiert nun der Leib ein holistisch-einheitssicherndes
Element. Damit bleibt der Psychophysiker, auch wenn die Positionen jetzt umgekehrt sind, wenn
jetzt der Leib die Seele bestimmt, letztlich dem alten dualen Schema von res cogitans und res
extensa, Subjekt und Objekt verhaftet. Denn um dieses Objekt als ein Subjekt anerkennen zu
können (um es mit Lacan zu sagen) oder um die generativen Transfigurationsleistungen, die es, den
vom Stromschneider zugefügten Schmerz kommunizierend, erbringt, empfangen zu können (um es
mit Nietzsche zu sagen), hätte er die beiden Pole, Subjekt und Objekt, von einer dualen in eine
dialektische Beziehung überführen müssen. Damit aber hätte er – er hat es nicht getan, denn er ist
Mediziner und nicht Philosoph, Physiologe und nicht ästhetischer Physiologe – die Einheit
zerbrechen, das Subjekt dezentrieren oder anders und einfach die letzte medienapriorische
Konsequenz aus dem Gerät, an dem er tätig ist, dem elektrischen Auslösungsgerät, ziehen müssen.
Das betrifft vielleicht sogar Helmholtz insbesondere, Helmholtz mehr als das Co namens Ludwig,
Wundt, Münsterberg, Charcot, Bechterev und all die anderen, denn als Begründer von
Thermodynamik I, der letzten klassischen, auf einem zuverlässig bleibenden Sein beruhenden
Ontologie, und weiter als derjenige Physio-Unternehmer, der das Kantische Apriori in den
empirischen Raum zu importieren suchte53, war Helmholtz in gewisser Weise vorbelastet, aus dem
Zerbrechen des Ursache-Wirkung-Prinzips nicht derartig radikale Konsequenzen ziehen zu können
wie der Philosoph des dionysischen Willens: "Die Sätze 'keine Wirkung ohne Ursache', 'jede Wirkung
wieder Ursache' erscheinen als Verallgemeinerungen viel engerer Sätze: 'wo gewirkt wird, da ist
gewollt worden' 'es kann nur auf wollende Wesen gewirkt werden' 'es giebt nie ein reines folgenloses
Erleiden einer Wirkung, sondern alles Erleiden ist eine Erregung des Willens'." (KSA 9, 662) Im oben
entfalteten Kontext der letzten, rückstandlos sauberen Bereinigung vom repräsentationslogischen
Vgl. KSA 7, 491: "Das Nachahmen ist darin der Gegensatz des Erkennens, daß das Erkennen eben keine
Übertragung gelten lassen will, sondern ohne Metapher den Eindruck festhalten will und ohne Consequenzen.
Zu diesem Behufe wird er petrificirt: der Eindruck durch Begriffe eingefangen und abgegränzt, dann getödtet,
gehäutet und als Begriff mumisirt und aufbewahrt. Nun aber giebt es keine 'eigentlichen' Ausdrücke und kein
eigentliches Erkennen ohne Metapher. Aber die Täuschung darüber besteht, d.h. der Glaube an eine Wahrheit
des Sinneneindrucks. Die gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und als Maaß für
die seltneren. An sich herrscht hier nur der Unterschied zwischen Gewöhnung und Neuheit, Häufigkeit und
Seltenheit. [...] Nun aber ist das Seltene und Ungewöhnliche das Reizvollere — die Lüge wird als Reiz
empfunden. Poesie."
53
Hermann von Helmholtz hatte sich nicht nur durch abschlussreiche physiologische, mathematische und
physikalische Untersuchungen meritiert, sondern sich auch im Zuge einer intentensiven Kant-Lektüre über die
Grenzen des positivistivischen Formkreises hinausbegeben. Sich derart als Philosoph und Wissenschaftler in die
Tradition des Neukantianismus stellend bestand sein Anliegen jedoch gerade nicht in einer Abgrenzung des
empirischen vom philosophischen Bereichs, so wie es ja noch in Kants Sinne gewesen wäre, sondern vielmehr in
einer produktiven Verbindung, präziser noch: einer Integration oder Importation Kantischer
transzendentalphilosophischer Theoreme in die positive physikalisch-physiologische Naturwissenschaft.
Tatsächlich galt Helmholtz, zumindest in naturwissenschaftlichen Kreisen, als einer der ersten und führenden
Neukantianisten (Schlick (1921) S. 197.); seine neukantianisch modellierte Erkenntnistheorie - in die sich
zugleich evolutionistische und Poincarés Gedanken vorwegnehmende Aspekte einmengen – lokalisiert das
Kantische Apriori nicht mehr in einer transzendentalen Sphäre, sondern lässt es als eine fortlaufende Erfahrung
und Restitution von Erfahrung in einem sinnesphysiologischen oder motorischen und von den entsprechenden
Messapparaturen gesicherten Bereich operieren – auf diese Weise vollzieht Kants der Vollendung
entgegenstrebende Vernunft ihre Bahn in einem somit zunehmend erschlossenen experimentalwissenschaftlichpositivistischen Raum. Ausführlich vgl. Tyradellis (2003) S. 34-42 und Bitsch (2008): S. 255-262. Vgl. auch
Helmholtz (1878) S. 147-195.
52
13
Logozentrismus und unter Bezug auf die trans- und intersubjektive physiologische Kraft des Willens
exekutiert Nietzsche eine Destruktion der Einheit der Person und der ihr komplementären Einheit
des Objekts, für die Helmholtz die entsprechenden Nerven, nämlich rauschbereit und fallsüchtig
dem Zerfall des principii individuationi entgegen, dann doch nicht hätte mitbringen können. Über
weite Strecken, das hat sich bis zu diesem Punkt gezeigt, folgt Nietzsche Denken und Diskurs des
Experimentaldispositivs. Es hat sich gezeigt in der Deklination klassischer Philosophenprobleme in
Termen von Gesundheit und Krankheit; in der Relativierung der gesamten Urteilslogik dahingehend,
dass "uns organische Wesen [...] ursprünglich Nichts an jedem Dinge [interessirt], als sein
Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz"(KSA 2, 40); in der Adapation Wundtscher LustUnlust- und Entspannung-Anspannungsreihen am Grund aller höherwertigen oder tiefgründigeren
geistig-emotionalen Tätigkeiten; in der Dekonstruktion der Repräsentationslogik in
signaltechnischen Auslösungs- und Entladungsbegriffen. [Das Psycholabor ist vernehmlich vorhanden
in Nietzsches weit verstreuten Ausführungen zur physiologischen Ästhetik; in der Diagnose, dass
ehemals der Moral unterstellte Probleme nun in den Bereich der Medizin fallen54; in Formulierungen,
die den Eindruck erwecken, Nietzsche sei persönlicher Zeuge von Wundts Erforschung
synästhetischer Phänomene gewesen: "Jede Perception erzielt eine vielfache Nachahmung des
Reizes, doch mit Übertragung auf verschiedene Gebiete. Reiz empfunden übertragen auf
verwandte Nerven dort, in Übertragung, wiederholt usw. Es findet ein Übersetzen des einen
Sinneseindrucks in den andern statt: manche sehen etwas oder schmecken etwas bei bestimmten
Tönen. Dies ein ganz allgemeines Phänomen."(KSA 7, 490); in der Überzeugung, dass "der
künstlerische Prozeß [...] physiologisch absolut bestimmt und nothwendig [ist]" (KSA 7, 446) bis hin
zu dem Willen, den Nietzsche wie die Männer am Schlitteninduktorium nervenphysiologisch
definiert.]
Aber da bricht auch der Weg ab, denn menschliche Medien, also Medien ihres eigenen Schmerzes –
"hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben…" (KSA 5, 367) – unterscheiden sich
von den Objekten oder Objektivierungsopfern an den Tetanisiermaschinen darin, dass sie in den
Übertragungen, mit denen sie diese für ihr Sein konstitutive Wunde in Bildern und Tönen
kommunizieren, erhört werden. Das vermögen Experimentalphysiologen, die nur neuronale
Frequenzereignisse registrieren, nicht mehr zu leisten, und so muss ihnen der Faktor des aufgrund
der Befähigung und schicksalhaft auferlegten Aufgabe zur Transfiguration existentiell an den
Schmerz gebundenen Subjekts, das Nietzsche mit einem Schmetterling vergleicht,
notwendigerweise entgehen:
"Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche
Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er
zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen
Menschen, welche jener Traurigkeit fähig sind wie wenige werden es sein! — wird der erste Versuch
gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln
könne." (KSA 2, 106)
Entgehen muss Ihnen damit auch das, was Nietzsche noch jenseits des in Nervenreizen
prozessierenden und Metaphern zwischen Schneewittchen im Walhalla, Elbenforschern auf Island
und Sterbebegleitern auf dem Walk of Fame stimulierenden Willens situiert, jener "Urschmerz und
Urwiderspruch [...] als unersättlich Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der
Zeit, also als Werden", jene unbenennbare Zone, wo "jeder Augenblick [...] den vorhergehenden
frißt, jede Geburt [...] der Tod unzähliger Wesen [ist], Zeugen Leben und Morden [...] eins [ist]"
(KSA 1, 769'). Denn das, dieses reine Dass der Flamme von Ecce Homo hat den positivistischen
Denkradius des Experimentaldispositivs weit weit hinter sich gelassen. Im Zusammenhang seines
Zerwürfnisses mit Wagner und seiner veränderten kritischen Haltung gegenüber Schopenhauer
restituiert Nietzsche das in seinem frühen Text Dionysische Weltanschauung von 1870 als
"Vernichtung der Individuatio" (KSA 1, 577) beschriebene Konzept des Dionysischen dahingehend,
dass er es aufgrund seiner Unmittelbarkeit und Unübertragbarkeit vom Willen abgrenzt. Gegen
Schopenhauer identifiziert er den Willen nicht mehr mit jenem letzten unbenennbaren und
uneinholbaren X des Urschmerzes selbst, sondern differenziert das Verhältnis vielmehr
dahingehend, dass der Wille "nichts als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens
gänzlich Unentzifferbaren" (KSA 7, 361) sei. Sich neurophysiologisch realisierende Erscheinungsform,
Vgl. KSA 7, 749: "Wer die antike Moral kennt, wird sich wundern, wie viel damals moralisch genommen
wurde, was jetzt medicinisch behandelt wird, wie viele Störungen der Seele, des Kopfes damals dem
philosophen, jetzt dem Arzt zur Heilung übergeben werden, wie besonders die Nerven und ihre Beruhigung
jetzt durch Alkalien oder Narkotika bedacht werden."
54
14
mag man hinzufügen, auch wenn diese sich als unbewusst subjektive Kraft der Transfiguration den
"Objektivir- und Registrir-Apparaten" bereits entzieht, so wie erst recht "jene Kraft [...], die unter
der Form des 'Willens' eine Visionswelt aus sich erzeugt" (KSA 7, 365), alle Versuche der
Aufzeichnung, Messung und Objektivierung rettlos zum Scheitern verurteilt. Ein Anschluss an den
Stromschneider, ein Anruf durch das vom Ruhmkorff ausgehende primordiale Signal machen – so wie
Trauma und Seinsklüftung in der Psychoanalyse - sicher die Voraussetzungen, dass das Sein bei
Nietzsche nicht mehr wie ein seraphischer Geist in ewig sanften Winden schaukelt, sondern als eine
real-physische Substanz gedacht wird, die Übertragungs- und Konfigurationsprozesse implementiert.
Aber das reine und operationale und als Urschmerz erfahrene Dass dieses mediatisierten Seins
können so wenig wie das trotz und in diesem Schmerz sich entzündende Begehren zur Übertragung
des Unübertragbaren, zur metaphorischen Erzeugung dessen, was auf immer unergründbar bleiben
wird, von den Maschinen erfasst, von Helmholtz & Co als Washeit säkularisiert, objektiviert werden.
Das Movens zur "Transfiguration" als das "Nicht anders Können [...] als seinen Zustand jedes Mal in
die geistigste Form und Ferne umzusetzen"(KSA 3, 349) ist – bis auf weiteres – neurophysiologisch
oder neurochemisch – nicht aufzulösen. Bleiben nur, usque ad finem (aber wann wird das je sein?)
"Bäume, Farben, Schnee und Blumen", dann vielleicht Filles Fatales in schwarzen Netzstrümpfen,
Ätomchen im Kommissar Maigret-Trenchcoat, ein unsichtbares Tier in der U 8, Risse und Frakturen
und Spiel mir das Lied vom Tod, mag sein Eluards Briefe, Kafkas Briefe, Nervenzittern mit
Avocadocreme im Wan-Tan-Tütchen, die eigene Rakete und auf und davon.
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