Manuskript

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SWR2 Musikstunde mit Thomas Ruebenacker
„Mälzels Monstrum“ oder: Das Tempo in der Musik (3)
Sendung:
Mittwoch 13. Januar 2010, 9.05 – 10.00 Uhr
Redaktion:
Bettina Winkler
Manuskript
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
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MUSIKSTUNDE mit Trüb
Mittwoch, 13. 1. 2010
„MÄLZELS MONSTRUM“ oder: Das Tempo in der Musik (3)
MUSIK: INDIKATIV, NACH CA. ... SEC AUSBLENDEN
LIVE-GERÄUSCH: METRONOM, RELATIV RASCHE EINSTELLUNG
(a tempo) Viel Feind, viel Ehr. Wie ich gestern und vorgestern schon sagte, lehnen viele Musiker
„Mälzels Monstrum“ ab, das oder den Metronom. Gerade las ich ein Interview mit Nikolaus
Harnoncourt, der anlässlich seiner „Porgy and Bess“-Einspielung sagte: „Wenn eine ganze Note in
16 gleiche Sechzehntel eingeteilt wird, wie auf der Akademie oder heute Musikuniversität, dann
heißt das für mich nur Grausamkeit und Unwirklichkeit und Unwahrheit, weil es das nie geben
kann. Das gibt’s nicht in der Natur, da ist alles ungleichmäßig, aber auf eine hochraffinierte und
hochmenschliche und natürliche Weise unregelmäßig. So wie der Herzschlag, der auch eine
Regelmäßigkeit hat, aber zugleich hat der einen Swing.“
LIVE-GERÄUSCH: STOPPT ABRUPT
Ja, „Swing“ war Johann Nepomuk Mälzels Sache nicht. Den Jazz gab es damals sowieso noch gar
nicht. Und dennoch war er kein Pedant, dessen größte Lebensleistung es gewesen wäre, seinem
Freund Beethoven den Musikmesser zu perfektionieren. Dafür war Mälzel viel zu exzentrisch – ein
früher Genius von Ingeniör, dem „nichts zu schwör“ war. Es ist auch nicht so, dass nur Freund
Beethoven für Mälzels Musikautomaten komponiert hätte, am Spektakulärsten in „Wellingtons Sieg
oder die Schlacht bei Vittoria“. Fast alle prominenten Komponisten der Zeit versorgten Mälzels
Musikautomaten mit Stücken, Hummel etwa und Antonio Salieri, und über 100 lieferte Ernst
Theodor Amadeus Hoffmann. Der konnte sich, im Gegensatz später zu Robert Schumann, der erst
Dichter werden wollte und dann aber „dichtender Komponist“ wurde – nie so recht entscheiden,
was er denn wäre: Dichter oder Komponist. Man muss in der Rückschau aber sagen, dass eigentlich
nur seine Dichtung überlebt, diese nachtmahrischen Ausgeburten einer fiebrigen Phantasie, die
„Elixiere des Teufels“ oder „Der Sandmann“. Als Dichter war E. T. A. Hoffmann die Speerspitze
der Schwarzen Romantik – während er als Komponist nur eine Fotokopie des von ihm so verehrten
Wolfgang Amadeus Mozart war. Das ging so weit, dass der als Ernst Theodor Wilhelm Getaufte –
seinen dritten Vornamen in Amadeus verwandelte. Damit war aber – in der Romantik – kein
Blumentopf mehr zu gewinnen. Und so überlebte Hoffmann mit ein paar netten Kompositionen, die
man eben auch mal aufführt – und mit einem literarischen Schrecken, der noch bis Baudelaire und
Edgar Allan Poe fasste.
MUSIK: HOFFMANN, QUINTETT F. HARFE U. STREICHQUARTETT C-MOLL,
TRACK 1 (7:56)
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, der erste Satz, ein Allegro moderato, seines Quintetts für Harfe
und Streichquartett c-moll, gespielt von Masumi Nagasawa an der einpedaligen Harfe, dazu das
Hoffmeister Quartett.
E. T. A. Hoffmann lieferte Johann Nepomuk Mälzel nicht nur rund 100 Stücke für seine
Musikautomaten, er verewigte ihn auch literarisch – in einer seiner beklemmendsten Erzählungen,
dem „Sandmann“. Da verliebt sich ein ohnehin schon am Rande des Wahns dahinschlingernder
Student namens Nathanael in ein schönes Mädchen namens Olimpia. Die sei die Tochter eines
verrückten Erfinders namens Spalanzani. Der aber ist keineswegs ihr Vater – sondern eben nur ihr
Erfinder, was Nathanael schier um den Verstand bringt, den Rest, den er noch hat. Denn Spalanzani
ist niemand anderes als Johann Nepomuk Mälzel. Der Mann, der menschliche Musikautomaten
konstruierte, der erstmals eine Puppe baute, die „Mama!“ sagen und dabei die Augen verdrehen
konnte, der aber auch, mit Wolfgang von Kempelens „Schachtürken“, einen derben Schwindel
betrieb: In dem angeblichen Automaten saß ein kleinwüchsiger Schachmeister aus dem Elsaß. Der
war besonders erfolgreich in den USA, obwohl damals dort noch keiner Schach spielen konnte –
man bot Mälzel für ihn sogar 300.000 Dollar. Als aber in Boston einmal Feuer auf der Bühne
ausbrach, wurde der Schwindel enttarnt: Wilhelm Schlumberger, so hieß der Schachmeister, musste
„aussteigen“, der Rest verbrannte. Spalanzani ist bei E. T. A. Hoffmann eine durchtriebendämonische Figur, die als Tochter ausgibt, was in Wahrheit ein Automat ist: Olimpia, ein
augenscheinlich schönes Mädchen, ergo ein Höhepunkt an Ingeniörskunst. Hoffmann kannte ja
Mälzel sehr gut, und er wird an ihn gedacht haben, als er Spalanzani erfand. Natürlich ließ sich auch
Jacques Offenbach diese Episode nicht entgehen, als er seine einzige Oper komponierte,
„Hoffmanns Erzählungen“: Der zweite Akt ist ganz der Puppe Olimpia gewidmet. Im folgenden
Finale können Sie sie hören – wie sie in der Art eines künstlichen Kanarienvogels endlos vor sich
hin trillert, während der arme Nathanael um seinen Verstand ringt. Mit von der Partie: Spalanzani
alias Mälzel, der ominöse Coppélius, Nathanaels Freund Nicklausse und der Chor.
MUSIK: OFFENBACH, LES CONTES D'HOFFMANN, CD 1, TRACKS 41 BIS 43 (4:08)
Jacques Offenbach, das Finale des zweiten Aktes von „Hoffmanns Erzählungen“, der ganz dem
verrückten Erfinder Spalanzani – und damit dessen Geschäftspartner Johann Nepomuk Mälzel –
sowie dessen angeblicher Tochter Olimpia gewidmet ist: einem Automaten, wie Mälzel ihn so gern
wie kunstvoll konstruierte. Roberto Alagna, Natalie Dessay, José van Dam und Cathérine Dubosc
sangen, Kent Nagano dirigierte Choeur et Orchestre de'l Opéra National de Lyon.
Mälzel selbst war ein hervorragender Schachspieler, aber seinen Assistenten Wilhelm
Schlumberger, den Elsäßer im „Schachtürken“, hat er nie geschlagen. Er zwang den Untergebenen
daher, wenn er Weiß hätte, nur das Allgaier-Gambit als Eröffnung zu benützen. Das nämlich ist
hochriskant und daher hochumstritten: Der Springer rückt bis g5 vor und hat dann kein
Rückzugsfeld mehr, unter Umständen muss er auf f7 geopfert werden. Dann hat Weiß natürlich
einen starken Angriff – aber ob das den Verlust einer solchen Figur wert war, wurde schon 1819
bezweifelt, als der Wiener Schachmeister Johann Allgaier sein Buch veröffentlichte. Allgaier und
Mälzel waren oft Schachpartner, und es ist überliefert, dass „der Ingeniör“ sich mehrfach beklagt
hätte, dass keiner der „berühmten Componisten“, mit denen er zusammenarbeitete, Schach spiele.
„Dabei haben sowohl Schach als auch die Musik eine gemeinsame Mutter: die Mathematik“,
greinte er. Daher kam auch seine Verehrung für einen Komponisten eine Generation zuvor – den
1726 geborenen Francois-André Danican, genannt „Philidor“. Der schrieb seinem Dienstherrn
Louis XV. nicht nur komische Opern im italienischen Stil wie „Tom Jones“ - nach Henry Fieldings
satirischem Roman -, sondern auch, 1749, das Schachbuch, das jahrhundertelang das Spiel
definierte: „Analyse du jeu des Échecs“. Philidor war wahrscheinlich der beste Schachspieler seiner
Zeit; im Pariser „Café de la Régence“ schlug er regelmäßig seinen „Freund aus Neuengland“, den
Gründervater der USA Benjamin Franklin. Und im Londoner Schachclub in der St. James Street
schlug er trotz verbundener Augen simultan drei Schachspieler, obwohl er ihnen allen ein
Bauernopfer vorgab. Später dann verglich er, nicht zuletzt im Eindruck der französischen
Revolution, die Bauern mit den citoyens, den Bürgern: „Die Bauern sind die Seele des Schachs!“
Zwei andere Autoren fabrizierten 1777 eine komische Oper mit dem Titel „Battez Philidor!“,
Schlagt Philidor. Darin soll ein Heiratskandidat dessen Tochter nur kriegen, wenn er den Papa im
Schachspiel besiegt. Und der hat die feste Absicht, ihn gewinnen zu lassen – bringt es dann aber
doch nicht fertig. Die Tochter kriegt er trotzdem. Leider konnte ich von dieser Oper keine
Aufnahme finden. Daher jetzt Kompositionen Philidors für seinen König: Pavane, Galliarde,
Bourrée und ein „Ballet à cheval“, ein Pferdeballett für ein Karussell bei Hofe.
MUSIK: PHILIDOR, PAVANE ETC., TRACKS 8 BIS 12 (11:25)
Eine höfische Suite von Francois-André Danican, genannt „Philidor“, dem einzigen Komponisten,
der auch ein Schachgroßmeister war und darum Johann Nepomuk Mälzels ganze Bewunderung
hatte. Le concert des nations spielte unter der Leitung von Jordi Savall.
Seit 1330 Sultan Orhan I. sie rekrutierte, waren die Janitscharen (oder Yeniceri) die Elitetruppen des
osmanischen Reiches. Sie dienten einzig und allein der Kriegsführung; weggeschlossen in
Kasernen, durften sie nicht heiraten und bekamen außer zu essen keinen Sold. Organisiert waren sie
wie ein Geheimorden, wie die ägyptischen Mameluken oder der deutsche Malteserorden. Auch gab
es offiziell keine militärischen Ränge, der kommandierende General hieß einfach nur
„Chefsuppenkoch“. Und das Wichtigste: Keiner von ihnen war ursprünglich Muslim. Sklaven und
Kriegsgefangene aus dem Balkan und bis hin nach Russland wurden zwangsumerzogen, meist
Kinder, denen die Garde zur Ersatzfamilie wurde und der Sultan zum Vater. Mit diesen Elitetruppen
suchte das osmanische Reich die Welt zu erobern, darunter, Mitte des 15. Jahrhunderts, zweimal
vergeblich Österreich. Hätte es damals schon Kanonen gegeben, man hätte die Janitscharen als
„Kanonenfutter“ bezeichnen können; völlig egal, wie viele dabei draufgingen, es war immer
Nachschub da. Und da keiner von ihnen geborener Muslim war, waren sie auch „entbehrlich“. Nun,
einen bleibenden Eindruck hinterließen die Janitscharen in Europa nicht – außer in der Kunst,
genauer gesagt: in der Musik. Eine ihrer Hauptfunktionen war es nämlich, mit Lärm den Gegner
einzuschüchtern. Dazu wurden Trommeln gepeitscht, Schellenbäume gerasselt und auch sonst
geschlagen, was möglichst viel Lärm machte. Und das imponierte den europäischen Komponisten,
die es vornehmlich als Metapher für „Fremdartigkeit“ und für „Krieg“ nutzten – so Joseph Haydn in
seiner „Militär“-Sinfonie, wo im zweiten Satz die Janitscharenmusik eine simple Melodie kurz und
klein schlägt, oder in Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“, wo sie lediglich als –
allerdings ziemlich scharfes – Gewürz wirkt. Das konnte sich Johann Nepomuk Mälzel für seine
Musikautomaten natürlich nicht entgehen lassen: Pfeifen, Klingeln und Trommeln, mehr konnten
die frühen Versionen seines Panharmonicon ja gar nicht. Und einer der Komponisten, die ihm
zulieferten, war der Geigenvirtuose Louis Spohr. 1815 komponierte er für den „Ingeniör“ ein
Notturno für Harmonie – also Bläser – und Janitscharenmusik, sein Opus 34 in C-dur, zu dessen
Beginn, einer Marcia, und in der Mitte einer Polacca es ordentlich zur Sache geht. Da standen schon
lange nicht mehr die Türken vor Wien – aber ihre Musik war noch sehr gegenwärtig.
MUSIK: SPOHR, NOTTURNO, TRACKS 5 + 8 (7:04)
Louis Spohr, einer von Johann Nepomuk Mälzels Hauskomponisten, mit einem Notturno für
Harmonie und Janitscharenmusik – von Mälzel damals direkt aufs Panharmonicon registriert,
dessen letztes Exemplar leider im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. In unserer Aufnahme spielte
das Ensemble Octophoros unter Leitung von Paul Dombrecht.
So, und jetzt wird es wieder Zeit für „das Erbe des Johann Nepomuk Mälzel“: den Musikautomaten.
Diesmal handelt es sich um das Orchestrion „Phonoliszt – Violina“, ein Patent, das die Leipziger
Firma Ludwig Hupfeld 1910 den Erben von Mälzel abkaufte. Das klingt wie eine Geige, die ein
Klavier begleitet – es sind in Wahrheit aber drei Geigen, die jeweils nur eine Saite haben und
rotierend gespielt werden; vielleicht klingen sie deshalb manchmal etwas wackelig. Gebaut wurde
dieses Orchestrion für Gaststätten und Kaffeehäuser, und es spielt jetzt einen Schlager, der
„Blumengeflüster“ heißt, Autoren unbekannt. So viel haben die Blumen dann doch nicht geflüstert.
MUSIK: ???, BLUMENGEFLÜSTER, TRACK 22 (3:58)
Ein Stück Johann-Nepomuk-Mälzel-Erbe: Das Orchestrion „Phonoliszt – Violina“ spielte den
Schlager „Blumengeflüster“.
Einer der besten Freunde Mälzels war der 1757 in Niederösterreich geborene Ignaz Joseph Pleyel.
Der war ein Schüler von Joseph Haydn, aber er war noch viel mehr – er war ein „Ingeniör“ genau
wie sein Freund Mälzel, nur vielleicht nicht so exzentrisch. Nachdem er in Straßburg als Kantor
gewirkt hatte und in Paris einen Musikverlag eröffnet, baute er „nur“ Klaviere – aber das waren die
besten, die damals auf dem Markt waren. Pleyel verbesserte die Mechanik des Fortepianos oder
Hammerklaviers ungefähr so, wie Freund Mälzel immer raffiniertere Automaten baute; einmal
schrieb Mälzel nach Paris: „Hatte gestern den Plaisir, eines von Deinen Fortepiani zu erproben,
mein Freund! Das war aber doch würcklich jedem Anderen Tasteninstrumente und zumahlen dem
Cembalo bei Weitem überlegen!“ Der Pianist und Ingeniör Johann Nepomuk Mälzel wusste, wovon
er sprach: Er sprach zu seinesgleichen. Übrigens: Die Klaviermanufaktur Pleyel, Wolff & Co., die
gibt es noch heute!
MUSIK: PLEYEL, KONZERT F. 2 KLAVIERE, TRACK 5 (9:19; ACHTUNG! BITTE AUF
ZEIT FAHREN!)
(Absage) Das war ... Zuletzt hörten Sie einen Ausschnitt aus Ignaz Pleyels Konzert für zwei
Klaviere D-dur, von Wolfgang Brunner und Leonore von Stauss auf Original-Hammerflügeln der
Pianomanufaktur Pleyel, Wolff & Co. gespielt.
MUSIKLAUFPLAN
1) E. T. A. HOFFMANN, Quintett f. Harfe u. Streichquartett c-moll; Nagasawa,
Hoffmeister Quartett; Hänssler Profil 07063 (LC 13287)
2) OFFENBACH, Hoffmanns Erzählungen; Alagna, Dessay, van Dam u. a., Orchestre et
Choeur de l'Opéra National de Lyon, Kent Nagano; Erato/Warner 0630-14330-2 (LC
0200)
3) PHILIDOR, Suite; Le Concert des Nations, Jordi Savall; AliaVox 9842 (KEIN LC!)
4) SPOHR, Notturno f. Harmonie u. Janitscharenmusik C-dur; Octophoros, Paul
Dombrecht; Accent 8860 (KEIN LC!)
5) MUSICA MECHANICA, Blumengeflüster; Wergo SM 1201-50 (LC 0846)
6) PLEYEL, Konzert f. 2 Klaviere D-dur; Brunner, von Stauss; Hänssler Profil 06025
(LC 13287)
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