_________________________________________________________________________________ SWR2 Musikstunde mit Karl Dietrich Gräwe „Kaiser, Kabarett und Krise“ (4) Sendung: Redaktion: Donnerstag, 21. Juli 2011, 9.05 – 10.00 Uhr Ulla Zierau Manuskript ______________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Einen Mitschnitt dieser Sendung können Sie bestellen unter der Telefonnummer 07221 / 929-6030 ______________________________________________________________________ 2 SWR2 Musikstunde KAISER, KABARETT UND KRISE 4. Folge K.D. Gräwe Die Berliner Operette ist ein eigenes Genre mit einem eigenen Tonfall. Sie gehört zum 20. Jahrhundert wie die Wiener Operette zum 19. Den Prototypen schuf kurz vor der Jahrhundertwende Paul Lincke, mit dem kleinbürgerlichen Jules-Verne-Verschnitt „Frau Luna“. Lincke gab für 2 Jahrzehnte, bis zum Ende des 1. Weltkriegs, den Schritt vor, den zackigen Marschschritt, dessen optische Entsprechung die Pickelhaube war. „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“, bis heute nicht totzukriegen und unvermeidlicher Höhepunkt auch der anspruchsvollsten Waldbühnenkonzerte, wenn die Berliner Luft sich der 20.000 Anwesenden bemächtigt. Drei Väter hat die Berliner Operette, Paul Lincke, Walter Kollo und Jean Gilbert. Allerdings, nach dem verlorenen 1. Weltkrieg war das Marschbedürfnis nicht mehr so ausgeprägt, und auch der Tonfall änderte sich, er wurde wienerischer und amerikanischer, das hing damit zusammen, dass die Wiener Komponisten nach Berlin zogen und dass der amerikanische Jazz Europa eroberte. Das Radio multiplizierte die neuen Hörerfahrungen, die Tanzcafés wurden Magneten der Sonntagnachmittage, die Revuebühnen machten sich immer breiter und spektakulärer, und schließlich der Tonfilm entdeckte seine neue Art von Operette, die Filmoperette. Und unbeirrbar gab Walter Kollo den Unterhaltungston an. In seiner Operette „Marietta“ geht es eigentlich darum, dass ein italienischer Pferde- und Frauenheld die Wahl zwischen zwei Mariettas hat, einer Herzogin und einer Obstverkäuferin, die er versehentlich verwechselt. Sein Versprechen „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir“ ist eine der unzähligen leeren Beteuerungen, die Opern- und Operettentenöre so von sich geben. Das von Kollo ganz harmlos gemeinte Duett wurde zum Schlager des Jahres 1924 gekürt, und dann kam seiner Popularität noch die Tagesaktualität zu Hilfe: Der Serienmörder Friedrich Heinrich Karl Haarmann aus Hannover wurde seiner Untaten überführt und am 15. April 1925 hingerichtet, und ganz Deutschland parodierte: „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir.“ Ruth Zillger und Jean Löhe singen das Duett jetzt allerdings im Originaltext. Musik 1 4’01“ Der Reiter- und Frauenheld Torelli heiratet dann doch standesgemäß die Herzogin Marietta und nicht die gleichnamige Früchtehändlerin, die wahren Gewinner der Affäre waren aber doch Walter und Willi Kollo, deren nicht ganz aufrichtig gemeintes Glücksversprechen zum Schlager des Jahres 1924 avancierte. Dr. Faust, für uns Deutsche der Inbegriff des zerrissenen Genies und gewissermaßen Goethes Anderes Ich, sei in Wirklichkeit ein Italiener, heißt es südlich der Alpen. Faust hat nichts mit der geballten Hand zu tun, sondern bedeutet „fausto“, zu Deutsch: „Der Glückliche“, und ist ein geläufiger männlicher Vorname. 3 Dem Komponisten Ferruccio Busoni, in Empoli bei Florenz geboren, schlugen zwei Herzen in einer Brust, ein italienisches und ein deutsches. Für seine Oper „Dr. Faust“ schrieb er den Text selbst, nicht in Anlehnung an Goethe, sondern nach einem alten Puppenspiel. Acht Jahre hat er daran gearbeitet, von 1916 bis 1924, bis zu seinem Tode, und ein Jahr später kam der unvollständige Torso, von seinem Schüler Philipp Jarnach komplettiert, an der Semper-Oper in Dresden heraus, unter der Leitung von Fritz Busch – kein Zugstück vom Start weg wie in den 20er Jahren die Opern von Korngold, Schreker, Krenek, aber eine Herausforderung für Nachdenkliche, die in den Aufführungsstatistiken bis zum heutigen Tage ihr Daseinsrecht beansprucht. Auch Busonis Faust ergibt sich, um der Weisheit letzten Schluss zu finden, der Magie, um Mitternacht befragt er ein magisches Buch, die Clavis Astartis Magica, den Zauberschlüssel der Astarte, und prompt ruft er mit einer Beschwörung sechs Geister herbei, wobei ihm selbst nicht geheuer ist. Musik 2 4’48“ Eine Szene aus dem „Doktor Faust“, der Oper von Ferruccio Busoni. Dietrich Henschel in der Titelpartie, der Chor und das Orchester der Opéra National de Lyon unter der Leitung von Kent Nagano. Niccolò Paganini, der berühmteste Geigenvirtuose seiner Zeit. In seiner Kunst war er unerreicht, im Glücksspiel, seiner anderen großen Leidenschaft, hatte er nach eigenem Geständnis eher das Nachsehen. In der Liebe wohl auch, was bei seinem Künstlerstatus und seiner Karriere wohl begreiflich ist. 1805 kam er als Konzertmeister an das Orchester der damals französisch verwalteten Republik Lucca. Franz Lehár machte Paganini zum Helden einer nach ihm betitelten Operette, die kam 1925 in Wien heraus. Größen der Geschichte waren zu dieser Zeit die Favoriten des Musiktheaters, in „Friederike“ z.B. nahm Lehár sich den jugendlichen Goethe aufs Korn. Auch in „Paganini“ bringt er eine Frau ins Spiel, Elisa Baciocchi, die Schwester Napoleons und derzeitige Regentin von Lucca. Natürlich ist sie nicht nur am Geigenspiel, sondern auch an dem Mann interessiert, und Paganini sieht ein, dass zwischen Frau und Musik eine gewisse Analogie besteht. Ernsthafte Anfechtungen bleiben dennoch aus, denn das Leben eines Künstlers gehört nun mal der Kunst. Musik 3 4’01“ Der Meister in einem Element, gleich ganz zu Anfang, im Vorspiel zur Operette „Paganini“ von Franz Lehár. Ulf Hoelscher war hier in Stellvertretung zu hören, zur Begleitung des Bayerischen Symphonieorchesters unter Willi Boskovsky. 4 Im Jahr 1914 sah Alban Berg eine Aufführung von Georg Büchners Drama „Woyzeck“ und begann sofort mit der Arbeit an einer Oper. Sechs Jahre brauchte er, um die Partitur seines „Wozzeck“ fertig zu stellen, und dann fand sich lange kein Opernhaus, das sich die Schwierigkeiten der Ausführung zumuten wollte. Erich Kleiber, soeben zum GMD der Berliner Staatsoper unter den Linden berufen, nahm die Herausforderung an. Allein die Zahl der benötigten Orchesterproben sind Legende: es waren 137 an der Zahl. Auch der Tag der UA ist ein Zeitpunkt mit Legendencharakter, es war der 14. Dezember 1925 und so etwas wie eine Zeitenwende in der Operngeschichte. Etwas mehr als 100 Jahre vorher war das reale Vorbild des Opernhelden - eines „negativen“ Helden -, nämlich der Perückenmacher Woyzeck, auf dem Marktplatz in Leipzig hingerichtet worden. Er hatte aus Eifersucht eine Frau umgebracht. Alban Berg legte Wert darauf, dass die knappe und präzise Formenstrenge der Partitur den hörenden Zuschauer nicht von der Handlung ablenken solle. Musik 4 3’33“ Wozzeck läuft vor seiner eigenen Tat davon, im Wirthaus sucht er vergeblich zu vergessen, und allzu bald entdeckt die Nachbarin Margret das Blut an seinen Händen. Dietrich Fischer Dieskau und Alice Oelke in einer Aufnahme mit dem Ensemble der Deutschen Oper Berlin unter Karl Böhm. Der Komponist Walter Wilhelm Goetze ist zwischen die gewaltigen Zeitschübe des 20. Jahrhunderts und dann über kurz oder lang in endgültige Vergessenheit geraten. Dabei freute man sich in den 20ern und 30ern in Berlin und Hamburg über jede seiner Uraufführungen. Die Person, die der Operette „Adrienne“ den Titel gab, ist dieselbe, die auch in der Oper von Francesco Cilea die Hauptrolle spielt: Adrienne alias Adriana Lecouvreur, in der historischen Wirklichkeit einst die große Tragödin der Comédie Française, die bei Walter W. Goetze allerdings zur leichtfüßigen Tänzerin mutiert. August der Starke will das Herzogtum Kurland dem Königreich Sachsen angliedern und seinen Sohn Moritz in eine Ehe mit der Herzogin Anna von Kurland manövrieren. Die Herzogin wäre nicht abgeneigt, der Plan scheitert aber, weil Moritz eine Affaire mit der Tänzerin Adrienne unterhält. Auch die führt zu keinem Ergebnis, und am Ende stehen alle mit leeren Händen da. Ein frustrierendes Ende? Keineswegs! Schon bei der Hamburger Premiere 1926 hatte das Stück seinen zündenden Schlager, und zumindest der lebt heute noch: Das Lied der Herzogin „Meine Tante wohnt im russischen Reich“, in den 50er Jahren auch eine Bombenrolle für die Düsseldorfer Kabarettistin Lore Lorentz. Musik 5 3’40“ 5 Lore Lorentz als Anna Iwanowna, Herzogin von Kurland, in der Operette „Adrienne“ von Walter W. Goetze. Paul Hindemith entdeckte, Mitte der 20er Jahre, über Nacht sein Herz für die Oper, und seine Verleger schlugen ihm Themen vor, die gerade in der Luft lagen, „Faust“, eine „Bettleroper“, eine exotische Handlung in der Südsee, aber Hindemith fand keinen Geschmack an der Sache. Da stieß er auf einen Kriminalfall, der sich im 17.Jahrhundert in Paris zutrug. Eine geheimnisvolle Mordserie versetzte die Stadt in Panik. Dahinter steckte ein begnadeter Künstler, ein Goldschmied, der die Käufer seiner unschätzbaren Schöpfungen des Nachts inkognito ermordete: Cardillac. Er konnte sich von seinen eigenen abgöttisch geliebten Kunstwerken nicht trennen. Der Dichter E.T. A. Hoffmann hatte das Sujet in seiner düsteren Novelle „Das Fräulein von Scudéry“ behandelt. Hindemith fand in Ferdinand Lion einen geeigneten und zügig arbeitenden Librettisten, und im November 1926 hatte das knappe, gedrängte Stück an der Semperoper in Dresden Premiere. Es kam nur zu einem Achtungserfolg, aber noch im selben Monat brachte Otto Klemperer den „Cardillac“ in Wiesbaden heraus, und die 20er Jahre hatten ihre neue Theaterattraktion. Musik 6 3’28“ Der Goldschmied Cardillac und das von ihm angebetete Metall, das er zu Kunstwerken formt – eine Szene aus Paul Hindemiths Opernnovität aus dem Jahr 1926. Sigmund Nimsgern in der Titelpartie und Gerd Albrecht am Pult des RadioSymphonie-Orchesters Berlin, des heutigen Deutschen SO. Wahre Rekorde an öffentlicher Aufmerksamkeit und Aufregung erzielte Ernst Krenek im Jahr nach dem „Cardillac“ mit seiner Oper „Jonny spielt auf“, die als sogenannte Jazz-Oper Furore machte. Jonny ist ein schwarzer afroamerikanischer Bandleader, der in einem Pariser Grand Hotel auftritt und ein Verhältnis mit dem Zimmermädchen Yvonne ausnutzt, um an die Violine des Geigenvirtuosen Daniello heranzukommen, ein wertvolles altes Instrument, das er unbedingt stehlen will. Dafür lässt er das Zimmermädchen links liegen. Der neue amerikanische Jazz trifft auf die musikalischen Traditionen des Abendlandes, und nicht nur der Jazz erobert die Welt, auch der Sex Appeal des schwarzen Jazzmusikers Jonny ist unwiderstehlich. Der ließ nicht einmal die Nazis in Ruhe, die das Titelbild von Kreneks Klavierauszug später für ihre Düsseldorfer Ausstellung „Entartete Kunst“ abkupferten: Jonny mit Saxophon, mit Zylinder auf dem Kopf und jetzt auch mit Judenstern am Revers. Die Leipziger UA 1927 war die Sensation der Weimarer Republik, die Bühnenausstattung der Inszenierung suchte an modernen technischen Finessen ihresgleichen, und ganz Europa wiegte sich im Rhythmus des Blues „Lebwohl, mein Schatz“, den jeder Barpianist und jede Caféhauskapelle nachspielte - und der mal gerade 1 ½ Minuten kurz ist. Musik 7 3’58“ 6 Im Leipziger Stadttheater feierte „Jonny spielt auf“ von Krenek 1927 seine triumphale Premiere, in Leipzig entstand auch eine Aufnahme der Oper, mit Alessandra Marc als Sängerin Anita, Marita Posselt als Yvonne, Krister St Hill als Jonny und Michael Kraus als Daniello, mit dem Opernchor und dem Gewandhausorchester Leipzig, Dirigent Lothar Zagrosek. Paul Abraham in der „Blume von Hawaii“ nahm sich 1931 den Jonny zum Vorbild, da ist er allerdings kein Welteroberer, sondern nur ein Johnny und heißt eigentlich Jim Boy. 3’10“ Musik 8 Horst Winter als Pop-Musiker vor seiner Zeit in der „Blume von Hawaii“ von Paul Abraham. Das wagemutige und ideenreiche Stadttheater Leipzig brachte nach Kreneks „Jonny“ drei Jahre später die Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill heraus, und 1930 kam es dann doch schon zu tumultuösen Aufständen im Publikum. Die liberalen Tage der Weimarer Republik waren gezählt, und ein beleibter Herr mit gesottenem Gesicht pfiff vor Empörung auf seinem Haustürschlüssel, wie der Kritiker Alfred Polgar beobachtete. Der schmalere Entwurf zur Oper, das „Kleine Mahagonny“ oder „Magaonny Songspiel“ genannt, war zuvor bereits beim Kammermusikfest Baden-Baden der Öffentlichkeit vorgestellt worden, wurde 1927 bereitwillig akzeptiert und konnte auch als erfolgreicher Test auf die bevorstehende „Dreigroschenoper“ verstanden werden. Im Finale, als die Bewohner der Stadt Mahagonny die Vielfalt aller plebiszitären Forderungen auf der Bühne herumtrugen, plädierte Lotte Lenya mit ihrer Schrifttafel „für Weill“. Musik 9 1’50“ Das Finale des Mahagonny-Songspiels, des „Kleinen Mahagonny“ von Brecht und Weill, das 1027 beim Deutschen Kammermusikfest in Baden-Baden uraufgeführt wurde. In seiner Operette „Die Herzogin von Chicago“ machte Emmerich Kálmán wieder einmal die Gegensätze kultureller Traditionen sichtbar und hörbar. Sándor Boris, der Fürst eines Balkanstaates liebt bedingungslos die süße Wiener Musik und das Geigenspiel der Zigeuner. Nur ist sein Land hoffnungslos pleite und könnte nur durch eine Geldspritze im Volumen von Millionen gerettet werden. Eine Heirat mit der steinreichen Amerikanerin Mary Lloyd würde ihn sanieren, aber dazu müsste er sich erst einmal bequemen, Geschmack am neumodischen amerikanischen Blues zu finden. Musik 10 6’57“ 7